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Der Regen hatte nachgelassen. Im Gerichtssaal aber blieb die Luft geschwängert von den Ausdünstungen der nur langsam trocknenden Mäntel und Jacken. Zwar hatte Gerd Diehl auf Geheiß des Vorsitzenden alle Heizkörper wieder aufgedreht, die sich steigernde Wärme verstärkte jedoch den feuchten Dunst noch weiter, so dass eine fast tropisch zu
nennende Schwüle die Menschen zum Schwitzen brachte. Der Gerichtsdiener kippte die Oberlichter
der hohen Fenster, die er auf Richter Brüggemanns Anweisung hatte schließen müssen, heimlich wieder auf, wodurch die Geräusche der Fürther Straße in den Gerichtssaal drangen. Etwas melancholisch wurde der betagte
Justizbeamte, wenn er an die Geschichte dieser Straße dachte. Über seinem Sofa hing eine kolorierte Ansicht von der Jungfernfahrt des »Adler«, die er von seinen Kollegen zum fünfundzwanzigsten Dienstjubiläum geschenkt bekommen hatte. Einst war die Fürther Straße eine prächtige Chaussee gewesen. Heute stellte der einstige Boulevard nur noch eine
unansehnliche Verkehrsachse dar, die Nürnberg mit Fürth verband. Alle Versuche, ihre ehemalige Pracht wiederherzustellen, waren
gescheitert. Nostalgiker und clevere Touristikmanager hätten am liebsten die alte Eisenbahnstrecke wiedererrichtet und den »Adler« erneut losdampfen lassen, ein Ereignis, das sicherlich zu einem
Publikumsmagneten geworden wäre. Doch hierzu hätten sich die Nürnberger und Fürther einigen müssen, was traditionell ein schwieriges Unterfangen war.
Nach der Befragung des Lokomotivführers rief der Richter die Witwe des Opfers in den Zeugenstand, augenblicklich
verstummten im Saal alle Gespräche. Maria Fischer trug kein Schwarz, sondern helle Bluejeans und einen
beigefarbigen Strickpullover. Mit festen Schritten trat sie nach vorne, fest
war auch ihre Stimme, wenngleich Menschen, die sie zu kennen vorgaben, später die Meinung äußerten, man habe ihr durchaus eine gewisse Nervosität anmerken können. Dirk Zimmermann war nicht dieser Ansicht. Nervös erschien ihm Maria nicht und dennoch war sie nicht sie selbst.
Es war reiner Zufall gewesen, dass er Maria wiedergetroffen hatte. Nach dem
Abitur hatte er sich bei der Bundeswehr verpflichtet, eher aus finanziellen Erwägungen heraus, denn aus Begeisterung für den Militärdienst. Als Halbwaise verfügte er nur über geringe Mittel, auch wollte er keinesfalls seine Mutter um Unterstützung für ein Studium bitten, sie hatte bereits die teuren Internatskosten getragen.
Hinzu kam, dass er zum damaligen Zeitpunkt nicht gewusst hatte, was er hätte studieren sollen. Zwar hatte er schon früh eine Neigung zum Journalismus verspürt, die Leistung und das Ansehen seines Vaters aber hatten ihn zu sehr eingeschüchtert. Unvorstellbar war es für ihn, es zu ähnlichen Ehren bringen zu können, die väterlichen Fußstapfen waren ihm wie die Abdrücke eines Riesen erschienen. Wie oft hatte er sich anhören müssen, was für ein mutiger Mann sein Vater gewesen war, was für ein glänzender Journalist. Das Lob für den Vater hätte ihn anstacheln sollen, das Gegenteil jedoch war der Fall gewesen. Eine
zunehmende Zaghaftigkeit hatte sich in sein Gemüt geschlichen. Durch den Dienst bei der Bundeswehr hatte er sich auch eine Stärkung seines Charakters erhofft, eine Vermännlichung seines Wesens, das er selbst als zu weich empfand.
Neben Stationierungen in der Pfalz und in der Rhön, war er die meiste Zeit im flachen Norden eingesetzt worden, in einer Kaserne
in der Lüneburger Heide. Mit dem Abitur in der Tasche hatte er die Offizierslaufbahn
eingeschlagen und es bis zum Oberstleutnant gebracht, sich nach einigen Jahren
aber dann doch für ein Germanistikstudium entschieden. Beim abschließenden Gelage im Offizierskasino hatte er so manches Feixen ertragen müssen. Er sei wahrscheinlich der einzige Reserveoffizier, der mit einem Buch
statt einer Waffe in den Krieg ziehen würde. Welcher Soldat studiere schon Literaturwissenschaften? »Auf unseren Goethe!«, hatten die Kameraden gerufen und lachend auf ihn angestoßen. Am nächsten Tag hatte er seine Sachen gepackt und war zurück nach Franken, nach Erlangen, wo er in einem Wohnheim am Schwabachufer eine günstige Unterkunft gefunden hatte. Und dann war ihm Maria wiederbegegnet.
November 2010, ein letzter schöner Herbsttag. Seit einigen Wochen studierte er nun in Erlangen und hatte sich
an einem Samstagnachmittag auf die Gartenterrasse des Cafés Mengin gesetzt, um die Erlanger Nachrichten durchzublättern. Als er den Erlanger Lokalteil aufschlug, durchfuhr es ihn wie ein Blitz.
Maria! Das war sie, das war Maria! Zwar standen keine Namen unter dem Foto, die
junge Frau aber, die zweite von links, konnte nur Maria sein. Ihr Lächeln hatte sich nicht verändert, nicht die Art, wie sie den Kopf leicht zur Seite neigte. Auch wenn sie
erst dreizehn gewesen war, als er sie zuletzt gesehen hatte, in jenem zunächst so glücklichen und dann so unglücklichen Sommer 1999, als sein Vater verstorben war und er Weißenohe hatte verlassen müssen, hatte er sie sofort wiedererkannt. Elf Jahre war das jetzt her. Gebannt
betrachtete Dirk das Foto. Kein Zweifel, das war Maria!
Er hatte sie nicht vergessen können. Auch wenn er hin und wieder mit anderen Frauen geflirtet, für kurze Zeit sogar eine feste Freundin gehabt hatte, nie war ihm Maria aus dem
Kopf gegangen. Manchmal, in einsamen Kasernennächten, hatte er nach ihr gegoogelt. Doch nie war es ihm gelungen, einen Treffer
unter ihrem Namen zu landen. Selbst bei Facebook hatte er sich angemeldet,
obwohl er kein Typ für solche Netzwerke war. Aber auch bei Facebook hatte er Maria nicht gefunden.
Natürlich hätte er versuchen können, ihren Aufenthaltsort über ihre Eltern zu erfragen, vielleicht wohnte sie ja immer noch in Weißenohe, in dem Spitzgiebelhaus mit dem verwunschenen Garten.
Er hätte ihr einfach nur einen Brief schreiben müssen und hatte es nicht getan. Auch war er, seitdem er nun in Erlangen
studierte, nicht nach Weißenohe hinausgefahren. Mit dem Rad wäre er problemlos in einer Stunde dort gewesen, doch er hatte es nicht einmal
ernsthaft erwogen. Mein Gott, wer fuhr los, um ein Mädchen wiederzusehen, in das er sich als Kind verliebt hatte. Nach fast einem
Dutzend Jahren! Das war doch völlig verrückt.
Und nun das Foto hier in der Zeitung. Maria stand mit fünf anderen Studenten im Halbkreis um einen Tisch, an dem drei junge Asylanten saßen. In dem kurzen Bericht hieß es, die Studenten seien Mitglieder von EFIE, einer Erlanger Organisation, die
sich um neu angekommene Geflüchtete kümmere. Hastig hatte Dirk die Seite aus der Zeitung gerissen und in seine
Cordjacke geschoben. Das erste Foto von Maria seit so vielen Jahren! Er musste
das Bild von Maria, wie er sie in seinen Erinnerungen behalten hatte, kaum
anpassen, sie war immer noch dieselbe geblieben, älter natürlich, reifer, aber dennoch von einer unbekümmerten Mädchenhaftigkeit.
Dirk zahlte und ließ seinen Cappuccino unberührt stehen. Er war viel zu aufgeregt, um am Tisch sitzen zu bleiben. Mit
schnellen Schritten ging er im angrenzenden Schlossgarten spazieren, immerfort
im Karree, während die Gedanken in seinem Kopf wirbelten und einen Gefühlssturm in ihm entfachten. Er hätte jubeln können und zugleich weinen, so sehr hatte ihn das Foto aufgewühlt. Es war, als hätte sich ein geheimer Knoten in seiner Brust gelöst, als wäre mit einem Knall eine Kette gesprengt worden, die ihm sein Herz eingeschnürt hatte, all die langen Jahre. Nun plötzlich wusste er, was er wollte, mit einem Schlag war ihm klargeworden, was ihm
gefehlt hatte. Nie hatte er bei einer anderen Frau das empfunden, was er für Maria empfand. Er hatte sich das nur eingeredet, hatte geglaubt, das Glück auch woanders finden zu können. Was für ein Trugschluss! Jetzt gab es nur eines: Er musste sie wiedersehen, so schnell
wie möglich. Doch wie sollte er das anstellen?
Als er an dem Denkmal vorbeikam, auf dem ein verstümmelter Dickwanst ritt, verlangsamte er seine Schritte, zog sein Smartphone
hervor und googelte nach EFIE. Auf Anhieb leuchtete die Web-Seite auf. Er las
von Zielen und Aktivitäten, die auch Sprachkurse und eine mögliche Rechtsberatung umfassten, und die Aufforderung, sich EFIE anzuschließen. Man brauche weitere Helferinnen und Helfer, jeder sei willkommen. Nun wusste
Dirk, wie er es anstellen musste. Er würde ebenfalls Mitglied bei den Flüchtlingshelfern werden. Mit freudigem Herzen wollte er sich engagieren und würde so Maria wiedertreffen.
Das nächste Treffen der Helfergruppe war erst für den kommenden Mittwoch angekündigt, vier grausam lange Tage sollte es noch dauern, bis er Maria wiedersah.
Schlaflose Nächte bereitete ihm die Vorstellung, Maria könnte ihn vergessen haben. Und was, wenn sie einen anderen hatte? Vielleicht, ja
ganz bestimmt war sie längst vergeben. Es war kaum vorstellbar, dass eine hübsche Frau allein durchs Leben lief. Sie war ein Jahr jünger als er, musste also jetzt vierundzwanzig sein. In dem Alter hatten die
meisten Frauen doch schon lange einen Freund, warum sollte es bei Maria anders
sein? Mit solchen Gedanken quälte er sich, sah sie im Geiste lachend im Arm eines anderen liegen, einen
anderen ihre Lippen küssen.
Ihre Lippen würde er nicht vergessen. Ein einziger Moment hatte gereicht, sein Leben für immer zu bestimmen.
Hektisch faltete er die Zeitungsseite wieder auf. Der Typ rechts neben ihr,
hatte der nicht seine Hand auf ihre Schulter gelegt? Solche Angstfantasien
wechselten sich ab mit Phasen süßer Hoffnungsträume. Vielleicht traf er sie ja schon zufällig vorher in der Stadt. Obwohl das sicher ein großer Zufall sein musste, lebten doch vierzigtausend Studenten in Erlangen. Was würde er überhaupt machen, wenn er ihr zufällig begegnete? Und wie würde er sie beim Treffen von EFIE begrüßen? Sollte er ihr die Hand reichen? Sollte er sie umarmen, wie das unter
Studenten der Brauch zu sein schien? Durch die lange Soldatenzeit war er etwas
linkisch im Umgang mit dem anderen Geschlecht geworden. Zwar gab es auch Frauen
bei der Bundeswehr, jeder Kontakt mit ihnen war jedoch militärisch korrekt. Was, wenn sie ihn nicht erkannte? Manche sagten, er hätte sich verändert. Die Bundeswehr hatte ihn tatsächlich härter gemacht, nicht seelisch, das hatte der Militärdienst nicht geschafft, aber vom Äußeren her. Zwar trug er nach wie vor keinen Bart, doch das regelmäßige körperliche Training hatte ihn männlicher gemacht, markanter waren seine ehemals so weichen Gesichtszüge geworden. Natürlich hoffte er, dass ihn Maria wiedererkannte, zugleich fürchtete er sich heimlich davor.
Besonders fürchtete er sich vor dem ersten Blick, dem Moment, an dem sich ihre Augen wieder
begegnen würden. So brennend er ihn herbeisehnte, so schrecklich flau wurde ihm doch
zumute, wenn er daran dachte. Dieser erste Blick, von ihm würde alles abhängen. Trat kein Lächeln in ihre Augen, sein Leben wäre verloren. Dessen war er sich bewusst. Vielleicht hatte er aus eben diesem
Grund nicht die letzte Energie darauf verwendet, Maria wiederzusehen. Weil er
nicht stabil genug gewesen war, weil er sich wie ein Angsthase, wie ein
Zauderer vorgekommen war. Jetzt aber würde alles anders werden. Jetzt würde er die Dinge, die wichtig waren, mutig ins Auge fassen. Jetzt war er bereit,
Maria wiederzusehen.
All die Jahre hatte er sich gefühlt, wie ein Mann, der über ein schwankendes Seil gehen musste, um einen Schatz zu gewinnen, der über einem hohen Abgrund hing. War es nicht besser, auf sicherem Grund zu bleiben
und sich mit dem zu begnügen, was man hatte? Mit dieser Haltung hatte er sein Leben gelebt, in der
Hoffnung, die Dinge würden sich ändern. Doch diese Hoffnung hatte getrogen. Keines der Mädchen, auf das er sich eingelassen hatte, hatte seine Sehnsucht stillen können, diese verteufelte Sehnsucht, die nur einen Namen kannte. Jedes Abenteuer
hatte nur ein schales Gefühl zurückgelassen und sein Unglück noch vergrößert. Jetzt war er sicher: Er durfte sich nicht länger feige drücken. Nur mutig voran! Hinauf auf das schwankende Seil, es gab keinen anderen
Weg zum Glück.
Am Mittwoch traf er pünktlich um sieben im Bürgertreff an der Isarstraße in der Erlanger Südstadt ein. An einer Tür stand auf einem handgeschriebenen Zettel »EFIE«. Sich selbst Mut zuredend drückte Dirk die Klinke. In dem Raum, der einem Klassenzimmer ähnelte, saßen bereits ein knappes Dutzend Studentinnen an den Tischen, auch zwei Männer waren darunter. Alle schienen sich zu kennen, unterhielten sich angeregt
miteinander. Enttäuscht stellte Dirk fest, dass Maria nicht darunter war. Eine junge Frau mit
dunklem Zopf sah zur Tür, erhob sich, kam auf ihn zu und begrüßte ihn.
»Ich bin Ekatarina, bist du neu bei uns?«
Er hatte sich gerade vorgestellt, da öffnete sich die Tür hinter ihm und eine junge Frau trat ein. Ekatarina lief auf sie zu und umarmte
sie herzlich. Dann sagte sie: »Darf ich bekanntmachen? Maria, das ist Dirk.«
Der erste Blick. Die erste Begegnung ihrer Augen. Was für ein Stein fiel von seiner Seele, als Maria ihn lachend ansah, den Kopf schüttelte und immer wieder sagte: »Das gibt es doch nicht, das gibt es doch nicht!« Voller Erleichterung stimmte er in ihr Lachen ein, so dass die anderen erstaunt
zu ihnen hinüberschauten. Dann legte Maria ihren Arm um seine Schulter und rief: »Alle mal herhören! Hier kommt der beste Baumhausbauer der Welt!«
Und nun stand sie vorne im Zeugenstand, stand vor dem Richter und sollte
Auskunft geben, um mitzuhelfen, den Tod ihres Mannes zu klären. In diesem Moment verfluchte sich Dirk. Warum hatte er nicht Nein gesagt,
als ihn der Chef gefragt hatte, ob er den Prozess als Reporter begleite? Er hätte gute Gründe dafür gehabt, hätte sich für befangen erklären können, ja für befangen erklären müssen. Auch für einen Journalisten galt diese Regel. Berichte niemals von einer Sache, bei der
du nicht objektiv sein kannst. Das lernte man im allerersten Semester auf der
Journalistenschule. Was für ein Vollidiot war er doch! Wie sollte er Marias Auftritt vor Gericht dem Leser
schildern? Sollte er schreiben, da steht die Frau, die ich liebe, mit jeder
Faser meines Herzens leide ich mit ihr, schlimmer noch aber leide ich, weil sie
mich ignoriert? Sollte er voller Mitleid über sie schreiben, voller Empathie, oder sollte er sie verfluchen, als die
grausamste Frau, die er je kennengelernt hatte? Oder sollte er erkalten, sie
mit dem nüchternen Blick des Reporters betrachten, sie professionell sezieren und präsentieren? Nein, niemals! Selbst wenn er gewollt hätte, das würde er nicht fertigbringen. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, an
dieser Aufgabe würde er scheitern. Und genau das hätte er vorhersehen müssen. Warum nur hatte er den Job übernommen? Es konnte nur einen einzigen Grund dafür geben, gestand er sich leise ein. Keinen Satz aber, nicht einmal ein Wort, drückte er in die Tasten.
»Frau Fischer?«, fragte der Richter mit der Routine eines Mannes, der es sich längst abgewöhnt hatte, Empathie zu heucheln. Im Laufe all der vielen Dienstjahre, im Kontakt
mit den abgebrühtesten Gestalten, den abscheulichsten Mordtaten, hatte er jedes Mitgefühl verloren. Immerhin war er nicht zum Zyniker geworden, was keine Selbstverständlichkeit war.
»Frau Fischer, bitte erzählen Sie uns, wie der letzte Tag Ihres Mannes verlaufen ist.«
Maria Fischer straffte ihre Haltung. »Wir haben zusammen gefrühstückt, wie jeden Tag, nichts Großes, Tee und jeder ein Bamberger Hörnchen. Dann ist Cornelius zur Kinderklinik, wo er vor ein paar Jahren seine
Facharztausbildung begonnen hat und inzwischen als Oberarzt arbeitete. Er
musste an diesem Tag etwas früher los. Weil sein Fahrrad gerade in der Reparatur war, hat er den Bus genommen,
der braucht länger. Mittags hat er mir eine WhatsApp aus der Kantine geschickt. Das machte er
gerne. Fotografierte sein Essen und versah es mit einem witzigen Kommentar.« Maria stockte, bevor sie fortfuhr. »Am Abend hat er mir dann noch eine weitere WhatsApp geschickt, er käme heute später. Das war das Letzte, was ich von ihm gehört habe.«
Sie blickte zur Seite, hinüber zu den hohen Fenstern, an denen die Feuchtigkeit zu Tropfen kondensierte,
die die Scheiben in trübem Zickzack hinunterzurinnen begannen. Musste sie gegen die Tränen ankämpfen oder täuschte Dirk sich? Seine tapfere Maria! Es hätte ihn fast zerrissen. Wie gerne wäre er jetzt zu ihr geeilt, wie gern hätte er sie in den Arm genommen! Warum tat das denn niemand anderes? Wie konnte
man so grausam sein, die Arme so ganz allein dort stehen zu lassen und mit
Fragen zu quälen? Ungerührt machte der Richter weiter.
»Frau Fischer, hat Ihr Mann geschrieben, warum er später kommen würde?«
Maria schüttelte den Kopf. »In der Klinik passiert so was häufiger, ein Notfall, eine plötzlich angesetzte Dienstbesprechung. Kein Tag verläuft dort, wie der andere.«
»Hatten Sie keinen Verdacht, dass sich Ihr Mann aus einem anderen Grund verspäten würde?«
»Aus was für einem anderen Grund denn?«
»Aus dem Grund, der ihn tatsächlich am Abend aufgehalten hat.«
Erneut drehte Maria den Kopf zu den Fenstern. Plötzlich wirkte sie so zerbrechlich, seine immer so taffe, so energiegeladene
Maria ließ die Schultern hängen, sah aus, als bedürfe es nur eines kleinen Windstoßes, um sie umzupusten. Dirk klappte seinen Laptop schamhaft zusammen. Er kam
sich unglaublich unnütz vor, unnütz und deplatziert, ja, schlimmer noch, er kam sich vor wie ein Voyeur. Kein
Wunder, dass Maria ihn ignorierte. Er hatte es nicht anders verdient. Wie
sollte sie ihn auch begrüßen? »Hallo Dirk! Schön, dass du von Connys Mordprozess berichtest. Viel Spaß dabei!« Dirk schauderte es. Warum riss man die Fenster nicht auf, warum ließ man sie in dieser Sauna ersticken? Der Regen begann wieder zu prasseln, neue,
heftige Schauer schlugen gegen die Scheiben. Der Gerichtsdiener schaute
besorgt, ob durch die geöffneten Oberlichter auch kein Wasser drang. Er war nun beinahe sechzig Jahre
alt, davon hatte er fast vierzig im Justizdienst zugebracht, hatte immer in Fürth gelebt, keine zwei Kilometer vom Justizpalast entfernt. Er hatte alles schon
erlebt, an ein solches Wetter aber konnte er sich nicht erinnern.