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Reinhard Wolters

DIE RÖMER
IN GERMANIEN

Verlag C.H.Beck


Zum Buch

«Als die Römer frech geworden …, zogen sie nach Deutschlands Norden.» Unübersehbare Zeugnisse der sprichwörtlich gewordenen antik-römischen Expansion begegnen uns auch heute noch allenthalben in baulichen Überresten wie dem Limes und in zahlreichen Einzelfunden. Aber der Kontakt zwischen den Römern und den germanischen Stämmen gestaltete sich weit vielfältiger, als es die in der Vergangenheit gerne chauvinistisch stilisierte Varusschlacht im Teutoburger Wald (9 n. Chr.) und die Überreste bzw. Rekonstruktionen der römischen Verteidigungsanlagen vermuten lassen. Spannend und informativ stellt Reinhard Wolters die rund fünfhundertjährige Geschichte der Römer in Germanien und ihre weitreichenden, Kultur und Geschichte unserer Heimat prägenden Folgen dar.

Über den Autor

Reinhard Wolters ist Professor für Numismatik und Geldgeschichte an der Universität Wien. Die römisch-germanischen Beziehungen zählen neben der antiken Wirtschaftsgeschichte zu seinen langjährigen Forschungsschwerpunkten.

Im Verlag C.H.Beck sind vom selben Autor erschienen: Nummi Signati. Untersuchungen zur römischen Münzprägung und Geldwirtschaft (1999); Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien (aktualisierte und erweiterte Auflage, 2017).

Inhalt

Einleitung

1. Die geographischen und ethnographischen Vorstellungen von Nordeuropa in der Antike

2. Caesar am Rhein: Zur Archäologie des Germanenbegriffs

3. Gallier, Römer und Germanen von Caesar bis zur Niederlage des Lollius

4. Grenzschutz oder raumgreifende Eroberung? Die augusteischen Feldzüge im rechtsrheinischen Germanien

5. Germanische Stämme und römisches Militär: Formen der römischen Herrschaft im Gebiet zwischen Rhein und Elbe

6. Arminius und der Untergang des Varusheeres im Teutoburger Wald

7. Die Feldzüge des Germanicus und der römische Verzicht auf das rechtsrheinische Germanien

8. Rom und Germanien bis zur Errichtung zweier germanischer Provinzen unter Domitian

9. Der Ausbau des Rhein- und Donaulimes

10. Das Leben in den beiden germanischen Provinzen

11. Das rechtsrheinische Germanien und seine Beziehungen zum Imperium Romanum

12. Wandlungen in der germanischen Stammeswelt und das Ende des Limes

13. Das Arminiusbild und die Erforschung der Römerzeit in Deutschland und Österreich

Zeittafel

Literatur

Bildnachweis

Register

Einleitung

«2000 Jahre Römer in Germanien» – zahlreiche Städte wie Augsburg, Bonn, Köln, Neuss oder Trier haben unter diesem oder einem ähnlichen Motto ihre Anfänge gefeiert. Im Jahr 2009 erlebte die Bundesrepublik Deutschland schließlich die von Politik und Medien überschäumend aufgegriffene Erinnerung an den 2000sten Jahrestag der «Schlacht im Teutoburger Wald», den Sieg germanischer Stämme über die römische Besatzungsmacht im Herbst 9 n. Chr. Auch wenn die möglichen Identifikationen in diesem Fall ganz anders gelagert sind, so erinnern die Jahresfeiern doch daran, dass die römische Vergangenheit viele Anfänge in unserem Raum gesetzt hat – Anfänge, die nicht nur bis in die Gegenwart weiterzuverfolgen sind, sondern die diese Gegenwart in mancher Weise vorformen. Zugleich zeigen sie die anhaltende Bereitschaft, die Römerzeit als prägenden Teil unserer Kultur anzunehmen und sich weiterhin mit ihr auseinanderzusetzen.

Verfolgt man die eingangs genannten Städtenamen auf einer Landkarte, so ist zu erkennen, dass das römische Erbe im deutschsprachigen Raum nicht gleich verteilt ist: Alle Orte befinden sich links des Rheins oder südlich der Donau. Sie markieren eine Linie, bis zu der das Römische Reich als politisches Gebilde vorstoßen konnte. Zwar lassen sich auch jenseits dieser Ströme römische Plätze finden – an der Lippe die Orte Holsterhausen, Beckinghausen, Oberaden, Haltern und Anreppen, als teils spektakuläre Neuentdeckungen der letzten Jahrzehnte Lahnau-Waldgirmes in Hessen, das niedersächsische Hedemünden und Marktbreit in Franken, zuletzt Barkhausen an der Porta Westfalica und Wilkenburg bei Hannover –, doch im Gegensatz zu den bis in die heutigen Stadtgrundrisse römisch geprägten Städten an Rhein und Donau müssen die materiellen Spuren der Römer an diesen Orten von den Archäologen erst mühsam sichtbar gemacht werden: Eine vergleichbare römisch geprägte zivilisatorische Entwicklung, mit ihrer überall noch sichtbaren Intensität, Qualität und Nachhaltigkeit, haben die rechtsrheinischen Militäranlagen und Zivilplätze Roms nicht genommen. In den seltensten Fällen konnte sich an diesen Plätzen überhaupt eine Kontinuität der Siedlung ausbilden.

Was sich hier zugleich zeigt, ist die Entstehung einer Grenze. Die Ausdehnungsversuche des von den Römern als prinzipiell unbegrenzt angenommenen Römischen Reiches blieben letztlich in ihren Aufmarschpositionen stecken. Die politischen Einfluss- und Herrschaftsbereiche Roms rechts des Rheins, die sich vorübergehend sogar bis zur Elbe erstreckten, gingen nach rund 20 Jahren als eine Folge der Vernichtung des Varusheeres im Jahre 9 n. Chr. verloren. Kurzfristige Versuche, die römische Herrschaft über diese Gebiete wieder herzustellen, wurden alsbald abgebrochen. Allein in Hessen nördlich des Mains und in Baden-Württemberg östlich des Rheins kam es noch zu einer etappenweisen Verschiebung der römischen Grenze nach Osten: Butzbach, Heddernheim, Heilbronn, Bad Cannstatt, Rottweil, Lorch, Aalen oder Rottenburg haben entsprechend noch etwas Zeit, sich auf ihre Doppelmillenniumsfeier vorzubereiten.

Die westlich des Rheins und südlich der Donau gelegenen Gebiete nahmen als Angehörige des Imperium Romanum für nahezu fünf Jahrhunderte an dem wirtschaftlichen und kulturellen Austausch im Römischen Reich teil und öffneten sich in vielfacher Weise der Mittelmeerzivilisation. Wachstum und architektonisches Aufblühen der großen Städte sind nur besonders sinnfällige Zeugnisse dieses Prozesses. Ganz anders verlief dagegen die Entwicklung jenseits dieser Ströme. Hier blieb die Gesellschaft weiterhin in Stammesstrukturen organisiert und fern von jeder Urbanität. Siedelte in vorrömischer Zeit diesseits und jenseits von Rhein und Donau eine durchaus homogene Bevölkerung mit vielfachen Kontakten auch über die Flüsse hinweg, so entwickelte sich jetzt mit der politischen Grenzziehung nach und nach eine ökonomische, kulturelle, und in gewissem Sinne auch ethnische Grenze. Gleichwohl: Genaueres Beobachten zeigt, dass die Gebiete jenseits des auch als bauliche Barriere verfestigten Limes keineswegs vom Römischen Reich ausgesperrt waren, sondern wirtschaftliche und politische Kontakte in je wechselnder Kontinuität fortbestanden.

Wenn im Folgenden die römischen Anfänge in Nordwesteuropa vorgestellt werden, so liegt der besondere Reiz für eine Beschäftigung mit dieser Region darin, dass wir es hier zugleich mit einer Grenzzone des Imperium Romanum zu tun haben: Das Aufeinandertreffen von römischer Zivilisation und einer von den Römern als barbarisch empfundenen Randkultur, die Romanisierung des einen Teils und die – nach den abgebrochenen römischen Anfängen – dann in vielem doch unabhängige Entwicklung des anderen Teils erhellen sich gegenseitig und lassen die erfolgten Veränderungen scharf hervortreten. Der Vorgang der römischen Expansion, die Romanisierung selbst, das Ende und die Nachwirkungen des Römischen Reiches werden hier weitaus transparenter als an anderen Orten.

Zugleich soll mit diesem Rückblick eine Phase der eigenen Vorgeschichte wieder lebendig gemacht und in ihren Zusammenhängen verdeutlicht werden. Vielleicht gelingt es, auf diesem Weg die vielfach sichtbaren Spuren der Römer und auch der Germanen besser zu erkennen und ihren Entwicklungsgang leichter nachzuvollziehen. Nicht zuletzt ist es das Christentum – gemeinsam mit der germanischen und der römischen Kultur drittes Fundament des mittelalterlichen Europa –, das unter den Bedingungen des römischen Weltreiches seine Ausdehnung auch bis nach Nordwesteuropa erfuhr: Wenn die unser Zeitdenken prägende christliche Ära uns in diesen Jahren schließlich die Millenniumsfeiern begehen lässt, so ist auch diese, ja keineswegs von allen Kulturen geteilte Zählung auf der Grundlage von Caesars reformiertem Sonnenkalender ein weiteres Element unseres täglichen römischen Erbes.

1. Die geographischen und ethnographischen Vorstellungen von Nordeuropa in der Antike

Der europäische Norden wurde den Römern erst spät bekannt. Als das Römische Reich bereits Italien, Griechenland, Kleinasien, Syrien, Nordafrika und Spanien umfasste und die ganze Mittelmeerwelt kontrollierte, standen die geographisch weitaus näher gelegenen nördlichen Gebiete, schon mit dem Alpenraum beginnend, noch außerhalb römischer Kontrolle – und weitgehend außerhalb des römischen Erfahrungsbereichs.

Kursorisch waren auch die geographischen Kenntnisse der Römer über Nord- und Nordwesteuropa. Die früheste, stark von philosophischen Ordnungsvorstellungen geprägte griechische Geographie kannte drei Erdteile, nämlich Europa, Asien und Afrika, die in die Fläche übertragen einen Kreis füllen würden. Durch Mittelmeer und Arabischen Golf getrennt, nahmen Europa danach die obere Hälfte, Afrika und Asien in annähernd symmetrischer Form je ein unteres Viertel ein. Rings umgeben wurden die kontinentalen Landmassen von dem Oceanus. Zu ihm öffnete sich das Mittelmeer hinter der Meerenge von Gibraltar, doch auch der Arabische Golf oder das Kaspische Meer galten als Einbuchtungen des Ozeans.

Kolonisation, bereits wissenschaftlich angelegte Erkundungen, Handelsbeziehungen und politische Kontakte, vor allem aber die Expansion des Alexanderreiches trugen dazu bei, dass die Kenntnisse über den Mittelmeerraum, über Afrika und insbesondere Asien erheblich verbessert und differenzierter wurden. Die Summe des Wissens aus spekulativen Weltbildern, mathematisch-astronomischen Berechnungen und vielfacher Empirie trug im 3. Jahrhundert v. Chr. der griechische Gelehrte Eratosthenes von Kyrene zu einer Geographie und einer weiteren Schrift über die Erdmessung zusammen, wodurch er für lange Zeit zur maßgeblichen Autorität auf diesem Gebiet wurde (Abb. 1). Zu seinen besonderen Leistungen zählt die mit 252.000 Stadien (das entspricht 36.690 Kilometern) erstaunlich genaue Berechnung des Umfangs der Erdkugel, deren Oberfläche er zugleich schon in Längen- und Breitenkreise einteilte.

Der Westen Europas mit Italien und Spanien wurde von ihm relativ genau beschrieben, doch der Norden verlor sich immer noch in einer eher schematischen Landmasse. Das Kaspische Meer galt ihm weiterhin als zum Ozean hin offen, und die Rheinmündung setzte er auf fast dieselbe Breite wie die Nordküste des Schwarzen Meeres.

Während das Schwarze Meer durch die griechische Kolonisation seit Jahrhunderten bekannt war und man annahm, dass nördlich davon bis zum Ozean die Skythen lebten, lag an konkreten Erkundungen für das westlich davon angesetzte Gebiet der Kelten im Prinzip nur die berühmte Beschreibung der Nordfahrt des Pytheas vor. Am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. war der Seefahrer und Geograph von Massalia (Marseille) aus über den Atlantischen Ozean bis Britannien vorgestoßen und hatte die Insel umfahren. Anschließend segelte er weiter durch die Nordsee Richtung Osten, doch es ist unsicher, wie weit er gelangte. Jütland dürfte von ihm nicht mehr umschifft worden sein. Pytheas erwähnte in diesem Raum das Wattenmeer, berichtete von Bernsteinvorkommen und nannte mit den Guionen und Teutonen erste Völkernamen dieser nördlichen Region.

Abb. 1: Die Erdkarte des Eratosthenes (Rekonstruktion)

Nahmen Griechen wie Römer im äußersten Norden noch für lange Zeit die Existenz von allerlei Fabelvölkern an – wie etwa die sich allein von Sumpfvogeleiern und Hafer ernährenden Oenonen, die pferdefüßigen Hippopoden und die nur durch ihre großen Ohren bekleideten Panuatier –, so wurden die konkreten Vorstellungen der Römer von den im Norden wohnenden Menschen durch die Erfahrungen des Keltensturms geprägt: Um das Jahr 387 v. Chr. war es bis nach Italien vorgestoßenen Kelten gelungen, Rom einzunehmen, die aufstrebende Stadt weitgehend zu zerstören und die Bewohner zur Zahlung eines schmählichen Tributs zu zwingen. Das bei der Abwägung des Goldes zynisch gezischte «vae victis» – «Wehe den Besiegten» –, mit dem der Keltenführer Brennus sein Schwert noch zusätzlich zu den von den Römern als manipuliert – weil zu schwer – empfundenen Gewichten in die Waagschale warf, prägte sich tief ins kollektive Gedächtnis ein. Es veranlasste die römischen Politiker noch Jahrhunderte später, die Verhältnisse im Norden Italiens stets mit allergrößtem Misstrauen und mit durchaus existentieller Angst zu beobachten.

Mehr als zwei Jahrhunderte nach dem Keltensturm schien sich diese elementare Gefährdung zu wiederholen. Aus dem Norden Europas, vermutlich von Jütland, waren Kimbern aufgebrochen, die auf ihrer jahrelangen Suche nach neuen Wohnsitzen mit ihren Familien schließlich bis in den Alpenraum vordrangen. Die Bereitschaft zum Verlassen angestammter Wohngebiete war damals in Nordeuropa insgesamt, vielleicht aufgrund sich verschlechternder klimatischer Bedingungen, erheblich gestiegen: Zahlreiche Gruppen wie etwa die Teutonen, Ambronen und Tiguriner schlossen sich den Kimbern an, andererseits kam es aber auch immer wieder zu Abspaltungsbewegungen und erfolgreichen Landnahmen.

Die Rom gänzlich unverständliche Mobilität dieser Gruppen, die nicht sesshafte Lebensweise und die schon in der Kleidung abweichende äußere Erscheinung beunruhigten zutiefst. Die Menschen aus dem Norden schienen nicht nur eine existentielle Bedrohung der römisch-imperialen Ordnung, sondern der Zivilisation überhaupt zu sein. Versuche, das Fremde begreifbar zu machen, waren einerseits, diese Völker als Repräsentanten einer früheren Kulturstufe zu sehen, wie man sie sich in Rückzugsgebieten und in den äußersten Zonen der bekannten Welt vorstellte. Mit Hilfe griechischer Kulturentwicklungstheorien erlaubte dieses zugleich die Zuschreibung zahlreicher für die jeweilige Kulturstufe als charakteristisch angesehener Merkmale und Verhaltensweisen.

Ein anderer und gleichfalls von den Griechen schon entwickelter Weg zur Erklärung – und damit zur Einordnung des Fremden in die eigene Welt – war, die besondere physische und psychische Disposition der Menschen auf die klimatischen Bedingungen ihrer Heimat zurückzuführen: «Die Völker, die im Norden leben, sind mit ungeheuer großen Körpern, heller Farbe, geraden und rötlichen Haaren, blauen Augen und viel Blut gebildet infolge der Fülle der Feuchtigkeit und des kalten Klimas. Die aber zunächst dem Südpol und unter der Sonnenbahn wohnen, werden infolge der starken Sonnenbestrahlung mit kürzeren Leibern, dunkler Farbe, krausem Haar, schwarzen Augen, schwachen Beinen und mit wenig Blut geschaffen. Daher sind sie auch, weil sie wenig Blut haben, ängstlicher, dem Eisen Widerstand zu leisten, aber Hitze und Fieber ertragen sie ohne Furcht, weil ihre Glieder mit der Hitze aufgewachsen sind. Daher fürchten die Körper, die im Norden geboren werden, das Fieber mehr und sind anfällig; infolge ihrer Blutfülle aber leisten sie dem Eisen ohne Furcht Widerstand» (Vitruv 6,1,3f. Übers. von C. Fensterbusch).

In derartigen Erklärungen verbanden sich Erfahrungen mit theoretischen Überlegungen, doch war diesen Modellen auch stets die gedankliche Konstruktion zu eigen, in Ergänzung eigener Beobachtungen und teils auch gegen sie. Eine überdies weitgehende Abhängigkeit derartiger «wissenschaftlicher» Theorien von zeitgenössischen Ereignissen zeigt sich daran, dass die Griechen vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Persern noch ein klimatisches West-Ost-Gefälle konstruiert hatten, während die Römer einige Jahrhunderte später mit Blick auf die Kelten eine Süd-Nord-Skala anlegten. Ideale Klimazone zur optimalen Entfaltung der körperlichen und geistigen Gaben war in beiden Fällen die jeweils eigene Heimat der Interpreten, d.h. Griechenland und später dann Italien.

Es zählt zu den Besonderheiten der Auseinandersetzung Roms mit den Nordvölkern, dass der Ehrgeiz einzelner römischer Heerführer immer wieder die ansonsten traumatischen Ängste vor diesen Völkern noch übertraf. Der Konsul Gnaeus Papirius Carbo eröffnete 113 v. Chr. in Erwartung eines ruhmvollen Sieges heimtückisch den Kampf gegen die Kimbern, die nach zuvor geführten Verhandlungen schon bereitwillig abrückten. Das Ergebnis war eine vernichtende Niederlage. Die Schlacht beim alpenländischen Noreia galt dem Historiker Tacitus am Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. als Ausgangspunkt eines grundlegenden römisch-germanischen Gegensatzes, auch wenn die damaligen Zeitgenossen die Kimbern noch als Kelten und nicht als Germanen einordneten. Im Jahr 105 v. Chr. erlitten die Römer in der Schlacht von Arausio (Orange) gegen denselben Gegner mit angeblich 80.000 Gefallenen eine der größten Niederlagen ihrer Geschichte überhaupt. Ehr- und Eifersucht hatten ein gemeinsames Handeln der beiden Konsuln verhindert, deren Heere nacheinander vernichtet wurden. Es war erst der militärisch weitaus nüchternere Marius, dem es nach über einem Jahrzehnt gelang, die Gefahr zu beseitigen. In zwei großen Schlachten, bei Aquae Sextiae (Aix-en-Provence, 102 v. Chr.) und beim norditalischen Vercellae (101 v. Chr.) besiegte er die Kimbern und ihre Verbündeten. Marius schmückte fortan der Titel, dritter Gründer Roms zu sein. Gleichwohl blieben die Ängste vor den scheinbar stets aggressiven und aufgrund ihrer Wildheit kaum zu beherrschenden Völkern des Nordens weiterhin bestehen – und gegebenenfalls auch instrumentalisierbar.

2. Caesar am Rhein: Zur Archäologie des Germanenbegriffs

Nach den Vorstellungen griechischer Geographen wurde der Norden Europas im Westen von den Kelten, im Osten von den Skythen bewohnt. Als Grenze zwischen beiden galt der Tanais, der heutige Don. «Germanen» werden für den Norden Europas erstmals von dem griechischen Universalgelehrten Poseidonios erwähnt. Er beschreibt sie in seinem großen, leider nur in Fragmenten erhaltenen Geschichtswerk am Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr. als Menschen, die «als Frühstück Fleischstücke (essen), welche gliedweise gebraten sind; dazu trinken sie Milch und ungemischten Wein» (Poseid. Fragmente der griechischen Historiker 87 F 22).

Die Beschreibung der Germanen durch Poseidonios gibt einen in der Antike durchaus geläufigen Typus wieder: Ähnlich beschrieb schon Homer die einäugigen Kyklopen oder Herodot die Skythen nördlich des Schwarzen Meeres. Die Charakterisierung als Fleischesser und Milchtrinker steht für eine frühe Kulturstufe, wie sie sich Poseidonios hier am äußersten Rand der Welt vorstellte. Gleiches gilt für die «barbarische» Art, den Wein unvermischt zu trinken. Höchstwahrscheinlich dachte sich Poseidonios die Germanen noch als eine den Kelten zuzuordnende, nur eben besonders primitive Kleingruppe im äußersten Nordosten Galliens.

Detailliertere Vorstellungen von Germanen kamen erst mit Caesar nach Rom, insbesondere durch seine allen Lateinschülern bekannten Commentarii zum Gallischen Krieg. In einem anlässlich seines zweiten Rheinübergangs eingefügten Exkurs verglich er die Gallier mit den Germanen. Ausführungen über Politik, gesellschaftliche Gliederung, Verfassung, Rechtsprechung und Kriegswesen, zudem über Religion, Brauchtum, Lebensweise sowie schließlich Landschaft, Landwirtschaft und Klima bei den Galliern einer- und den Germanen andererseits führten seinen Lesern die grundsätzliche Verschiedenheit der Gebiete rechts und links des Rheins sowie ihrer Bewohner vor Augen. Indem Caesar die Germanen erstmals ausführlich beschrieb und sie darüber hinaus als eigene Großgruppe den Galliern gegenüberstellte, vermittelte er die Vorstellung vom Rhein als einer ethnischen Grenze. Damit unterteilte Caesar den Norden Europas in eine von den Galliern, eine von den Germanen sowie ganz im Osten eine von den Skythen besiedelte Zone. Von nun an wurde dies fester Bestandteil des geographischen und ethnographischen Wissens der Römer. Allein die griechischen Gelehrten unterschieden weiterhin nur zwischen den Kelten (den Galliern) im Westen und den Skythen im Osten.

Hinsichtlich dieses geographisch umrissenen, aber ethnisch verstandenen Germanenbegriffs ist Caesars eigener Bericht allerdings nicht ganz frei von Widersprüchen. So vermerkt er etwa für die meisten Stämme der linksrheinischen Belgica – zum Beispiel für die von ihm gleichwohl als Gallier angesprochenen Treverer – eine germanische Herkunft. Einige kleinere Stämme links des Niederrheins klassifizierte er ausdrücklich mit dem Oberbegriff Germanen. Dem Bild zweier durch den Rhein getrennter, völlig unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen widerspricht ebenfalls, dass die Menapier nach Caesars eigenen Worten an beiden Ufern siedelten und sich im Falle einer Bedrohung auf das jeweils andere Ufer zurückzogen. Und im Bereich des Mittel- und Oberrheins erwähnt Caesar schließlich Gruppen, die sich, aus Gallien kommend, rechtsrheinisch angesiedelt hätten.

Das heute von der Archäologie feststellbare Bild – selbst wenn sie aufgrund bestimmter in den Hinterlassenschaften erkennbarer Eigenheiten und übereinstimmender Formenkreise nur von Kulturen, nicht von Ethnien sprechen kann – ist ebenfalls nicht geeignet, die Vorstellung vom Rhein als einer starren Grenze zu bestätigen. Hier zeigt sich für die Zeit Caesars eine eher horizontale Abfolge von Kulturen, die jeweils den Rhein in beide Richtungen überschritten. Im Süden war es die keltische Latènekultur, gekennzeichnet durch stadtartige umwehrte oppida, Münzprägung und in bescheidenem Umfang auch Schriftgebrauch. Sie erstreckte sich vom zentralen Gallien über das Voralpenland und Donaugebiet bis nach Böhmen. Darüber ist im nördlichen Mittelgebirgsraum eine Übergangszone festzustellen, die zwar noch manche Kennzeichen der Latènezivilisation wie oppida und Münzprägung aufweist, jedoch in der ausgeprägten Sitte, Tote mit reichen Grabbeigaben auszustatten, ein eigenständiges Profil zeigt. Auch diese Kulturgruppe lässt sich beiderseits des Rheins nachweisen. Die Bestattungssitte dieser Übergangszone setzt sich schließlich im norddeutsch-niederländischen Flachland als dritter Zone fort, wo die oppida gänzlich fehlen und auch entwickeltere Produktions- oder Wirtschaftsformen nicht mehr feststellbar sind. Auch für diese Kulturgruppe bildete der Rhein keine Grenze.

Caesars Definition der Germanen erscheint vor diesem Hintergrund rätselhaft. Mehrmals ist auf die besondere Nützlichkeit dieses Konzepts für Caesar hingewiesen worden: Die Beschreibung des Rheins als Völkerscheide machte den Strom zu einer natürlichen Grenze Galliens, was geeignet war, den Umfang der caesarischen Eroberungen implizit zu begründen. Verständlich gemacht werden konnte seinen Lesern damit auch, warum es zu keinem größeren Engagement in den Gebieten jenseits des Rheins mehr kam. Unverkennbar hat die Platzierung des Exkurses auch die Funktion, an dieser Stelle seines Kriegsberichts die eigentliche Untätigkeit während seines zweiten rechtsrheinischen Aufenthalts zu verhüllen und die unterlassene Verfolgung der suebischen Gruppen zu begründen.

Andererseits gebrauchte Caesar den Germanennamen schon im ersten Buch seiner Commentarii, und es war anscheinend nicht notwendig, ihn seinen Lesern ausführlich zu erläutern. Verfolgt man den Germanennamen in den auf die früheste Zeit verweisenden literarischen Quellen, so fällt eine Verbindung mit dem norddeutsch-niederländischen Flachland auf. In dieser Region dürfte jene Gruppe gelebt haben, die Poseidonios zu Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. überhaupt erstmals unter der Verwendung des Begriffs Germanen beschrieb, und in diesem Raum kannte Caesar auch die Germani cisrhenani. Der von Caesar vorgenommene verdeutlichende Zusatz cisrhenani (= diesseits des Rheins) ist Indiz dafür, dass GermanenGermanenGermania