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Matthias Drescher

Die Zukunft unserer Moral

Matthias Drescher

Die Zukunft unserer Moral

Wie die Nächstenliebe entstanden ist und wieso sie den Glauben überlebt

Tectum Verlag

Matthias Drescher

Die Zukunft unserer Moral

Wie die Nächstenliebe entstanden ist
und wieso sie den Glauben überlebt

© Tectum Verlag – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019

ePub: 978-3-8288-7188-5

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN: 978-3-8288-4275-5 im Tectum Verlag erschienen.)

Alle Rechte vorbehalten

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Ein möglicher Zusammenhang

Griechenland oder Israel

Das klassische Athen

Im Hellenismus

Folgen des Mythos-Verlustes

Die Juden

Der Weg zum Doppelgebot

Das Christentum

Heute

Was vom Christentum bleibt

Zitatnachweise und Literaturhinweise

Angaben zum Autor

Ein möglicher Zusammenhang

Die Pflicht zur christlichen Nächstenliebe scheint unbestritten. Sie gilt noch immer als oberste Maxime unserer Gesellschaft, obwohl viele längst vom Glauben abgefallen sind. Auch die Abtrünnigen wollen dem alten Gebot weiterhin folgen – dabei erklären sie allerdings nicht, warum. Wir wissen somit nicht, worauf der traditionelle Konsens heute beruht und ob er noch immer verläßlich ist.

Woher stammt der moralische Anspruch der Nichtgläubigen? Hatte Nietzsche recht, als er in den christlichen Werten ein „Ressentiment“ der Schwachen erkannte? Oder liegt die Ursache wesentlich tiefer, und ist es womöglich die fehlende Hoffnung? Kommt die Nächstenliebe ausgerechnet von der Angst vor dem Tod?

Der nachfolgende Rückblick auf die Antike soll zeigen, daß diese Vermutung wahrscheinlich stimmt. In enger Wechselwirkung haben damals Griechen, Juden und Christen ihre Todesangst in Selbstlosigkeit verwandelt. Vom Christentum wurde die neue Haltung zum Kern der Lehre erhoben und bis in unsere Zeit getragen. Inzwischen hat die Religion zwar an Autorität verloren, dadurch ist aber die ursprüngliche Angst wieder erwacht. Sie stößt heute einen ähnlichen Gefühlswandel an wie im Hellenismus und stärkt das Liebesgebot auch ohne Glauben.

Die Angst könnte erklären, warum wir die Entwicklung kaum bemerken – denn wer denkt schon gerne an den Tod. Allerdings ist nichts so sicher wie er, und wenn die Nächstenliebe auf ihm basiert, dann sollte uns das beruhigen. Die alte christliche Pflicht, der wichtigste Konsens unserer Gesellschaft, stünde auf einem unverrückbaren Fundament.

Griechenland oder Israel

Der Hauptstrang der europäischen Geschichte läuft über Griechenland. Philosophie, Demokratie, Theater, Naturwissenschaft, Rhetorik, Dichtung – es gibt kaum einen wichtigen Begriff unserer Kultur, der nicht dort geprägt wurde. Europa selbst, seine Sage und die Idee sind eine griechische Erfindung. Dazu paßt sehr gut, daß das Christentum im hellenistischen Teil des Römerreichs entstanden ist und daß es sich da auch zuerst verbreitet hat.

Ansonsten fällt es allerdings aus der Reihe, weil Jesus jüdisch ist und seine bekannteste Forderung ebenfalls. Schon in der Tora heißt es: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr“ (Levitikus 19,18). Von den Griechen wirkt die neue Lehre erst einmal nicht beeinflußt, dafür ist sie zu nah am Alten Testament und ihr Gott zu ungriechisch. Außerdem beruht ihr moralischer Doppelkanon auf Liebe: Gott und den Mitmenschen solle man mit all seiner Kraft lieben. Die alte griechische Forderung nach Frömmigkeit und Gerechtigkeit übertreffen die Christen damit um einiges.

Um zu verstehen, was damals passiert ist, erscheint die jüdische Vorgeschichte also relevanter. Trotzdem ist es besser, zunächst der griechischen Spur zu folgen, weil das Evangelium ja nicht nur unter Juden Erfolg hatte, sondern überhaupt im hellenisierten Osten des Reiches. Offenbar waren die seelischen Bedürfnisse allgemein sehr ähnlich und durch die gemeinsame Kultur geprägt. Deshalb öffnete sich auch die nichtjüdische Bevölkerung dem Christentum und schien kein Problem mit dessen fremder Herkunft zu haben. Die Frage ist, was genau die hellenistische Zivilisation mit den Menschen gemacht hat und welcher entscheidende gemeinsame Nenner sich in ihr entwickeln konnte. Und da die Juden ebenfalls in dieser Zivilisation lebten, betrifft diese Frage ganz wesentlich auch sie.

Der Hellenismus selbst hat seine eigenen Wurzeln. Er entstammt der Kultur der griechischen Heimat, trägt sie in die von Alexander eroberten Gebiete und wird dadurch erst zum Hellenismus. Deshalb sind bereits diejenigen Besonderheiten im klassischen Griechenland interessant, die in der späteren Entwicklung mitgewirkt haben könnten. Zumindest die Verhältnisse in Athen sind ja gut überliefert – allerdings geht es nur um allgemeine Wesenszüge, nicht um einzelne Ideen oder Personen. Denn ob etwa ein Philosoph die Nächstenliebe schon früh propagiert hat, ist unwichtig, wenn er nur wenige beeinflußt hat. Wenn aber die Athener schon damals geeignete Sensibilitäten oder Überzeugungen hatten, dann könnte ein Zusammenhang bestehen, der auch für die Zukunft der westlichen Moral wichtig wäre.

Das klassische Athen

Griechische Besonderheiten

Von Homer, also aus der Frühzeit Griechenlands, gibt es so grausame Schilderungen wie diese:

„Dem stach unter der Braue er tief in die Bettung des Auges,

Stieß ihm den Augapfel aus; der Speer durchbohrte das Auge

Bis in das Hinterhaupt, der setzte sich, breitete beide

Arme aus. Peneleos schlug mit dem Schwerte, dem scharfen,

Mitten hinein in den Hals und schmetterte nieder zur Erde

Haupt und Helm zugleich. Es steckte die wuchtige Lanze

Noch im Auge drin.“ (Ilias, 14, 493)

Töten und Sterben sind das große Thema der Ilias. Ihre Helden schicken unzählige Gegner und Nebenfiguren in den Tod, mitleidlos und schicksalhaft, aber auch ohne Hoffnung für sich selbst. Stellvertretend für alle steht Hektor, der größte Trojaner, dessen Leichnam sein Vater Priamos schließlich von Achill erbetteln muß. Es ist eine düstere Welt, aus der es kein Entrinnen gibt; nur, als größtes menschliches Glück, den flüchtigen Glanz, den ein siegreicher Kämpfer erwirbt. Auch wenn spätere Dichter das Schöne im Leben ausgiebig feiern, widersprechen sie Homer nicht. Seine Bilder rücken vielleicht in den Hintergrund, aber sie bleiben immer präsent. Jahrhundertelang sind sie Teil des Lebensgefühls, das auch sonst von den überlieferten Götter- und Heldengeschichten, dem Mythos, bestimmt wird. Zumindest leben so die Vornehmen, die sich als Nachfahren der Helden sehen, später aber auch die freien Bürger überhaupt. Die gesamte Hochkultur der Polis-Welt wird vom Mythos und von dessen Grausamkeiten begleitet. Sie werden auf Tempelfriesen und Vasen gezeigt, sind Thema von Gemälden und schwingen in der Schönheit von Götterstatuen mit.

Mit der Verfeinerung der Kultur wird die Darstellung eher noch schroffer, jedenfalls in Athen. Hier, in der größten Polis-Gemeinschaft, bildet sich die griechische Tragödie heraus. Der Mythos bleibt dabei omnipräsent, und zugleich intensiviert sich die Öffentlichkeit des Lebens außerordentlich. Da jeder Bürger daran teilhat und sein Wohl fast völlig von der Gemeinschaft bestimmt wird, leben die Menschen im Austausch miteinander und stellen sich den Anderen in einem Maße, wie es heute kaum denkbar ist. In der Agora, in Volksversammlungen und Symposien entwickeln sie eine einzigartige Fähigkeit, ihre Gedanken und Meinungen zu artikulieren, aber auch zu-zuhören und dadurch fortwährend ihren Horizont zu erweitern. „Wir bilden uns entweder selbst ein richtiges Urteil über die Gegenstände oder beherzigen die Ratschläge anderer mit Einsicht.“ – so sagt es Perikles laut Thukydides und nutzt dabei selbst eine Grabrede für Kriegsgefallene noch zur staatsbürgerlichen Erziehung.

Allerdings hatte die Extrovertiertheit des Lebens wohl eine Kehrseite. Denn Extrovertiertheit bewirkt leicht, daß für das Persönliche wenig übrigbleibt. Es überrascht deshalb nicht und entsprach wohl dem „Comment“, wie der Historiker Christian Meier schreibt, daß man die Gesellschaft mit Privatem nicht behelligte. Dieses dürfte überhaupt wenig entwickelt gewesen sein.

Weil es kaum lenkende Autoritäten gab, wurden die großen Themen fast ohne Filter vors Publikum gebracht. Die Tragödien, die im 5. Jahrhundert jährlich aufgeführt wurden, waren eine zusätzliche Steigerung der athenischen Öffentlichkeit und jahrzehntelang ihr besonderer Brennpunkt. Die Dichter standen im Wettbewerb um den Beifall des ganzen Volkes, zumindest der Bürger, der Frauen und der freien Ausländer. Deshalb vermitteln uns die Stücke viel davon, wie die Menschen das Leben sahen und auch von ihren Moralvorstellungen. Sie führen das düstere Panorama der Ilias und anderer Mythen weiter aus, mit existentiellen Fragen, aber ohne tröstende Antworten. Schuldig oder nicht, der Einzelne erleidet wehrlos die Launen der Götter. Diese konterkarieren einander und walten in der Summe als blindes Schicksal, ohne übergeordnetes Ziel. Entsprechend widersprüchlich sind auch moralische Pflichten, weil sie keinen Nutzen bringen und weil oft ebenso berechtigte, gegenteilige Positionen präsentiert werden.

Ein überragender und alles beherrschender Antrieb ist dagegen die Rache. Sie scheint selbstverständlich, notwendig und für das Publikum auch befriedigend gewesen zu sein. Jedenfalls schwelgen die Tragödien in Rachedarstellungen. Wie Medeas Rivalin am geschenkten Giftschmuck zugrunde geht, beschreibt Euripides geradezu genüßlich:

„Sie flieht, vom Sessel aufgesprungen, ganz in Glut,

Hinüber und herüber werfend Haupt und Haar,

Den Kranz hinwegzuschleudern, doch fest hafteten

Des Goldes Fesseln, und das Feuer loderte,

Indem das Haar sie schüttelt’, noch zweimal so stark …“

Unsere heutige Kernemotion Mitleid kommt seltener vor, zumindest innerhalb der Handlungen. Für das Publikum ist sie offenbar kein eigener Wert, sondern eher eine unvermeidliche Reaktion der Seele. Im Publikum selbst und für seine tragischen Figuren will der Dichter sie allerdings durchaus bewirken. Aber nicht als moralischen Selbstzweck, sondern, wie Aristoteles vermutet, um die Zuschauerseele anschließend genau davon zu befreien. Ebenso von der Furcht: Mitleid und Furcht gelten als besonders aufwühlende Gefühle, die durch die Inszenierungen zunächst provoziert und dann, in der Katharsis, überwunden werden sollen.

Aristoteles’ Theorie erklärt vielleicht noch viel mehr: Die Griechen sind nicht nur gefestigt genug für die Tragödien, sondern auch für die Wahrheit des Lebens an sich. Die Grausamkeiten Homers und anderer Mythen, selbst in der Götterwelt, erscheinen ihnen typisch menschlich. Sie fühlen mit den Opfern, so wie Homer uns noch heute mit Priamos trauern läßt, aber sie verurteilen die Täter nicht, und sie stellen Tod und Grausamkeit unbeirrt, in vielen Varianten künstlerisch dar. Ihre große Leidenschaft, das Artikulieren, hilft ihnen, auch die dunkelsten Gedanken einzufangen. Was andere Kulturen verschweigen und verinnerlichen, veräußerlichen sie und heben es auf die Ebene, die für sie am wichtigsten ist: die Kunst. Dort spielt es dieselbe Rolle wie Furcht und Mitleid in der Tragödie. Dementsprechend genießen sie das Schöne der Kunst ähnlich wie die Katharsis am Ende einer Tragödie. „Denn wir lieben das Schöne mit Einfachheit und wir erfreuen uns am geistigen Genuß ohne Weichlichkeit“ sagt Perikles. In jedem Fall sind Kunst, Kultur und Selbstverständnis für sie untrennbar mit den Abgründen des Lebens verbunden. Wir nennen das pessimistisch, aber es zeigt, daß ihre Lebensfreude so groß war, daß sie die Welt als Ganzes auskosten wollten. Die Hoffnungslosigkeit des Lebens erkennen und dennoch seine Schönheit genießen – in der Achten Pythischen Ode hat Pindar das so beschrieben:

„Wir Flüchtigen! Was wir sind,

schon sind wir’s nicht mehr. Ein Traum

Des Schattens, das ist der Mensch.

Aber, kommt nur ein Strahl von

Gott her, gleich ist es hell, und das

Leben dünket uns freundlich.“

Die Wirkung des Mythos

Eine einzigartige Kultur, in vielem uns sehr nah und trotzdem schwer zu fassen. Besonders rücksichtsvoll, mitfühlend und insofern prächristlich war sie jedenfalls nicht. Wie könnte sie gleichwohl die Nächstenliebe gefördert haben? Vielleicht hilft es, zunächst zu verstehen, warum ihre Bilder Grausamkeiten so anders zeigen als unsere.