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Wolf Rebelow

Villa Todenbrink





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

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Die Personen und die Handlung
in diesem Kurzroman sind frei erfunden.
Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen
Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen
Personen wären rein zufällig.

 

 

01

An einem trüben Novembermorgen des Jahres 1928 erhielt der Staatskommissar Karl-Friedrich von Rittelsbach von seinem Dienstherrn, dem Staatssekretär Franz Tulpentritt, einen ungewöhnlichen Auftrag. Er sollte zwecks Aufklärung einer mysteriösen Angelegenheit zu einer wichtigen Fabrik nach Bloggenburg fahren und inkognito diskrete Recherchen durchführen. Den Abschlussbericht über das Ergebnis der Untersuchungen erwartete Tulpentritt spätestens nach vierzehn Tagen. Außerdem wünschte er einen kurzen täglichen Telefonrapport. Der Assistent Wilhelm Breschke, der dem Staatskommissar schon seit mehreren Jahren treu zur Seite stand, sollte ihn begleiten und auch den zugewiesenen Dienstwagen, eine neue schwarze Opel-Limousine 10/40, fahren.

 

Es ging um einen Vorgang in der dortigen "Maschinenfabrik Todenbrink". Die Fabrik wurde um 1885 gegründet, also kurz vor dem Deutsch-Französischem Krieg von 1870/71, und hatte sich auf die Produktion von Gewehren spezialisiert. Um die Jahrhundertwende herum wurde das halbautomatische Präzisionsgewehr "SLG-Todenbrink", ein weltweites Spitzenprodukt entwickelt und im Weltkrieg durch Freund und Feind eingesetzt. Es wurde auch noch nach 1918 unter der Aufsicht der Interalliierten Militärkontrollkommission, "IMKK", Unterkommission für Munition, Bewaffnung und Material, weiterentwickelt und als "Maschinenteile" deklariert, über die schwedische Waffenschmiede "Bafoss" vertrieben. Andere deutsche Waffenhersteller hatten, um den Kontrollen zu entgehen, ihre Produktion gleich ins Ausland verlegt.

 

Der eigentliche Untersuchungsvorgang bestand darin, dass der Eigentümer der Maschinenfabrik, Ernst-August Todenbrink, ein bisher unbescholtener, zuverlässiger sowie äußerst fähiger Unternehmer, seit einem halben Jahr plötzlich nicht mehr erreichbar war. Außerdem ließ er vor seinem Verschwinden noch insgeheim umfangreiche und eigenartige Bauarbeiten auf seinem Villengrundstück durchführen. Trotz intensiver Bemühungen konnte bisher nichts über den Grund dieser Bauarbeiten oder über eventuell dahinterstehende Absichten ermittelt werden. Die Baufirmen, das Personal, Geschäftsfreunde, die Geschäftsleitung sowie Verwandte und Bekannte hüllten sich in Schweigen. Die einen wussten nichts und die, die etwas wussten, hatte Todenbrink den Status eines Privatbeamten mit allen Pflichten und Rechten gegeben. Im Ort konnte man auch nichts erfahren. Eine Mauer der Verschwiegenheit stand vor jedem, der Näheres erfahren wollte. In der Fabrik lief dagegen alles unter einer vom Eigentümer bevollmächtigten und notariell bestätigten Leitung wie gewohnt weiter.

 

Karl-Friedrich von Rittelsbach, 55 Jahre alt, war unverheiratet und stand schon längere Zeit als Beamter in Regierungsdiensten. Er entstammte einer niederen Adelsfamilie, die in einer ländlichen Gegend ihren Sitz hatte. Nach dem Abitur reiste er fast ein Jahr lang auf einem Segelschulschiff mit durch europäische Gewässer und lernte einige fremde Länder kennen. Nach dem Studium fand er einen Verwaltungsposten in der Hauptstadt. Er wurde verbeamtet. Am Weltkrieg musste er aufgrund seines Postens nicht teilnehmen, trat in die große Politik ein und bekam nach 1918 eine Anstellung in der neuen Regierung. Auch in der Weimarer Republik behielt er, wie viele seiner "Kollegen", seine konservative Grundhaltung. Den Übergang von der Monarchie zur Demokratie im November 1918 nahm man als einen Fakt zur Kenntnis und betrachtete die neue Staatsform skeptisch. Man tat so, als gäbe etwas Höheres, den Staat als solchen. Dem fühlte man sich verpflichtet, egal welche politische Richtung der augenblickliche Dienstherr vertrat. Privat tat Rittelsbach alles, um bei einer eventuell weiteren Staatsumwälzung wieder übernommen zu werden. Er äußerte sich nicht zu aktuell-politischen Ereignissen, hielt sich bei Streitigkeiten im Hintergrund und trat keinem Verein bei. Er diente einfach seinem Herrn. So verlief seine Karriere bisher bilderbuchmäßig. Er galt als sachkundig, gewissenhaft, pünktlich, absolut vertrauenswürdig, verschwiegen sowie zuverlässig. Seine planmäßige Beförderung zum Staatskommissar vor drei Jahren war darum eine logische Folge. Ihm wurden oft besonders diffizile Angelegenheiten anvertraut, die er stets zur Zufriedenheit seines Vorgesetzten, dem Staatssekretär Franz Tulpentritt, der dem Reichswehrminister unmittelbar unterstand, erledigte. Dabei gab er sich stets sachlich, ohne Emotionen, arbeitete streng im gesetzlichen Rahmen sowie im Rahmen seines Funktionsbildes. Er erhoffte sich, weiter befördert zu werden und später einmal den Posten seines Vorgesetzten zu übernehmen. Um dieses Ziel zu erreichen, verstand er es, ihm diskret, aber möglichst nicht nachweisbar, gefällig zu sein. Er war bereit, sich bei seiner Arbeit auch in bestimmte Grauzonen zu begeben, wenn er sich der Deckung durch seinen Chef sicher war. Er sicherte sich auch sonst stets ab und agierte so, dass man ihm keine Nachlässigkeiten oder gar Verstöße nachweisen konnte. Seinem Assistenten gegenüber äußerte er nur so viel, wie er zur Erfüllung seiner Aufgaben unbedingt brauchte. Er vermied bei Gesprächen Themen mit einem streitbaren Inhalt, wie z. B. Politik, Glauben sowie Sport. Seine meist sitzende Tätigkeit, der geregelte Tagesablauf, das gutes Essen, dass er sich gönnte und die Abneigung gegen eine übermäßige sportliche Betätigung, veränderten seine Figur, die man nunmehr als leicht "untersetzt" bezeichnen konnte. Er versuchte dagegen erfolglos mit verschiedenen Diäten anzukämpfen.

 

Wilhelm Breschke, Jahrgang 1896, wurde in einfachen aber ordentlichen Familienverhältnissen groß, legte 1914 das Abitur ab und zog gleich danach mit vielen seiner Klassenkameraden ins Feld. Über politische Ereignisse dachte er nach und bildete sich stets sein eigenes Urteil, das sehr oft etwas linksgerichtet ausfiel. Er ließ sich aber nicht durch eine bestimmte Gruppe vereinnahmen und wollte unabhängig bleiben. Breschke war technisch interessiert, intelligent, umsichtig, zuverlässig und sportlich. Er wog aufgrund seiner Muskelmasse bei einer Größe von 1,80 m 90 kg. Schnell stieg er auf der Beförderungsleiter nach oben, wurde schon zeitig als Gruppenführer, später als Zugführer in einer Nachrichtentruppe eingesetzt und im Krieg nur einmal leicht verwundet. Er beendete 1918 als Leutnant d. R. seinen aktiven Dienst. An einer Verwaltungsschule begann er 1919 ein Studium, das er 1923 mit Auszeichnung abschloss. Danach stellte man ihn in der Regierung auf Grund seines Dienstgrades als Assistent beim Staatskommissar von Rittelsbach ein. Breschke war seit 4 Jahren verheiratet. Das Ehepaar hatte zwei kleine Kinder.

 

Der Einsatzort, die Stadt Bloggenburg, war eine verträumte Kleinstadt mit 20000 Einwohnern und lag von der Hauptstadt etwa 200 Kilometer entfernt am Rande des Horatzgebirges. Eine gut ausgebaute Autostraße führte in die waldreiche und schwach besiedelte Gegend. Zwei große und bedeutende Fabriken hatten sich, mit Beginn der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, am südlichen Stadtrand in Bahnhofsnähe etabliert. Das waren die "Maschinenfabrik Todenbrink", die Waffen herstellte und die "Engel-Werke Bloggenburg", die medizinische Hilfsgeräte, vor allem Hand- und Fußprothesen, produzierten. Beide Werke wurden nun schon in der zweiten bzw. dritten Generation von den zwei einflussreichen Unternehmerfamilien Todenbrink und Engel geführt.

 

Der 60-jährige Ingenieur Ernst-August Todenbrink leitete das Unternehmen seit 1900, also nun seit achtundzwanzig Jahren in dritter Generation. Eigentlich wollte er in jungen Jahren Arzt werden, wurde aber von seinen Vater kurz und bündig überzeugt, die Familientradition fortzusetzen, obwohl sein Sohn von der inneren Einstellung her zum Pazifismus neigte. Mehr aus dem "Pflichtbewusstsein" heraus, dass ihm sein Vater abforderte, wurde er nicht nur ein brillanter Fachmann im Maschinenbau, sondern auch ein strenger, gerechter, sowie erfolgreicher Unternehmer, trotz seines inneren Konfliktes, der ihm oft zu schaffen machte. Morgens war er stets der Erste und abends der Letzte, der die Fabrik betrat bzw. verließ. Er besaß neben der großen Fabrik noch ein zehn Hektar großes parkähnliches Waldgrundstück weit außerhalb der Stadt, in dessen Mitte eine üppige Villa stand. Eine große Mauer umschloss das gesamte Anwesen. Das große eiserne, zweiflügelige Eingangstor war stets verschlossen. Von außen verhinderten Bäume sowie Büsche den Blick zur Villa. Mehrere Angestellte kümmerten sich um Wirtschaft, Küche und Garten. Kinder hatten die Todenbrinks nicht. Die Villa hatte bis vor Kurzem in Unternehmerkreisen, unter Politikern wie unter Künstlern einen guten Ruf. Die goldenen Zwanziger bescherten auch in dieser abgeschiedenen Gegend angenehme Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben der Oberschicht. Man traf sich im Anwesen des Unternehmers gern zu Festlichkeiten, Kulturveranstaltungen oder auch nur zum Golfspielen. Nebenbei wurden neue Ideen entwickelt und unter vier Augen Probleme "auf kurzem Weg" geklärt. Auch einige Vertreter des Militärs, meistens ehemalige Offiziere, die sich um einen aktiven Oberst der Reichswehr scharten, waren dort immer wieder zu sehen. In der Presse konnte man an den folgenden Tagen nachlesen, wie die Herrschaften bei ihren Treffen stets auf das Allgemeinwohl bedacht waren. Das stimmte aber nur für die Beschäftigten der Maschinenfabrik. Die wurden gut entlohnt, bewohnten eine ordentliche Werkswohnung und waren auch im Alter sowie bei Krankheiten relativ gut abgesichert. Gegenüber allen anderen Arbeitern und dem wachsenden Arbeitslosenheer im Lande waren sie schon privilegiert. Das wussten sie auch. Sie verhielten sich darum ihrem Arbeitgeber, auch der gesamten Werksleitung gegenüber äußerst loyal. Die Belegschaft beteiligte sich auch nicht an den neuerdings immer häufiger werdenden Demonstrationen und Prügeleien in der Stadt.

 

Seit mehreren Monaten hatte sich das Verhalten des Ernst-August Todenbrink und auch das seiner Ehefrau überraschend geändert. Er kam plötzlich nur noch unregelmäßig kurz in die Firma, später überhaupt nicht mehr. Er ließ sich auch sonst in der Stadt sowie im Klub nicht mehr sehen, sondern blieb völlig zurückgezogen in seiner Villa. Der Grund war nicht bekannt. Niemand wusste, was er dort tat. Leitende Mitarbeiter versuchten mehrfach, telefonisch oder persönlich Kontakt zu ihm aufzunehmen, wurden aber von seinen Hausangestellten stets höflich, aber bestimmt am Telefon bzw. am Eingangstor zu seinem Grundstück mit dem Hinweis abgewiesen, er würde nicht zu sprechen sein, auch niemanden empfangen. In der Firma lief es dank der umsichtigen Geschäftsleitung auch ohne ihn wie gewohnt weiter. Alle Verbindlichkeiten wurden erfüllt; die Forschung und Entwicklung machte die üblichen Fortschritte. Das Werk stand gut da.

 

Die Ehefrau des Unternehmers, Frau Josephine Engel-Todenbrink, vierundvierzig Jahre alt, hatte sich ebenso zurückgezogen. Ihr Vater, Erich Engel, war der Besitzer der Engelwerke in Bloggenburg. Auch die Engels machten sich Sorgen um ihre Tochter sowie deren Ehemann. Sie sahen aber keinen Grund für ein Verbrechen und sahen davon ab, die Polizei einzuschalten. Die Tochter hielt sich auch gegenüber ihren Eltern bedeckt. Sie wich den Fragen aus. Der Betrieb lief ja hervorragend weiter. Daher versuchte Herr Engel, das Problem mit Hilfe seiner Beziehungen zur Landesregierung zu lösen, die ihrerseits nun den Staatskommissar, Karl-Friedrich von Rittelsbach, in Marsch setzte. Schließlich war die Waffenfabrik für sie politisch und wirtschaftlich nicht ganz unwichtig. Man hatte sie, für alle Seiten zum Vorteil, durch die schwierige Zeit der Militärkontrollen gebracht, manches Augenzwinkern der Kontrolleure des britischen Generals richtig gedeutet und würde auch jetzt alles tun, um die Entwicklung und die Produktion des "SLG-Todenbrink" weiter voranzubringen. Schließlich war der Waffenexport fast das Einzige, was im Augenblick noch lukrativ war. Das Geschäft boomte regelrecht. Um die "andere" Wirtschaft war es nicht so gut bestellt. Es gab zunehmend viel Arbeitslose, mittlerweile wieder über zwei Millionen, und zu viele Parteien. Dauernd wechselten die Regierungen. Der Import überstieg den Export beträchtlich. Die Regierungen, Unternehmer und Glücksritter nahmen auf Grund des Dawes-Planes reichlich amerikanische Kredite in Anspruch. Ohne Tilgungskapazitäten zu haben, veranstalteten sie damit die Goldenen Zwanziger auf Pump. Das Ende war schon absehbar. Die Reparationsleistungen nach dem verlorenen Weltkrieg waren unerträglich hoch. Seit Mai war wieder einmal das Kabinett Müller am Zug. Oppositionelle Kräfte wirkten gegen die Republik. Eingeweihte sahen schon, dass in den nächsten Jahren noch mehr Unheil kommen würde. Der Ruf nach einem starken Mann wurde lauter. Es waren unruhige Zeiten.

 

***

 

02

Am nächsten Tag klingelte der Assistent Wilhelm Breschke pünktlich zur festgelegten Zeit, nämlich um 9 Uhr vormittags, am Hause des Staatskommissars, um ihn abzuholen. Karl-Friedrich von Rittelsbach stand schon seit fünf Minuten reisefertig am Fenster seines Arbeitszimmers, schaute nach dem trüben Novemberwetter und sah, wie die schwarze Opel-Limousine vorfuhr, auch wie Breschke geschickt in eine Parklücke manövrierte.

 

Der Staatskommissar blickte noch einmal kontrollierend um sich, nahm das Handgepäck und verließ seine Wohnung. Kurze Zeit später rollte die Limousine die Straße hinunter und bog an der nächsten Kreuzung in Richtung Fernverkehr ab. Der Staatskommissar hatte es sich auf den Rücksitzen bequem gemacht. Er verließ sich voll auf die Fahr- und Orientierungskünste seines Assistenten. Breschke hatte sich am Abend zu Hause gründlich auf die Fahrstrecke vorbereitet und diverse Karten studiert, nachdem er die vollgetankte Limousine vom Leiter des Dienstwagenparks übernommen hatte.

 

Von seinem Rücksitz aus erkundigte sich der Staatskommissar über die zu erwartende Reisezeit. Breschke meinte, dass man mit etwa vier Stunden, inklusive einer halbstündigen Pause, rechnen müsse. Von Rittelsbach nickte. Er sagte kurz: "Das ist in Ordnung. Wir werden also pünktlich mittags um ein Uhr im 'Hotel zur Burg' einchecken, danach dort zu Mittag essen, um zwei Uhr dreißig dem Bürgermeister einen Besuch abstatten und anschließend eine erste Erkundungsfahrt zur Firma Todenbrink unternehmen. Das müsste heute noch zu schaffen sein. Sie halten sich bei den Gesprächen zurück und agieren nur dann, wenn ich es vorher mit Ihnen abgesprochen habe, behalten also gewissermaßen Ihre Rolle als Assistent." In Wirklichkeit war der Staatskommissar froh, so einen sportlichen, kräftigen und jüngeren Begleiter zu haben. Das gab ihm ein gewisses Sicherheitsgefühl, war er selbst doch schon in seiner längeren Beamtenlaufbahn etwas behäbiger geworden. Damit vertiefte er sich in Papiere, die er seiner Aktentasche entnahm. Der Opel surrte ruhig und gleichmäßig dahin und erreichte ohne Zwischenfälle die Stadtgrenze.