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Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Schwaben-Rache

Schwaben-Messe

Schwaben-Wut

Schwaben-Hass

Schwaben-Angst

Schwaben-Zorn

Schwaben-Wahn

Schwaben-Gier

Schwaben-Sumpf

Schwaben-Herbst

Schwaben-Engel

Schwaben-Ehre

Schwaben-Sommer

Schwaben-Filz

Schwaben-Liebe

Schwaben-Freunde

Schwaben-Finsternis

Schwaben-Träume

Schwaben-Fest

Klaus Wanninger, Jahrgang 1953, evangelischer Theologe, lebt mit seiner Frau Olivera und der schwäbischen Katzendame Micki in der Nähe von Stuttgart. Er veröffentlichte bisher 37 Bücher. Seine überaus erfolgreiche Schwaben-Krimi-Reihe mit den Kommissaren Steffen Braig und Katrin Neundorf umfasst nun 20 Romane in einer Gesamtauflage von über 650.000 Exemplaren.

Klaus Wanninger

Schwaben-Teufel

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Originalausgabe
© 2019 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: info@kbv-verlag.de
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-95441-457-4
E-Book-ISBN 978-3-95441-466-6

Die Personen, Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre rein zufällig.

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

1. Kapitel

Das schrille Kreischen einer unbekannten Stimme war das Erste, was sie hörte. Weiter entfernt zwar, aber doch so laut, dass es in ihre vom Schlaf verschleierte Realität vordrang. Langsam löste sie sich aus ihrer verschwommenen Umgebung, tauchte aus dem Dämmerreich des Unbewussten auf.

Sie hatte geträumt, lange und intensiv.

Die grellen Flammen stachen gleißend hell in die rabenschwarze Nacht. Riesigen Fackeln gleich loderte das Feuer in den Himmel. Einander fest an den Händen haltend tanzten sie die alten Rhythmen im Blut um das tosende Inferno, wichen trotz der weit in die Umgebung stiebenden Funken nicht einen Millimeter zurück. Weit über fünfzig Augenpaare starrten in das Flammenmeer, den Augenblick ersehnend, der den Höhepunkt signalisierte.

Als es endlich soweit war, sackte das mächtige Gestell ächzend und knirschend in sich zusammen. Schindeln prasselten von dem schmalen Dach, schlugen auf dem Boden auf, zerbarsten in unzählige, winzige Teile. Das Feuer schien zu explodieren. Es schoss in die Höhe, als wollte es den gesamten Himmel in Brand setzen, schien alles in seiner Nähe zu versengen. Sie spürte den stechenden Schmerz der Hitzewelle, tauchte schwer atmend in die Realität.

Wieder drang die schreiende Stimme in ihr Ohr, lauter jetzt und teilweise verständlich. Sie wachte endgültig aus ihren Träumen auf, glaubte Worte wie Blut und Tod zu hören. Der erste Lichtschein des anbrechenden Tages drang durch das Fenster. Sie tastete nach ihrem Handy, versuchte, die genaue Zeit zu eruieren. 5.58 Uhr. Kurz vor sechs, nur wenige Minuten bis zum Läuten des Weckers. Was war da draußen so früh los?

Thea Storm schob die Decke zurück, kroch aus dem warmen Bett. Die Stimme war immer noch zu hören, in gedämpfterem Tonfall jetzt und mit kurzen Unterbrechungen, als wäre die Person in eine Unterhaltung vertieft. Sie lief zum Fenster, spähte zwischen den grünen Zweigen und Blättern ihrer Zimmerblumen hindurch, sah den Hohenasperg mit seinen Festungsanlagen aus dem morgendlichen Dunst der Umgebung ragen. Rings um die markante Anhöhe flaches Land, im Vordergrund ihre eigenen Äcker, Gärten und Felder. Sie beugte sich nach vorne zum Fenster, richtete ihren Blick auf die unmittelbar ans Haus angrenzende Fläche. Das Areal, auf drei Seiten von Gebäuden umgeben, lag noch im leichten Dämmer. Sie suchte es mit ihren Augen ab, fand alles in der gewohnten Ordnung: Den Kombi samt Anhänger vor den Garagen, die Fahrräder rechts an der Wand des Fabrikationskomplexes, die beiden Blumenkübel mit den weit ausladenden Fuchsienbüschen beidseits der Eingangstür. Sie folgte dem Hof zur nach der Straße hin offenen Seite, sah die aufgeregte Gestalt eines mit einer sportlichen Jacke und einer langen, eng anliegenden Hose bekleideten Mannes unruhig hin und her laufen. Sein Handy am Ohr, haspelte er irgendetwas in den Apparat.

Was den Mann so in Rage brachte, wurde Thea Storm erst ersichtlich, als sie ihr Gesicht an die Scheibe drückte und unmittelbar im Eingangsbereich zum Hof die bäuchlings auf dem Boden liegende Gestalt eines Menschen erblickte. Arme und Beine seltsam verwinkelt, das Gesicht im Staub der Straße verborgen.

Thea Storm spürte, wie ihr übel wurde. Ihre Hände zitterten, die Beinmuskulatur schien ihr den Dienst zu versagen. Sie drückte sich vom Fenster weg, ließ sich wieder auf ihr Bett fallen. Was war da passiert? Sie ahnte augenblicklich, dass die verrenkte Gestalt auf dem Boden unmittelbar vor ihrem Haus nichts Gutes bedeutete, hörte wieder das Schreien des Mannes. Ob sie es wollte oder nicht, sie konnte sich der Sache nicht länger entziehen.

Sie erhob sich vom Bett, zog sich eine Jacke über, suchte nach ihren Schlüsseln, lief zur Tür. Ein Hauch kühler Luft umfing sie, als sie ins Freie trat. Fröstelnd querte sie den Hof.

2. Kapitel

Was ihn mitten in der Nacht geweckt hatte, irgendein ungewohntes Geräusch etwa oder ein nur kurz dem Unterbewusstsein entwichener furchterregender Traum – Kriminalhauptkommissar Steffen Braig wusste es nicht zu sagen. Für ein paar Momente blieb er still liegen, lauschte den gleichmäßigen Atemzügen seiner Partnerin neben sich. Weder aus dem Zimmer ihrer Tochter noch sonst aus dem Haus war etwas zu hören. Sowohl ihr Vermieter Dr. Genkinger als auch die Tiere schienen zu schlafen. Er hoffte, nicht wieder in die wochenlang anhaltende Serie fast pausenlos durchwachter Nächte und von unerträglichen Kopfwehattacken geprägter Tage zurückzufallen, die ihn im vergangenen Herbst und Winter nach dem überraschenden Tod seines Kollegen Mario Aupperle geplagt hatten, versuchte, das schreckliche Geschehen erst gar nicht wieder an sich herankommen zu lassen. Der junge Kriminalkommissar war längst zu Grabe getragen, an seinem Schicksal nichts mehr zu ändern. Die Verbrecher, die dafür verantwortlich zeichneten, wuschen ihre Hände in Unschuld; niemand war bereit, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Sie bewegten sich in den führenden Etagen dieser Gesellschaft, abgeschirmt und beschützt durch korrupte Politiker, denen Recht und Gesetz gleichgültig, die Profite der Konzerne aber heilig waren. Braig musste zur Ruhe finden, wollte er seine Gesundheit nicht vollkommen ruinieren.

Er war gerade dabei, wieder in den Schlaf zu fallen, als die Geräusche in sein Ohr drangen. Schläge, Schreien, dann wieder Ruhe. Er lauschte, war sich sicher, dass es von irgendwoher außerhalb des Hauses gekommen war. Der rechte Flügel ihres Fensters war gekippt, ein Luxus, den sie sich fast das gesamte Jahr über leisteten, sofern die Temperaturen es erlaubten. Und jetzt, in der zweiten Juni-Hälfte, war das kein Problem. Zwei, drei kräftige Schläge glaubte Braig vernommen zu haben, unmittelbar darauf das Schreien. Alles äußerst gedämpft. Nicht draußen im Freien. Sondern irgendwo in einem der Nachbarhäuser.

Er kämpfte mit dem Schlaf, überlegte, was er tun sollte. Bei den Nachbarn vorsprechen? Jetzt, mitten in der Nacht? Er spähte zur Seite, sah Ann-Katrin friedlich in ihrer Hälfte des Bettes liegen. Sollte er sie wirklich aus dem Schlaf reißen? Er zögerte, hörte erneut das Schreien. Irgendjemand schien eine andere Person zu verprügeln, irgendwo im Schutz eines Hauses und der Nacht.

Braig konnte die Ungewissheit nicht länger ertragen, schälte sich vorsichtig aus dem Bett. Er stakste auf Zehenspitzen zum Fenster, schielte durch die Luken des nur unvollständig geschlossenen Ladens. Im diffusen Licht einer entfernten Straßenlampe sah er die Umrisse ihres Gartens, daneben – immer noch etwas ungewohnt – die Silhouette des erst im Vorjahr durch einen radikalen Umbau vollständig veränderten Nachbarhauses. Über Monate hinweg hatten sie mitangesehen, wie das alte, von einem rechteckigen Erker und zwei schmalen Dachgauben geprägte Bauwerk im Gefolge des Verkaufs an neue Besitzer Stück für Stück seines ursprünglichen Aussehens beraubt worden war. Nach Auskunft des Poliers hatte sich das Mauerwerk als marode erwiesen, sodass es notwendig geworden war, das Gebäude fast vollständig zu entkernen. Der Erker und die Gauben waren auf der Strecke geblieben, stattdessen ein von vielen Glas- und Stahlelementen gekennzeichnetes Haus entstanden. Braig war gerne bereit, ihm einen gewissen Charme zu attestieren, hatte man die meisten neuen Teile doch in überraschend filigranen Formen ausführen lassen. Die Atmosphäre der Umgebung hatte sich seiner Empfindung zufolge dennoch zum Nachteil verändert. Primäre Ursache dafür war der Verlust des alten, verwilderten Gartens. Einen großen Teil des üppigen Grüns hatten die neuen Besitzer durch eine kahle Steinwüste ersetzen lassen. Helle Kieselsteine, terrassenförmig voneinander abgesetzt, betteten das Gelände auf drei Seiten ein, nur im unmittelbaren Eingangsbereich von einem halben Dutzend Bonsaisträuchern ergänzt.

Und dann hatte sich ausgerechnet der Mann, der ihm seit vielen Jahren beruflich ständig aufs Neue Unannehmlichkeiten bereitete, als neuer Nachbar erwiesen: Söderhofer, der vor Arroganz und Inkompetenz sprühende Oberstaatsanwalt war gemeinsam mit dessen neuer Partnerin, einer Zahnärztin, und deren gemeinsamer pubertierender Tochter nebenan eingezogen – genau dort, wo Braig jetzt die Quelle eines erneuten Aufschreis vermutete.

Er starrte durch die schmalen Luken des Ladens, entdeckte auf der rechten, ihnen zugewandten Seite des Steinwüstenbunkers ein schmales, oben aufgeklapptes Fenster. War dort der Herkunftsort der seltsamen Geräusche? Er hörte, wie sich seine Partnerin bewegte, verharrte in seiner unbequemen Stellung. Irgendwo in der Ferne röhrte der Motor eines Fahrzeugs, dann kehrte wieder Ruhe ein.

Braigs Blick blieb erneut am Nachbargebäude hängen. Zwei, drei kräftige Schläge glaubte er vernommen zu haben, daran anschließend die Schmerzensschreie eines Menschen. Wenn ihn seine Sinne nicht täuschten, konnte das nur eines bedeuten: Söderhofer stritt sich mit seiner Partnerin. Er sah die etwa 1,90 Meter große, massige Gestalt des Oberstaatsanwalts ebenso wie die feingliedrige Figur der Zahnärztin augenblicklich vor sich, hatte keine Schwierigkeiten, sich die Konsequenzen einer Auseinandersetzung zwischen den beiden körperlich so verschieden ausgestatteten Personen auszumalen. Sollte Söderhofer die Frau tatsächlich geschlagen haben, würde das kaum ohne sichtbare Blessuren verlaufen. Blieben nur die Fragen, wo er sie getroffen und wie schwer er sie verletzt hatte …

Wieder hörte er die Geräusche von Fahrzeugen, das Aufheulen von Motoren auf einer entfernten Straße, überlegte, wie er reagieren sollte. Jetzt mitten in der Nacht im Nachbarhaus vorstellig werden? Er trat einen Schritt zurück, schielte nach dem Wecker, stolperte über die Bettkante. Zehn Minuten nach Mitternacht.

Ann-Katrin sah überrascht auf. »Was ist los?«, presste sie mit müder Stimme hervor.

»Nichts. Verzeihung, ich wollte dich nicht aufwecken.«

»Mario Aupperle? Du hast wieder geträumt?«

»Nein«, wehrte er ihre Befürchtung ab. »Das ist es nicht.«

»Was dann?«

»Seltsame Geräusche.« Er sah ihren fragenden Blick, setzte zur Erklärung an. »Wie Schläge …« Im gleichen Moment war es wieder zu hören: Ein, zwei Schläge, dann ersticktes Schreien.

»Wo ist das? Bei uns?« Sie schoss in die Höhe. »Ann-Sophie?«

Er streckte seine Hand aus, versuchte, sie zu beruhigen. »Nein, nicht bei uns. Die Kleine schläft. Es war draußen. Ich glaube, bei Söderhofer.«

»Bei dem?«

»Ich weiß es nicht. Es kam mir so vor. Schläge und Schreien.«

Ann-Katrin hüpfte aus dem Bett, stakste auf Zehenspitzen ins Nachbarzimmer zu ihrer Tochter. Braig verharrte auf der Stelle, bis sie fast geräuschlos wieder zurückschlich.

»Sie schläft. Tinnitus an ihrer Seite.«

Er nickte, hatte es nicht anders erwartet. Seine Tochter und ihre jüngste Katze waren ein unzertrennliches Paar. Gemeinsam gingen sie zu Bett, gemeinsam standen sie wieder auf. Dr. Genkinger hatte das Tier als Waisenbaby ins Haus gebracht. Inzwischen betrachtete es Ann-Sophie als seine Bezugsperson, der es auf Schritt und Tritt folgte. Und ihn, seine Partnerin und ihren Vermieter als seine Familie.

»Du glaubst, Söderhofer schlägt seine Frau?«

Braig wandte sich vom Fenster ab, folgte seiner Partnerin ins Bett. »Keine Ahnung. Ich kann nur hoffen, dass ich mich getäuscht habe.«

»Aber du traust es ihm zu.«

»Was soll ich sagen? Du kennst ihn inzwischen ja auch.«

»Kennen …« Sie schüttelte den Kopf. »Die Zahnärztin. Die wiegt keine fünfzig Kilo. Nicht die Hälfte von ihm. Wenn der sie wirklich schlägt, wird das nicht zu übersehen sein.«

»Was soll ich tun? Sie in ihrer Praxis besuchen und darauf ansprechen?«

»Sie wird dir wohl kaum eine ehrliche Antwort geben.«

»Es sei denn, ihre Verletzungen sind nicht zu verbergen.«

»Irgendwie wird sie das schon schaffen. Und wenn sie zwei Eimer Schminke benötigt, um sich zuzukleistern. Im Vertuschen von Verletzungen, sei es physischer oder psychischer Gewalt, sind wir Frauen wahre Meister. Dazu werden wir seit Jahrtausenden erzogen.«

»Was ist mit dir los?«, fragte Braig. »Warum so aggressiv?«

»Aggressiv?« Ann-Katrin ließ ein leises Lachen hören. »Ich bin doch nicht aggressiv. Höchstens realistisch. Die Opferrolle ist nun mal weiblich. Männer teilen aus, Frauen stecken ein. Damit die Ordnung unserer christlichen Gesellschaft nicht auseinanderbricht.«

»Unsere Nachbarin ist Zahnärztin. Sie besitzt eine eigene Praxis.«

»Was willst du mir damit sagen? Dass ihre akademische Bildung oder ihr Doktortitel sie automatisch vor den Aggressionen ihres wild gewordenen Partners schützen?«

»Natürlich nicht. Aber …« Er wusste nicht weiter, verstummte.

»Warum wehrt sie sich nicht?«, nahm sie seinen Gedanken auf. »Warum nimmt sie nicht einen ihrer Bohrer mit nach Hause und schlitzt dem widerlichen Schläger damit den Leib auf? Das wolltest du doch sagen, oder?«

Braig gähnte leise, fühlte sich zu müde, in eine ernsthafte Diskussion einzusteigen.

»Darauf gibt es nur eine Antwort«, hörte er Ann-Katrins Stimme, bevor er wieder in den Schlaf abtauchte. »Sie wurde als Frau erzogen, nicht als Mann. Deshalb zieht sie die vielen Bohrer in ihrer Praxis erst gar nicht in Erwägung, sondern lässt sich lieber von dem aggressiven Kerl schlagen. Wäre sie dagegen als Mann sozialisiert …«

Erst das Läuten des Telefons holte ihn in die Realität zurück. Er hatte von einer kleinen, weiß gekleideten Person geträumt, die mit einem widerlich surrenden Bohrer in der Hand auf eine hünenhafte Gestalt losgeht, hatte Mühe, sich zurechtzufinden. Erst beim vierten oder fünften Signalton hatte er den Hörer am Ohr.

Kriminalobermeister Stöhrs nuschelnde Stimme katapultierte ihn endgültig in die Wirklichkeit. Der Kollege sprudelte irgendetwas von einem noch nicht identifizierten Körper, verhaspelte sich mehrfach.

»… eine unbekannte Person«, wiederholte Braig die Worte, die er glaubte, verstanden zu haben. »Und die Kollegen holen mich am Bahnhof in Bietigheim ab.«

Stöhr geriet endgültig ins Stottern. »Bietigheim, nein, es ist so: Tamm. Nicht Bietigheim, nein. Tamm. Haben Sie verstanden? Tamm.«

»Tamm, ja«, brummte Braig.

»Und, es ist so, die Informationen sind unterwegs. Wie gewohnt.«

»Wie gewohnt, ja.« Er beendete das Gespräch, wurde von Ann-Katrins Stimme überrascht.

»Was ist jetzt schon wieder?« Sie drehte sich gähnend zur Seite.

»Ein unbekannter Toter. Ich muss raus.«

»Wie viel Uhr ist es?«

»Kurz vor sieben.«

»So spät schon?«

»Leider, ja«, bestätigte er. »Du hast schlecht geschlafen?«

Sie stöhnte laut auf. »Unsere Nachbarn. Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf.«

»Tut mir leid, dass ich dich mitten in der Nacht geweckt habe.«

»Wenn der Kerl die Frau wirklich schlägt …«

»Vielleicht habe ich mich verhört«, versuchte Braig, sie zu beruhigen. »Oder die Geräusche kamen aus einem anderen Haus.«

»Aus einem anderen Haus? Du meinst, Söderhofer hat nichts damit zu tun?«

Braig sprang aus dem Bett. »Ich weiß es nicht. Wir können auf jeden Fall nichts tun, solange wir keine eindeutigen Beweise haben. Und selbst dann … Dr. Mander ist eine erwachsene Frau. Sie muss selbst die Initiative ergreifen. Wenn sie dazu nicht bereit ist …« Er schüttelte den Kopf, lief ins Bad.

»Machst du es dir nicht etwas einfach?«, hörte er sie rufen, bevor er das kalte Wasser aufdrehte. Er hoffte, auf diese Weise das Surren des Bohrers aus seinem Kopf zu verjagen.

Eine gute halbe Stunde später saß er in der S-Bahn nach Tamm. Er war mit der in kurzen Abständen verkehrenden Stadtbahn vom Augsburger Platz zum Hauptbahnhof gefahren, hatte sich dort einen Becher Kaffee und zwei Brezeln besorgt, war dann zum Bahnsteig geeilt. Die Luft war jetzt schon so warm, dass wieder mit einem extrem heißen Tag zu rechnen war. Braig suchte sich einen Platz im Zug, teilte den Kollegen seine voraussichtliche Ankunft in Tamm mit. Dann ließ er sich die Brezeln und den Kaffee schmecken. Die stadtauswärts fahrende Bahn war nur schwach besetzt, die meisten Fahrgäste dösten vor sich hin.

Dass er am frühen Morgen so abrupt aufbrechen musste, ohne gemeinsam mit seiner Familie frühstücken zu können, war nichts Neues. Zu fast jeder Stunde des Tages beruflichen Aufgaben zur Verfügung zu stehen, gehörte zu den Pflichten seines Berufes – er hatte lange benötigt, sich damit abzufinden. Verbrecher gleich welcher Couleur hielten sich nun einmal nicht an die üblichen Bürozeiten – im Gegenteil: Wochenenden und Feiertage waren ähnlich bevorzugte Arbeitszeiten wie die Stunden nach Einbruch der Dunkelheit. Wann und wohin er gerufen wurde – er wünschte sich nur, konzentriert und in Ruhe arbeiten zu können, mit den gewohnten Kollegen und den seit Jahren bewährten Methoden. Unbehelligt von der üblichen Verkehrshektik mit der Bahn anreisen zu können, bot dafür die besten Voraussetzungen. In einem Zug Platz zu nehmen und sich in einem der Sitze zurückzulehnen, ermöglichte es ihm, wenigstens für eine kurze Zeit aus der Realität abzutauchen und sich von all dem Dreck und Elend zu befreien, in dem zu wühlen er beruflich ständig gezwungen war. Wann immer es möglich war, nutzte er die Minuten oder auch Stunden unterwegs, innezuhalten und neue Kraft zu schöpfen.

Braig schaute aus dem Fenster, sah, dass der Zug die weitläufigen Anlagen des Ludwigsburger Bahnhofs verließ und nach Westen abbog. Er hatte beide Brezeln gegessen, trank den Rest des Kaffees. Die Kopfschmerzen hatten etwas nachgelassen.

Leichenfund, hatten die Kollegen gemailt, im Außenbereich eines kleinen Betriebs. Männlich, nicht identifiziert, keine Papiere, starke Verletzungen im Gesicht. Geschätztes Alter: 40 - 55 Jahre. Von einem Jogger gegen sechs Uhr am Morgen entdeckt. Dr. Schäffler und Spurensicherung informiert.

Braig fühlte sich augenblicklich erleichtert, als er den Namen des Gerichtsmediziners las. Er wusste aus seiner jahrelangen Zusammenarbeit mit dem Mann, dass Dr. Schäffler zurecht als weithin bekannte Koryphäe galt. Der Arzt war zwar meist recht wortkarg bezüglich erster Stellungnahmen, doch absolut treffsicher, sobald er sich fachlich äußerte. In fast allen Fällen hatten sich seine Ausführungen nach der Obduktion als korrekt erwiesen.

Die uniformierte Kollegin mitten auf dem Bahnsteig in Tamm war nicht zu übersehen. Da außer ihm nur eine Gruppe junger Leute ausgestiegen war, steuerte sie zielstrebig auf ihn zu und empfing ihn mit kräftigem Händedruck. »POM Nicole Runding«, stellte sie sich vor. »Kein schöner Morgen, wie?« Von der frühen Stunde gezeichnet, blinzelte sie aus schmalen Augen ins grelle Licht der schräg stehenden Sonne. Sie schien von kräftiger, durchtrainierter Statur, wies zu den Treppen.

Braig schätzte sie auf Mitte, Ende dreißig, überlegte, woher er sie kannte. Er nannte seinen Namen. »Ich hätte mir in der Tat einen erfreulicheren Anfang vorstellen können«, bestätigte er ihre Bemerkung.

»Und dazu diese Affenhitze, die sie für heute Mittag wieder angekündigt haben. So langsam habe ich genug davon«, erklärte sie.

Braig glaubte, einen bitteren Unterton in ihrer Stimme zu hören, verzichtete darauf, das Thema zu vertiefen. Nicht jetzt am frühen Morgen schon über das Elend dieser Welt philosophieren. Er folgte ihr auf den Bahnhofsvorplatz, nahm im Dienstwagen neben ihr Platz. Das kräftige Aroma eines herb-fruchtigen Parfums lag in der Luft.

»Marios Tod liegt jetzt schon fast ein Dreivierteljahr zurück«, sagte sie unvermittelt.

Braig wandte überrascht seinen Kopf, musterte sie von der Seite. Im gleichen Moment wusste er wieder, woher er sie kannte. Nicki Runding, Mario Aupperles Freundin. »Heute Nacht habe ich wieder an ihn gedacht«, bekannte er, bereute aber in derselben Sekunde seine Offenherzigkeit. Er kannte die Frau zu wenig, um sich derart gehen zu lassen.

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, startete den Wagen. »Mario mochte Sie sehr. Sie waren der freundlichste Chef, den er je hatte. Das sind seine eigenen Worte.«

»Danke.« Ihre warmherzigen Worte ließen ihn seine Selbstvorwürfe vergessen. »Ich habe gern mit Mario zusammengearbeitet. Mit ihm war manches leichter zu ertragen. Wenn wir wieder mal vor einem übel zugerichteten Menschen standen … Sie wissen ja selbst, wie beschissen unser Alltag manchmal sein kann.«

»Marios Lebensfreude war stärker«, bestätigte sie. »Stärker als jeder Frust. Was glauben Sie, wie ich ihn vermisse.«

Braig sah, wie sie sich in den Verkehr einfädelte, stimmte ihr vorbehaltlos zu. Aupperles Anwesenheit hatte dazu beigetragen, viele nur schwer zu bewältigende Situationen erträglicher zu gestalten. Gleichgültig, mit welchem wie auch immer entstellten Opfer einer Gewalttat oder eines Unfalls sie konfrontiert worden waren, Aupperles zutiefst lebensbejahende Zuversicht war durch nichts zu erschüttern gewesen. Natürlich war auch er im Moment des Anblicks und den darauffolgenden Minuten, manchmal gar Stunden der Untersuchung und Begutachtung der Leiche dem Schock unterlegen, der sie alle, selbst die erfahrensten Kollegen in diesen Augenblicken überwältigte, er hatte es aber verstanden, sehr schnell zu einer Art professioneller Distanz zu finden, die lebensnotwendig war, um in diesem Beruf zu überleben und sich das seelische Gleichgewicht zu bewahren, ohne das die letztendlich sinnfreie Existenz auf diesem Planeten nicht zu bewältigen war. Braig konnte die psychischen Schmerzen der Kollegin deshalb nur allzu gut nachempfinden, versuchte, sie abzulenken. »Und jetzt haben wir den neuesten Fall«, erklärte er. »Sie waren heute Morgen schon vor Ort?«

Nicole Runding ließ ein zustimmendes Brummen hören. »Kein schöner Anblick«, meinte sie dann. »Das wünscht man nicht mal seinem schlimmsten Feind.«

»Immer noch nicht identifiziert?«

Die Kollegin schüttelte den Kopf. »Kein Handy und keine Papiere, nein. Und das Gesicht …« Sie hustete, winkte mit der Rechten ab. »Da hat jemand ganze Arbeit geleistet.«

»Wie ist es passiert? Gibt es Hinweise auf eine Schussverletzung?«

»Der Arzt kam gerade, als ich losfuhr. Wir selbst haben keine entdeckt.«

»Sie haben den Toten nicht …«

»Nur die erste Inaugenscheinnahme«, erklärte sie. »Wir kennen die Vorschriften. Schließlich wollen wir Ihnen die Arbeit nicht zusätzlich erschweren.«

Braig musterte die Frau von der Seite, konnte keine Anzeichen dafür erkennen, dass sie ihre Aussage ironisch gemeint hatte. Er bedankte sich für ihre Umsicht. Ab und an kam es vor, dass die als Erste an einen Tatort gerufenen Beamten Spuren verwischten oder verunreinigten – sei es im Rahmen ihrer Bemühungen, einem schwer verletzten Opfer schnellstmöglich zu helfen, oder aus purer Unachtsamkeit. Braig kannte den daraus resultierenden Ärger seiner Kollegen, deren Arbeit dadurch noch komplizierter wurde, zur Genüge. Derartige Vorkommnisse belasteten oft nicht nur den Fortgang der Untersuchungen, sondern auch die Atmosphäre ihrer Zusammenarbeit.

»Wo genau wurde der Tote gefunden?«, erkundigte er sich. »In der Info war vom Außenbereich eines Betriebes die Rede.«

»Er liegt an der Zufahrt zu den Storms«, erklärte Nicole Runding.

»Zu den Storms?«, hakte Braig nach. »Wer soll das sein? Der Name sagt mir nichts.« Er warf einen Blick auf die letzten Häuser von Tamm, die hier an die Felder grenzten, sah im Hintergrund den Hohenasperg in die Höhe ragen.

»Sie betreiben eine kleine Naturkostfirma. Biologisch angebaute, vegetarische Lebensmittel. Storms Bio Veggies

»Storms Bio Veggies?«, wiederholte er.

»Noch nicht gehört? Die verkaufen sehr gut.« Sie bremste, bog von der Straße ab.

Braig rutschte leicht zur Seite, hatte erneut den markanten Duft ihres Parfums in der Nase. Angenehm, mit einer leicht herben Note, aber nicht zu kräftig. Wildrosen oder so, überlegte er. »Storms … Vielleicht haben wir schon davon gekauft. Wir ernähren uns weitgehend ohne Fleisch und Wurst. Ich achte nur selten auf den Namen.« Er sah, dass sie einem schmalen, asphaltierten Feldweg folgten.

»Dann schauen Sie mal nach. Storms Bio Veggies haben einen hervorragenden Ruf.«

»Ich werde mich bemühen«, versprach er.

Sie verlangsamte die Fahrt, weil eine angerostete, alte Maschine derart unglücklich am Rand eines Ackers abgestellt war, dass sie ein Stück weit in den Feldweg ragte, passierte das Monstrum in gemäßigtem Tempo.

»Was war das?«, fragte er. »Illegal entsorgter Müll?«

Nicole Runding schüttelte den Kopf. »Eine Art Notwehr der Bauern gegen Raser. Irgendwelche Idioten brettern immer wieder wie die Verrückten über die Feldwege.«

Sie näherten sich einer Art Aussiedlerhof, einem Ensemble aus mehreren älteren Gebäuden, an deren Zufahrt ein Polizeifahrzeug parkte. Storms Bio Veggies verkündete ein großes, mit einer Fülle der verschiedensten Obst- und Gemüsesorten in bunten Farben gestaltetes Schild. Vor dem Anwesen erstreckte sich eine große Wiese, in deren Mitte Ansammlungen dunkler Asche zu erkennen waren.

»Was war da los?«, erkundigte er sich.

»Hier haben sie gefeiert«, erläuterte Nicole Runding.

»Mit einem Feuer?«

Die Kollegin nickte.

»Wann war das?«, fragte er. »Heute Nacht?«

»Am vergangenen Samstag«, erklärte sie. »Da war ganz schön was los.«

»Waren Sie dabei?«, fragte Braig überrascht.

Ihre Antwort wurde von einer krächzenden Lautsprecherstimme unterbrochen. »Schwerer Unfall auf der B 27. Mehrere Fahrzeuge ineinander verkeilt. Eventuell Schwerverletzte. Sämtliche verfügbaren Einsatzkräfte zum Unfallort.«

»Da muss ich hin«, meinte Nicole Runding. »Ich setze Sie hier ab. Wir sind ohnehin vor Ort.« Sie aktivierte das Funkgerät, meldete sich.

»Bitte kommen Sie so schnell als möglich«, bat der Kollege.

Sie sagte es ihm zu, brachte das Auto zum Stehen, verabschiedete sich von Braig.

Er trat ins Freie, musterte die Szenerie. Links die Wiese, auf der das Fest stattgefunden hatte, vor ihm die Einfahrt zu einem auf drei Seiten von Gebäuden umgebenen, asphaltierten Hof. Flankiert von mehreren Backstein-Garagen, vor denen ein Kombi samt Anhänger geparkt war, erhob sich geradeaus ein massives, ursprünglich wohl landwirtschaftlich genutztes Gebäude mit einem großen Tor und dem Braig inzwischen bekannten Label der Firma, rechts ein zwei Stockwerke hohes, von einem roten Ziegeldach gekröntes Haus. Rings um das große Anwesen erstreckten sich weitläufige, landwirtschaftlich genutzte Flächen, teilweise wie bei Gärtnereien üblich von Glasdächern eingefasst. Gemeinsam mit der markanten Erhebung des Hohenaspergs im Hintergrund bot sich ihm ein eindrucksvolles Panorama.

Der seine flachhügelige Umgebung zwar nur um etwa hundert Meter überragende, aber dennoch weithin sichtbare Berg war aufgrund seiner außergewöhnlichen Geschichte im ganzen Land bekannt. Seine Hänge zeigten im Norden und Osten teilweise dichte Vegetation, im Süden dagegen üppig grüne Weinreben. Vor über 2000 Jahren schon hatten ihn die Kelten als Residenz eines ihrer Fürsten genutzt, später wurde er zur Kultstätte der Römer. Im Mittelalter von einer Burg gekrönt, ließen die Herrscher Württembergs die Festung im 18. Jahrhundert in das wohl bekannteste Gefängnis des Landes umbauen. Unzählige Unschuldige waren als Opfer übelster Despoten gezwungen, hier ihr Dasein zu fristen. Im Volksmund erhielt der Hohenasperg bald den Titel »Höchster Berg Württembergs«, dauerte es doch unzählige Jahre, bis die hier eingesperrten Personen wieder ins freie Leben zurückkehren konnten. Einer der bekanntesten Gefangenen war der Journalist Christian Friedrich Daniel Schubart gewesen, der wegen seiner Kritik am sein Volk ausplündernden Luxusleben des damaligen Herzogs Carl Eugen über zehn Jahre teilweise in Isolationshaft auf dem Hohenasperg hatte zubringen müssen. Zur Erinnerung an diese Zeit beherbergten die Anlagen auf der Anhöhe heute ein Gefängnismuseum.

Trotz seiner Geschichte eine beeindruckende Szenerie, ging es Braig kurz durch den Kopf. Und ausgerechnet hier …

»Vorsicht, bitte!«, hörte er die Stimme Dr. Kai Doldes. »Wir sind noch nicht soweit.«

Braig begrüßte den Spurensicherer, reichte dann Dr. Schäffler, der sich vom Boden erhob, die Hand.

»Meine Arbeit ist vorläufig getan«, erklärte der Gerichtsmediziner. »Sie sollten sich den Anblick ersparen. Dem wurde übel mitgespielt.«

Braig wusste augenblicklich, was die Worte seines Gegenübers zu bedeuten hatten. Wenn Dr. Schäffler sich zu dieser Warnung hinreißen ließ … Er warf einen kurzen Blick auf den Toten, sah den seltsam verformten Rücken und den Hinterkopf des Mannes. »Er wurde so gefunden?«, fragte er. »Das Gesicht nach unten?«

»Genau so. I zeig dir nachher die Bilder«, hörte er Helmut Rössles Stimme hinter sich. »Mir hent alles ordentlich dokumentiert.« Der Spurensicherer klopfte ihm freundlich auf die Schulter.

Braig grüßte den Kollegen, erkundigte sich danach, ob die Identität des Mannes inzwischen geklärt werden konnte.

»Noi«, gab Rössle zur Antwort. »Mir hent nix. Koi Handy, koi Papiere, nix.«

»Woran ist er gestorben?«, wandte Braig sich an Dr. Schäffler.

Der Gerichtsmediziner zog sich die Schutzkleidung von den Schuhen und den Händen, schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch. »Die Todesursache kann ich Ihnen leider noch nicht liefern.« Er machte eine kurze Pause, steckte das Taschentuch weg. »Eine Kombination von heftigen Schlägen auf den Kopf und den Leib und danach … Er wurde überfahren. Ich nehme an, als er wehrlos auf dem Boden lag. Wahrscheinlich mehrmals.«

»Mehrmals?«, stöhnte Braig. Er spürte, wie ihm übel wurde. »Von mehreren Fahrzeugen?«

Der Gerichtsmediziner streckte seine Rechte abwehrend von sich. »Ich möchte Sie bitten, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Ich kann nicht ausschließen, dass es ein und dasselbe Fahrzeug war. Vor und zurück, ich will nichts beschwören. Wenn es nicht so absolut barbarisch wäre, würde ich sagen, der oder die Täter wollten sein Gesicht zerstören, ihm die Identität rauben …«

»Das Gesicht …« Braig ließ den Rest des Satzes offen, schüttelte den Kopf. Er drehte sich von dem Toten weg, starrte in die Weite der Landschaft. So oft er sich in seinen mehr als zweieinhalb Jahrzehnten Berufserfahrung auch schon mit dem Anblick und der Untersuchung toter Menschen konfrontiert gesehen hatte, zur Routine war ihm dieser Vorgang nicht geworden. Smarte, mit coolem Grinsen von einer Leiche zur nächsten spazierende Kommissare gab es vielleicht in primitiven Fernsehkrimis – mit der Realität, wie er sie kannte, hatte das nichts zu tun. Einen Toten zu begutachten, gehörte zu den unerfreulicheren Momenten seines Berufes – auch langjährige Praxis hatte daran nichts geändert. Es handelte sich schließlich nicht um eine aus Kunststoff gefertigte Puppe, die hier vor ihm lag, sondern um einen vor wenigen Minuten oder Stunden mitten aus dem Leben gerissenen Menschen, dem in seinen letzten bewussten Augenblicken übel mitgespielt worden war.

»Die fehlenden Papiere. Die Misshandlung seines Körpers«, hörte er Dr. Schäfflers Stimme. »Das könnte doch darauf hindeuten, oder?«

Braig sah Dolde mit dessen Laptop neben sich treten, warf einen Blick auf den Bildschirm. »Oh Gott, nein.« Er schnappte nach Luft, wandte sich von den Fotos ab. Das Gesicht des Toten war wirklich bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Trotz seiner langjährigen Routine hatte er zu kämpfen; seine Atemwege drohten zu verkrampfen, der Puls ins Unendliche zu beschleunigen. Er kramte in seinen Taschen, ertastete ein übrig gebliebenes Hustenbonbon, zog es vor. Es dauerte eine Weile, bis er es endlich von seiner Umhüllung befreit hatte. Der mentholhaltige Geschmack verschaffte ihm Erleichterung. Er schob das Bonbon auf seiner Zunge hin und her, spürte, wie sich seine Verkrampfung löste. Langsam zwar, quälend langsam, aber immerhin. Nach zehn, fünfzehn Sekunden fühlte er sich wieder imstande durchzuatmen.

»Geht es wieder?«

Braig sah die fragende Miene des Gerichtsmediziners auf sich gerichtet. »Danke, ja«, sagte er.

»Ich habe es vorhin Ihren Kollegen hier erklärt«, meinte Dr. Schäffler, auf Braigs kurzes Unwohlsein anspielend, »auch ich sehe mich so einem Anblick nicht jeden Tag ausgesetzt.«

»Das wäre auf Dauer kaum auszuhalten, oder?«

Der Arzt zog seine Augenbrauen hoch. »Das ist es auch so manchmal nicht. Trotz aller Routine.«

Braig nickte verständnisvoll, pfiff leise. »Das sagen Sie?«

»Ich bin auch nur ein Mensch«, brummte der Gerichtsmediziner. Er schaute sich um, wies auf den Platz, wo der Tote lag. »Hier ist es aber nicht passiert.«

Braig benötigte eine Weile, um zu verstehen. »Er wurde nicht hier getötet?«

»Nein. Die Spurenlage ist eindeutig. Wir konnten weder Blut noch sonstige Ausscheidungen nachweisen. Er war tot, als er hier abgelegt wurde. Eine ganze Weile schon.«

Wie lange?, lag es ihm auf der Zunge. Er verzichtete aber darauf, die Frage auszusprechen, weil er wusste, dass sich der Gerichtsmediziner erst dann auf eine genauere Definition der Zeitspanne einlassen würde, wenn er sich selbst sicher war. An einem anderen Ort getötet und später dann hier abgelegt, ging es ihm durch den Kopf. Das trug nicht gerade zur Erleichterung seiner Ermittlungen bei. »Haben wir Reifenspuren?«, wandte er sich an die Spurensicherer.

»Uf dem Asphalt?«, antwortete Rössle vom Boden her. Er kniete unmittelbar neben dem Toten, säuberte eine kleine Fläche mit einem Pinsel. »Alle achtzig Deifel von Sindelfinge, du hasch Humor.«

»Wäre ja auch zu schön gewesen.« Braig spürte einen leichten Windhauch, hatte unvermittelt das Dröhnen der Fahrzeuge auf einer entfernten Straße im Ohr.

»I an deiner Stell dät mi frage, wieso die den grad do na glegt hent. Hier direkt vor das Haus statt oifach drauße irgendwo in der Pampa.«

Braig musterte den Kollegen, war sich darüber im Klaren, dass er einen wichtigen Sachverhalt angesprochen hatte. Wenn der Unbekannte nicht hier, sondern an einem anderen Ort getötet worden war, stellte sich in der Tat die Frage, was den Täter veranlasst haben mochte, ihn hierher zu transportieren. Weshalb war er dieses Risiko eingegangen, warum hatte er ihn nicht draußen auf dem Feld oder an einer anderen abseits gelegenen Stelle abgelegt, wo die Möglichkeit, gesehen und erkannt zu werden, viel geringer war als hier? Er musste die Bewohner des Anwesens genau unter die Lupe nehmen, sie zumindest daraufhin überprüfen, ob es nicht irgendeinen Zusammenhang zwischen ihnen und dem Toten gab – was aber erst möglich war, wenn er dessen Identität ermittelt hatte.

»Wer wohnt hier?«, fragte er, auf das Haus deutend.

»Die Besitzer von dem kloine Unternehme«, antwortete Rössle, das Schild an dem Fabrikationsgebäude im Visier. »Angeblich handelt es sich um die Mitglieder von so oiner Öko-Sekte. Die feieret irgendoin abstruse Kult. Wenn’s genau wisse willsch, frag den Kollege. Der hat scho einiges erzählt.« Er wies auf den uniformierten Beamten, der drei, vier Meter entfernt die unmittelbare Umgebung des Fundorts der Leiche überwachte. Der Mann schien ihr Gespräch verfolgt zu haben.

»Sie kennen die Leute?«, wandte sich Braig ihm zu.

Der Polizeibeamte nickte. »Zwangsläufig. Die Felder hier gehören zu unserem Revier.«

»Was hat es mit der Sekte auf sich?«

»Na ja, das sind etwas überzwerche Öko-Spinner. Die verhalten sich wie die Angehörigen einer Sekte. Mit nichts zufrieden, an allem was auszusetzen. Die suchen ständig Krach.«

»Mit wem?«

»Mit Bauern zum Beispiel, die sich nicht genau an ihre Vorstellungen halten, mit Autofahrern, die die Feldwege benutzen, oft auch mit Wanderern oder Radfahrern, die ihre Felder betreten. Irgendwas finden die immer. Besonders, wenn sie ihre verrückten Feste feiern. Wie jetzt am Wochenende.«

»Was für Feste?«

»Na ja, offiziell feiern sie den Anfang des Sommers. Behaupten sie jedenfalls«, antwortete der Kollege. »Mit Musik und wilden Tänzen. Auf der Wiese vor dem Gehöft. Mit Scharen von Leuten. Es gibt Hinweise …« Er zögerte, weiterzusprechen, presste seine Lippen aufeinander.

»Ja?«, drängte Braig.

»Na ja, angeblich sind Alkohol und Drogen im Spiel. Reichlich Alkohol und Drogen. Jedenfalls soll es bei diesen Feiern immer wieder zu Exzessen kommen.«

»Gibt es Ermittlungen deswegen?«

»Immer mal wieder«, erklärte der Beamte. »Aber bisher ohne Ergebnis. Wir wurden mehrfach gerufen …«

»Von wem?«

»Anonym.«

»Und?«

»Immer wenn wir auftauchen … Wir konnten nichts nachweisen.«

»Sie meinen, die waren vorgewarnt?«

»Möglicherweise.«

Braig musterte den Mann, wunderte sich, dass ihn seine Kollegin nicht auf diese Vorwürfe hingewiesen hatte. »Und die Inhaber der kleinen Firma hier machen da mit?«, setzte er hinzu.

»Die sind die Hauptdrahtzieher«, bestätigte der Beamte. »Besonders Storm. Der sorgt ständig für Unruhe.«

»Aber er wurde noch nicht verurteilt. Habe ich das richtig verstanden?«

»Das ist richtig.«

»Und es liegt auch nichts Konkretes gegen ihn vor?«

»Nichts Konkretes. Nur so ein Gerücht …«

»Was für ein Gerücht?«

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« Der Kollege legte seine Stirn in Falten, wog den Kopf hin und her. »Ich bin erst seit zwei Jahren hier, deshalb habe ich immer nur Andeutungen von der Sache gehört.«

»Um was geht es?«

»Storms Tochter wurde irgendwo hier draußen überfahren. Der Täter beging Fahrerflucht. Angeblich …«

»Ja?«

»Angeblich soll Storm damit zu tun haben«, erklärte der Mann. »Aber, wie gesagt«, fügte er schnell hinzu, »ich weiß dazu nichts Genaues. Und meine Kollegin, Frau Runding, wird wild, wenn sie davon hört. Das sei üble Verleumdung, sagt sie, reine Schikane.«

»Sonst ist Ihnen nichts über die Sache bekannt?«

Seine Gesprächspartner schüttelte den Kopf.

Braig bedankte sich für die Auskunft, erkundigte sich nach der Person, die den Toten entdeckt hatte.

»Der steht dort bei den Kollegen.«

Er wandte sich zur Seite, lief zu den beiden uniformierten Beamten, die wenige Meter entfernt die Absperrung der Straße überwachten. Sie unterhielten sich mit einem mit einer dünnen Jacke und einer eng anliegenden Hose bekleideten Mann, der sich wohl sportlich betätigt hatte. »Des hätt mir niemand glaubt, wenn i des erzählt hätt«, hörte er ihn sagen. »An Toter hier nach dene ihrem Teufelskult.«

Braig räusperte sich laut, stellte sich vor. Er wunderte sich, dass sich noch keine Schaulustigen eingefunden hatten, die mit unverhohlener Neugier und aggressivem Geschrei Auskunft von den Beamten verlangten, wie er das sonst von fast jedem Tatort gewohnt war. Gaffende und mit ihren Handys ungeniert das notdürftig abgeschirmte Gelände filmende Passanten gehörten inzwischen zu fast jeder Szenerie, an der ein Mensch verunglückt oder getötet worden war. Oft genug hatte er es schon erlebt, dass skrupellose, sensationsgeile Typen die Polizeiabsperrungen durchbrachen und die verunstalteten, wehrlosen Opfer mit ihren Kameras abzulichten versuchten. Das waren die Momente, in denen er jedes Mal aufs Neue Mühe hatte, die Contenance zu bewahren. Wahrscheinlich hatten sie es der abseitigen Lage des Anwesens hier zu verdanken, dass ihnen diese Unannehmlichkeiten bisher erspart geblieben waren.

»Herr Weitbrecht«, wies einer der beiden Beamten auf den sportlich gekleideten Mann. »Er hat den Toten entdeckt.«

Braig bedankte sich für die Information, musterte sein Gegenüber. Er schien Mitte vierzig, hatte eine durchtrainierte Figur, ein breites, von einer großen Nase gezeichnetes Gesicht. Die sportliche Aufmachung und sein athletischer Körperbau wiesen darauf hin, weshalb er so früh unterwegs gewesen war. »Sie waren joggen?«, vergewisserte er sich.

Weitbrecht wandte sich ihm zu, bestätigte seine Vermutung. »Sofern ich die Zeit dazu finde. Zwei, drei Mal die Woche. Jedenfalls in der warmen Jahreszeit.«

Braig nickte. »Immer denselben Weg?«, erkundigte er sich.

»Meistens. Von Markgröningen, wo ich wohne, über die Felder zum Asperg und zurück.« Der Mann zeigte in die Richtung, aus der auch Braig gekommen war, dann zur Silhouette des Hohenaspergs, der hinter den Gebäuden in die Höhe ragte.

»Sie kommen immer hier vorbei.«

»Fast immer, ja. Wenn ich so früh dran bin, ist es schön ruhig.«

»Wie haben Sie den Toten bemerkt?«

Weitbrecht schnappte nach Luft. »Sie werden es nicht glauben, aber ich habe den schon von Weitem gesehen«, japste er. »Also nicht den Toten, sondern, wie soll ich es sagen, einen Fleck vor der Hauswand. Ich habe zuerst gedacht, es handle sich um irgendwelches Gerümpel, aber dann habe ich gemerkt, dass mit dem Zeug irgendwas nicht stimmt. Das ist ja gar kein Gerümpel, fuhr es mir durch den Kopf, das ist …« Der Mann hielt inne, trat einen Schritt auf Braig zu. »Ob Sie es glauben oder nicht, ich dachte, dass da eine Puppe liegt. Eine große Puppe. Fragen Sie mich nicht, wieso.« Er schniefte, fuhr sich über die Nase. »Und erst als ich direkt vor ihm stand, habe ich bemerkt, dass das ein Mensch ist. Ein richtiger Mensch. Mit dem Gesicht auf dem Boden, ganz seltsam verrenkt.«

»Sie haben ihn untersucht?«

»Um Gottes willen, nein! Dass mit dem nichts mehr los ist, habe ich sofort gespannt. Das war nicht zu übersehen. Ich stand ja nur ein paar Schritte entfernt. So legt sich niemand freiwillig auf den kalten Boden, nicht in der unmöglichen Haltung. Ich habe ihn nicht angerührt. Sondern sofort den Notruf gewählt.«

»Um wie viel Uhr war das?«

Weitbrecht musste nicht lange überlegen. »So gegen sechs.«

»Sonst haben Sie niemand gesehen? Irgendeine Person, die Ihnen entgegenkam oder sich davonschleichen wollte, als sie sich dem Anwesen näherten? Ein Auto vielleicht? Denken Sie bitte genau darüber nach. Das ist sehr wichtig.«

»Was glauben Sie, was mir schon den halben Morgen durch den Kopf geht? Aber nein, so sehr ich mich bemühe: Ich habe niemand gesehen.«

»Was war mit den Bewohnern des Anwesens? Haben Sie jemand bemerkt?« Braig spürte das Pochen in seinem Kopf, massierte seine Schläfen.

»Das war doch viel zu früh. Von denen war keiner auf den Beinen.«

»Dann bekamen Sie sie überhaupt nicht zu Gesicht?«

»Doch. Frau Storm. Sie wurde wach, weil sie mich schreien hörte. Ich war ja total aufgeregt. Das war wohl nicht zu überhören. Und gerade als ich den Notruf gewählt hatte, kam die Frau aus dem Haus.«

»Nur Frau Storm? Sonst niemand?«

»Nein.«

»Wie reagierte sie?«

»Na, wie wohl?«, maulte Weitbrecht. »Die war total verschlafen und bekam kaum die Augen auf. Und dann, als ich ihr den Toten gezeigt hatte, war sie genauso überrascht und schockiert wie ich selbst. Jedenfalls nicht so aggressiv wie sonst.«

Braig horchte auf. »Aggressiv?«, hakte er nach.

Weitbrecht kratzte sich im Nacken. »Die Storms. Mit denen ist nicht gut Kirschen essen. Das ist hier in der Gegend allgemein bekannt.«

»Nicht gut Kirschen essen? Was meinen Sie damit?«

Sein Gesprächspartner wusste sich sofort zu erklären. »Die gehören zu einer obskuren Öko-Sekte und sind ständig in den Schlagzeilen. Vor allem ihr Ober-Guru. Der ist total fanatisch, überhaupt nicht zu bremsen. Liegt immer mit irgendjemand im Clinch.«

»Weshalb?«

»Na ja, wegen dem Zeug, was sie produzieren. Pflanzenpampe. Bio und ohne Fleisch.« Weitbrecht verzog seinen Mund, sprach die Worte voller Abscheu aus. »Dort, das Schild, haben Sie es nicht gesehen?« Er zeigte zu der Werbetafel. »Storms Bio Veggies. Große Worte, nichts dahinter. Ein ungenießbarer Fraß. Dazu irrsinnig teuer. Für die bekloppten Ökos in Stuttgart und Tübingen.« Er wandte den Kopf zur Seite, musterte Braig mit prüfendem Blick. »Also ich jedenfalls – uns kommt das Zeug nicht ins Haus. Mir geht nichts über ein saftiges Stück Fleisch. Und meiner Frau und meinem Sohn genauso. Sollen die doch die neureichen Spinner mit ihrem Bio-Krempel abzocken. Uns nicht!«

»Von wie vielen Leuten sprechen Sie?«

»Fragen Sie nicht mich. Ich bin kein Experte. Ich kenne nur den aggressiven Kerl, der ständig Schwierigkeiten macht. Storm. Aber der ist nicht allein. Soweit ich weiß, gehören noch ein paar Weiber dazu.«

»Welche Art Schwierigkeiten sind das?«

»Ich sagte Ihnen doch: Der Kerl ist völlig durchgeknallt«, antwortete Weitbrecht. »Der stört sich an allem und jedem. Gerade gibt es wieder Zoff mit einem Bauern. Er würd ihre Felder vergifte beziehungsweise die ihrer Zulieferer, behauptet Storm. Als ob …« Er verstummte, weil der Lärm der entfernt verlaufenden Straße für einen Moment anschwoll, redete dann weiter. »Als ob das heute überhaupt noch möglich wäre.«

Braig hatte Schwierigkeiten, dem Mann zu folgen. »Was?«, fragte er.

»Etwas anzubauen, das nicht von der Umgebung beeinflusst wird.«

»Na ja«, meinte Braig. »Sie müssen verhindern, dass konventionell mit Pestiziden und anderem Gift arbeitende Landwirte direkt in der Nachbarschaft tätig sind. Wenn man die weiträumig von den Biobetrieben trennt …«

»Ach was«, maulte Weitbrecht. »Storm stört sich doch schon an den Straßen hier in der Nähe. Die Abgase, die angeblich ihre Pflanzen mit Schadstoffen belasten. Wenn es nach dem ginge, hätten alle zu Fuß zu gehen oder bestenfalls ein Fahrrad zu benutzen. Und die anderen werden als Ausgeburt des Teufels verbrannt, so wie Samstagnacht.«

»Wer wird als Ausgeburt des Teufels verbrannt?« Braig musterte den Mann eingehend, konnte keine Spur von Ironie oder Spott erkennen.

»Alle, die denen im Weg stehen. Gift sprühende Bauern, Fleischfresser, Autofahrer, Politiker. Was weiß ich, wer noch alles. Die feiern total verrückte Feste. Irgendwelche Teufelsbeschwörungen angeblich. Im Sommer und im Winter. Die treffen sich hier draußen, basteln Strohpuppen und machen große Feuer. Dann hauen sie sich mit Drogen voll, geben den Strohpuppen die Namen ihrer Gegner und verbrennen sie. Und tanzen und singen die halbe Nacht dazu.«

»Woher wollen Sie das wissen? Waren Sie dabei?«

Weitbrecht winkte mit seiner Rechten ab. »Ich doch nicht. Im Netz kursieren die wildesten Bilder. Haben Sie sie noch nicht gesehen?«

Braig warf ihm einen misstrauischen Blick zu, hatte Mühe, seine Aussagen einzuordnen. Er erinnerte sich an einen seiner ersten Fälle als Kommissar des Stuttgarter Landeskriminalamtes etwa zwanzig Jahre zuvor, als man ihn auf den Feldern in der Nähe des Flughafens schon einmal mit angeblichen satanischen Messen konfrontiert hatte. So skeptisch er damals den Berichten über die nächtlichen Feste auch entgegengetreten war, hatte es doch langwieriger Ermittlungen bedurft, sie als esoterisch angehauchte, harmlose Erntedankfeiern zu identifizieren. Wahrscheinlich hatte er es hier mit ähnlichen Ritualen zu tun. Er musste sich auf jeden Fall bei den Besitzern des kleinen Betriebes über die Hintergründe ihrer Firma und der Festivitäten erkundigen.

»Aber von Storms Amokfahrt im Drogenrausch haben Sie gehört?« Weitbrechts Frage riss ihn aus seinen Gedanken.

»Was für eine Amokfahrt?«, fragte Braig.

»Er raste im Drogenrausch über die Felder und überfuhr seine eigene Tochter«, erklärte der Mann.

»Storm?«

Sein Gesprächspartner nickte.

»Wann soll das passiert sein?«

»Vor ein paar Jahren. So genau weiß ich das nicht. Bei einem ihrer Drogenexzesse.«

»Der Mann wurde dafür verurteilt?«

»Ich glaube, die machen immer noch dran herum. Bisher konnte es ihm nicht eindeutig nachgewiesen werden, wenn ich richtig informiert bin«, gab Weitbrecht zur Antwort.