Impressum

Rudi Benzien

Gitarre oder Stethoskop

ISBN 978-3-95655-965-5 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1977 Im Verlag Neues Leben, Berlin

 

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Prolog

Ich heiße Baltus. Den Familiennamen sage ich nicht.

Ich halte das nicht aus, dieses: Ach, sind Sie etwa mit dem Schriftsteller gleichen Namens verwandt? Sie sind doch nicht gar der Sohn von …?

Ja, von dem bin ich der Sohn.

Geschenkt! Ich bin ich, er ist er.

Immer wenn ich unseren Familiennamen nenne, wird sofort Interesse wach – aber nicht für mich. Oder habe ich vielleicht „Das Schützenfest“ und „Die Starterliste“ geschrieben?

Er ist der Große, ich ein Armleuchter.

Baltus Armleuchter!

Nicht dass ich immer so von mir gedacht hätte, bis vor ein paar Wochen war noch alles o. k., da stimmte mein Kompass: Dr. med. war haarscharf angepeilt. Was sollte auch schiefgehen? Leistungsdurchschnitt eins Komma null; die Beurteilung meiner gesellschaftlichen Arbeit und meiner Persönlichkeit hätte gereicht, um ZK-Mitglied zu werden.

Noch klingt mir wie feierliches Glockengeläut die Rede unseres Direktors in den Ohren, die er auf unserer Schulfete hielt: „… an diesem Baltus können sich viele ein Beispiel nehmen, der weiß nicht nur, was er will, der weiß auch, was er tun muss, um sein Ziel zu erreichen. Dabei strebt er nicht nur für sich, immer ist er darum bemüht, sein Kollektiv durch aktive Mitwirkung voranzubringen. Arzt zu werden ist sein Berufswunsch. Bei seinem Streben nach Höchstleistungen in allen Fächern, seiner großen Einsatzfreudigkeit, da bin ich sicher, wird er es schaffen. Ich wüsste keinen Würdigeren, dem ich die Herder-Medaille an die Brust heften könnte …“

Peinlich war mir die Rede. So als dekoriertes Vorbild durch die Schule zu wandern ist kein reines Vergnügen.

Trotzdem: Baltus, du liegst richtig. Das habe ich auch aus dieser Rede herausgehört.

Auf meinen Studienantrag hatte ich in die Spalte, wo man die gewünschte Fachrichtung angeben muss, „Medizin“ geschrieben. Und weil ich schließlich ein bombensicherer Kandidat war, schrieb ich in die Rubrik „Ausweichfach“ kühn und siegessicher auch „Medizin“. Es konnte ja nichts schief gehen.

Aber es ging schief!

Beim Umlenkungsgespräch ließ ich mich nicht umlenken.

Baltus, sagte unser Direktor, diesmal der stellvertretende, Sie können doch als junger Mensch noch nicht so festgelegt sein, dass es nur die Medizin sein kann und sonst gar nichts. Warum wählen Sie kein Lehrerstudium? In den naturwissenschaftlichen Fächern herrscht Lehrermangel.

Darauf hatte ich gewartet!

Lehrer ist ein wichtiger Beruf, davon muss mich keiner überzeugen. Bloß, Lehrer muss der werden, der das will, der eine pädagogische Ader hat. Sänger kann auch nur der werden, der eine Stimme hat, da nennt man das Talent. Und Lehrer kann auch nicht jeder werden. Ich zum Beispiel nicht.

So sagte ich das, genau so. Ich blieb stur. Die Medizin muss es sein, jawohl!

Sagt einer, Bauingenieur oder Offizier bei den Luftstreitkräften will er werden, da findet keiner was dabei. Doch sag mal Arzt … Man wird verdächtigt, dem großen Geld nachzujagen, der Magie des weißen Kittels erlegen zu sein, keine rechte Vorstellung vom Arztberuf zu haben, und überhaupt sei wohl eine ganze Portion Humanitätsduselei mit im Spiel.

Aber wie einer, der mal Maschinenbauingenieur werden will, die Biografien großer Erfinder liest und davon träumt, eine ungeheuer bedeutende Erfindung zu machen, so habe ich seit meinem zehnten Lebensjahr die Biografien der großen Medizinmänner verschlungen: Koch, Virchow, Sauerbruch, Brugsch, Schweitzer. Mit elf habe ich davon geträumt, dass mich Schweitzer dringend in Lambarene braucht. Ich habe mich, als ich sechzehn war, ein paarmal bei Vorlesungen eingeschlichen, Fachbücher gewälzt, medizinische Vorträge der Urania besucht. Ja, ich habe mich programmiert, eingleisig, ich will Arzt werden. Ich will lernen, gegen Krankheit und Tod zu kämpfen. Ich will, ich will.

Jetzt, wo ich dachte, nun geht es los, stehe ich vor einem Trümmerhaufen.

Geh doch zu deinem Vater, der hat Beziehungen, wenn er die spielen lässt, klappt es sicher, sagte meine Mutter. Das will ich aber nicht! Ich will nicht an mein Ziel gelangen, nur weil mein Vater ein Mann mit Beziehungen ist. Allein will ich es schaffen, allein! Dafür habe ich gebüffelt, geackert, mich manchmal Streber schimpfen lassen. Und wenn ich es je schaffen sollte, dann will ich es allein geschafft haben: Ich, Baltus, ohne Benutzung des bedeutenden Familiennamens …

1

Er sitzt in der Straßenbahn, zwischen den Knien den Hals seiner Gitarre. Sie ist ihm lästig, irgendwie. Überhaupt hat er recht gemischte Gefühle.

Vor drei Wochen hatte er den Brief an Prof. Dr. Birrhahn geschrieben, an diesen Birrhahn, bei dem er sich oft in Vorlesungen eingeschlichen hatte.

Mit diesem Brief wollte Baltus Orakel spielen: Sollte ihn der Professor zu einem Gespräch einladen, egal wie es ausgehen würde, dann wollte er das als ein gutes Zeichen werten.

Birrhahn hat ihn zu sich bestellt!

Vielleicht, weil er den Familiennamen …

Als Baltus Marina von diesem Brief und der damit verbundenen Orakelei erzählt hatte, hatte sie gesagt:

Baltus, ich kann mir nicht helfen, du bist ein Kindskopf.

Jetzt, wo er auf dem Weg zur Universitätsklinik ist, gibt er Marina im Stillen recht:

Ja, ich muss schwachsinnig gewesen sein. Was soll denn bei diesem Gespräch herauskommen?

Dazu diese Gitarre, die er bei sich hat. Aber gleich nach dem Gespräch bei Birrhahn muss er zur Probe: Die Schulband, die er vor drei Jahren gegründet hat, soll übermorgen in einem Altersheim spielen.

Schwanengesang. Das letzte Mal werden sie bei dieser Gelegenheit zusammen spielen, dann ist Schluss, aus, sie werden sich in alle Winde zerstreuen. Erst die Ferien, die letzten als Schüler, danach gehen sie zur Armee, anschließend zum Studium – die anderen fünf.

Die Bahn hält. Baltus steigt aus. Um sich selbst Mut zu machen, geht er mit besonders forschem Schritt auf das rote Backsteingebäude zu, stürmt er fast durch das Gittertor. Dann werfen Korridorwände seinen hektischen Schnellschritt als Echo zurück, er mäßigt seinen Schritt, er spürt, wie seine Handflächen feucht werden.

Er überlegt: Noch kann ich umkehren, einfach umkehren, so tun, als hätte ich nie diesen Brief geschrieben.

Aber gleichzeitig hämmert es in seinen Schläfen: Feige, feige, feige.

Weiter geht er durch den Krankenhausflur, eine Schar kichernder Lehrschwestern kommt ihm entgegen.

Wem will der denn ein Ständchen bringen? Die Entbindungsstation ist doch im Haus drei, hört er sie lästern.

Baltus überholt einen Pfleger, der eine alte Frau in einem Rollstuhl vor sich herschiebt.

Da steht er auch schon vor der Tür mit dem kleinen Pappschild: Prof. Dr. Richard Birrhahn.

Er lehnt die Gitarre gegen die Wand, wischt sich die feuchten Handflächen an der Hose ab und klopft an.

Er überlegt noch, ob er die Gitarre besser draußen stehenlässt, sieht vielleicht doch ein bisschen komisch aus, wenn er … Als aber dann ein raues Bitte von drinnen ertönt, greift er mechanisch zum Gitarrenhals und tritt ins Zimmer.

Kommen Sie näher, junger Mann, setzen Sie sich, sagt der hagere Professor, der an seinem Schreibtisch mit dem Rücken zum Fenster sitzt.

Baltus nimmt Platz und legt die Gitarre flach auf den Fußboden.

Ja, Ihren Brief habe ich gelesen. Ich habe Sie hergebeten, aber ich werde Ihnen kaum helfen können. Ihr Name übrigens, sind Sie der Sohn des Schriftstellers Preißmann?

Baltus zögert einen Augenblick mit seiner Antwort. Ihm klingt die Stimme seiner Mutter im Ohr: Geh doch zu deinem Vater, der hat genug Beziehungen …

Baltus antwortet krampfig, aber fest:

Nein, Herr Professor, das bin ich nicht.

Na gut. Was nun Ihr Problem betrifft, kann ich Sie nur fragen, was Sie sicher schon oft genug in der letzten Zeit gehört haben: Muss es denn wirklich die Medizin sein?

Baltus rutscht nervös auf dem Stuhl hin und her.

Ja, sagt er, ich will Arzt werden.

Der Professor beugt sich etwas über die Schreibtischplatte, wirft einen Blick auf die Gitarre und lächelt.

Nun, was kann ich Ihnen sagen? Mindestens drei Bewerber auf einen Studienplatz, alle haben die gleiche Papierform, gute Noten, gute Beurteilungen, das Prädikat „besonders geeignet“. Dass heißt: zwei müssen abgelehnt werden. Eine einfache Rechnung und hart für den, der zu den beiden Abgelehnten gehört. Ich muss Ihnen sagen, ein besonders gutes Gewissen habe ich nicht dabei. Wer weiß denn, ob von den Bewerbern wirklich der Begabteste, der Würdigste ausgewählt wurde? Ist nicht vielleicht unter den Abgelehnten ein potentieller Robert Koch oder ein Einstein der Medizin? Das Problem beschäftigt mich, aber ich kenne keine bessere Lösung … Und Sie, Sie können sich nicht vorstellen, etwas anderes als Arzt zu werden?

Baltus schiebt vorsichtig die Gitarre mit dem Fuß etwas weiter an den Schreibtisch heran, um sie so völlig dem Blickfeld des Professors zu entziehen.

Nein, ich will mir auch nichts anderes vorstellen. Ich will Arzt werden, sagt Baltus.

Ja, wenn Sie so hartnäckig sind, dann vermag ich Ihnen das wohl nicht auszureden, nur helfen kann ich Ihnen auch nicht. Haben Sie schon mal bedacht, in welche Lage Sie geraten können, wenn sich Ihr Wunsch nicht realisieren lässt? Lediglich einen Rat kann ich Ihnen anbieten: Arbeiten Sie ein oder zwei Jahre in einem Krankenhaus als Pfleger und versuchen Sie sich dann noch einmal zu bewerben. Vielleicht delegiert man Sie sogar. Aber eine Sache mit Garantieschein ist das nicht. Überlegen Sie es sich gründlich. Sie könnten, wenn Sie sich entsprechend entscheiden sollten, auch bei uns als Pfleger anfangen.

Der Professor nimmt einen Hefter von einem Stapel und beginnt darin zu blättern.

Baltus wertet das als ein Zeichen, dass der Professor das Gespräch für beendet betrachtet. Er steht auf, hebt die Gitarre vom Boden auf und sagt:

Ich danke Ihnen, Herr Professor, ich werde es mir überlegen.

Der Professor reicht Baltus die Hand über den Schreibtisch:

Auf Wiedersehen, Herr Preißmann.

Als er die Hand schon losgelassen hat, fügt er hinzu:

Vorhin, als Sie hereinkamen, hätte ich wetten mögen, dass Sie der Sohn des Schriftstellers Preißmann wären. Sie sehen ihm unwahrscheinlich ähnlich.

Schon an der Tür, dreht sich Baltus noch einmal um und sagt:

Sie hätten die Wette gewonnen, Herr Professor.

Er zieht die Tür hinter sich zu.

Über das Gesicht des Professors huscht ein Lächeln.

2

Haben Sie schon mal bedacht, in welche Lage Sie geraten können, wenn …, hat er gefragt. Als ob ich nicht schon längst in dieser Lage wäre. Aber ich habe ja noch meinen Vater! Einfach hingehen. Hallo, Vater, nichts geht mehr, greif mal in die Speichen. Er ans Telefon, ruft den oder jenen an, legt wieder auf, großes Siegerlächeln und: Na, siehst du, alles lässt sich regeln.

Ich käme mir vor wie ein Schwein.

Stolz und doof bist du, hat Tommy zu mir gesagt, bei so einem Alten, der braucht doch nur mit dem kleinen Finger zu schnippen, und dein Problem ist vergessen.

Er hat mir Peter aus der Parallelklasse als leuchtendes Vorbild vorgehalten! Peter ist keine große Leuchte, aber sein Vater ist auch was. Der hat dran gedreht, sein Sohn wird Archäologie studieren. Und da gibt es noch weniger Studienplätze als bei den Medizinern.

Marina sagte: Du bist ein wirklichkeitsfremder Idealist, ich meine, du hast so heilige Idealvorstellungen, daran kann man kaputtgehen. Ich kenne das. Als ich nach der Fachschule in den Kindergarten kam, dachte ich auch, jetzt geht es los, die Kinder, das Kollektiv … Die Kinder – ja, aber das Kollektiv bestand aus gehässigen Hexen. Darauf hatte mich keiner vorbereitet. Wir hatten immer nur von sozialistischen Kollektiven gesprochen, aber mir fehlten ein paar Lektionen in Hexenbeschwörung.

Marina, das schlaue Kind.

Natürlich habe ich Vorstellungen, ideale sogar. Kann ich was dafür? Ist es meine Schuld, dass ich keine Chance habe, meine Vorstellungen zu verwirklichen?

Bin ich vielleicht wirklich blöd, weil ich meinen Vater nicht in die Speichen greifen lassen will?

3

Baltus steht vor Marinas Haus. Sein Blick tastet sich die abgeblätterte, graue Fassade hoch bis zur Fensterpartie im dritten Stock. Alle Fenster stehen offen, es ist ein heißer Tag. Musik ist zu hören, sie kann nur aus Marinas Fenster kommen.

Baltus möchte mit Marina reden, über sich, über sein Gespräch bei Prof. Birrhahn, eben über alles. Zwar weiß sie selten Rat, aber sie kann zuhören. Er kennt keinen, der besser zuhören kann. Peter wäre da noch, aber der ist für Baltus’ Begriffe immer zu „praktisch“. Wo ist denn da ein Problem? würde er fragen. Geh einfach zu deinem Alten, und die Sache ist gelaufen. Baltus braucht jetzt jemanden, der zuhören kann, nur zuhört; dabei findet er dann oft selbst den rettenden Gedanken. Mit Marina geht das. Beichtmutter nennt er sie oft spaßhaft.

Er sieht auf die Uhr. Eigentlich ist es schon recht spät, aber wo Musik ist, da muss auch noch jemand auf den Beinen sein.

Er geht ins Haus, steigt die Treppen hoch.

In der zweiten Etage öffnet sich eine Wohnungstür, und eine keifende Frauenstimme schrillt durch das Treppenhaus und mischt sich mit den Klängen der Musik, die von weiter oben kommt, offensichtlich aus Marinas Wohnung:

Karl, Karl, jetzt geht da noch so ein Randalierer hoch, jetzt musst du aber den ABV holen …

Baltus steht vor Marinas Tür und liest die Inschriften, die in allen Farben aller gebräuchlichen Schreibwerkzeuge Informationen und Nachrichten für die Besitzerin der Wohnung darstellen. Nur die neueren liest er:

War schon dreimal hier, wo steckst Du? Muss Dich anpumpen. Tina. – Ruf mich an, 22 33 348, ist ganz wichtig, Petra. – Wenn man schon mal zu Dir zum Abendessen kommen will! Kommen morgen wieder. Bert und Britt.

Baltus will klingeln, da bemerkt er, dass die Tür nur angelehnt ist. Er geht in den Korridor. Musik von beträchtlicher Phonstärke empfängt ihn. In der Küche sieht er einen, der mit Messer und Brot rumhantiert; er hat ihn noch nie bei Marina gesehen. Als dieser fremde Mensch Baltus sieht, sagt er:

Hallo, wenn du mitfeten willst, dann zieh erst mal deine Schuhe aus, die Alte von unten war schon zweimal oben. Ansonsten, zweite Tür rechts, da spielt die Musik.

Ist nicht zu überhören, sagt Baltus und zieht sich seine Schuhe aus, stellt sie ordentlich zu den anderen, die wüst durcheinander in der Ecke liegen.

Im Zimmer herrscht schummriges Licht. Zwei Pärchen tanzen, ein Mädchen sitzt auf einem Kissen am Boden.

Baltus setzt sich neben sie.

Sei gegrüßt, Marina! Was feierst du?

Marina reicht ihm eine Zigarette und sagt:

Nichts, gar nichts, Zufallsfete! Und was treibt dich her?

Baltus nimmt ihr die Zigarette aus der Hand und steckt sie zurück in die Schachtel.

Nichts Besonderes. Bin einfach mal hochgekommen, hab Licht gesehen, und gehört habe ich euch auch, sagt er.

Marina nimmt sich eine Zigarette. Baltus gibt ihr Feuer.

Komisch, den Spruch „Bin einfach mal so hochgekommen“ haben alle aufgesagt, komisch. Sie pustet eine Rauchwolke flach über den niedrigen Tisch.

Die Musik hört auf, die Platte ist zu Ende. Die Tanzenden setzen sich und begrüßen Baltus. Einer der Jungen gießt Baltus einen Wodka ein.

Hier, Alter, nimm einen, du siehst verdammt ernsthaft aus, das stört die Stimmung. Prost!

Baltus trinkt, schüttelt sich und spült den Wodkageschmack mit einem Schluck Cola von der Zunge.

Gegenüber an der Wand, neben einem Bild von Che, hängt eine Gitarre. Baltus steht auf, nimmt sich das Instrument und stimmt die Saiten.

Er schlägt ein paar Akkorde an, kommt auf eine Melodie, Yesterday, ein Uralthit der Beatles. Die anderen summen mit, bewegen die Füße im Takt. Der Junge, der Baltus den Wodka eingegossen hat, klopft den Rhythmus mit den Fingern auf die Tischplatte.

Baltus hört auf zu spielen.

Der Mensch aus der Küche fragt:

Hast du mehr solche Sachen drauf? Muss ja nicht unbedingt aus der Beatmottenkiste sein.

Wenn du’s besser kannst, hier … Baltus hält dem anderen die Gitarre hin. Der nimmt sie, spielt kurz und verdammt routiniert, bricht ab, verneigt sich und sagt:

Darf ich mich vorstellen, Harry der Große, Leadgitarrist und Gelegenheitsdrummer der nicht unbekannten Gruppe „Total Global“.

Die anderen außer Baltus applaudieren.

Ohne sich darum zu kümmern, sagt Harry:

Du musst der einzige in diesem Land sein, der mich nicht kennt. Ein echtes Wunder, vor allem wenn einer so Gitarre spielt, wie du sie zu spielen scheinst.

Baltus stottert etwas verlegen: Entschuldige, wenn hier ein Fünfhundertwattscheinwerfer wäre, hätte ich dich erkannt. Alle lachen.

Der Baltus mit Wodka begrüßt hatte, kommt kauend aus der Küche.

Wenn hier gerade ein guter Witz vom Stapel gelassen wurde, dann bestehe ich auf Wiederholung, sagt er.

Eines der Mädchen legt eine neue Platte auf. Ein langsamer Titel. Das dämmrige Licht, die sanfte Musik, das passt zueinander.

Der ist gut, sagt der mit der Stulle, da könnte sogar die Omi von unten mittanzen.

Alle tanzen, nur Baltus bleibt auf seinem Kissen hocken und spielt leise auf der Gitarre mit.

Er schließt die Augen und katapultiert sich in einen „Gitarrentraum“, wie er es nennt. Das kann er fast immer, wenn er will: Er schließt die Augen, die Finger gehen über die Saiten, mit jedem Ton bringt er sich ein Stück dem Punkt näher, zu dem er sich hinträumen will.

Diesmal ist das so:

Er steht in Birrhahns Zimmer. Der Professor kommt hinter seinem Schreibtisch vor, geht auf ihn zu, schüttelt ihm stürmisch die Hand und sagt: Herr Preißmann, ich gratuliere Ihnen, natürlich sind Sie angenommen, so ein Talent lassen wir uns doch nicht entgehen, ich werde Sie im Auge behalten, ich setze die größten Hoffnungen in Sie …

Ein Rhythmuswechsel in der Musik bringt Baltus in die dämmrige Wirklichkeit des Zimmers zurück, und sie sieht so aus:

Harry tanzt mit Marina und verdammt eng dazu.

Da steht Baltus auf, legt die Gitarre auf das Sitzkissen, verlässt das Zimmer, zieht sich im Korridor die Schuhe an.

Eigentlich hat er nicht den geringsten Grund, auf Marina böse zu sein, schließlich geht er nicht mit ihr, sie nicht mit ihm. Kumpel sind sie, gute Kumpel, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Also kann sie so eng tanzen, wie sie will und mit wem sie will.

Baltus ist noch mit seinen Schuhen beschäftigt, da kommen Marina und Harry in den Flur.

Warum willst du schon gehen? fragt Marina.

Die Besetzung geht hier nicht auf, bin nicht gern das fünfte Rad am Wagen, sagt Baltus.

Quatschkopf, sagt Marina und gibt ihm einen Kuss, einen von der flüchtigen Art, wie sie jetzt so in Mode sind.

So rechte Lust zu bleiben hat Baltus nicht. Was soll er hier, kann er vielleicht ungestört mit Marina reden?

Da mischt sich auch noch dieser Harry ein:

Nichts gegen fünfte Räder, schon mal was von Reserverad gehört? Bleib, Alter, ich würde gern noch ein paar Takte von dir hören, auf der Gitarre, meine ich.

Während sich Baltus betont lustlos die Schuhe wieder auszieht, holt Harry die Gitarre aus dem Zimmer.

Als er zurückkommt, sieht er, wie Baltus Marina – oder vielleicht auch umgekehrt, das weiß der Teufel – küsst, aber auf die Art, die nicht die modisch flüchtige ist, sondern mehr die heftig altdeutsche.

Harry klopft Baltus auf die Schulter:

He, Jimi Hendrix, lass mal die Dame los und komm mit in die Küche.

Und wozu soll das gut sein, will Baltus wissen.

Mal sehen, mal sehen …

Harry setzt sich auf den Küchentisch, die Beine auf einem Stuhl.

Baltus hockt sich aufs Fensterbrett.

Pass auf, sagt Harry, ich spiele dir mal einiges vor, hör gut zu.

Er führt erst ein paar einfachere Griffkombinationen vor, dann immer schwerere.

Mach das mal nach, los, zier dich nicht.

Baltus nimmt die Gitarre und spielt mühelos nach, was der andere vorgegeben hat.

Entweder du bist ein Naturtalent, oder du musst schon verdammt lange auf diesem Holz arbeiten, sagt Harry anerkennend.

Ich spiele seit sechs Jahren, zuletzt drei Jahre in unserer Schulband …

Dann halt dich mal fest und spann deine Lauscher auf, ich mache dir ein Angebot, sagt Harry.

Baltus gleitet vom Fensterbrett.

Also mein Angebot: Du kannst bei uns einsteigen. Jumbo, unser zweiter Leadgitarrist, macht ab September eine eigene Gruppe auf, wir brauchen also einen neuen Mann.

Baltus ist überrascht.

Du meinst, ich soll fest bei euch einsteigen?

Musst ja nicht gleich ja sagen, überleg es dir.

Junge, Junge, du hast Nerven, weißt du, was ich werden will?

Nee, woher soll ich das wissen?

Arzt will ich werden! Arzt und nichts anderes!

Ach so, Herr Doktor fangen im September ein Studium an.

Leider nicht, bin abgelehnt, sagt Baltus ziemlich kleinlaut.

Na, Junge, dann ist doch mein Angebot für dich ein Wink des Schicksals, oder kennst du vielleicht ein Geheimverfahren, wie du Arzt werden kannst, ohne zu studieren. Wie willst du denn Arzt werden, wenn du abgelehnt worden bist?

Das ist mein Problem, nicht deins, sagt Baltus mit Nachdruck.

Harry gibt nicht auf.

Lass uns doch mal ganz vernünftig miteinander reden. Hier steht eine Chance gegen keine Chance. Das musst du doch sehen, so blöd kannst du doch gar nicht sein. Wenn du bei uns einsteigst und einschlägst, dann fährst du in spätestens zwei Jahren einen Shiguli. Nehmen wir mal an, es geschieht ein Wunder, du kannst doch noch studieren. Wie geht es dir dann in zwei Jahren? Da bist du froh, wenn ich dir ein Bier spendiere. Gut, du wirst Arzt, du büffelst fünf oder sechs Jahre und drückst dann auf irgendwelchen Bäuchen herum und fragst, ob es da weh tut oder dort, siehst dir vereiterte Mandeln an, verschreibst Pillen – und das alles vielleicht im letzten Landambulatorium in Hintermecklenburg.

Hör auf! Baltus ist wütend. Denn irgendeine Logik steckt in dem, was Harry sagt, irgendeine. Nicht irgendeine, eine ganz bestimmte, eine, die man nachrechnen kann, Mark, Pfennige, Monate, Jahre, alles bis auf zwei Stellen hinter dem Komma.

Haben Sie schon mal bedacht, in welche Lage Sie geraten, wenn Sie nicht Arzt werden können? klingt Birrhahns Stimme Baltus in den Ohren.

Aber da ist wieder Harry:

Wir machen jetzt eine Ostseebädertournee, vier Wochen, dann fahren wir in den Urlaub. Im September fangen wir mit den Proben an, da kannst du einsteigen. Müsstest auf der Musikschule lediglich deinen Berufsausweis machen, das ließe sich schnell regeln. Was ist, ja oder nein?

Gar nichts sage ich, ich weiß es nicht … Baltus ist unsicher. Wenn es nun wirklich nichts wird mit dem Studium? Wer garantiert denn, dass er nach ein oder zwei Jahren als Krankenpfleger tatsächlich noch delegiert wird. Und Harrys Angebot ist schon ungemein verlockend, nicht nur des Geldes wegen.

Harry drängt, er spürt, dass Baltus schwankend ist.

Das heißt also, du sagst erst mal nicht nein …

In diesem Moment kommt Marina in die Küche.

Dann will ich mal nicht stören, sagt Harry, nimmt die Gitarre und geht. An der Tür dreht er sich um und stellt fest: Du hast also nicht nein gesagt, Doktor …

Willst du was essen? Ich mach dir was, sagt Marina.

Dieser Harry ist ein Verrückter. Wie kommt denn der hierher? fragt Baltus.

Bärbel hat ihn mitgebracht. Was wollte er von dir?

Alles Blödsinn, alles Blödsinn, sagt Baltus, eigentlich war ich gekommen, um mit dir zu reden, aber bei dem Betrieb, der hier herrscht … Ich muss über vieles nachdenken … Weißt du was, Marina, du packst morgen früh alles zusammen, was du für vierzehn Tage brauchst, und dann schwirren wir ab zur Ostsee. Ja?

Du spinnst, Baltus! Morgen früh Punkt sechs stehen vor meinem Kindergarten lauter kleine Kinder und warten auf mich. Soll ich die einfach stehenlassen, damit ich dem geknickten Baltus die Seele streicheln kann? Du bist wohl nicht ganz bei Troste!

Lass dir irgendwas einfallen, dann fahren wir eben erst am Nachmittag, irgendeinen Grund wirst du doch finden.

Baltus, ich will nicht, ich kann jetzt nicht weg, es ist Urlaubszeit, wir sind nur zwei Kolleginnen im Kindergarten und vierundzwanzig Kinder, da willst du, dass ich mit dir Holiday an der Ostsee mache – Baltus, Baltus!

Marina küsst ihn nach der Art der gütigen Mutter.

4

Der einsame Wanderer in der Nacht, so ist mir etwa zumute. Ich werde doch zu meinem alten Herrn gehen. Warum denn nicht? Haben wir uns etwa zerstritten, dass wir nicht mehr reden können? Das haben wir nicht!

Und was ist dabei, wenn ein Sohn zu seinem Vater geht und sagt: Hör, Vater, ich bin auf einem Abstellgleis gelandet, hast du nicht eine Idee?

Das kann ich eben nicht!

Wenn er bei uns geblieben wäre, ich meine, wenn er sich damals nicht hätte scheiden lassen, dann könnte ich vielleicht heute mit ihm besser reden. Vielleicht? Sicher, ganz bestimmt.