Dorothea Propach

Zauber einer Emigration

Neuanfang auf den Bahamas

Frieling-Verlag Berlin

Inmitten unbekannt exotischer Blütendüfte und dem raschelnden Schwingen der großen Blätter in hohen Palmenkronen saß ich auf einem kleinen romantischen Balkon eines Luxushotels auf den Bahamas. Zudem ertönte ein gespenstisch anmutender Zischgesang einer Grillenart – hier Singer genannt –, der geschlossen, wie aus dem Nichts heraus, plötzlich anschwoll, nur für Sekunden andauerte und mit einem Schlag wieder aufhörte, um nach kurzer Pause im gleichen Rhythmus wieder zu beginnen. In nicht allzu weiter Entfernung einen leuchtendhellen Sandstrand vor Augen, mit dem klatschenden Anschlagen der Wellen eines in reinem Türkisblau wogenden Meeres. Dazu – Mitte Oktober – in streichelnde Wärme eingehüllt. Dies alles ist kein imaginäres Dichterschwelgen – ich erlebte es. Atemberaubend. Und so schien es mir, als stockte für Sekunden mein Atem. Von den Haarwurzeln bis in die Zehenspitzen durchströmte mich nur ein Gedanke – hierbleiben bis an das Ende meines Lebens.

Von Düsseldorf kommend, war ich vor ein paar Stunden in Nassau auf einer der bahamaischen Inseln, „New Providence“, gelandet. Dieses Reiseziel hatte ich mir ausgesucht, um wenigstens für kurze Zeit meine zerbrochene Welt hinter mir zu lassen. Eine Welt, die mich nach dem völlig unerwarteten Tod meines Mannes und der unvorstellbar herzlosen Abkehr unserer Tochter in erschreckende Trostlosigkeit versetzte und unter ihren Trümmern zu erdrücken schien. Ein extravagantes Angebot im Reisebüro hatte ich gebucht und war nun auf „Paradise Island“, der kleinen vorgelagerten Insel, die mit dem handlichen, aber absolut weltstädtischen Nassau verbunden ist. Verbunden durch eine schmucklose, vom steten Autoverkehr ramponierte Brücke, die sich aber dennoch majestätisch mit starker Wölbung über die trennende Wasserenge erhebt. (Heute wird diese Brücke durch eine neu erbaute, parallel laufende unterstützt und renoviert.)

Bis in den dämmernden Morgen verbrachte ich in einem aufgewühlten Zustand, und in angestrengt geistiger Versenkung durchdachte ich in aller Ernsthaftigkeit die realisierbare Möglichkeit einer Auswanderung. Die erste rasche Erkenntnis zeigte mir aber die ernüchternd klare Gewißheit, daß dies nur ein Traum bleiben kann, weil ich meine bei mir lebende altersschwache Mutter nie verlassen würde. Diese Reise verdankte ich meiner Schwester, die momentan die Obhut für unsere Mutter übernommen hatte, um mir den Genuß eines exorbitanten Ausbrechens zu gönnen.

Doch die ungewöhnlich faszinierende Lebensaussicht, einfach alles hinter sich zu lassen, was man glaubt, nicht mehr ertragen zu können, ließ mich nicht los. Ich beschloß in dieser Nacht, den Urlaub dafür zu nutzen, den Fall einer Immigration auf diese Insel zu proben. Auf dem Nachttisch fand ich ein anschauliches Handbuch über Nassau – das sollte mir ein verläßicher Wegweiser werden.

Als ich am nächsten Morgen in den traumhaft blauen Himmel schaute und meine nächtlichen Empfindungen mit all ihren greifbaren Attitüden wieder wach wurden, griff ich zu dem Handbuch und nahm es mit zum Frühstück.

Und was für eins! Angelockt durch reine, glockenähnlich klingende Töne der Steeldrums (Stahltrommeln), einem typisch karibischen Musikinstrument, betrat ich einen großräumigen Rundbau mit Fenstern vom Boden bis zur Dekke, die den unvergleichlichen Ausblick auf weißen Sand und die türkisblaue Karibik boten. Trotz dieser Herrlichkeit war das opulente Frühstücksbuffet unübersehbar. Kunstvoll dekorierte exotische Blüten und Früchte umrahmten die Vielzahl kulinarischer Speisen – und das schon zum Frühstück.

Wie aus dem „Ei gepellte“ Köche, in schneeweißen Jakketts zu der traditionellen Pepitahose, erleichterten den Gästen die Zusammenstellung ihres Frühstücks. Diese Beobachtung, was manche Menschen bereits zum Frühstück vertilgen können, sättigte mich derart, daß ich nur einen schlichten Toast mit Konfitüre aus dieser Üppigkeit herauspickte.

Restlos zufrieden setzte ich mich an einen freien Tisch in einen naturfarbenen Rattansessel auf ein leuchtend blumengemustertes Polster.

Die Getränke wurden serviert. Geschäftig eilten die Kellnerinnen und Kellner mit einem Strahlen ihrer allesamt leuchtendweißen Zähne um die Tische herum, um keinen Gast warten zu lassen. Und auch dieser Anblick erzeugte Wohlbehagen in mir. Nicht nur ihrer natürlichen Freundlichkeit wegen – die gesamte Crew war „top“ gekleidet. Sie trugen äußerst geschmackvolle Uniformen. Die Frauen enge beigefarbene Röcke mit kessem Schlitz zu zauberhaft gemusterten bunten Blusen. Die Männer dasselbe, mit Hosen natürlich. Und alle, ohne Ausnahme, waren „wie aus dem Ei gepellt“.

Neben meinem Toast schlug ich das Handbuch auf und stellte sofort fest, daß es jedem Fremden eine klare Übersicht von diesem Eiland geben konnte.

Als erstes suchte ich die DEUTSCHE BOTSCHAFT – die gab es nicht. Dann eben das DEUTSCHE KONSULAT. Bestens. Es gab den Herrn Konsul mit Namen und voller Adresse. Sofort speicherte ich das in meinem Gedächtnis – ich wollte es bewußt nicht aufschreiben. Und so hielt ich es auch mit weiteren wichtigen Adressen wie: der Arzt, der in Deutschland studiert hatte, die Immigranten-Behörde. Für die kurze Zeit, die mir blieb, wollte ich vehement agil sein.

Leider wurde der Elan, den ich beim Suchen und Finden der Adressen entwickelte, stark gebremst, denn es war Sonntag – ich mußte mit meinem gezielten „Angriff“ bis morgen warten.

Barfuß, im Badeanzug, mit einem Pareo um den Hüften, entschloß ich mich, das Freizeitgelände des Hotels zu erkunden. Und das war monumental. Mir erschien die architektonische Gestaltung der gesamten Anlage einmalig.

Die zahlreichen sich aneinanderreihenden Swimmingpools unterschieden sich sämtlich in ihren Baustrukturen und Vergnügungsmöglichkeiten. Teils ergoß sich Wasser aus kahlen Felsen in den Pool, oder eine sich lang windende Wasserrutschbahn zog ihre Bahn durch blütenreiche Grünanlagen, um in einem Pool zu enden.

Dazwischen eingebettet, thronte ein tempelartiges malerisches Restaurant. Der Weg dorthin führte über anmutige, kunstvoll verschnörkelte Brücken, die Wassergehege für Haie, Riesenschildkröten und andere exotische Meerestiere überquerten. Ja, und dann tat sich das Paradies auf. Von Königspalmen gesäumt, ein breiter weißer Sandstrand, der in dem immerwährenden türkisblauen Meer unterging.

Von der Sonne umarmt, lief ich in diese Pracht, die sich beim Baden als beinahe glasklar zeigte. Und welch herrliche Temperatur hatte das Wasser – es war Oktober. Ich rollte mich auf den Rücken und ließ mich vom Wasser tragen. Die Sonne schien in mein Gesicht. Vor überwältigendem Hochgenuß wollte ich dieses Hochgefühl laut hinausschreien – doch die Vernunft gab mir dann den nötigen Dämpfer.

Kilometerweit zog sich der Strand hin, ich lief ihn im Wasser entlang, weiter, immer weiter, an angrenzenden Hotels vorbei. Die Strände waren von Touristen belagert, aber es bot sich kein abstoßender Anblick von häßlichem Gewimmel – es war eine bunt-beschauliche Verteilung von Sonnenanbetern, die auch streckenweise wohltuende Zurückgezogenheit zuließen.

Nach einem strammen Fußmarsch mit genügend Sonneneinfluß kehrte ich in mein Hotel zurück und gönnte mir ein buntschillerndes karibisches Mixgetränk, natürlich mit Rum, auf meinem kleinen Balkon.

Und wieder vertiefte ich mich in das Handbuch. Die kleine Weltstadt Nassau zog plastisch an meinem geistigenAuge vorbei – eine fremde Welt, die mir nicht fremd vorkam.

Ich fühlte mich bereits mit ihr vertraut und durch eine fast leidenschaftliche Sehnsucht verbunden, so wie man es oft in Jugendträumen empfindet. Gezielt plante ich den nächsten Tag.

Am anderen Morgen bestellte ich für zehn Uhr ein Taxi. Ohne Anmeldung wollte ich direkt zum Deutschen Konsulat. Der Taxifahrer lachte mich offenherzig an: „How are you, Ma’m?“

Ich war verdattert, daß er mich so unbekümmert persönlich begrüßte, und stotterte: „Oh, yes, yes, I’m fine!“ Er lachte mich weiter so herzlich an.

Und dann brachte ich in reinem Schulenglisch hervor, ob er mich zum Deutschen Konsulat bringen könnte. O ja, das kannte er, und er fuhr mit mir los, nach Nassau hinein, über die herrliche Brücke. Herrlich, weil man bei der leicht ansteigenden Auffahrt meint, direkt in den strahlendblauen Himmel zu fahren. Doch alsbald hat man einen weiten Ausblick durch das Geländer der Brücke über die gesamte Wasserenge, den Hafen von Nassau. Und in weiter Ferne öffnet sich das sonnendurchflutete Glitzern des Hafenwassers im unendlich erscheinenden Atlantik.

Unzählige Schiffe aller Art ankern an den verschiedensten Anlegeplätzen, andere brausen oder schwimmen schaukelnd durch den Hafen. Die Krönung bilden immer abwechselnd ankernde Ozeanriesen der weltweiten Kreuzfahrten. Auch die Küstenstraße in Nassau sieht man mit den dahinfahrenden Autos und wenigen Passanten. Nur den urigen Fischmarkt unter der Brücke, den kann man nur riechen. Und über alledem kreischen Möwen in unverhohlener Freiheitslust.

Als wir den Kulminationspunkt der Brücke erreicht hatten und nun abwärts fuhren, lag mir durch die Windschutzscheibe ganz Nassau zu Füßen. Ein Flair, wie ich es an noch keinem Punkt der Welt, an dem ich gewesen bin, erlebt habe. Im Rückspiegel hatte ich Blickkontakt mit dem Fahrer – jetzt strahlte ich ihn an und sagte voller Inbrunst: „It’s wonderful!“

Rasch, viel zu rasch landeten wir im Straßengetümmel von Nassau, auf einer der zwei parallel laufenden Hauptstraßen, die schnurgerade nach Nassau führen. Für Pessimisten bot sich ein armseliges Bild.

Die Straße war schmal, gerade zweispurig für Autos. Dazu wechselten sich regelmäßig Schlaglöcher in den verschiedensten Größen und Tiefen ab. Es gab keinen Bürgersteig – es schien, als müßten die vereinzelten Passanten an den Zäunen und Häusermauern ihrem Ziel entgegenbalancieren, um nicht angefahren zu werden. Alles war grau, manchmal dreckig. Keine karibische bunte Farbe leuchtete. Den Straßenrand säumten halb verwahrloste Privatholzhäuser zwischen kleinen mittelständischen Betrieben. Überall verstreuter Abfall, in dem streunende Hunde herumsuchten, um danach mit verblüffender Vorsicht die andere Straßenseite aufzusuchen.

Aber ich bin ein notorischer Optimist – ich sah das alles ganz anders. Für mich schien hier erst einmal ständig die Sonne, auch bei Regen war es wohlig warm, und was ich bisher erlebt hatte, waren die Menschen, die Schwarzen, einfach zum Küssen. Natürlich war alles nicht so proper geordnet wie in Germany, aber dafür wurde einem hier die Seele immerzu gestreichelt von freundlichen Menschen, wärmender Sonne und traumhaftem Meer. Doch es war nicht zu übersehen, daß man eifrig bemüht war, des leidigen Mülls und des kräftig wuchernden Unkrauts Herr zu werden. An vielen Abschnitten des Straßenrandes räumten ständig Kolonnen von Frauen und Männern das nie endenwollende Übel in schwarze Plastiksäcke.

Wie gesagt, ich fand alles positiv, und mein Verlangen, hier zu leben, wurde laufend bestärkt. Ich war so verzaubert von dieser Insel, daß ich bis zum heutigen Tag jedem überzeugend gestehe: „Und mich stört nicht einmal der allgegenwärtige Abfall, weil ich erkenne, daß geduldig arbeitende Menschen nie müde werden, seine stete Wiederkehr zu bewältigen.“

Während der Weiterfahrt wechselte die Kulisse am Straßenrand. Wir passierten zwei Krankenhäuser mit hochherrschaftlichen Auffahrten zu imposanten Gebäuden. So wurden die dürftigen Privatholzhäuser jetzt rechts und links von feudalen Zeitzeugen der Kolonialzeit abgelöst, in denen kleine Museen, Büchereien und Behörden eingerichtet waren. In den Straßenverkehr mischten sich überdachtete Pferdekutschen, die mit leichtem Trab neugierige Touristen an den Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbeikutschierten. Das Straßenbild war ein einziges Kaleidoskop. Es vermischte bröckelnden Feudalismus mit schmuckloser Dörflichkeit und der Ahnung von Strand und Meer.

Nach minutenlanger schnurgerader Fahrt gab es die erste Kurve. Auf der rechten Seite wurde sie ganz von dem Prachtneubau des Hilton-Hotels eingenommen. Ein paar Meter weiter öffnete sie sich für ein kurzes Stück Strand, leider durch teilweise demolierte Einzäunung und verschiedene Freß- und Souvenirbuden restlos verschandelt. Aber darüber hinweg sah man schmucke Boote schaukeln und vorbeisausen – das war ein Stück vom Hafen.

Zu meiner großen Verwunderung hielt das Taxi jetzt auf der linken Straßenseite vor einem drittklassigen Hotel. Der Fahrer drehte sich zu mir um und sagte: „Here we are!“

„Oh, no, no, no!“ Enthusiastisch begehrte ich auf. „Das German Konsulat!“ Denn ich hatte ein viktorianisches Prachtgebäude erwartet, umweht von internationalen flatternden Fahnen – eben Deutschland würdig repräsentierend.

Sehr behutsam wiederholte der Fahrer: „Ma’m, here is the German Konsul, Mr. Miller!“

Maßlos enttäuscht und widerstrebend stieg ich aus dem Taxi. Ich musterte das, gelinde ausgedrückt, karge Gebäude, also einen häßlichen Kasten. Er war sechs Stockwerke hoch, und nichts deutete daraufhin, daß hier der DEUTSCHE KONSUL residierte. Doch, ein bescheidener deutscher Adler an der Hauswand ließ ahnen, daß hier „Deutsches“ zu vermuten war. Außerdem verwies ein Schild darauf, daß es hier „EUROPÄISCHE KÜCHE“ gab.

Die Eingangstür erschien irgendwie gemütlich deutsch. Sie war aus dickem Holz, dunkelgrün angestrichen, und der obere Teil war durch kleine Fenster unterbrochen, die Einblick in das Haus gaben. Ein blankgeputzter Messingknopf verriet, daß man klingeln mußte, um eingelassen zu werden. Ich drückte ihn, und in Sekundenschnelle ertönte der Öffnungssummer.

Der Vorraum war schmal und düster. An der linken Seite hatte ich durch einen offenen Eingang Einblick in ein schlichtes Restaurant. Im Raum davor saßen bei einem morgendlichen Bier einige Männer plaudernd auf Barhockern vor einer Theke. Auch hier war alles düster, absolut nicht einladend.

Nur zwei Schritte brauchte ich, um vor mir die Rezeption zu erreichen. Eine schwarze, sehr gestylt gekleidete Frau fragte mich freundlich, ob sie mir helfen könne. Doch ehe ich antworten konnte, quälte sich rechts neben der Rezeption ein altersschwacher Fahrstuhl mit laut quietschendem Geklapper, seine Tür zu öffnen. Ein Tourist stieg aus – wie ich sehen konnte, wohlbehalten. Jetzt brachte ich meinen Wunsch hervor – ob ich den Herrn Konsul sprechen könnte.

Ja, einen Moment bitte, und ich hörte, daß mich die elegante Bahamaerin telefonisch anmeldete. Und schon kurz darauf kam aus dem dunklen Gang zwischen Restaurant und Rezeption der Herr Konsul – mußte ich annehmen, denn er stellte sich nicht vor. Ein vierschrötiger Mann in den Fünfzigern, freizeitlich-salopp gekleidet, der desinteressiert an mir vorbeischaute und nur ein fragendes „Ja?“ hervorbrachte. Da war mir klar, daß mir hier noch nicht einmal ein Stuhl angeboten würde. Und so war es auch. Wie angewurzelt standen wir die ganze Zeit meines Erfragens voreinander.