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Gott kontrovers

WAS noch in Würde
zu
GLAUBEN ist

 

Walter Hehl

Gott kontrovers

WAS noch in Würde
zu
GLAUBEN ist

Antworten aus Naturwissenschaften und Technik

Inhalt

Vorwort

Dank

Einleitung: Zeit, um wieder heidnische Eichen zu fällen

1.1 Einleitung zum Buch als Ganzes

1.2 Die Welt als Computer oder die Welt im Computer

Gott baut die Welt im Computer

2.1 Gottes Computer und seine Weltsoftware

2.2 Beinahe gottähnliche reale Weltsoftware

2.3 Weltähnliche Spielesoftware

2.3.1 Videospiele als Weltensimulation

2.3.2 Religionen als Computerspiele und in Computerspielen

2.4 Der Lauf der Gottessoftware: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

2.4.1 Vom Start der Welt bis zur Gegenwart

2.4.2 Die mögliche Zukunft des Weltspiels

Die Dimensionen des Spiels und wir Winzlinge

3.1 Der blaue Punkt

3.2 Das All ist noch grösser, die Atome noch kleiner

Menschliches und Göttliches

4.1 Mythos oder Messung

4.2 Was kann Gott nicht, selbst wenn es ihn gäbe?

4.2.1 Selbstgemachte Ohnmacht Gottes und der Willy-Nilly-Effekt

4.2.2 Grenzen Gottes in der Physik

4.2.3 Menschliches: Wunder und Psychologie

4.3 Was ist Wissenschaft, was Pseudowissenschaft, was Heidentum?

4.3.1 Was ist Wissenschaft?

4.3.2 Pseudowissenschaft und das unglückselige Hamlet-Zitat

4.3.3 Beispiele Pseudowissenschaftlichkeit und ihre Behauptungstürme: Flache Erde und Homöopathie

4.3.4 Was ist Religion, was ist Heidentum?

4.3.5 Die «heidnischste» aller religiösen Vorstellungen: Leben nach dem Tod

Was ist Gott?

5.1 Prinzip oder Person?

5.1.1 Der unbewegte Beweger

5.1.2 Göttliche Personen

5.2 Eigentlich haben wir zwei verschiedene Götter

5.2.1 Der erste Gott: Transzendenz der Physik und Probleme der kosmologischen Schöpfung

5.2.2 Der zweite Gott: Transzendenz der Psychologie

5.3 Die pascalsche Wette

Zufall, Evolution und der Uhrmacher-Effekt

6.1 Zufall als verkanntes Grundprinzip

6.2 Zufall und erlaubte Wunder

6.3 Evolution und Uhrmacher-Effekt

6.3.1 Der Uhrmacher-Effekt

6.3.2 Zufall und Evolution als Methode

6.3.3 Die Weltgeschichte als Nabel-Hypothese

6.3.4 Die Evolution: Ziellos oder gerichtet?

6.4 Die Evolution und der Tod

Ein modernes Weltmodell

7.1 Der Weg vom alten zu einem neuen Dualismus

7.1.1 Aristoteles und Descartes als Beispiele

7.1.2 Das neue Wissen: Atome und Computer

7.2 Das Drei-Welten-Modell

7.2.1 Das Drei-Welten-Modell von Karl Popper

7.2.2 Das moderne Drei-Welten-Modell

7.2.3 Philosophische Konsequenzen, weil wir Computer sind

Religiosität ohne Religion

8.1 Die Schönheit und die Evolution

8.2 Das ozeanische Gefühl

8.3 Mathematik, die Beinahe-Religion

8.3.1 Mathematik und Mensch

8.3.2 Mathematik und Computer

8.4 Moralische Werte ohne Religion

Schlussgedanken und das Wichtigste

9.1 Einstein und eine moderne Religion

9.1.1 Einsteins kosmische Religion

9.1.2 Religion nach Einstein: Was Einstein noch nicht wusste

9.1.3 Wissenschaft und religiöses Gefühl historisch: Goethe und Blake als verfrühte Vorläufer

9.2 Religion als Psychologie

9.3 Religion heute

9.3.1 Der Kern der Religion

9.3.2 Der menschliche Kompromiss

9.3.3 Die Entwicklung der Religion

Literatur

Bildquellen

Glossar

Stichwortverzeichnis

Vorwort

«Es musste auch schon einmal handfest bewiesen werden, dass die [germanischen] Götter Nichtse waren. Eine solche Tat ereignete sich 723 in Hessen. In einer Aufsehen erregenden Aktion fällte Bonifatius die dem Gott Donar geweihte heilige Eiche bei Geismar.»

Lutz von Padberg nach Willibald von Mainz, zwischen 763 und 765, in «Vita Bonifatii» (Leben des Hl. Bonifatius).

Das Fällen der heidnischen Jupiter-Eiche ohne vorweisbare schädliche Folgen gilt als grosser missionarischer Erfolg für das folgende Christentum. Es war sicher auch ein erster Schritt zur Aufklärung, die noch heute andauert. Aber viele Arten von Aberglauben haben überdauert oder sind sogar dazu gekommen, auch im Bereiche der christlichen Kirchen. Aberglauben, Glauben, Religion und Nichtreligion stehen im Zentrum des Wesens der Menschen im 21. Jahrhundert noch mit den nahezu gleichen Ideen wie vor 2000 Jahren. Dazu gehören z.B. der Glaube an richtige Wunder und an Gedankenkonstruktionen wie die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod – aber inzwischen ist unser Wissen von der Welt und vom Menschen doch buchstäblich ins Unfassbare gewachsen. Insbesondere beginnen wir, den religiösen Glauben selbst wissenschaftlich zu verstehen.

Es ist eine grosse Kluft entstanden zwischen dem traditionellen Glauben, der vor- oder frühwissenschaftliche Konzepte verarbeitet, und den Ideen der modernen Wissenschaft, die uns Menschen in ein Riesenweltall setzen, zu einem Tier unter anderen machen und in Konkurrenz zu Computern bringen.

Es geht im Buch darum, diese Kluft zu überwinden und also wieder heilige heidnische Bäume zu fällen. Dafür muss man zeigen, wie unglaublich «heidnisch» manche religiöse Vorstellungen sind, wenn man sie genauer ansieht. Manches ist eines modernen Menschen schlicht unwürdig: einerseits dass man wissenschaftlich zwar vieles nicht widerlegen kann, wie ein Leben nach dem Tod, dass der Glaube daran zunächst aber ad hoc einen Riesenturm von kindlichen Annahmen aufbauen müsste um zu existieren, dass vieles, wie das Wort Gott, nur problematische Scheinantworten sind und wir Menschen mit Lücken im Weltbild leben müssen; und andrerseits dass die Evolution durchaus vereinbar ist mit einem Gottesverständnis, wenn man es etwas einschränkt. Man kann an einen Gott glauben, wenn man es glauben will oder es denken muss.

Es ist ein Ziel des Buchs, den Begriff des Heidnischen neu zu definieren und auf das zu erweitern, was im Lichte der heutigen Kenntnisse als behauptete Tatsache naiv, ja unwürdig zu glauben ist, als Literatur vielleicht noch grossartig. Es geht um eine Modernisierung des Rahmens der Interpretation der Welt, von einer naiven Einstellung «alles ist möglich, einfach so» zu einem nicht naiven erwachsenen Verständnis, einerseits grossartiger und andrerseits bescheidener. Als Chance kann dazu eine aufgeklärte Religiosität gehören, etwa wie sie Albert Einstein in seiner kosmischen Religiosität vertritt.

«Jeder Physiker, der etwas auf sich hält, wird, so scheint es, kaum dass er die Siebzig überschreitet, zum Metaphysiker.»

Dietrich Dörner, Psychologe, nach einem Kongress. In «Bauplan einer Seele», 2008.

Dank

Die Idee des Buchs entstand aus dem Erstaunen, dass sonst aufgeklärte Freunde ohne einen Zweifel an Konzepte glauben, die dem Weltbild des Mittelalters, der Zeit der «flachen Erde», angehören. Ich möchte hier keine Namen nennen.

Widmen möchte ich das Buch meinem Religionslehrer der Gymnasialzeit, Dr. Hans Böhringer, der einen aufgeschlossenen und weltoffenen Religionsunterricht praktizierte. Hans Böhringer nach Wikipedia (10/2017):

«Johannes Josef (‹Hans›) Böhringer (* 14. April 1915 in Neckarsulm; † 17. Februar 1987 oder 18. Februar 1987) war ein deutscher Theologe, Musikwissenschaftler und Psychotherapeut. Als Studienprofessor hat er zahlreiche Schriften zu religiösen Alltagsfragen aus tiefenpsychologischer Sicht veröffentlicht.»

Gerne erinnere ich mich an seine globale Analyse der wichtigsten zehn Religionen der Welt und an seine Bewertung des Tanzes als «Vorwegnahme des ewigen Lebens». Ich hoffe sehr, er würde sich über die Spätfolge seines Unterrichts in Form dieses Buchs etwas freuen.

Posthum bedanke ich mich bei Albert Einstein für seine Gedanken zu Religion und religiösen Themen. Der Leser, die Leserin mag sich über die Dominanz Einsteins im Buch wundern, aber – bis auf einen Bereich – stimmen seine Einschätzungen mit denen des Autors überein, sind wunderbar formuliert und mit dem Gewicht des grössten Wissenschaftlers der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versehen.

Meiner Frau Edith danke ich für ihre Geduld, für ihr Verständnis, die Anteilnahme und viele Diskussionen an dem so persönlichen Thema des Buchs und vor allem für die sorgfältige Korrektur des Manuskripts. Für die Idee, das Buch mit einem fiktiven Bau der Welt am und im Computer zu beginnen, danke ich ihr ganz besonders.

Einleitung: Zeit, um wieder heidnische Eichen zu fällen

«Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind.»

Albert Einstein, aus «Naturwissenschaft und Religion» (1941).

Zum Verständnis des Zitats muss der Begriff der Religion in der einsteinschen Begriffswelt definiert werden – zum Bedauern konservativer Gläubiger. Einstein meint mit Religion weder die, wie er sagt, organisierte Religion noch biblische oder andere manifestierte religiöse Texte. Religion ist für ihn eher eine tiefe Spiritualität beim Erfahren der Welt; dazu mehr unten.

1.1 Einleitung zum Buch als Ganzes

«Religion ist eine Kultur des Glaubens, Wissenschaft ist eine Kultur des Zweifelns.» «Sie [Wissenschaft] ist ein Mittel, um sich davon abzuhalten sich zu täuschen, denn niemand ist so leicht zu täuschen wie man selbst.»

Richard Feynman, Physiker, 1918–1988.

Wissenschaft einerseits und die offiziellen, organisierten Religionen andrerseits haben sich in den letzten Jahrtausenden grundsätzlich verschieden entwickelt: Während das wissenschaftliche Wissen, und damit auch das Verstehen, exponentiell gewachsen ist und weiter wächst, sind die Kernideen der Religionen seit Jahrtausenden menschlich geblieben – vom Sonnengott Re der Ägypter über den Mondgott al-Ilah der vorislamischen Araber zu Gott als Archetypus bei C. G. Jung. Dies gilt selbst für die vielfachen Versuche, im Begriff Gott alles Menschliche zu überschreiten respektive zu transzendieren. Dabei ist es der Anspruch der Religion, absolute Wahrheiten zu kennen. Die Wissenschaft begnügt sich damit, ein Modell von der Welt zu haben, das in bekannten Grenzen zutreffende Vorhersagen macht.

Es ist illusorisch, die beiden Bereiche voneinander isolieren zu wollen, wie es z.B. der Kirchenlehrer Augustinus von Hippo (354–430) versuchte. Augustinus warnt im Jahr 392 vorausschauend davor, weltliche Erkenntnisse wie den Bau der Welt mit «dem Weg zum Himmel» zu vermengen:

«Im Evangelium liest man nicht, der Herr habe gesagt: ich sende euch den heiligen Geist, damit er euch den Lauf der Sonne und des Mondes lehre. Christen wollte er machen und nicht Astronomen […] Zwar hat Christus gesagt, der Heilige Geist werde kommen, um uns in alle Wahrheit einzuführen, doch spricht er da nicht vom Lauf der Sonne und des Mondes […] Ich behaupte, derlei Dinge gehören nicht zur christlichen Lehre.»

Augustinus (354–430), römisch-algerischer Theologe, in der Schrift gegen Felix, den Manichäer.

Und Augustinus fragt seinen Diskussionsgegner dazu provokativ wie geistreich:

«[Wenn es zum christlichen Glauben gehört,] dann frage ich dich – wie viele Sterne gibt es denn?»

Hätte man nach Augustinus die Bibelaussagen zur Natur, wie etwa den Befehl an die Sonne stillzustehen, nur als Metapher eingeschätzt:

«Da stand die Sonne und der Mond still, bis daß sich das Volk an ihren Feinden rächte. Ist dies nicht geschrieben im Buch des Frommen? Also stand die Sonne mitten am Himmel und verzog unterzugehen beinahe einen ganzen Tag.»

Lutherbibel 1912, Josua 10:13,

so wäre es mit dieser Einstellung nicht zum Prozess gegen Galilei gekommen.

Aber der Zeitgeist steckt in den Lehren der Religionen mit implizit wissenschaftlichen oder besser unwissenschaftlichen Aussagen überall, nicht nur in den klar naturwissenschaftlichen Behauptungen wie «die Sonne stand für einen Tag still». Dazu gehören Vorstellungen von der Seele, von Himmel und Hölle, von Wundern, Prophezeiungen und Geschichten von der Schöpfung und von der Arche Noahs. All diese Bereiche sind heute der Wissenschaft zumindest ausgesetzt und oft als naiv entlarvt.

Wir wollen im Buch versuchen, möglichst viele Ausdrücke, die wir mehrfach verwenden, zu definieren, hier eine erste Definition für das Adjektiv naiv:

Def.: Naiv ist eine Aussage, die ohne inneres Wissen über den Gegenstand gemacht wird. Eine naive Aussage kann wah oder falsch sein.

Dazu die Definition von weise:

Def.: Ein Mensch, der wiederholt naiverweise richtige Aussagen macht, ist weise. Wenn jemand die richtigen Entscheidungen trifft, weil er oder sie alles versteht und überblickt, ist dies wohl eher ein Experte oder eine Expertin.

Eine weitere nützliche Definition ist die Eigenschaft «übermenschlich» in Bezug auf Präzision und Dimensionen moderner Wissenschaft:

Def.: Übermenschlich ist eine Fähigkeit oder Erkenntnis, welche die Fähigkeiten des Menschen um Grössenordnungen übersteigt.

Zur Klärung der Begriffe «naiv» und «übermenschlich» verwenden wir eine Metapher von Galileo Galilei aus dem «Dialog über die beiden Weltsysteme» (Galilei, 1632):

«Wenn man einem Menschen, der noch nie eine Treppe sah, einen Turm zeigte und ihn fragte, ob er sich zutraue, auf dessen höchste Spitze hinaufzugelangen, so würde er, glaube ich, unbedingt mit Nein antworten, er würde sich nicht denken können, dass man das Ziel anders als im Fluge zu erreichen vermöchte. Zeigt man ihm aber einen Stein, der nicht höher ist als eine halbe Elle und fragt ihn, ob er wohl auf diesen steigen könne, so wird er das gewiss bejahen auch zugeben, dass man mit Leichtigkeit nicht nur einmal, sondern zehn-, zwanzig-, hundertmal hinaufsteigen könne. Wenn man ihm also eine Treppe zeigte, auf welcher man nach seinem eigenen Zugeständnisse bequem die Höhe zu erreichen vermag, die ihm zuvor unersteiglich erschienen war, so würde er über sich selber lachen und seine Unbedachtsamkeit zugestehen.»

Der Stein, der leicht zu überschreiten ist, entspricht unmittelbarem «naivem» Verstehen, die Treppe auf den Turm dagegen dem «Übermenschlichen», dem Ergebnis der Arbeit von vielen Generationen von Menschen, Forschern und Ingenieuren, deren Erfindungen und überwundenen Irrtümern. Erst oben auf dem Turm erfassen wir z.B. die Dimensionen im Kosmos oder «verstehen», dass bewegte Uhren langsamer laufen, oder dass ein Teilchen gleichzeitig an zwei Orten sein kann.

Das Bild Galileis von der Treppe, die es erlaubt, einen hohen Turm zu besteigen, ist auch eine Metapher für dieses Buch: Es geht darum, das Verstehen von Religion am Boden des Turms (die «Unbedachtsamkeiten») auf die Aussichtsplattform des heutigen Wissens zu heben.

Damit erhalten wir drei geschichtliche Prozesse der Akzeptanz von Erkenntnis und Einbau in die Religion der Zeit:

a. modernes Weltbild der jeweiligen Zeit mit moderner, heute übermenschlicher, d.h. die Fähigkeit des Menschen übersteigender Wissenschaft,

b. verzögerte Übernahme wissenschaftlicher Aussagen oder Ansichten nach einer Anpassungsphase,

c. festes fundamentalistisches Weltbild, starr im Zeitgeist wie vor 2000–3000 Jahren.

Der Fall b) entspricht der langsamen Aufnahme von Erkenntnis beim Grossteil der Menschen und den grossen Kirchen. Die typische Zeit für Innovationen bei der katholischen Kirche ist unbestritten und offiziell in der Grössenordnung von Jahrhunderten.

Es ist die Absicht dieses Buchs, hier den Übergang von b) oder c) zur Stufe a), einem modernen Weltbild des 21. Jahrhunderts zu beschleunigen. Es ist in diesem Sinn ein versuchter Akt des Bonifatius (Abb. 1.1), nun in unserer Zeit. Der geniale Physiker Christoph Lichtenberg (1742–1799) hat dies in der Zeit der Aufklärung vorausgesehen, wenn er in den so geistreichen Sudelbüchern, einer Sammlung von Aphorismen, um das Jahr 1784 schreibt:

«Ich kann mir eine Zeit denken, welcher unsere religiösen Begriffe so sonderbar vorkommen werden, als der unsrigen der Rittergeist.»

Abb. 1.1 Bonifatius fällt die Donar-Eiche. Farblithografie, ca. 1900, nach einem Gemälde von Heinrich Maria von Hess.

Bei sichtbarer stufenweiser Übernahme von Erkenntnissen spricht man nach Sigmund Freud von Kopernikanisierungen (Walter Hehl, 2009). Das Problem der Akzeptanz einer Kopernikanisierung ist, dass die Wissenschaft dabei jeweils eine Position der Einzigartigkeit des Menschen fortnimmt und die Einzigartigkeit des Menschen eine zentrale Aussage vieler Religionen ist und ein Teil unseres Stolzes.

Die wichtigsten Entthronungen für die Beziehung Religion und Wissenschaft sind:

• nach Kopernikus steht die Erde nicht mehr im Zentrum des Alls,

• seit Sigmund Freud und der Entdeckung des Unbewussten sind wir nicht mehr «Herr im Haus»,

• Charles Darwin macht uns zu einer Spezies unter vielen,

• der Computer wird intelligent; Computer werden uns immer überlegener.

Wir zeigen den Unterschied in der Mächtigkeit zwischen den beiden Entwicklungen Wissenschaft und Religion: Physik, Kosmologie und Informationstechnologie sind im oben definierten Sinn übermenschlich geworden, dagegen sind die religiösen Praktiken und verbreiteten Gedanken wie «Wunder gehen für Gott einfach so» und «Gott kann alles einfach so» menschlich geblieben im naiven, kindlichen Sinn. Es ist z.B. unsinnig, der Allmacht Gottes keine Grenzen zu setzen trotz des schönen eindrucksvollen Worts, ob gläubig oder nicht. Die Religion hat es dabei zugegebenermassen schwer, sich vom zu Menschlichen zu lösen, denn einige Fragen wie der Sinn des individuellen Lebens sind ja per definitionem menschlich.

Die Wissenschaft hat dabei nicht nur konkrete Vorstellungen ad absurdum geführt wie «wo ist der Ort der Hölle», sondern attackiert bzw. verändert zumindest auch unsere Vorstellungen von Intelligenz und Seele und von der Einzigartigkeit des Menschen. Dazu verfolgen wir, wie das Übersinnliche aus der physikalischen Welt verschwunden ist und gerade in unserer Epoche aus der intellektuellen Welt verschwindet. Früher war vieles dabei «geistig», wohl z.B. auch die einfachen Rechnungen des Adam Riese.

Es ist unumgänglich, das Bild einer Religion auf der Grundlage eines modernen Weltmodells zu konstruieren. Viele der alten Vorstellungen sind eines heutigen Menschen unwürdig, unnötig und nur noch Literatur und Psychologie. In diesem Sinne und bewusst verarbeitet als Literatur und Psychologie sind die alten religiösen Bilder auch weiter legitim. Wir schieben die Grenzen zwischen Wissenschaftlichkeit und Heidentum in Richtung Wissenschaft und definieren Heidentum neu.

Das moderne Weltmodell hat zwei Säulen, eine Säule in der unbelebten Welt (Physik) und eine Säule in der belebten, komplex konstruierten Welt («Softwarewelt»). Wir zeigen, dass die Gottesvorstellung eigentlich aus zwei ganz verschiedenen Bereichen erwächst, vornehm ausgedrückt transzendiert, und damit eigentlich zwei Göttern entspricht, einerseits einer Transzendenz der Physik mit dem Schöpfergott, andrerseits der Transzendenz der Biologie und Psychologie mit dem persönlichen und sozialen Gott. Dazu enthält das Weltmodell weitere Komponenten, und dies im Einklang mit der Wissenschaft und von grosser religiöser Bedeutung, nämlich den Zufall und die Mathematik. Es ist damit nicht alles für Gläubige verloren, denn die Evolution ist akzeptabel, manche Wunder sind möglich. Religiöse Vorstellungen können noch andenkbar sein, die zwar unwissenschaftlich sind, solange sie noch nicht hart gegen Wissenschaft verstossen. Wir werden Begriffe für den Abstand zur Wissenschaftlichkeit bzw. für die Gegenwissenschaftlichkeit einführen.

Dazu treten religiöse Ideen, die unmittelbar aus der Wissenschaft und ihrem Verständnis erwachsen. Ein besonderes Beispiel für diese kosmische Religiosität sind die ausgewogenen Gedanken Einsteins, auf die wir in einem eigenen Kapitel eingehen, allerdings mit einer Abänderung und Erweiterung: die grosse Bedeutung des Zufalls, den Einstein, wie in der klassischen Physik üblich, eher störend sah und zumindest in der quantenmechanischen Form leugnete.

1.2 Die Welt als Computer oder die Welt im Computer

«Gott ist ein Computerprogrammierer, und wenn man die Welt verstehen will, muss man es [das Programmieren] auch können.»

Gregory Chaitin, Mathematiker, geb. 1947.

Zur Einstimmung und als eine Art Praktikum im Weltverständnis entwickeln wir die Ideen des Weltmodells auf eine buchstäblich konstruktive Art und Weise. Wir bauen die Welt in einem fiktiven Weltcomputer. Wir versuchen dabei, die Grundzüge der Spezifikation der Welt mit dem und für den Weltprogrammierer zu entwickeln. In der Tat gibt es nicht triviale Beziehungen zwischen Kosmologie und Philosophie einerseits und dem Computer andrerseits, insbesondere wenn der Begriff des Computers verallgemeinert wird von dem Kästchen mit Transistoren und Chips zu einer allgemeinen Vorrichtung, die auf einer passenden Grundlage – der Hardware – beliebig komplexe Pläne ausführt (Walter Hehl, 2016):

Def.: Ein Computer ist allgemein eine Vorrichtung, die einen hinreichend komplexen Plan ausführt. Dazu gehören eine physikalische Grundlage (die Hardware), eine Folge von Befehlen für diese Hardware (das Programm, die Software) und eine darauf abgestimmte Organisation (die Architektur).

Damit ist auch der grundsätzliche Begriff Software definiert, den wir verallgemeinert brauchen als die Menge von Anweisungen, um eine Aufgabe zu lösen.

Unter den Begriff Software fallen damit ein Kochrezept und das Drehbuch eines Films genauso wie eine Programmiersprache wie Python für einen Computer. Der Umfang der Software ist ein Mass für die Komplexität der Aufgabe im Rahmen des vorgegebenen und betrachteten Systems. Eine mögliche Bezeichnung in diesem Sinne ist Complexware – der Stoff für die Komplexität der Systeme. Complexware läuft im digitalen Computer wie in den biologischen Systemen des Lebens und Denkens.

Programmieren ist immer ein Schöpfungsakt und der Programmierer erschafft eine eigene Welt. In einer Übungsaufgabe ist die geschöpfte Welt vielleicht eine Bibliothek und der Programmierer schafft eine Welt von Büchern, Kunden und Bibliothekaren, die loslaufen kann mit Ausleihen und Strafen für überzogene Leihfristen. Die grössten Softwaresysteme, etwa das System von Google oder von Oracle, umfassen mehr als eine Milliarde Programmzeilen Quellencode, die kohärente Arbeit von Tausenden von Programmierern über Jahre hinweg (Cade Metz, 2009). Es sind die grössten Systeme, die Menschen gemacht haben.

Zumindest zwei Ideen verbinden Computer mit Religion und Philosophie, ja mit Kosmologie:

I. der Gedanke, dass der Ablauf der Welt eigentlich der Betrieb eines Computers ist, in dem ein Weltprogramm installiert ist und abläuft.

II. die Vorstellung, dass wir selbst in einer Computersimulation leben, die uns eine Weltumgebung perfekt vorspielt.

Diese beiden Ideen sind grundverschieden. Die Version I ist eine physikalische Theorie, die Version II ist eine Spekulation der Informatik. Eine weitere Verbindung von Religion und Computer ist die Auffassung der menschlichen Intelligenz und Psyche ebenfalls als Computer:

III. Intelligenz und Psyche, sozusagen die weltliche Seele eines Menschen können als Computer bzw. Softwaresystem aufgefasst werden.

Die Welt selbst als ein Computer ist eine physikalische Theorie, die in die Tiefen der Physik reicht, allerdings eher als philosophische Idee denn als harte Physik und nicht experimentell bewiesen. Die Schritteinheit des Arbeitens des digitalen Weltcomputers liegt an der absoluten Grenze der Physik mit Taktzeiten und Schrittlängen von 10–44 Sekunden bzw. 10–35 Metern, den sogenannten Planck-Einheiten. Der digitale Weltcomputer ist Spekulation, allerdings ist die Computeranalogie für den Ablauf der physikalischen Gesetze schon sichtbar: Die numerischen Berechnungen etwa des Laufes der Planeten gehen ebenfalls Schritt um Schritt in der Zeit weiter und bestimmen die Konstellation der Gestirne und ihre Wechselwirkungen jeweils als Folge des Weiterschreitens.

Abb. 1.2 Teilchenerzeugung im rechnenden Raum von Konrad Zuse.

Der Computerpionier Konrad Zuse (1910–1995), der im Jahr 1938 als weltweit Erster einen programmierbaren Computer gebaut hat, hatte auch als Erster 1967 den Gedanken, die Welt als Computer anzusehen. Besonders eindrücklich, ja sichtbar und hörbar, wird diese Idee, wenn man beim Lauf eines der ersten elektromechanischen Zuse-Rechners zusieht. Modell Z1 oder Z3 existieren beide als funktionierende Nachbauten. Takt um Takt, einmal oder dreimal pro Sekunde, rechnet der Apparat, verstellt Hunderte von Relais und schiebt sozusagen seine innere Welt streng kausal um eine Taktzeit in seinem Universum weiter. Die Skizze von Zuse in der Abb. 1.2 illustriert einen physikalischen Vorgang, die Entstehung eines neuen Partikels aus dem Zusammenprall zweier Teilchen im digitalen Prinzip. Die Idee war 1967 exotisch und blieb unbeachtet. Vor etwa 20 Jahren wurde die Definition des Computers erweitert zu alternativen oder unkonventionellen Computermethoden, die mit Dominosteinen oder Pneumatik arbeiten, und es wurde klar, wie vielseitig das Computerkonzept ist. Heute ist die Idee der Welt als ein grosser Computer ein verbreitetes Mem. Dies illustriert die Titelseite eines populären Wissenschaftsmagazins in Abb. 1.3 mit der Frage «Ist das Universum ein Computer?».

Abb. 1.3 Die Welt als Computer ist heute ein populäres naturphilosophisches Konzept: Titelseite Spektrum der Wissenschaft, Sonderheft 3/2007.

Eine vollkommen verschiedene, nur virtuelle Verbindung von Computer und Welt ist die Vorstellung, dass wir permanent in einer Computersimulation leben und nicht bemerken, dass uns die Realität nur vorgespiegelt ist. Ein Gedankenspiel dazu ist das «Gehirn im Tank». In diesem philosophischen Experiment lebt ein isoliertes Gehirn in einem Tank mit Nährlösung, empfängt Sensorsignale von aussen und gibt Befehle hinaus. Der Computer mit Hardware und Simulationssoftware ist selbst nur philosophisches Hilfsmittel. Das Gedankenexperiment ist eine Konkretisierung klassischer philosophischer Fragen, etwa bei René Descartes (Philosoph, 1596–1650), was ist Traum, was Realität:

«Wohlan denn! Ich schlafe, und unwahr sollen alle jene Einzelheiten sein: daß ich die Augen öffne, den Kopf bewege, die Hände ausstrecke, ja sogar, daß ich solche Hände, solch einen Körper habe! Gleichwohl aber müssen wir gestehen, daß uns im Schlafe gleichsam gewisse Malereien erschienen, die nur nach dem Vorbilde wirklicher Dinge gebildet werden konnten, und daß darum wenigstens Augen, Kopf, Hände und der ganze Körper, als Dinge überhaupt nicht in der Einbildung, sondern in Wirklichkeit existieren.»

Meditationes de prima philosophia, 1641.

Die Übertragung der klassischen Problematik in die Computerwelt trägt zur Ernüchterung und Klärung bei. Ein Computer könnte die Aussenwelt simulieren, agieren und ihre Reaktionen abbilden. Bei perfekter Simulationssoftware und hinreichend leistungsfähiger Hardware gibt es keine Chance für das einsame Gehirn zu entscheiden, ob das Aussen ein Computerprogramm ist oder echte Physik. Der wohl schwierigste Teil der Simulation ist die direkte Kopplung des Körpers, das Embodiment, etwa mit dem Tastsinn oder einem simulierten Tanz – aber auch dies ist ein Fluss von Signalen. Noch 1981 publizierte der US-amerikanische Philosoph Henry Putnam (1926–2016) einen falschen Beweis, dass im Tank erworbene Begriffe sich grundsätzlich von der Aussenwelt unterscheiden müssten.

Der schottische Philosoph David Hume hatte schon eine zutreffende Vermutung, wie man vielleicht zwischen Traum und Wachen unterscheiden kann: Im Traum kommen unrealistische Ungereimtheiten und Unstetigkeiten vor. In der Tat ist die Realität weitgehend kontinuierlich. In der Physik drücken dies verschiedene allgemeine Prinzipien aus, etwa das hertzsche Prinzip, wonach die Bewegung eines Körpers so erfolgt, dass die Bahn die geringstmögliche Krümmung hat, oder das Prinzip von Fermat, wonach ein Lichtstrahl durch verschiedene Medien einen Weg mit extremaler Laufzeit nimmt. Bei der modernen Form einer digitalen Simulation der Welt könnten Indizien für die Unechtheit der Welt z.B. sein:

• die Simulation macht inhaltliche Fehler wie z.B. 2 + 2 = 5,

• die Leistung des Systems hat Probleme, z.B. stockt die Zeit,

• es gibt offensichtliche technische Fehler entsprechend 3D-Bildstörungen,

• es gibt einen sichtbaren Reset (Neustart) des Systems.

Wir wollen Gott die Welt als Ganzes erschaffen lassen, die Physik des Alls und die Menschen: Damit werden wir beides verbinden, die Welt als Computer und die Menschen als Software in dieser Softwarewelt. Wenn man schon eine Weltsimulation durchführen kann, dann kann man sicher auch in der Weltsimulation weitere Simulationen einbauen …

Der nächste Abschnitt ist, literarisch betrachtet, eine besondere Parabel, nicht um, wie üblich, eine moralische Lehre zum Leser zu bringen, sondern eine naturphilosophische. Dazu ändern wir die Wikipedia-Definition der Parabel (aufgerufen am 26.10.2017) ab zu:

Def.: Eine Parabel ist eine mit dem Gleichnis verwandte Form von Literatur, eine lehrhafte und kurze Erzählung. Sie wirft Fragen auf, welche durch Übertragung in einen anderen Vorstellungsbereich begreifbar werden. Das im Vordergrund stehende Geschehen hat eine übertragene Bedeutung. Die Parabel soll den Leser zum Nachdenken und zu einer Erkenntnis bringen. Der Leser soll die Arbeit des Autors nachvollziehen. Die Lehre kann sowohl explizit als auch implizit enthalten sein.

Der Leser ist im nächsten Kapitel besonders aufgefordert, mitzudenken. Angesichts des Themas und seinen inneren Problemen wie dem Anfang der Zeit und den Fähigkeiten eines Gottes sind Widersprüche voraussehbar, im Inhalt selbst wie in der Aufnahme durch den Leser. Wir zeigen im nächsten Abschnitt die Geschichte der Welt als Lauf eines Weltcomputers mit Gott an der Steuerkonsole.

Auf den Punkt gebracht und Zusammenfassung des Kapitels

Wir weisen auf die total verschiedenen Entwicklungen hin, welche die Religionen einerseits und die Wissenschaft andrerseits genommen haben: Viele religiöse Vorstellungen entsprechen auch heute noch der populären Begriffswelt der Menschen, die vor einem oder zwei Jahrtausenden gelebt haben. Es ist die Absicht des Buchs, hier zu filtern und zu renovieren.

Heute verstehen wir im Prinzip, wie das Leben entstanden ist, wie die wahren Dimensionen unserer Welt sind, welche psychologischen Kräfte in uns wirken, und wir erkennen, wie unsinnig und leichtfertig viele alte Vorstellungen waren.

Eine besondere Rolle im neuen Verständnis spielt der Computer, sowohl philosophisch-spekulativ, als auch wegen der Nähe des Computers zum Menschen.