Über das Buch

Wie ein Spiegel ist Alice bisheriges Leben in tausend Scherben zerbrochen. Sie hat die Enge und Stille, die Tyrannei des Großvaters nicht mehr ausgehalten. Und flieht zu Niko, ihrer großen Liebe. Von ihm erhofft sie sich Geborgenheit und Halt. Mit ihm verbringt sie einen Sommer voller Freiheit. Doch dann verändert sich alles: Niko ist zunehmend unbeherrscht. Im Moment der größten Verzweiflung gelingt es Alice, sich aus dem Strudel zu befreien. Julya Rabinowich schreibt mit einer erzählerischen Intensität, wie man sie im Jugendbuch lange gesucht hat. Eindringlich und mit poetischer Kraft schildert sie die Facetten der Gewalt und die Geschichte einer Emanzipation.

Julya Rabinowich

Hinter Glas

Carl Hanser Verlag

Für Bernadette

Mein Name ist Alice. Den Namen hat meine Mutter ausgesucht, wegen der Alice hinter den Spiegeln. Bekannter ist sie eigentlich aus Alice im Wunderland. Meine Mutter konnte nicht wissen, wie richtig sie damit lag. Ich hab mich auch in einer anderen Welt verlaufen. Manchmal war ich ganz klein, und manchmal war ich ganz groß. Manchmal fürchtete ich, in einem Meer aus meinen Tränen zu ertrinken. Aber ich habe es geschafft. Ich bin zurückgekommen und viel weiter gegangen, als ich es mir hätte träumen lassen, und ohne Dea wäre das Ganze womöglich anders ausgegangen. Dea war besser als jede Grinsekatze.

Prolog

Als Erstes sehe ich dieses Stückchen Stoff. Es ragt aus dem Wühlkarton heraus. Der Karton ist überfüllt, nein, vollgestopft, unten ist er schon ein wenig aufgeweicht und neigt sich auf die Seite. Es hat vor Kurzem geregnet, der Asphalt ist feucht. Es sind kaum noch Menschen da, die auf dem Flohmarkt etwas suchen oder verkaufen wollen, die meisten hat der unerwartete Wolkenbruch vertrieben. Ich habe den Regenguss in einem kleinen Café um die Ecke abgewartet, habe mit dem Gedanken gespielt, mir einen Kaffee zu bestellen. Ich mag keinen Kaffee, aber ich möchte mich erwachsen fühlen. Ich habe mir vorgenommen, erwachsen zu sein, stark.

Ich bin gerade erst umgezogen. Die neue Wohnung ist ungewohnt. Die neue Gegend auch. Mein neues Zimmer, das noch so unbewohnt und kahl wirkt, soll mit neuen Dingen befüllt werden. Ein neues Zuhause werden. Es ist klein. Viel kleiner als das davor. Aber es ist okay für mich. Einen runden hübschen Spiegel habe ich schon erworben, bevor der Wolkenbruch losging. Und ein paar geblümte Tassen. Vielleicht, denke ich, vielleicht noch eine bunte Tagesdecke fürs Bett. Der Stoff, der da aus dem Karton herausragt, könnte so eine sein.

Irgendetwas daran kommt mir vertraut vor. Das Stückchen Stoff hängt heraus wie eine Zunge, die bei Comicfiguren immer seitwärts aus dem Mund hängt, wenn sie gerade geschlagen werden oder verliebt sind. Dieses Zungenherausgehänge ist immer gleich — schräg auf die Seite. Ob die Figur nun glücklich ist oder gerade misshandelt wird, verraten meistens nur die Augen. Und ja, natürlich auch manchmal der Gesichtsausdruck. Mundwinkel rauf. Mundwinkel runter. Ich denke an diesen Gesichtsausdruck, frage mich, ob ich wohl so aussah, damals.

Ich greife nach dem Stück Stoff, ziehe daran. Die Sachen, die darübergehäuft sind, wiegen schwer. Ich muss mit aller Kraft zerren. Die Kiste neigt sich. Ich ziehe nochmals mit einem Ruck, ein zerknülltes Hemd fällt dabei hinunter, und halte schließlich das Objekt in den Händen: eine Stoffmütze mit buntem Muster. Die Zunge ist ein Mützenschirm, abgegriffen und ganz weich. Er würde mir schlaff ins Gesicht und über die Augen fallen, wenn ich die Mütze jetzt aufsetzen würde, so wie damals.

Ich drehe das Stückchen Stoff in den Händen, wende es: Es ist tatsächlich exakt diese Mütze.

Meine Mütze. Nikos Mütze. Mit schwarzem Filzstift steht innen mein Name. Für Alice, hat Niko hineingeschrieben. Und einen kleinen Menschen dazugemalt, mit langen, abstehenden Wellenlinien als Haare. Eine Strichmännchen-Medusa. Er konnte gut zeichnen, immer schon, mit wenigen Strichen eine ganze Welt sichtbar machen. Daneben mein Name. Und ein Herz darüber.

In dem Moment, in dem mir klar wird, dass es keine Täuschung ist, dass es genau diese Mütze ist, schießt mir neben der Erinnerung an sein Gesicht, an graublaue Augen und sonnengebräunte Haut auch der Geschmack von Blut im Mund ein. Der Geschmack überlagert alles — den Flohmarkt, das helle Sonnenlicht des noch sommerlich warmen Septembertages, die Straße, die Stimmen der Passanten. Das alles rückt so plötzlich weg, als ob eine riesige Hand im Puppentheater die Kulisse weggezogen hätte.

Das Leben verschiebt sich manchmal wie eine Kulisse, und man kann gar nichts dagegen tun, als mitzugehen in die neue Wirklichkeit, die die nächste Kulisse bietet.

Ich stehe wieder dort: in dem kleinen stickigen Zimmer. Alter Parkettboden, abgeschlagene Wände. Ich stehe dort und halte die Hand an den Mund. Der Schmerz bricht nicht ganz in mein Bewusstsein ein, er schwebt irgendwo hinter mir. Der Schmerz und mein Körper sind nicht deckungsgleich, nicht ganz übereinander — ich stehe neben dem Schmerz und der Schmerz neben mir. Die Hand, die ich auf die Lippen drücke, ist feucht. Und auf dem Parkett glänzen Blutstropfen. Mein Haar ist noch mitten im Schwung, gleich wird es ins Gesicht zurückfallen und einen grünen Schleier legen zwischen mich und dieses Zimmer. Ich höre ihn immer noch schreien, aus der Ferne.

»Du blöde Kuh«, brüllt er. »Du blöde Kuh! Ich wollte das nicht, du hast mich dazu gebracht!«

Er klingt nicht böse. Er klingt verzweifelt, aber das nützt weder mir noch ihm. Ich lasse das Haar zu Ende schwingen, wische das Blut aus meinem Gesicht und sage: »Das tust du niemals mehr wieder.«

Während ich spreche, spüre ich, dass ein Zahn locker sitzt und den Bewegungen der Zunge folgt. »Niemals wieder, hörst du?«

Meine Finger zittern, die Mütze fällt mir aus den Händen und auf die feuchte Straße. Bevor ich mich bücken kann, greift jemand anderes danach.

Ich kenne die Form dieser Hände. Unzählige Male habe ich sie gestreichelt, einige wenige Male gekratzt und versucht, sie von mir wegzudrücken. Wir sehen uns an.

Er hat immer noch langes Haar. Strähnen, die ihm ins Gesicht fallen. Er ist noch schlanker geworden. Die Wangenknochen stehen stärker hervor. Früher fand ich, dass er das schönste Gesicht von allen hatte. Trotz der gebrochenen Nase. Fahrradunfall in der Jugend. Ich fand sogar diesen kleinen Buckel auf seinem Nasenrücken schön, wie alles an ihm.

Er hebt die Mütze auf und sieht mich erst, als er sich wieder aufgerichtet hat. Bei ihm dauert es länger. Bis er mich erkennt. Meine Pupillen haben sich längst normalisiert, während seine sich noch immer weiten. Wir stehen reglos. Er hält immer noch das Stückchen Stoff fest, das mich angelockt hat, wie ein passender Köder bestimmte Fische anlockt.

Sein Adamsapfel springt einmal rauf und runter. In mir liefern sich der Impuls, schützend die Hand vors Gesicht zu halten, und der Impuls, ihm um den Hals zu fallen, einen wilden Zweikampf. Ich entscheide mich fürs Nichtstun. Er lächelt. Sein Lächeln ist schief auf die Seite verzogen. Er räuspert sich.

Ich will auch gerne lächeln. Doch die Lippen gehorchen mir nicht.

Er sagt: »Darf ich dir was schenken?«

Ich finde das lächerlich. Ich habe so viel, er noch weniger als zuvor.

Er streckt mir die Mütze entgegen.

Ich schüttele den Kopf. Der Spiegel rutscht mir aus der Umhängetasche und zerschellt in tausend silbern glänzende Scherben auf dem Asphalt.

*

Ich knie mich hin und versuche, die Scherbenstücke zu ordnen. So wie mein ganzes Leben. Diesmal kommt mir niemand zu Hilfe. Ich muss es allein schaffen. Wie konnte es nur so weit kommen? Das frage ich mich. Oft. Die Häufigkeit dieser Frage hat die Antwort nicht leichter gemacht. Denn jedes Mal war die Antwort eine andere, eine neue. Und jede dieser Antworten scheint endlich die richtige zu sein. Nur wenig später erwische ich mich aber trotzdem dabei, erneut die gleiche Frage zu stellen.

1. Spiegelscherbe

Folge dem weißen Kaninchen

Vielleicht muss man am Beginn anfangen. Dort, wo alles ins Rollen gekommen ist. Erst wie ein harmloses kleines Steinchen hoch oben auf einer kahlen Bergspitze. Und später wie eine ausgewachsene Scheißlawine.

Ja, Scheißlawine. So unromantisch kann man eine Urgewalt nur beschreiben, wenn man die Schnauze voll von der Liebe hat. Ja, ich habe die Schnauze voll von der Liebe. Aber das werde ich nicht an die große Glocke hängen. Sonst komm ich mir am Ende noch so bestürzend altklug vor. Ich bin immerhin noch nicht mal achtzehn. Da sollte man doch noch dieses Romeo-und-Julia-Ding anstreben, oder? Diese intensive Irrsinnigkeit, die dann beide komplett vernichtet zurücklässt. So à la Die Leiden des jungen Werther. Lässig sterben. Nicht irgendwie, sondern lässig. Das kann einem sehr cool vorkommen. Solange man ihm nicht tatsächlich nahe gekommen ist, diesem Abkratzen. Dann nämlich sieht die Sache ganz schnell ganz anders aus.

Wann ich Niko das erste Mal traf? Irgendwann im Laufe des zweiten Halbjahres.

Auf dem Weg zur Busstation hatte ich das Gefühl, nicht ganz wach zu sein. Als würde der Traum der vergangenen Nacht sich auf eigenartige Weise über mein Erwachen schieben, wie eine Wolke vor die Sonne — ein paar Strahlen brechen dann und wann durch, klar und hell, und der Rest ist verschleiert. Ich versuchte mich zu erinnern. Tiere kamen in diesem Traum vor. Nein. Nur ein Tier. Ein seltsames Tier, grau wie eine Nebelschwade, und auch genauso schwer zu greifen.

Im Bus starrte ich meine Füße an. Riemchensandalen, grün lackierte Zehennägel, an den Rändern schon etwas abgeblättert, weil ich zu faul war, es auszubessern. In der Spiegelung der Fensterscheibe sah ich nicht nur mein verschlafenes Gesicht, sondern auch Anna, eine Klassenkameradin. Wenn sie allein war, war nichts von ihr zu befürchten. Erst wenn Rosa dabei war. Ohne Rosa war Anna harmlos.

Wir stiegen aus. Anna traf ein paar Freunde. Ich traf niemanden. Glücklicherweise legten sie an Tempo zu und verschwanden bald um die Ecke. Ich ging langsam, ich wollte die Gruppe nicht einholen, und ich wollte auch nicht in zu geringem Abstand hinterhertrotten wie ein Hund. Das könnte sie noch auf Ideen bringen. Also schlich ich dahin, der Abstand zwischen mir und Anna wurde immer größer, und die Wahrscheinlichkeit, dass ich erst nach dem Läuten die Klasse betreten würde, auch. Die erste Stunde wurde glücklicherweise von einem sehr verständnisvollen Lehrer mit dem Namen Gerber bespielt, dessen Gutmütigkeit in seltener Einigkeit von allen ausgenutzt wurde. Er trug Bart, eine billige Brille und eine etwas merkwürdige Weste und war in Lichtgeschwindigkeit zur Lachnummer der ganzen Schule geworden — sogar anteilig des Lehrpersonals.

Als ich die Schule betrat, waren die Gänge bereits leer. Der Weg zu meiner Klasse führte durch die Aula, wo sämtliche Kunsterzeugnisse der ganzen Schule präsentiert wurden: mal schiefe Keramikfiguren, Fotografien oder bestickte Kissen. Diesmal also Bilder. Ich ging an der Ausstellung der Selbstporträts vorbei, die aus den Pinseln der Unterstufe stammten. Die meisten hatten große Ähnlichkeit mit Affengesichtern: geschmacklos kombinierte Farben, krumme Nasen und Münder. Haare, die aussahen wie Badeschwämme. Die Zeichenlehrerin musste wohl todesverachtend gewesen sein, das hier auszustellen.

Ich blieb vor der Klassentür kurz stehen und horchte hinein. Der Gutmütige dozierte über Philosophie. Im Hintergrund gediehen gedämpfte Unterhaltungen, die so überhaupt nichts mit Philosophie zu tun hatten. Ich konnte den Armen förmlich vor mir sehen, wie er seufzte und seine Finger ineinanderdrehte und sich räusperte, um die gnadenlose Geräuschkulisse zu übertönen. Am Tisch sitzend, den Oberkörper hin und her wiegend beim Sprechen — das machte er immer, wenn er besonders nervös war. Er tat mir leid. Ich kannte das. Ich seufzte. Holte tief Luft.

Immer war da diese Überwindung, mich der Klasse auszusetzen, die erst nach dem Unterricht in ihre einzelnen Bestandteile zerfiel. Einige meiner Mitschüler hatten gar nichts gegen mich, ließen mich sogar in Ruhe. Aber nicht, wenn sie geballt zusammengerottet waren.

Ich legte die Hand auf die Türklinke, aber bevor ich sie hinunterdrücken konnte, hörte ich Schritte. Jemand blieb direkt hinter mir stehen. Ich drehte mich um.

»Schaut echt übel aus.«

Ich dachte im ersten Augenblick, dass ich gemeint war, sah erschrocken an mir herunter, um festzustellen, was nicht stimmte. Eigentlich stimmte alles.

Ich kannte ihn nicht. Er war dünn, trug eine Jeans und ein rotes T-Shirt. Um den Hals ein türkiser Stein. Seine Nase war leicht schief, mit einem Buckel. Er lächelte, das wirkte sympathisch. Sehr weiße Zähne. Braun gebrannt, wie man es üblicherweise erst am Ende des Sommers ist. Auf der Stirn schälte sich die Haut etwas. Von der Sonne aufgehelltes längeres Haar. Schöne Hände. Von Farbflecken übersät. Alles an ihm war verwegen. Als wäre er gerade dem angesagtesten Surfstrand entsprungen. Er war älter als ich, vermutlich schon achtzehn.

Ich sagte nichts. Und ließ die Klinke los.

Er zeigte hinter sich, auf die Wand mit den Schaukästen. »Schau dir diese Visagen an. Wer hat denen bloß das Zeichnen beibringen wollen?«

»Die Mahler.«

»Siehst du. Das kann man niemandem beibringen. Das wächst entweder von allein oder gar nicht.«

Ich starrte ihn an und fragte mich, was er hier wollte.

»Heißt die wirklich Maler? Wie Malen? Kein Scheiß?«

»Mit h. Nein, ich glaub, das ist Zufall.« Ich drehte mich wieder um. Die Unterhaltung war seltsam, alles war seltsam an diesem Tag.

»Willst du die Tür nicht aufmachen?«

Ich stand mauloffen da.

»Dann lass mich mal«, sagte er und drängte mich zur Seite. Ich konnte meine Hand gerade noch zurückziehen, bevor sich seine Finger um die Türklinke legten. »Das ist nämlich auch meine Klasse. Und wir sind beide sowieso zu spät.«

Was zum Teufel, dachte ich. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Mit hundertprozentiger Sicherheit.

Die Tür ging auf, Sonnenlicht flutete aus dem hohen Glasfenster gegenüber und blendete mich. Unser Philosophielehrer saß wie ein vollendeter Märtyrer in diesem Glorienschein auf dem Lehrertisch. Die Hände tatsächlich ineinandergewunden, genau so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Die ganze Klasse schaute auf. Ich hasste solche Momente wie die Pest.

»Hallo, Alice. Schön, dass du da bist.« Der Märtyrer erhob sich und kam mir entgegen. »Und wen hast du uns da mitgebracht?«

Nur raus aus dieser Situation, das war alles, an was ich denken konnte. »Keine Ahnung«, sagte ich und rettete mich auf meinen Platz, zweite Reihe beim Fenster.

Surferboy im roten T-Shirt grinste nur wenig verlegen, streckte die Hand aus und schüttelte den Lehrerarm, als wären sie bei einem Vorstellungsgespräch. Dann schob er sich vor den Lehrertisch und begutachtete die Klasse, als wäre die sein Publikum. Es war der totale Bühnenauftritt. Dramatische Pause inklusive. Alle glotzten.

Er wartete auf den Höhepunkt des Schweigens, dann sagte er: »Ich bin Niko. Komme gerade von einer Weltreise. Jetzt auf Gastspiel in diesem Theater!«

Die komplette Klasse hielt wie ein Mann den Atem an. Das war unglaublich. Die Stille wurde dröhnend.

Schließlich räusperte sich Herr Gerber. »Herzlich willkommen, Niko. Setz dich doch auf einen freien Platz.«

Und natürlich: Das war jener neben mir. War ja klar.

In der Pause verschwand ich, so schnell ich konnte. Bevor jemand einen Witz auf meine Kosten riss, wie üblich. Meine Tasche vom Tisch fegte, wie beiläufig. Oder mir einen Stoß versetzte. Ich flüchtete wie immer in den Garten und verkroch mich in einen der hintersten Winkel. Sie ließen mich in Ruhe. Es gab zu viel Ablenkung, um mich zu jagen. Die Mitschüler tuschelten im Gang. Über den Neuen. Über die Weltreise. Ich setzte mich an den Rand des Brunnens und hörte dem Wasser beim Plätschern zu.

*

Ich nehme die scharfkantige Scherbe des Spiegels, schiebe sie zurück zu den anderen, vorsichtig, um mich nicht zu schneiden. Mein Puzzle hat sich nur wenig vervollständigt, es fehlt noch so viel. So viel, das man braucht, um zu verstehen. Zum Beispiel, wie es wirklich begonnen hat. Mit uns. Mit mir und Niko.

2. Spiegelscherbe

Ruhe vor dem Sturm

Ich kam ganz aufgewühlt heim. Irgendwas an diesem Neuen machte mich unruhig. Ich hoffte, diese Unruhe zu Hause loswerden zu können. Dabei wusste ich, dass ich noch nie irgendwas losgeworden war, in unserer hübschen Villa, die hinter Oleanderbüschen verborgen lag. Gepflegter tiefgrüner Rasen. Ordentlich geschnittene Hecke. Und eine Laube, von hellgelben Rosen umrankt. Dazu passend ein romantisch geschwungener Weg von der Gartentür bis zum Eingang. Für mich war das früher die gelbe Straße, der man folgen muss, um zum Zauberer von Oz zu kommen. Aber in der kleinen Villa wohnt kein Magiebegabter. Nur niedere Zauberkünstler. Vieles ist hier Schein. Und einiges nicht einmal eine Fata Morgana.

Ich schloss die Gartentür hinter mir. Warf prüfend einen Blick zu dem gewaltigen Gebäude, das hinter unserer Villa aufragte. Nicht ganz so groß wie ein Palazzo. Aber durchaus so protzig. Glücklicherweise stand keiner auf dem Balkon. Das Fenster zum Arbeitszimmer war geschlossen.

In einem der Nachbargärten bellte ein Hund. Unsere Gegend war reich an kleinen und mittelgroßen, in den Hundesalons des Vertrauens auf Vordermann getrimmten Hunden. Solche, die Glitzersteinchen am Halsband haben oder Mäntelchen mit Burberry-Muster.

Ich folgte dem gelben Weg zum Haus.

Meine Mutter lag auf der Chaiselongue im Wintergarten. Sie trug eine große, dramatisch spitz zulaufende Sonnenbrille — dabei schien gar keine Sonne. Ich wusste, was das bedeutete. Ich ließ sie in Ruhe und schlich mich an den Oleanderbüschen vorbei zum kleinen Schwimmbecken mit den drei Liegen aus geöltem Holz, eine für jedes Familienmitglied: mich, meinen Vater, meine Mutter. Das Wasser war noch nicht eingelassen. Ich setzte mich an den Rand und ließ meine Beine hineinhängen. Die türkisen Kacheln und den Marmor hatte meine Mutter aus der Türkei kommen lassen. Sie hatte sich vorgestellt, dass die ganze Familie hier gemütliche Stunden verbringen würde. Es war bis jetzt selten dazu gekommen. Meistens lag sie nur allein da. Mit ihrem perfekt sitzenden schwarzen Badeanzug. Und mit Architekturzeitschriften, die sie leicht gelangweilt durchblätterte. Schöne hochwertige Fotos. Die Texte dazu las sie nicht. Die meiste Zeit über lagen die Hochglanzmagazine auf dem Wohnzimmertisch drapiert, wie zufällig aufgeschlagen und von meiner Mutter mit bedeutungsvollen Gesten gestreichelt, wenn Besuch kam. Und wenn man die Museen, das Sommerfestival und das Stadttheater mit großzügigen Spenden bedenkt, gibt es viel Besuch. Jeder möchte einmal an der Reihe sein, und es gibt viel zu sponsern.

Sie geht langsam durch den Garten, vorsichtig, als ob er voller Fallstricke und Gruben wäre. Dem Boden hier ist einfach nicht zu trauen. Besser, man setzt jeden Schritt bedacht. Sicher ist sicher. Dieser Garten, in dem sie gerne fröhliche, bunte Kinderfeste gefeiert hätte, früher, als ihr noch nicht klar war, dass hier außer der Familie und ausgesuchten Gästen niemand sonst Zutritt findet. Die ausgesuchten Gäste sind ihr immer noch fremd. Auch mit ihnen muss man vorsichtig sein. Es gibt zu viel zu verbergen. Zu viel, das nicht gesehen werden darf. Und die von den Eltern ausgewählten Spielkameraden sind schon lange weg. Sie sind zu groß geworden und suchen sich mittlerweile ihre Freunde selbst aus. Sie ist einsam und immer noch nicht groß genug, um hier auszubrechen. Sie soll Kind bleiben. Das wünscht sich die Mutter. Das duldet der Vater.

Ich habe sie so oft beobachtet, wie sie sich vorsichtig durch diesen Ort bewegt. Diese Vorsicht ist ihr angewachsen. Sie füllt sie aus. Macht sie still. Und manchmal auch ungeschickt. Diese Vorsicht lässt mir kaum Platz. Dabei bin ich viel länger da als diese Vorsicht. Ich kenne sie so gut, wie sie sich niemals kennen wird. Aber sie weiß nichts von mir. Und ich werde weiter warten, bis wir vielleicht eines Tages wieder zueinanderfinden. Ich habe ja Zeit.

Ich wollte noch nicht ins Haus. Nicht wieder so tun müssen, als wäre alles normal. Bei ihr und bei mir. Langsam wurde ich allerdings richtig hungrig.

Ich spähte hinter den Büschen hervor. Meine Mutter tupfte sich ab und zu mit einem Taschentuch hinter der Brille die Augen ab. Schließlich stand sie auf und verschwand im Haus.

Ich nahm meine Schultasche und trabte Richtung Küche. Auf dem Weg lagen rosa Magnolienblütenblätter wie kleine pinke Löffelchen herum. Wenn man sich unter den Baum legte und in die Krone hinaufsah, bildete er eine duftende Kuppel.

»Alice?« Ihre Stimme kam von oben, vermutlich aus dem Schlafzimmer. »Schatz? Ich komm gleich.«

Sie war in ihre Stöckelschuhe geschlüpft. Ich hörte das Klackern nun deutlich. Klick-klack, die Treppe hinab. Küchentür auf. Auftritt: meine Mutter.

Schwarzes Etuikleid. Seidenstrümpfe, in denen ihre Beine glänzten wie jene von gut aufpolierten Roboterfrauen. Das konnte sie immer noch perfekt — auch wenn sie zu Hause und auch wenn sie am Ende war: Auftritte wie in ihren Filmen, die sie nicht mehr sehen wollte. Die ich mir natürlich heimlich alle angeschaut hatte. Ich wollte wissen, was die Leute meinten, wenn sie mich darauf ansprachen. Es fiel mir schwer, in dieser Frau, die über den Bildschirm tobte, meine Mutter zu erkennen. Sie wirkte so leicht. Energiegeladen. Selbstbewusst und wild. Schön.

Schön war sie allerdings auch jetzt noch.

Sie spitzte die Lippen, hauchte ein Küsschen mehrere Millimeter neben meine Wange. Die Sonnenbrille trug sie immer noch. Ich ignorierte die Brille und lächelte sie an.

»Wie war es in der Schule?«

»Okay.« Ausnahmsweise stimmte das diesmal sogar. Keiner hatte mir etwas getan.

»Ich nehme mir das sehr zu Herzen, Liebes.«

»Was?«

»Du bist immerzu so unglücklich. Seit Beginn des Schuljahrs. Und schon wieder so oft krank.«

Und wie so oft war da dieser Anflug eines Vorwurfs. Ich biss auf meine Unterlippe.

»Es nimmt mich und deinen Vater wirklich mit.«

Ich sah sie prüfend an. Okay. Wie üblich hatten sie meinetwegen gestritten, alles klar.

»Hast du Hunger? Ich habe uns was bestellt.«

»Nein, danke.«

Sie blieb etwas unschlüssig stehen, lächelte. »Dann lege ich mich wieder hin, ja? Am Abend begleite ich Papa auf einen Empfang.«

Ich nickte.

Sie ging die Treppe hinauf. Das Klackern verstummte, als es vom weichen Teppich im Schlafzimmer geschluckt wurde.

Sie würde an allen diesen Empfängen teilnehmen, egal wie schlecht es ihr ging. Nicht hingehen ging nicht. Vermutlich würde sie direkt nach einem Eingriff vom OP-Tisch aufstehen und lächelnd zu irgendeinem Event aufbrechen, auch wenn jeder Schritt schmerzen sollte wie bei der kleinen Meerjungfrau. Mein Vater würde anderes vermutlich auch nicht dulden. Ohne sie fühlte er sich nicht so repräsentabel, er wurde kratzbürstiger und gleichzeitig unsicherer, wobei es eigentlich sein Geld war, sein Ding, seine Geschäfte, nicht die meiner Mutter. Mein Vater und sie geisterten durch die angesagten Feste der Stadt. Sie sagten dazu: geschäftlich. Das war das Einzige, das meine Mutter beruflich unternahm. Sie drehte schon lange keine Filme mehr. Sie trat nicht mehr auf. Dafür warf sie sich mit verdreifachter Konzentration auf mich. Ich war ihr letztes großes Projekt. Das Projekt verlangte ihr viel ab, ich war immer schon ständig krank.

Ich riss die Kühlschranktür auf: fein säuberlich verpackte Schüsselchen. Ich holte mir wahllos Kleinigkeiten heraus, nahm eine Limonade dazu. Setzte mich mit einem Buch in den Wintergarten und tat so, als ob heute in der Schule gar nichts Aufwühlendes geschehen wäre. Ich las immer wieder dieselbe Stelle. Irgendwann kam mein Vater heim. Niemand fragte nach, warum ich da so lange saß, und ich begann mir selbst erleichtert zu glauben, dass gar nichts passiert war. Es war nichts passiert. Gar nichts.

3. Spiegelscherbe

Fast Forward

Eine Liebesgeschichte beginnt immer schon, bevor sie eigentlich begonnen hat. Dieses Flattern der Nerven, dieses heimliche Schauen, diese Angst, Wut und Hoffnung, lange, sehr lange, bevor die wirkliche Annäherung passiert. Das ist so ein elender Schwebezustand, wie das lange Fallen in den Kaninchenbau. Sie weiß es eigentlich schon jetzt, wohin die Reise geht. Aber sie kann es noch gut verdrängen. Das macht mir nichts. Alles, was sie verdrängt, landet schlussendlich bei mir. Ich hebe es für sie auf. Eines Tages wird es wieder ihr gehören.

»Kann ich deinen Radiergummi haben?« Niko setzte sein strahlendstes Lächeln auf.

»Bitte, da.« Ich sah ihn nicht einmal richtig an. Ich versuchte, das Stillleben, das uns Frau Mahler liebevoll und viel zu hoffnungsfroh aufgebaut hatte, halbwegs korrekt auf mein verkleckstes Blatt Papier zu übertragen. Die Kannen sahen allesamt verformt aus. Bildende Kunst war einfach nicht meine Stärke. Aber bemühen wollte ich mich schon aus Prinzip.

Niko lehnte sich zu mir herüber. »Der Winkel ist falsch.«

Ich schwieg und schwang den Pinsel.

»Willst du meins anschauen?«

»Nö.«

»Bist du immer so ruppig?«

»Nein, nur wenn man mich beim Arbeiten stört.«

Er legte den Radiergummi zurück.

Rosa kam an unseren Tisch und stellte sich hinter mich. »Na, Queen Bazilla«, sagte sie.

Ich zog reflexartig die Schultern hoch, aber sie schnippte nur mein Bild zur Seite. Niko war in seine Arbeit vertieft und merkte nichts. Oder er wollte nichts merken. Wer weiß.

»Das sieht aber toll aus, Niko!« Sie lachte ihn an und warf ihr Haar zurück.

Niko blähte sich auf wie ein Ochsenfrosch und sah mich erwartungsvoll an. Ich blickte auf mein Bild und ignorierte ihn. Als ich irgendwann wieder hochschaute, stellte ich fest, dass er mich konzentriert beobachtete.

Als ich am Ende der Stunde meine Zombiekannen abgab, lag Nikos Bild schon auf dem Stapel. Zwischen den Kannen ragte ein Gesicht hervor. Ich sah genauer hin. Das Gesicht sah aus wie meins. Sogar den leicht störrischen Zug um den Mund hatte er getroffen. Ich musste lächeln. Achtlos warf ich mein Blatt zu den anderen und verließ die Klasse.

Draußen wartete Niko, aber ich ging an ihm vorbei, als würde ich ihn nicht sehen. Rosa, die sich gerade anschickte, mir das Bein zu stellen, nutzte ihre Chance und begann lieber ein Gespräch. Ich hörte ihr Lachen den ganzen Gang hinunter.

Bitte. Sollte sie doch flirten. Wenn sie unbedingt wollte. Mir war das ganz egal. Wirklich.

Am Abend lag ich wach und dachte an seine Hände. Schöne Hände. Das musste ich mir eingestehen.

Der Rest der Woche verlief unspektakulär. Rosa war krank, und mit ihrem Fehlen entspannte sich meine Situation. Wenn sie nicht beständig Öl ins Feuer goss, schienen die anderen mich zu vergessen. Ich sprach ab und zu mit Niko. Ich machte meine Hausaufgaben. Ich passte ganz gut auf. Niko interessierte sich zusehends auch für andere in der Klasse, und man konnte wirklich nicht sagen, dass sie sich nicht auch für ihn interessierten. Vor allem die Mädchen. Die Tage fühlten sich nach Ruhe vor dem Sturm an, aber ich konnte nicht sagen, auf was ich eigentlich wartete. Aber am Freitag kam Rosa zurück, und alles nahm wieder an Fahrt auf.

Am Nachmittag stand noch Sportunterricht an. Einige hingen in der Mittagspause im Schulgarten ab, einige gingen nach Hause. Niko verschwand gleich nach dem Läuten. Ich war gleichzeitig erleichtert und traurig darüber. Fühlte sich seltsam an.

Ich setzte mich mit meinem Buch ins Gras. Nach den ersten fünf Seiten fiel ein Schatten über die Buchstaben. Ich hob den Kopf nicht. Manchmal half es, wenn man einfach nicht reagierte.

Zack.

Das Buch flog in hohem Bogen aus meinen Händen. Rosas Fuß erschien direkt vor meiner Nase. Ich studierte die bunten Schnürsenkel in ihrem pinken Sneaker. Sie schienen noch recht neu zu sein. Jetzt nur nichts sagen. Nicht weinen.

»Was liest du denn da?«, fragte sie mit freundlicher Stimme. Hinter ihr tauchten die üblichen Verdächtigen auf. Max. Sofie. Paul. Anna. Sie kreisten mich ein.

Ich hasste meinen Gesichtsausdruck. Hilflos. Dämlich. Ich versuchte aufzustehen, aber Max drückte mich wieder nach unten. Ich zog vorsorglich den Kopf ein. Damit sie mich nicht im Gesicht erwischten.

Rosa griff nach meinen Haaren. »Jetzt versteckt sie sich schon wieder. Lächle doch mal.«

»Wir beißen nicht«, fügte Paul hinzu. Sie klangen wie ein gut einstudierter Song.

Der Kreis um mich herum wurde mit jedem Satz enger. Jeder hatte seinen Einsatz, und keiner vergaß ihn.

Ich rührte mich immer noch nicht. Meine Rolle war uns allen auch gut bekannt. Fast vertraut.

Da fiel ein weiterer Schatten auf den Rasen.

»Was ist hier denn los, verdammt noch mal?!« Niko rempelte Sofie und Anna zur Seite. »Was macht ihr da? Seid ihr völlig bescheuert?«

Rosa starrte ihn wortlos an. Sie hatte offensichtlich ihren Text vergessen.

Niko streckte mir die Hand hin. Ich wagte nicht, sie zu ergreifen.

»Misch dich nicht ein«, sagte Max mit einem unsicheren Blick zu Rosa. Natürlich war er seit Ewigkeiten verknallt in sie, und natürlich war er ihr egal.

Rosas Mund ging auf und gar nicht mehr zu. Es war eine Art Erleuchtung. Glaube ich.

Ich stand auf.

Niko hob mein Buch hoch. »Was glotzt ihr so? Haut ab.«