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Olaf Cordes

Sind Sie noch ganz echt?

Olaf Cordes

Sind Sie noch ganz echt?

Mut zur Authentizität

Mit Illustrationen von Phil Stauffer

www.sindsienochganzecht.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Bibliographic information published by Die Deutsche Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.ddb.de.

2. Auflage 2018

© Olaf Cordes, München 2018

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Anne Jacoby

Umschlaggestaltung und Satz: Axel Wünsche

Illustrationen: Phil Stauffer

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Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf

ISBN 9783965445765

Für Johann und Martha

INHALTSVERZEICHNIS

VOR DER AUFFÜHRUNG

Über Masken, fake und Freiheit

Verkrampfte Dauerlacher

Falsche Wunschwelt

Plädoyer für ein authentisches Leben

Wie geht Echtsein?

Rollentheorie? Irrelevant.

Freiheiten entdecken

Lebendiger leben

NACHMACHER

Über Originalität und Imitation

Imitation ist Kunst

Lernen von den Alten

Wenn Imitation einengt

Im Gehäuse der Hörigkeit

„Ein Original“

Die Postmoderne pfeift auf Originale

Mut zur Exzentrik

Sonderfall Narzissmus

Resümee

WOLKEN

Über stabile Wolken und Ich-Fragmente

Zwischen Genius und Kaleidoskop

Heute: Alles neu!

Achtung: Denkfehler!

Zurück zum Kern

Impulse leben

Resümee

NATUR

Über Ungeschminktheit und Recycling

Auf der Suche nach der verlorenen Natur

Durch und durch künstlich authentisch

Da war doch noch was: Der Körper

Somatische Marker

Lässt sich echt lernen?

Die Selbstfürsorge

Resümee

KLARTEXT

Über Direktheit, Verbrämung und bullshit

Klartext braucht Mut

Weichmacher

Die Sprache aufräumen

Klarheit schafft Vertrauen

Die hohe Kunst der Un-Diplomatie

Resümee

DARSTELLEN

Über Spontaneität, Inszenierung, Bluff

Und alle spielen mit

Inszenierte Echtheit

Profi ist, wer Abstand hält

Auf der Suche nach dem Sowohl-als-auch

Freundschaft macht Umsatz

Ausbruch aus der Performance-Hölle

Resümee

SCHLUSS MIT DEM THEATER

Über das Loslassen und Finden

Schutzpanzer

Vom Theater lernen

Sind wir also noch ganz echt?

BIBLIOGRAFIE

QUELLENANGABEN

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VOR DER AUFFÜHRUNG

Eigentlich bin ich ganz anders,
ich komm nur viel zu selten dazu.

ÖDON VON HORVATH

Über Masken, fake und Freiheit

Sind Sie noch ganz echt? Ich meine: Richtig echt? Oder sind Sie auch längst verschwunden hinter einer hochglanzpolierten Business-Maske für tagsüber, hinter einer fake-empathischen Familienmaske für die Abendstunden oder hinter einer Hipster-Maske für unterwegs?

Und? Kratzen die Masken? Zugegeben: Meine schon. Einerseits mag ich sie, weil sie mich anderen zeigt. In dem, was ich darstellen will, kann und muss. Und weil sie mich vor meiner eigenen Verletzlichkeit schützt. Und weil sie andere schützt, vor manchen meiner Gefühle und Launen. Andererseits ärgert sie mich, weil sie mich so gut abschirmt, dass sich meine echten Emotionen und Gedanken oft nur verschlüsselt zeigen. Wie ist das bei Ihnen? Kratzt bei Ihnen auch etwas im Gesicht? Ja? Wo genau?

Gut. Ich schreibe dieses Buch genau für Sie. Und für alle, denen das Getue der Büroschauspielerinnen und Superpapas, der Hipster und Latte-To-Go-Genießerinnen längst zu anstrengend geworden ist. Zu falsch. Manchmal abstoßend. Für alle, denen zwischen drängenden asap-Terminen, drängenden Smartphones, drängenden Kollegen, drängenden Kunden und noch drängenderen Aufgaben die Luft knapp geworden und das professionelle Dauerlächeln zur Fratze gefroren ist. Für alle, die sich nach mehr Freiraum, Fröhlichkeit, Leichtigkeit, Spiel, Liebe und echten Gefühlen und echten Empfindungen sehnen. Für alle, die sich fragen: „Hab ich sie noch alle? Bin ich noch ganz echt?“

Verkrampfte Dauerlacher

Die Frage ist nicht neu: Der Maskenmacher heißt zum Beispiel ein kleines Stück des großen, französischen Pantomimen Marcel Marceau aus dem Jahr 1959.1 Marceau mimt hier einen Menschen, der verschiedene Masken ausprobiert: eine nachdenkliche, eine traurige, eine fröhliche, schließlich eine hellauf begeisterte. Diese letzte, eine Maske mit weit geöffnetem, laut lachendem Mund, haftet plötzlich so fest auf seinem Gesicht, dass sie sich nicht mehr ablösen lässt. Ganze drei Minuten kämpft Marceau erbittert mit der dauerlachenden Maske; aus seinem Körper schreit die Angst, die Maske bewegt sich nicht. Mit aller Gewalt reißt er sich die Maske schließlich vom Kinn bis über die Stirn – und lässt ein völlig verzweifeltes, echtes Gesicht erscheinen, so, als sei dies zuvor unter dem lachenden verborgen gewesen. Erschöpft sackt er in sich zusammen.

Diese Marceau-Pantomime trifft genau das auf den Punkt, was ich häufig in meinen Seminaren, Trainings und Coachings erlebe: Menschen, die sich selbst unter ihrer perfekten, professionellen, optimistischen Erfolgsmaske abhandengekommen sind. Die zunächst verzweifelt, dann aber erleichtert und schließlich über sich selbst schmunzelnd vor mir stehen, wenn ich sie so lange provoziere, bis ihnen auffällt, dass sie etwas Fremdes haben. Mitten im Gesicht.

Falsche Wunschwelt

Es ist paradox: Viele Teilnehmer wollen ganz genau wissen, wie sie sprechen sollen, stehen, sitzen. Sie wollen immer mehr Tipps, Tricks, Techniken, Tools. Sie wollen möglichst Mittel gegen die Angst, unkontrolliert aus der Rolle zu fallen, Methoden und Präparate gegen das hartnäckige Unwohlsein unter ihrer Haut und in ihrem Körper. Sie trainieren hart. Und sie kommen keinen Meter weiter.

Denn sie gehen in die falsche Richtung: indem sie immer weiter an ihren Masken feilen, finden sie nicht zurück zu dem Punkt, an dem sie sich mit sich und in sich selbst kongruent fühlen. Sie verirren sich vielmehr immer weiter in der glänzenden Wunschwelt der Selbstoptimierung.

So lange, bis sie sich praktisch in ein Artefakt verwandelt haben. Und das auch noch gut finden wollen! Es entspricht ja dem Zeitgeist: Der erfolgreiche Mensch sei eine Marke, heißt es.2 (Herrlich: Marke und Maske haben nur einen einzigen Buchstaben als unterscheidendes Merkmal...!) Er solle sich nicht mit so vorsintflutlichem Ballast wie Authentizität abgeben. Authentizität sei etwas für Anfänger. Rolle und Rollenspiel seien das Rezept der Erfolgreichen! In diesem Ton argumentieren beispielsweise Autoren wie Rainer Niermeyer, der ein Buch mit dem Titel Mythos Authentizität veröffentlicht hat.3

Plädoyer für ein authentisches Leben

Wenn ich Rolle, Rollenspiel und Schauspielerei im Zusammenhang mit Unternehmen, Führung und Arbeitsverträgen höre, dann werde ich mittlerweile wütend. Ich wehre mich leidenschaftlich gegen jeden, der eine professionelle Deformation der Persönlichkeit zur neuen Norm erheben will.

Es mag sein, dass besonders erfolgreiche Topmanager gerade deshalb besonders erfolgreich sind, weil sie bruchlos in ihrer Rolle aufgehen, und weil sie sich über ihre eigenen Wertvorstellungen, über Lebenssinn und Lebensglück keine Gedanken mehr machen. Einer Studie zufolge leiden sie offenbar nicht einmal darunter.4 Genauso mag es aber auch sein, dass dieser Befund in der jüngeren Generation nicht mehr stimmt. Soweit ich es sehe, machen sich die Vertreter der mittlerweile viel besungenen Generation Y tatsächlich Gedanken. Für sie haben Werte wie (Selbst-)Verantwortung, (Lebens-)Qualität, Ganzheitlichkeit, Familie und Gesundheit wieder Bedeutung. Viele junge Leute möchten ihr eigenes Ding machen – und wenn es ihrem Arbeitgeber nicht passt, dann kündigen sie eben, setzen sich mit elektronisch vernetztem Kleingerät und Wollmütze in den nächsten Co-Working-Space oder gleich ins Café. Sinkt inzwischen die Bereitschaft, mit Haut und Haar in einer Rolle auf-, ein- oder unterzugehen?

Oder geht es sogar noch weiter? Hält der gesellschaftliche Konsens das Rollenspiel heute für old school, wünscht sich aber, statt das Rollenspiel komplett abzuschaffen, subtilere Formen? So zumindest sieht es Christoph Bartmann, der ein Buch über das neue Leben im Büro geschrieben hat: „Wer nicht(s) darstellt, der ist gar nicht da. Was nicht darstellbar ist, das existiert nicht. Wir sind jetzt alle Darsteller, vor allem Selbstdarsteller auf dem Sichtbarkeitsmarkt. Wir haben eine Performance abzuliefern, die nicht so aussehen soll, als wären wir Rule Player.“5

Rolle. Am liebsten würde ich das Rollenkonzept einmal komplett streichen. Doch weil im Beruf, im Coaching, im Training und auch von Forschern aus Feldern wie Soziologie, Psychologie, Management so intensiv mit diesem Begriff gearbeitet wird, komme ich wohl nicht darum herum. Außerdem möchte ich nicht unter umgekehrtem Vorzeichen das Gleiche tun wie diejenigen, die die Authentizität diskreditieren und alle Macht der (geschauspielerten) Rolle zuschreiben wollen. Noch einmal: Es geht mir nicht darum, alle Bedeutung nun der Authentizität zuzuschieben und die Rolle einfach auszublenden. Sondern darum, eine neue Antwort auf die Frage zu finden:

Wie geht Echtsein?

Warum mich die Frage Wie geht Echtsein umtreibt? Wie häufig höre ich von meinen Teilnehmern, ein bisschen Schauspielerei gehöre ja leider immer dazu. Man müsse Schauspieler sein, jemand anderes sein oder so tun als ob, damit man mit den Großen mitspielen kann. Ganz falsch ist das nicht: Eine Lehrerin ist bei der Arbeit in der Rolle einer Lehrerin. Ein Vater ist in der Familie in der Rolle eines Vaters. Ein Chirurg am OP-Tisch agiert in der Rolle eines Chirurgen.

Doch der Weg der Professionalisierung gelingt nur mit einer ordentlichen Portion Reflexionsfähigkeit und Selbsterkenntnis, mit Urteilsvermögen und Selbstverantwortung. Und mit der Fähigkeit, vernünftig zu unterscheiden: Chirurgie ist nichts, was man mal eben so schauspielert. Und Schauspiel ist auch nichts, was man mal eben so abspult. Wir spielen im Leben zwar eine Menge Rollen, aber wir sind keine Schauspieler.

Noch einmal: Wir sind keine Schauspieler! Ich halte Schauspielerei für einen außerordentlich anspruchsvollen Beruf. Ausgeübt von Männern und Frauen, die jahrelang diesen Beruf studiert, gelernt und auf echten Bühnen ausgeübt haben. Die Welt ist keine Bühne. Ein Unternehmen erst recht nicht. Und die vielen Mitarbeiter und Führungskräfte sind keine Schauspieler. Sie sind Chemiker, Steuerfachangestellte, Elektrotechniker, Werbekaufleute, Laborassistenten oder Vorstände, vielleicht Juristen, Schreiner, Betriebsräte, Politologen oder Versicherungsfachleute.

Keine Schauspieler.

Selbst, wenn ich einen Vortrag oder eine aufgeblähte PowerPoint-Präsentation abspule, bin ich kein Schauspieler. Genauso wenig bin ich ein Bäcker, nur weil ich die Fähigkeit habe, Aufback-Croissants aus dem Billigmarkt um die Ecke in meinem heimischen Marken-Backofen kross zu backen. Eigentlich doch klar.

Rollentheorie? Irrelevant.

Mir ist klar, dass wir nicht frei sind von den Konventionen und Normen unserer Gesellschaft, unseres Milieus, unseres Berufsstands und unserer Familie, in der wir aufgewachsen sind und in der wir leben. Mehr noch: Mir ist klar, dass die Verinnerlichung von Rollenerwartungen ganz wesentlich zur Formung unserer Persönlichkeit beiträgt.67