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Ela Maus

Schicksalskuss

Zwischen Liebe und Hass


Ich widme diesen Roman meiner ehemaligen Französischlehrerin, die mit ihrem Eifer und ihrer Begeisterung für historische Ereignisse der deutsch-französischen Geschichte zur Entstehung der Grundidee dieses Buches beigetragen hat.


Elaria
80331 München

Prolog

In einer fernen Zukunft ist die Welt nicht mehr das, was sie einmal war. Kontinente, Länder, Städte, wie sie lange Zeit gekannt wurden, gibt es nicht mehr. Die Natur hat ihren Tribut gefordert, nachdem sie jahrhundertelang von den Menschen geschändet wurde. Sie löschte alles Lebendige aus und ließ unbrauchbaren Boden zurück, auf dem nie wieder Leben entstehen kann. Nur zwei Länder haben dies überstanden. Zwei Mächte, die sich auf den Mittelpunkt der Erde gerettet haben, wo sie nebeneinander weiter existieren können.

Zum einen Famea – das riesige Stück Land mit ausgeprägten Landschaften, die so abwechslungsreich sind, dass man innerhalb weniger Kilometer Berge, Flachland, Wald, Steppe, Meer und Stadt beisammen findet. Die Vitalität der dort lebenden Menschen ist imposant. Sie sind leidenschaftliche Liebende, unerschütterte Kämpfernaturen, stolze Patrioten. Ihr Land halten sie für unbesiegbar und robust, denn Famea ist für sie zweifelsfrei beherrschend.

Zum zweiten Desala – ein genauso großes Land mit größtenteils flachen Ebenen, auf denen Platz für gigantische Versorgungszentren ist. Von dort aus fließt die neue, umweltfreundliche Energie zu den restlichen bevölkerten Flecken der Erde, so auch nach Famea. Die Bewohner Desalas schätzen die Nähe zu Tieren, sind kluge und scharfsinnige Denker, stolze Moralisten und ebenso ehrsinnige Vaterlandsverteidiger wie Fameaner.

Es ist mit unvereinbaren Differenzen zu begründen, dass nach langen Jahrzehnten der Zusammenarbeit ein Konkurrenzkampf zwischen den Mächten ausbrach. Ein Krieg, der brutaler und zerstörerischer nicht hätte sein können. Die neu gewonnenen Technologien ermöglichten es beiden Seiten, ihre Macht zu demonstrieren, bis keine dieser neuen Kampfmittel mehr übrig war. Sie wurden aufgebraucht, im Gefecht zerstört und schließlich unbrauchbar zurückgelassen, sodass der Krieg heute auf Techniken beruht, von denen alte Sagen erzählen. Legenden, in denen Menschen mit Bomben, Kanonen, Schrotflinten, Messern oder gar bloßen Händen ihren Feind zu erzwingen suchten.

Desalas Regierung unterbrach rasch die Energieversorgungsleitungen, die nach Famea führen. Diese Überlegenheit sollte den Desalanern den Gewinn sichern, denn ohne die wichtige Energie war Famea zurück in noch viel ältere Zeiten versetzt worden. Zeiten, in denen es weder autonome Fahrzeuge, energiebetriebene Türen, ferngesteuerte Apparate noch irgendetwas gab, das mit Energie belebt wird.

Die Hälfte Fameas wurde von Desala übernommen. Desalaner griffen in die Regierung ein, übertrugen ihr System und hinderten das fameanische Parlament an jeglichem Protest. Die Besetzung greift allmählich auf Teile des südlichen Fameas über, wo rebellische Bewohner im erbitterten Kampf versuchen, ihr Land für sich zu wahren.

 

 

Der Regen peitschte unbeugsam in sein schmerzverzerrtes Gesicht. Er versuchte nach Luft zu schnappen, doch seine Lunge war mit Blut gefüllt. Es brachte ihn zum Husten, bis er sich zwang, still zu sein. Die Angst, dass sie ihn hören könnten, war tief in ihm verwurzelt. Sie waren ihm so nahe, dass sie vernehmen konnten, wie verzweifelt er versuchte, am Leben zu bleiben. Ab und zu sah er ihre Beine an seinem flachen Körper vorbeilaufen, als sie sich unbeugsam einen Weg durch den Haufen verwesender Leiber bahnten. Das verbrannte Fleisch stank selbst durch den Regen hindurch, welcher den Geruch und die Erinnerung wegtragen sollte. Doch er schaffte es nicht.

Nicht alle seiner Kameraden waren tot. Er konnte sie hören. Vernahm, wie sie wimmerten, weinten, stöhnten. Ein paar entschlossene Aufrufe drangen durch das Prasseln des Regens, wenn sie sich ein letztes Mal gegen ihren Feind zur Wehr setzten. Er wusste, er musste ihnen helfen; ihnen beistehen und kämpfen. Doch sein Körper war gelähmt. Etwas hatte ihn am Oberkörper getroffen, eine andere Kugel ins Bein. Es kam ihm vor, als hätte sich seine zerfetzte Uniform so sehr mit Blut und Wasser vollgesogen, dass sie sein dreifaches Körpergewicht angenommen hatte. Auf keinen Fall konnte er aufstehen.

Ein Feind kam ein paar Meter neben ihm zum Stehen. Zwischen ihnen lag nur eine weitere Leiche. In seiner Hand baumelte ein Schwert, dessen scharfe Spitze unmittelbar vor dem Gesicht des nächsten verletzten Soldaten hing. Er hatte noch nie ein Schwert gesehen, kannte es nur aus alten Geschichten über Ritter, die vor abertausend Jahren gelebt hatten. In der Hand des Feindes machte es einen bedrohlichen Eindruck und er fürchtete sich vor dem Moment, wenn sich der Schwertträger zu ihm umdrehen und das Leben in seinen Augen entdecken würde.

»Bitte … Gnade«, hustete sein Kamerad zu den nassen Füßen des Feindes. Dessen Gesicht vermochte er in der verregneten Nacht nicht zu erkennen. Es richtete sich auf den gefallenen Soldaten und als dieser erneut seine aufgeplatzten Lippen öffnete, um ein Gnadenflehen hervorzubringen, durchtrennte ein kräftiger Schlag der Klingen seinen Hals.

Der stille Beobachter zuckte zusammen, obwohl sein Körper von Trägheit gelähmt war. Übelkeit überkam ihn, dabei war es bei weitem nicht das erste Mal, dass er jemanden sterben sah. Viele waren vor seinen Augen zu Grunde gegangen. Mit seinen eigenen Händen hatte er Blut vergossen. Er hasste sich dafür nicht weniger, wie er den Krieg verachtete. Bis heute hatte ihn der packende Wille, zurück nach Hause zu kommen, am Leben gehalten. Bis heute hatte er sich im Schutze seiner Kompanie durchgeschlagen. Aber er spürte, dass diese Zeit nun vorbei war.

Seine Augen fielen zu und er hielt den Atem an, als er auf den nahenden Moment wartete. Auf den Todesstoß durch ein Messer, auf den Schlag des Schwertes oder den Schuss einer Pistole. Er wartete und wartete, glaubte, die Ohnmacht würde ihn erlösen. Bei dem massigen Blut, das in den Fugen des Kopfsteinpflasters verrann, vermochte er sein Bewusstsein nicht mehr lange zu halten. Er sehnte sich den Augenblick herbei, wo er es verlor. Dann würden all die grausamen Bilder verschwinden, die ihn bis hierher begleitet hatten.

Doch er wurde nicht ohnmächtig. Ebenso wenig ermordet. Nichts geschah.

Sein Zeitgefühl sagte ihm, dass er eine Ewigkeit im Regen lag, bis irgendwann die Gewissheit, dass sie ihn vergessen hatten, über ihn hereinbrach. Es war ihr Fehler, dass sie ihn übersehen hatten, doch sein Pech. Schemenhaft tanzte der Regen vor seinen Augen, als er sie öffnete. Die Schar seiner toten Kameraden war noch da, aber die Feinde hatten diesen unheilvollen Ort verlassen. Alle waren tot. Bevor die Angreifer weitergezogen waren, hatten sie jedes Leben, das dem Anschlag entwichen war, ausgelöscht. Bis auf seines.

Erst dachte er, durch diesen Fehler bestraft worden zu sein, denn er musste nun darauf warten, dass ihn der Henker ohne fremde Hilfe abholte. Musste qualvoll im Regen daliegen und an seinem Blutverlust zu Grunde gehen. Dann packte ihn ein Gedanke: Was, wenn er nicht starb? Was, wenn er nach Hause gehen durfte? Was, wenn der Krieg für ihn endlich ein Ende gefunden hatte?

Er hielt es nicht für möglich, dass er sich bewegen konnte, doch die unermessliche Hoffnung, die plötzlich in ihm aufstieg, fachte seine Muskeln zum Kampf an. Sie stemmten ihn einseitig auf, trieben ihn kriechend über den nassen Boden. Er schliff sich über seine toten Kameraden, über gefallene Feinde und verharrte, als er vor einem toten Mann mit beinahe unversehrter Kleidung ankam. Es waren kaum mehr Gedanken, die seinen Kopf erfüllten, sondern reine Hoffnung auf das Ende des Horrors. Sie trieb ihn an, all seine Scham zu verlieren. All seine Menschlichkeit aufzugeben. Seine Ehre über Bord zu werfen.

Kraftlos riss er sich die Fetzen seiner Uniform vom Leib, um sie gegen jene Lumpen zu tauschen, die der tote Mann trug. Für den Fall, dass er überlebte, musste er Vorkehrungen treffen, um nicht zurück ins Soldatenlager geschickt zu werden. Er musste sichergehen, dass er nicht in einem anderen Bataillon kämpfen musste. Er wollte nichts mehr als zurück nach Hause.

Der Mann wechselte die Kleidung unter unermesslichen Schmerzen und schleppte sich fort, bis er nicht mehr konnte. Als er regungslos zusammenbrach, glaubte er zu sterben. Doch es war ihm egal, denn nun starb er zumindest nicht mehr als Soldat. Der Gedanke spendete ihm Trost, als er der Ohnmacht erlag.

Kloster

Sam

 

Schon immer hatte ich über ein ausgeprägtes Erinnerungsvermögen verfügt. Das war ganz praktisch, würde man meinen. Manchmal jedoch machte es mir Angst. Durch all diese Erinnerungen kamen schrecklich reale Träume, die mich jede Nacht plagten. In diesen träumte ich von den Ereignissen, die mein Leben geprägt hatten, und so wachte ich jeden Morgen mit der Wut im Bauch auf, die mich einerseits antrieb und mir andererseits klares Denken unmöglich machte. Sie ließ mich aufbrausend werden, ungezügelt, zerstörerisch.

Jetzt in diesem Moment war sie wieder da - diese Wut. Während ich den Wachmann in seiner grünen Uniform anstarrte, mit den schweren schwarzen Stiefeln und der Mütze, die ihm einen Tick zu groß war. Der Jähzorn grollte in meinem Bauch umher wie ein Zug, den ich aus alten Filmen kannte. So einer mit schwarzem Lack und durch Dampf betriebene Räder, die auf den unebenen Schienen ein stetiges Ra-tssssch Ra-tssssch machten. Schon lange gab es so etwas nicht mehr, aber in meinem Bauch lebte dieses unsaubere Verkehrsmittel weiter. Ich brauchte nur daran zu denken, was für ein Unmensch dort am Tor stand, mit den Händen in den Hosentaschen, als würde er sich zu Tode langweilen. Es war kaum auszudenken, was in seinem Gehirn vor sich ging, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er glücklich darüber war, dort stehen zu dürfen. Damit war er der Gefahr entflohen, die draußen auf den Straßen wartete. Blöd gelaufen, mein Freund, dachte ich sarkastisch, hier bin ich und ich werde dich töten.

»Verschwende keinen Gedanken daran«, ertönte eine Stimme neben mir. Die dazugehörige Hand fasste mich vorsichtig am Ellbogen und wollte mich wegdrehen, damit ich ihr folge. »Niemand kommt durch das Tor. Und selbst, wenn du es anstrebst - erst musst du deine Aufgaben erledigen und dich als tüchtig und würdig erweisen, wieder in die Gesellschaft freigelassen zu werden.«

Ich entzog mich der Berührung und sah die Frau an, die seit heute Morgen - seit man mich hierher gebracht hatte - an meiner Seite war und mir das Gelände zeigte. Sie hatte meinen Blick sofort verstanden. Ich glaubte kaum, dass ich nicht an diesem einen schwachen Wachmann vorbeigekommen wäre, erwiderte jedoch nichts, sondern folgte ihr schweigend an der hohen Mauer entlang, die uns auf dem riesigen Gelände einschloss.

Dabei betrachtete ich, wie sich Unkraut durch die ungleichen Steine der Mauer zwängte. Auf meiner gegenüberliegenden Seite, wo die hohe Wand des Klosters in den Himmel emporragte, schien es an unbrauchbarem Gestrüpp ebenso wenig zu mangeln, obwohl überall fleißige Arbeiterinnen und Arbeiter herumliefen, die versuchten, die Ernte der Beete zu retten. Nerilia, wie sich mir meine Begleiterin vorgestellt hatte, schien ebenfalls tagtäglich solche Tätigkeiten zu verrichten, wenn sie nicht gerade dabei war, ein gefangen genommenes Mädchen wie mich herumzuführen. Ich hatte ihre rauen Hände bemerkt, die von Hornhaut und Schürfungen geprägt waren.

Inzwischen hatte sie mir den Garten, den Brunnen und alles Wichtige auf dem Gelände gezeigt, dennoch liefen wir ein weiteres Mal komplett um das riesige Klostergebäude herum. Seine vielen Fenster starrten aus enormen Höhen zu uns herab. Von ihnen aus konnte man sicherlich die Stadt sehen, welche sich am Fuße des Berges befand, auf dem die Abtei errichtet worden war. Hier unten, neben den dicken Klosterwänden, war es mir nicht möglich, das Treiben der Stadt zu verfolgen, denn die emporragende Mauer verdeckte alles, was sich um das Kloster herum befand.

Wir kamen wieder an der Vorderseite an, bei der großen Doppelflügeltür, wo das Tor zur Freiheit lag, als Glockengeläut erschall. Dieses Geräusch stammte vom Glockenturm, der sich an der hinteren Seite der Abtei befand und weit in den Himmel ragte.

»Zeit zum Abendbrot«, teilte mir Nerilia mit einem Lächeln im Gesicht mit, das ich nicht ganz deuten konnte. Sie war überhaupt eine Person, die schwer einzuschätzen war, obwohl es mir sonst immer gelang, Intentionen meiner Gegenüber zu deuten. Ich hatte eine gute Menschenkenntnis, aber bei ihr war ich mir nicht sicher, ob sie mich mochte oder nicht. Ich kannte sie zwar erst seit dem Morgen, aber das merkwürdige Lächeln, was sie mir manchmal zuwarf, war gruselig. Und dann setzte sie wieder ihre versteinerte Miene auf, die mich an die Statuen in den Klosterinnenräumen erinnerten.

Wenn ich ehrlich war, machte ich es ihr auch nicht einfach, da ich kaum ein Wort sagte. Ich empfand es schlichtweg als unnötig, mit ihr zu reden, denn ich wusste, dass ich nicht lange hierbleiben würde. Egal, was sie über den Wachmann gesagt hatte und egal, wie viele noch kommen würden, um das Tor zu bewachen - ich musste hier raus, komme was wolle.

Es war ein großer Speisesaal, in den mich Nerilia führte. Mit uns zusammen strömten etliche schwarz gekleidete Personen hinein, die wirkten, als hätten sie den ganzen Tag nichts gegessen. Mir ging es zwar so - ich hatte seit einem Tag nichts mehr zu mir genommen - aber das konnte hier nicht der Standard sein. Die wohlgenährten Bäuche der Mönche erzählten von einer guten, fetthaltigen Nahrung.

Nerilia zeigte mir, wo ich mich anstellen musste, um Essen zu bekommen, und deutete mir danach an, mich mit ihr an die lange Tafel zu setzen, die in der Mitte des Saals aufgebaut war. Alle setzten sich daran, sodass bald eine Fülle an schwarzen Personen den Tisch zu überdecken schien.

Hungrig, wie ich war, ergriff ich meine Gabel und führte sie zum Teller, da legte mir Nerilia eine Hand auf den Arm. »Noch nicht«, sagte sie und sah mich mit enttäuschter Miene an. »Erst beten wir alle gemeinsam.«

Ich betrachtete sie durchdringend. Wie konntest du das vergessen?, fragte ich mich selbst ironisch. Du bist schließlich in einem Kloster. Aber das war für mich noch lange kein Grund, dem bittenden Ausdruck in ihren Augen nachzukommen. »Ich bete nicht.«

Ihr Blick wurde weicher und ich sah Mitleid in ihren Gesichtszügen. »Sei nicht so streng mit dem Herrn. Er wird uns alle befreien.«

Obwohl ich nicht an das glaubte, was sie sagte, schockten mich ihre Worte. Sie waren ganz klar auf die Situation unseres Landes bezogen und wiesen darauf hin, dass es auch ihr nicht entging, dass wir von unmenschlichen, abtrünnigen Barbaren besetzt und kontrolliert wurden. Diese Primitivlinge befanden sich auch hier im Speisesaal. Schön diskret an die Wand gedrängt, damit sie stumm bewachen konnten, wie sich die Nonnen und Mönche brav die Hände reichten und gemeinsam beteten.

Während auch meine Hände in denen meiner Sitznachbarn lagen, betrachtete ich mit wachsamen Augen die grün gekleideten Soldaten. Sie wirkten gelassen, routiniert, als wären sie das hingebungsvolle Beten der Gläubigen leid. Ich hatte keine Ahnung, wie lange sie das Kloster bereits besetzten, aber ich wusste, dass Abteien im nördlichen Teil Fameas so gut wie immer das erste Ziel waren. Die Leute darin waren gutmütig, nicht gewaltbereit und vertrauten allesamt darauf, dass Gott seine eigenen Pläne hatte. Sie kooperierten daher mit den Barbaren, gaben sich ihren Anweisungen hin und nahmen Aussätzige auf, die von den desalanischen Soldaten aufgesammelt und hierher verfrachtet wurden, damit sie keinen Ärger mehr machen konnten. Genaugenommen waren Klöster nichts anderes als Gefängnisse. Die Barbaren hatten sie bitter nötig, um eine Stadt wie die vor den Klostermauern von den Rebellen zu befreien. Wenn sie sie nicht ermorden konnten, sperrten sie sie hinter dicke Wände. Genauso war es mir ergangen.

Langsam strich mein Blick weiter über die konzentriert aussehenden Gesichter der Männer und Frauen unter schwarzen Kleidern, die ihre Augen gebieterisch verschlossen und den Kopf gesenkt hielten. Nur ab und zu saßen zwischen ihnen Leute, die keine dunklen Farben trugen. Es waren solche wie ich. Welche, die sich nicht freiwillig hier befanden. Ob sie nun geflüchtet waren, um den Krawallen auf den Straßen zu entgehen, oder ob sie gefangen genommen und hier untergebracht worden waren, wusste ich nicht. Beides war möglich, aber nur die zweite Variante fand ich akzeptabel.

Als schließlich alle ihre Anliegen an Gott losgeworden waren, konnte ich meinen Hunger stillen. Wie ein Raubtier schlang ich das Essen hinab, so begierig war ich darauf, etwas Richtiges zwischen die Zähne zu bekommen. Es war in den letzten Wochen nicht leicht gewesen, Nahrung zu finden. Vielleicht war das ein Grund dafür, dass sie mich gefasst hatten. Möglicherweise war ich wegen des Energiemangels zu unkonzentriert gewesen, als ich letzte Nacht durch die Straßen gelaufen war. Dort hatten sie mich erwischt, mich als rebellisch identifiziert und mitgenommen.

Die Barbaren hatten vor Jahren damit begonnen, Lionne, die drittgrößte Stadt Fameas, nach ihren Wünschen umzukrempeln. Sie sich Untertan zu machen und uns Einwohner zu unterdrücken. Wenn wir nicht spurten, wurden wir weggesperrt. Aber nicht mit mir, ich würde mich nicht von ihnen beseitigen lassen. Bis ich hier heraus war, war es nur eine Frage der Zeit.

Und schon war die Wut in mir zurückgekehrt.

Sie begleitete mich bis nach dem Essen, das ich schweigend hinter mich brachte. Nerilia führte mich nach dem Mahl in einen Teil des Klosters, den ich noch nicht gesehen hatte. Währendessen bemerkte ich, dass viele andere, die im Speisesaal gesessen hatten, in den Gebetssaal eilten, den mir meine Begleiterin heute Morgen gezeigt hatte. Wir gingen stattdessen eine Treppe hinauf, die durch mehrere Winkel gespalten wurde und somit länger war, als ich zunächst angenommen hatte. Sie führte zu einem langgestreckten Flur in einer der obersten Etagen, auf dem sich einige düstere Türen befanden. Die dritte davon öffnete sie.

»Das hier ist dein Zimmer. Wundere dich nicht, es ist schlicht gehalten. Hier ist alles einfach, denn wir leben allein durch Gottes Gnaden in Luxus. Mit der Zeit wirst du das verstehen«, sagte sie, wobei der letzte Satz ehrlich klang. Wahrscheinlich hatte sie eingesehen, dass ich ihr nichts von alldem abkaufte, mit dem sie mich den ganzen Tag über zugeschwallt hatte, aber ihre Hoffnung war groß, dass ich es noch tun würde.

Ich sagte nichts, sondern trat in den Raum ein, der aus nicht mehr als einem Schreibtisch, einem schmalen Bett, einem schlichten Schrank und einer Toilette bestand. Ich runzelte die Stirn, als ich die karge Einrichtung betrachtete.

»Es gibt einen gemeinschaftlichen Waschraum. Ich werde ihn dir morgen Früh zeigen. Zuerst solltest du zur Ruhe kommen. Der Tag war hart.« Mit diesen Worten zog sie sich zurück und schloss die Tür hinter sich.

Mir entfuhr ein Seufzen, als ich mich langsam umwandte und meinen Blick nochmals durch das kleine Zimmer streifen ließ. Es gab ein Fenster gegenüber der Tür, durch das nichts als das Mondlicht drang. Nach dem Toilettengang machte ich mich daran, den hölzernen Schrank zu erkunden. Darin hingen einige Sachen. Zu meiner Erleichterung war nichts davon Schwarz, sowie keine der Kopfbedeckungen zusehen war, die die Nonnen trugen. Stattdessen waren all die Kleider weiß, als beabsichtigten sie, mein rebellisches Verhalten durch die Farbe der Unschuld zu kompensieren und damit meine Schuld vor Gott zu begleichen.

Ich zog mir eines der weißen Kleider an, welches so weit ausfiel, dass es nach einem Nachtkleid aussah, als welches ich es auch benutzte. Dann schritt ich mit nackten Füßen an das Fenster heran und öffnete es. Erleichtert stellte ich fest, dass ich von hier aus über die hohe Außenmauer hinweg blicken konnte. Vielleicht entdeckst du einen Schwachpunkt, durch den du in die Freiheit gelangst, dachte ich. Gleich darauf verflogen alle Gedanken, als ich das Funkeln eines plötzlich aufflammenden Feuers, weit unten am Fuße des Berges, entdeckte. Dort, wo die ersten Häuser der Stadt standen, die umgeben von der Dunkelheit geheimnisvoll mystisch aussahen.

Schon lange Zeit gab es kein Licht mehr, denn die Energiezufuhr war vor Ewigkeiten abgestellt worden. Wir lebten in Zeiten zurückversetzt, die ich aus alten Geschichten meiner Großeltern kannte. Hier geht es zu wie im Mittelalter, hatte meine Mutter oft vor sich hingeredet. Ich wusste nicht, was das Mittelalter war. Bestimmt war es ein finsteres Zeitalter gewesen. Und unserem Jetzigen sicher nicht unähnlich.

Glücklicherweise hatte Famea eine recht eigenständige Wasserversorgung, weshalb wir trotz des Energieverlustes weiterhin fließendes Wasser nutzen konnten. Das war allerdings die einzige neumodische Erfindung, die noch funktionierte. Schon oft hatte ich gedacht, dass wir uns nicht auf diese brutale Weise hätten umstellen müssen, wenn die Energieentwicklung langsamer vorangegangen wäre. Wenn nicht alles derart miteinander vernetzt wäre, dass das eine ohne das andere nicht mehr funktionierte. Als damals alles ausgefallen war, weil uns die Desalaner die Energie gekappt hatten, waren viele Leute gestorben. Sie waren nicht in der Lage gewesen, sich zu versorgen. Für uns hatte das alles meine Mom übernommen. Sie hatte uns gezeigt, wie wir uns ernähren und somit überleben konnten.

Mit einem erneuten Seufzen schloss ich das Fenster und ging auf das Bett zu. Die Müdigkeit konnte ich nicht bestreiten, denn in der letzten Nacht hatte ich kaum geschlafen. Jetzt zog mich mein vollgegessener Bauch wie ein Magnet an die Lagerstätte, welche eine harte Matratze und eine dünne Decke aufwies. Für mich war es der Himmel auf Erden.

Kriegsgeschehen

Als ich durch die offene Tür das warme Landhaus betrete, welches so eine heimische Atmosphäre auf mich abgibt, überdenke ich den Vorsatz, joggen zu gehen, noch einmal. Meine Mutter sitzt am Tisch, auf ihrem Schoß ein hampelndes Kind, während sie versucht, auf dem Tablet zu lesen. Jeff klopft indessen ständig mit den Händen auf die Tischplatte und brabbelt Unverständliches. Mom beeindruckt das nicht, sie sieht stattdessen zu mir, als ich mich mit einem »Hey« bemerkbar mache.

»Wie war die Schule?«

Ich nicke vor mich hin, während ich in die Küche gehe, um mir etwas zu trinken einzuschütten. »Wie immer«, erwidere ich, bevor ich mich mit meinem vollen Glas in den Türrahmen stelle und es in einem Zug leertrinke.

»Wo hast du deine Geschwister gelassen?«, fragt Mom und sieht durch die offene Haustür hinaus, wo sie nur den verstaubten Schotterweg erkennen kann, der von unserem Haus zur Straße führt.

»Ach, die haben rumgetrödelt«, sage ich und verdrehe die Augen, »ich bin vorgegangen.« Ich kenne meine Mutter und weiß, dass sie darüber nicht beunruhigt ist. Wir leben in einem kleinen Dorf, jeder kennt jeden und hier wurden noch nie Kinder geklaut.

»Dein Vater will dich sprechen«, sagt Mom, »du solltest zu ihm gehen. Er sitzt im Arbeitszimmer.«

»Ist er nicht bei der Arbeit?«, fragte ich verwundert, stelle mein Glas auf die Anrichte und wende mich nach links, um dort die Tür zu öffnen, die in das kleine, hübsch eingerichtete Büro führt.

Meine Mom braucht gar nicht mehr zu antworten, denn da sehe ich Dad schon auf dem Schaukelstuhl in der Ecke sitzen, mit einem Lesegerät in der Hand. Er sieht auf, als ich eintrete, und bedeutet mir mit einer Kopfbewegung, die Tür zu schließen.

Ich runzle die Stirn, tue jedoch, was er will und setze mich auf den zweiten Stuhl. »Wieso bist du nicht bei der Arbeit?«

Er sieht etwas betrübt auf den Boden, als er das Gerät auf den Schreibtisch legt. »Es war heute nicht nötig, zu arbeiten«, antwortet er vage. Ich verstehe diese Antwort nicht, deswegen bleibe ich still und warte darauf, was er mir zu sagen hat. »Sam … du hast bestimmt gehört, was in den Nachrichten von dem Krieg gesagt wurde, oder?«

»Ja«, murmele ich, verwirrt über die Frage. »Aber du hast doch gesagt, es sei nur eine Warnung.«

Er schüttelt langsam den Kopf und blickt mich endlich an. Seine blauen Augen, die meinen erstaunlich ähneln, reflektieren das Bild von mir, wie ich zerstreut auf dem schwarzen Lederstuhl sitze und in sein ernstes Gesicht schaue. »Ich befürchte, das war ein Irrtum. Es sind heute einige meiner Arbeitskollegen als Soldaten eingezogen worden.«

Mein Mund klappt auf. »Was?« Eine markerschütternde Leere breitet sich in meinen Inneren aus. Worauf will er hinaus?

»Sie werden in den nächsten Wochen auf den Krieg vorbeireitet. Das alles wird unser Leben verändern.« Sein intensiver Blick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. »Weißt du noch, was ich dir über frühere Schlachten erzählt habe? Was dort passiert ist?«

Ich nicke mechanisch. In meinem Kopf hallen einige seiner Wörter von damals wider, mit denen er mir versucht hat klarzumachen, was Krieg für schreckliche Dinge mit sich bringt. Tod, Verzweiflung, Hunger, Zerstörung. »Und ...«, beginne ich, aber die Angst lässt mich kurz innehalten, »und … was heißt das für uns?«

»Wenn es so ist, wie ich vermute, dann …«, er zögert.

»Was dann, Dad?« Ich lehne mich auf dem Stuhl nach vorne und starre ihn an, in der verzweifelten Hoffnung, dass er irgendetwas sagt, das nicht ganz so schlimm ist, wie ich vermute.

Er seufzt und blickt hinab auf den Boden. »Ich werde auch ein Soldat sein müssen, Sam. Die Regierung verlangt das von allen Männern, die nicht krank oder zu alt sind. Und wenn es so sein sollte, dann bleibt ihr hier zurück. Ohne mich.« Er sieht wieder auf und die Härte seiner Worte lässt mich zittern.

Ich fühle mich wie vor den Kopf gestoßen. Nie habe ich mich mit so etwas Schrecklichem auseinandersetzen müssen. Nie war die Rede von etwas, das schlimmer sein könnte als ein gebrochener Finger. Niemals war mein Leben so ins Wanken geraten wie in diesem einen Moment. Dabei ist nichts davon sicher, es ist nur seine Vermutung. »Aber das weißt du doch nicht. Es kann sein, dass sie dich nicht nehmen. Vielleicht hört der Krieg ja auch bald wieder auf, weil sie sich einigen.« Ich weiß nicht, wie dumm das ist, was ich da sage, denn ich habe keine Ahnung vom Krieg. Ich weiß nicht mal wirklich, worum es geht. Es müssen politische Motive sein, aber ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus.

Er schüttelt den Kopf. »Glaub mir, das werden sie nicht. Krieg beendet man nicht einfach so.«

Ich sehe ihn an und will nicht glauben, was er da sagt. Das klingt alles viel zu unwirklich.

»Was ich dir damit sagen möchte …«, fährt er langsam fort und zieht die Stirn kraus, »wenn ich tatsächlich wegmuss, dann bist du die rechte Hand deiner Mutter. Das weißt du, oder? Sie muss auf dich zählen können. Ich weiß nicht, wie weit der Krieg seine Finger ausstrecken wird, ob er uns hier in Clarrigen überhaupt erreicht. Aber wenn, Sam, wenn, dann musst du deiner Mutter vertrauen und auf deine Geschwister aufpassen. Egal, was passiert. Du bist dann für diese Familie verantwortlich. Versprich mir, dass-«

Doch weiter kommt er nicht, da ruft Mom aus der Küche nach seinem Namen. Es klingt so verwirrt und beunruhigt zugleich, dass nicht nur er, sondern auch ich, aufspringen und zur Tür laufen. Dort steht meine Mutter, mit Jeff auf dem Arm und meinen zwei anderen Geschwistern an der Seite einem Mann gegenüber, der wie ein Postbote aussieht. Er steht halb im Raum und blickt mit wartender Miene meinen Vater an.

»Rod Cloud?«, fragt er und wartet das Nicken meines Vaters kaum ab, da redet er schon weiter: »Ich muss Ihnen diesen Brief übergeben und Ihnen mitteilen, dass Sie verpflichtet sind, dem nachzukommen, was darin geschrieben steht.« Seine Augen zucken ein wenig betrübt zu meinen Geschwistern, die mittlerweile eingetroffen sind, während er ein paar Schritte weiter in den Raum reingeht, um Dad die Nachricht zu geben. Er wünscht uns einen schönen Tag, dann verschwindet er durch die offene Tür nach draußen.

Ich starre gebannt auf das blütenreine Papier in Dads Händen und weiß, dass es nichts anderes ist, als das, was wir soeben besprochen haben. Mit einem Seitenblick zu meiner Mom sehe ich, dass auch sie sich der Bedeutung dieses Besuchs mehr als bewusst ist.

Sie stellt Jeff auf den Boden. »Rick, Aim – nehmt Jeff mit rauf. Geht ins Zimmer«, sagt sie in strengem Ton, der keine Diskussionen zulässt. Meine Geschwister wissen nicht, was hier geschieht. Doch sie nehmen unseren kleinen Bruder bei der Hand und stolpern mit ihm die Treppe hinauf, während Mom auf meinen Vater zugeht und ihm eine Hand auf die Schulter legt. Ihr Blick schweift unbehaglich zu mir.

»So schnell geht es«, murmelt Dad leichthin, als sei dies kein Brief, der ihn von uns wegholen will. Er sieht einmal zu mir und dann zu Mom, ehe er ihn öffnet und sich dabei an den Tisch setzt.

»Was steht drin?«, drängelt meine Mutter, doch sie bekommt nicht sofort eine Antwort, sondern muss warten, bis er den Brief mit glasigen Augen über den Tisch schiebt, nachdem er ihn gelesen hat.

Ich bin nicht dazu fähig, mich zu bewegen. Außerdem weiß ich, was drin steht, egal, wie es formuliert sein mag. Und ich weiß, dass damit der Krieg, was auch immer er ist und welche Ausmaße er hat, nicht mehr nur irgendein Wort ist. Er ist jetzt zu einer Bedrohung geworden, die ich zuvor noch nie im Leben hatte.

 

Ich schreckte auf und fühlte die gleiche seltsame Leere in meinem Bauch, die ich damals vor vier Jahren gespürt hatte. Sie wurde schnell durch die Wut ersetzt, die sich in mir breitmachte, wenn ich mich daran erinnerte, wie das Elend angefangen hatte. Wie mein Leben sich von einem Moment zum anderen so drastisch verändert hatte, dass ich nicht mehr ansatzweise das Mädchen war, das früher naiv die Hoffnung gehegt hatte, dass der besagte Krieg uns nicht erreichen würde. Er war nun alles, was ich kannte.

Die Sonnenstrahlen, die durch das Klosterfenster fielen, blendeten mich. Ich hätte die Vorhänge gestern Abend zuziehen sollen. Mit einem Blick durch das Zimmer rief ich mir all die Pläne ins Gedächtnis, die ich für den heutigen Tag hatte. Durch sie würde ich hier hinauskommen und in die Stadt gelangen. Denn dort war der einzige Ort, an dem ich etwas ausrichten konnte.

Es klopfte an die Tür, als ich die Decke von den Beinen streifte, um mich aufzusetzen. Ohne überhaupt auf ein Herein meinerseits zu warten, ging die Tür auf und es streckte sich der bedeckte Kopf eines Teenagers hinein. Das Mädchen war ungefähr in meinem Alter, vielleicht sogar ein oder zwei Jahre jünger. »Es ist Zeit aufzustehen. Die Arbeit wartet. Wenn du dich angezogen hast, komm hinab in die erste Etage. Ich warte da auf dich und zeige dir den Waschraum«, sagte sie mit freundlicher Stimme. Ihre Augen wirkten aufrichtig, ehrlich, so als hätte sie keinerlei Vorurteile mir gegenüber. Bestimmt wusste sie nicht, wer ich war.

Ich nickte, legte den Kopf schräg und fuhr mit den Fingern durch mein Haar, um es zu kämmen. Es reichte mir bis zur Taille, weshalb es sich als schwierig erwies, all die Knoten herauszubekommen. Das Mädchen sah meine Bemühungen nicht, denn sie schloss nach meinem Nicken die Tür und verschwand.

Unten in der ersten Etage blieb ich vor der Treppe stehen, da ich die Jüngere nicht ausmachen konnte. Viele Leute rannten hier umher, die alle die schwarzen Kleider des Ordens trugen. Ich jedenfalls hob mich durch die braune Hose, welche ich im Schrank unter den vielen weißen Gewändern gefunden hatte, und der blütenweißen Bluse von ihnen ab. Mir war diese Kleidung am praktischsten für mein Vorhaben erschienen, denn mit einem Kleid rannte man nicht gut.

»Hier.« Die liebliche Stimme des Mädchens erklang plötzlich direkt neben mir. Ich fuhr herum, um sie anzusehen. Da stand sie mit einem ebensolchen Lächeln auf den Lippen, wie sie es in meinem Zimmer gezeigt hatte. Liebreizend und zu unschuldig, als dass ich sie hassen könnte.

Ich sagte nichts, als ich ihr durch den langen Flur folgte, woraufhin wir einen großen Raum betraten, der durchaus nach einem Waschraum aussah. Es gab keine Kabinen mit Türen, die man abschließen konnte, sondern lediglich Raum-Trenner, die zwischen den einzelnen Duschköpfen aufgebaut waren, was die Sicht einer in das Zimmer kommenden Person keineswegs behinderte. An der linken Seite befanden sich Waschbecken, die so breit waren, dass ich mich fragte, ob sie zum Baden genutzt wurden.

»Dieser Raum ist nur für Frauen. Der Waschraum der Männer befindet sich eine Tür weiter, also verwechsle sie nicht. Bevor dieses Kloster mit dem Männerkloster aus Babilika zusammengelegt wurde, gab es zwei Frauenwaschräume. Daher ist dieser hier manchmal sehr voll. Du solltest also zusehen, dass du zu einer Zeit kommst, zu der die meisten beschäftigt sind.« Das Mädchen grinste mich auf eine Weise an, die mir zeigte, wie gerne sie wollte, dass ich sie mochte. »Du kannst dich jetzt duschen, wenn du willst. Ich sage Nerilia Bescheid, damit sie auf dich wartet. Sie zeigt dir dann, was du heute tun sollst.«

»Okay«, murmelte ich, obwohl ich mir gestern noch geschworen hatte, nur so wenige Worte wie möglich mit den Nonnen zu wechseln. Das Mädchen jedoch war nett und sie erinnerte mich an meine kleine Schwester, weshalb ich beschloss, dass sie mehr verdiente als ein abweisendes Nicken meinerseits.

Sie verschwand aus dem Raum und ließ mich allein zurück, ehe mir auffiel, dass ich überhaupt kein Handtuch hatte. Ich konnte mich doch schlecht wieder in meine trockenen Sachen quetschen, wenn meine Haut triefnass war. Als ich aber ein paar Meter in den sonst leeren Raum hineinging, entdeckte ich hinter einer Trennwand ein Regal, in dem ein ganzer Stapel Handtücher lag. Ich zog mir eins heraus und nahm es mit in die allerhinterste Kabine auf der rechten Seite, in der ich des Winkels wegen immerhin ein bisschen vor Blicken geschützt war, die von hereinkommenden Personen stammen könnten.

Ich duschte mich und legte das nasse Handtuch schließlich auf eine dafür vorgesehene Halterung zurück, nachdem ich angezogen war. Anschließend verließ ich den Waschraum mit feuchten Haaren, die ich in einem Dutt zusammenband, damit sie meine Bluse nicht benässten, und stand augenblicklich vor Nerilia, die mich im Gang erwartete.

»Guten Morgen. Fühlst du dich besser?«, fragte sie mit einem Lächeln im Gesicht. Ich war mir nicht sicher, ob es so aufrichtig war wie das des jüngeren Mädchens.

Ich gab keinerlei Antwort, nicht einmal ein Nicken oder ein Kopfschütteln. Stattdessen sah ich in die Richtung, aus der ich mit dem Mädchen gekommen war, um ihr zu bedeuten, dass ich nun gehen wollte. Sie seufzte und lief los.

»Kein Frühstück?«, fragte ich, als wir am Speisesaal vorbeiliefen und nach draußen traten. Ich hatte gehofft, hier besser ernährt zu werden, als ich es die letzten Wochen selbst gekonnt hatte.

»Die Frühstücks- und Gebetszeit ist bereits vorbei. Wenn du schnell mit deiner Arbeit vorankommst, kannst du vielleicht vor dem Mittagessen eine Kleinigkeit zu dir nehmen«, erwiderte Nerilia trocken. Anhand dieser Antwort merkte ich, dass sie definitiv nicht auf meiner Seite war.

Es war nicht so, dass ich es nicht gewohnt war, morgens nicht zu essen. Dieses Privileg hatte ich schon vor langer Zeit verloren. Aber die Hoffnung darauf, im Kloster Frühstück zu bekommen, bevor ich von hier floh, hatte sie mir gerade zerstört.

Wider meine Erwartung lief sie nicht an der Klosterecke vorbei in Richtung des Gartens, sondern steuerte nach links und damit geradewegs auf einen großen Holzverschlag zu. Es war ein Pferdestall, der sich einige Meter an der Klostermauer entlang erstreckte. Als wir durch die Tür eintraten, empfing mich der ländliche Duft von Pferdemist und verschwitztem Fell. Links von mir konnte man den Stall über eine breite Öffnung wieder verlassen, die parallel zur riesigen Außenmauer lag. Diese bildete die Begrenzung für die hintere Boxenreihe, wohingegen die Verschläge auf der Eingangsseite von massiven Brettern eingerahmt wurden. Ein paar Pferde standen darin, andere Boxen waren leer. Aus dem hinteren Teil drang das Geräusch einer Mistgabel, die über den Boden kratzte.

»Du musst die Boxen sauber machen«, bestätigte Nerilia mir meine Vermutung. Sie deutete auf Schubkarren auf unserer rechten Seite, die ordentlich an die Wand gerückt dastanden. Daneben gab es Mistgabeln. »Es ist nicht schwer. Du holst alles raus, was dreckig ist. Nicht nur die Pferdeäpfel, sondern auch dreckiges und nasses Stroh. Danach füllst du alles wieder mit Sauberem auf.«

Ich nickte leicht. Früher hatte ich einmal einen Reiterhof besucht und zugesehen, wie ein Mann eine Box gesäubert hatte. Ich traute es mir also zu. Da Nerilia dies offensichtlich ebenfalls tat, schob sie sich bereits zurück, als ich mich der Schubkarre zuwandte. Ich war froh, als sie verschwand, denn so konnte ich nach einem anderen Ausgang als dem großen Haupttor suchen, was unter ihrer stetigen Bewachung schwer geworden wäre.

Doch gerade, als ich die Schubkarre ergriff und damit in die erste Box fahren wollte, fiel mir plötzlich auf, dass sie gar nicht alles gesagt hatte. »Warte! Nerilia?«, rief ich, ließ die Karre herunter und lief zur Tür. Sie war weg. »Mist«, fluchte ich leise, drehte mich um und kratzte mich nachdenklich am Hinterkopf.

»Kann ich dir helfen?«, kam eine männliche Stimme aus der hintersten Box. Der dazugehörige Körper erschien gleich darauf in der offenen Boxentür, an die er sich lehnte und mit einer lässigen Bewegung die Ärmel seines Hemdes hochkrempelte. Es war kein schwarzes Gewand, das der Junge trug, weshalb ich kurz dachte, dass er kein Mönch sein konnte. Aber selbst die trugen für solch dreckige Arbeiten doch andere Kleidung, oder nicht?

»Ich …«, sagte ich und brauchte einen Moment, bis mir überhaupt wieder einfiel, was ich Nerilia hatte fragen wollen. Irgendwie hatte mich sein Erscheinen aus der Fassung gebracht. Es sah merkwürdig gewöhnlich aus, wie er an der Boxentür lehnte, die dunkelblonden Haare in der Stirn hängend und die hellgrünen Augen mit einem Ausdruck darin auf mir liegend, dass ich mich fragte, was er wohl von mir dachte. »Äh … wo soll ich den Mist hinfahren, wenn die Schubkarre voll ist?«

Er folgte meiner Andeutung zur Karre mit einem Blick und sah gleich darauf wieder zu mir. »Da vorne raus.« Er deutete mit dem Arm einen Platz an, der sich außerhalb des Stalls befand. »Wenn du sie voll hast, sag Bescheid. Ich zeig‘ dir dann, wo der Misthaufen ist.«

Ich nickte, denn ich wollte mit ihm nicht mehr Worte wechseln als nötig. Auch wenn ich bei ihm nicht das Gefühl hatte, dass er mich für meine Vergangenheit, sofern er sie überhaupt kannte, verurteilte. Es war nur so eine Ahnung, die mich dazu veranlasste, ein mildes Lächeln zustande zu bringen, ehe ich meine Schubkarre ergriff und in die leere Pferdebox fuhr.

Während ich alles, was dreckig, nass oder schier Scheiße war, auflud, lauschte ich den Geräuschen der Arbeit des jungen Mannes und dem Pferdeschnauben, das ab und zu ertönte. Als die Karre nach kurzer Zeit voll war, hielt ich in meinen Bewegungen inne und ließ meinen Blick über die hintere Wand der Box schweifen, welche aus Klostermauern bestand. Ich bezweifelte, dass diese Baumethode wasserdicht war, für mein Vorhaben aber bot sie Chancen. Ich musste die ganze Mauer ablaufen, um nach einem Schlupfloch zu suchen, das womöglich gar nicht da war. Hier konnte ich, von den Stallwänden geschützt, gut anfangen.

Ich warf einen Blick nach rechts durch die Gitterstäbe hinweg, die die Boxen ab einer gewissen Höhe voneinander trennten, und erkannte, wie der Junge mit dem Aufladen des Mistes zu tun hatte. Also bückte ich mich und tastete die Mauer ab, rüttelte an den Steinen, nur um festzustellen, dass sie bombenfest saßen.

»Bist du fertig?«, ertönte plötzlich die Stimme des Jungen auf dem Gang, sodass ich mich erschrocken aufrichtete und mit einem »Ja« antwortete.

Ich griff die Karre und fuhr damit aus der Box, während er mir andeutete, ihm zu folgen. Ich tat es, wobei wir aus dem hinteren Ende des Stalls hinausfuhren und an dem Brunnen und dem langen Holzstapel vorbei Richtung Klostergarten liefen. Ich war verblüfft, dass ich den Misthaufen gestern gar nicht registriert hatte, da er unübersehbar neben dem Eingang zum Garten an der Klostermauer lag und bestialisch stank.

»Ist dir die Schubkarre zu schwer? Soll ich sie auskippen?«, fragte der junge Mann, als er davor stehen blieb.

Ich erwiderte nichts als ein Stirnrunzeln und fuhr auf den Haufen zu, ehe ich die Karre an den Griffen anhob, sodass sich ihr Inhalt auf den Misthaufen entleerte. Danach blickte ich ihn kurz an und bemerkte sein Grinsen, das ich nicht deuten konnte. Ich fand, er war generell schwer einzuschätzen. Seine Augen leuchteten, wenn er mich ansah und sein Lächeln wirkte aufrichtig, aber seine Freundlichkeit und das Interesse, das er wohl zu haben schien, waren für mich unverständlich.

Wir gingen nebeneinander zurück, während mein Blick wachsam über die Klostermauer wanderte, um mögliche Schwachstellen auszumachen. Wenn ich tagsüber keinen Ausgang fand, müsste ich heute Nacht suchen, das war mir klar.

»Ich heiße übrigens Jay«, stellte sich der Junge vor, als wir gerade beim Brunnen angekommen waren. Er hängte ein »Und du?«, daran, weil ich zuerst nichts erwiderte.

Ich fuhr schweigend ein Stück weiter, bis ich den Stall erreichte. »Nenn mich, wie du willst«, murmelte ich. Namen waren heutzutage gefährlich. Man musste aufpassen, wem man seine Identität preisgab.

Jay blieb neben seiner Schubkarre stehen, was mich aus irgendeinem Grund dazu veranlasste, ebenfalls anzuhalten. »Du bist nicht sehr gesellig, was?« Sein Ton klang ein bisschen ironisch, was ihn mir gleich ein Stück sympathischer machte.

Ich blickte zurück. Nicht mehr, wäre eine ehrliche Antwort gewesen. Aber da ich keine Ehrlichkeit hervorbringen wollte, die womöglich auf meine Vergangenheit anspielte, schüttelte ich nur den Kopf, griff meine Karre und fuhr mit ihr zurück in die Box, um den Rest auszumisten. Hinter mir hörte ich ihn leise lachen, ehe auch er sich wieder an seine Arbeit machte.

Es war nicht so, dass ich ihn derart schrecklich fand wie den grün uniformierten Barbar zum Beispiel, der nur wenige Meter von mir entfernt am Tor stand, das meine Freiheit bedeuten würde, wenn er nicht dort wäre. Dagegen war Jay ein Engel. Aber wieso sollte ich mich mit ihm unterhalten, wenn ich eh bald verschwinden würde? Wieso das Risiko eingehen, Persönliches in die falschen Hände zu legen? Ich würde sowieso heute noch gehen. Spätestens in dieser Nacht, denn ich musste hier weg, um meine Stadt zu verteidigen.

Nerilias Worte bewahrheiteten sich nicht, denn ich war nicht vor dem Mittag mit dem Ausmisten der Verschläge fertig. Nachdem ich die erste leer und mit frischem Stroh aufgefüllt hatte, sah die zweite noch schlimmer aus als die davor und so ging es immer weiter. Es dauerte lange, bis ich meinen Anteil der Boxen fertig gemacht hatte. Jay übernahm den Rest.

Als ich gerade den Stall verlassen wollte, um zum Mittagessen zu gehen, das von einem mürrischen, in schwarz gekleideten Mann angekündigt worden war, tauchte Jay neben meiner Schubkarre auf und kam mir zuvor. Er öffnete für mich die Tür. Ich zeigte keine Reaktion, als ich hindurch lief, doch ich spürte seinen Blick auf mir ruhen.

»Du willst hier raus, hab‘ ich Recht?«, fragte er in diesem Moment mit gedämpfter Stimme. Es war klar, dass er nicht die Tür meinte, sondern das Kloster.

Ich blieb stocksteif stehen. Nicht, weil ich so überrascht war, dass er mich durchschaut hatte, sondern weil ich fürchtete, dass einer der Wächter es gehört hatte, die nicht weit entfernt standen. Mein Blick feuerte Blitze auf Jay. »Ja«, zischte ich, denn ich sah keinen Grund darin, es zu leugnen. Er hatte mich ohnehin durchschaut.

»Warum?«, fragte er leiser. Er hatte meinen Blick richtig gedeutet und linste kurz rüber zu den Barbaren. Direkt vor mir hielt er an, als seine Augen zu mir zuckten und er mich unverfroren fixierte. Sein markantes Gesicht strahlte eine scharfsinnige Hartnäckigkeit aus, die keinerlei Scheu vor meinem abweisenden Verhalten hatte.

»Warum?« Ich hob eine Augenbraue. »Ich verschwende hier meine Zeit.« Meine Augen glitten von seinen hinab, über die attraktiven Gesichtszüge hinweg, zu der muskulösen Brust, die sich unter dem Hemd abzeichnete. Untenrum trug er eine gewöhnliche Jeans, als sei er ein stinknormaler Junge aus der Stadt. Ein gutaussehender junger Mann, der ein bisschen älter war als ich.

»Was hast du denn so Wichtiges zu tun? Ich meine, hier ist es wenigstens sicher. Da draußen«, er deutete mit seinem Daumen hinter sich in Richtung Stadt, »herrscht glaub‘ ich zurzeit ziemliches Chaos.«

Meine Augen verkleinerten sich zu Schlitzen. »Auf wessen Seite stehst du?«, fragte ich gedämpft. Ich wusste, dass es eine gefährliche Frage war, sowohl für ihn als auch für mich, aber es war mir lieber, wenn ich wusste, ob ich ihn weiterhin ignorieren musste oder mich mit ihm unterhalten konnte. Das hing allein von seiner Antwort ab.

Seine Lippen pressten sich aufeinander und er beugte sich ein wenig zu mir herüber, damit er noch leiser reden konnte. Er flüsterte mir beinahe ins Ohr, so nah war er gekommen, als er sagte: »Mir wäre es lieber, die Stadt ist befreit. Aber solange das nicht der Fall ist, ist hier der sicherste Platz.«

Ich lehnte mich zurück, um Abstand zu gewinnen. Meine Augen schossen danach für einen kurzen Moment zu den Wachen, von denen einer hersah. Er wirkte nicht alarmiert, aber offensichtlich interessiert an zwei jungen Menschen, die sich miteinander unterhielten. Etwas in mir drin sagte, dass es kein guter Zeitpunkt war, darüber zu reden, doch ich musste Jay wenigstens eine Antwort geben: »Ja, sicher ist es. Aber wenn alle so denken, sich verschanzen, verstecken und warten, bis alles vorbei ist, dann wird die Stadt niemals befreit werden.«

Er zog seinen Kopf zurück und nickte eingestehend. »Ab-«, wollte er ansetzen, doch ich schüttelte das Haupt und deutete ihm an, mir ins Kloster zu folgen. Es war nicht gut, so offen zu sprechen, wenn ein paar Meter weiter zwei der Barbaren standen.

Jay willigte ein und hielt den Mund. Dumm war er nicht. Das bewies mir nicht nur die Tatsache, dass er augenblicklich die Klappe hielt, sondern auch, dass er verstanden hatte, welches Privileg er in der Gefangenschaft des Klosters genoss: Schutz. Ja, sicher war es. Doch Sicherheit war kein Weg für mich, denn sie war schon seit langem nicht mehr das, was ich mir am stärksten ersehnte. Freiheit war es. Und die konnte ich mir nicht hier drin erkämpfen.