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Heinz G. Konsalik

Eine angesehene Familie

Roman

hockebooks

Wenn Eduard Barrenberg eine Ahnung gehabt hätte, dass seine Familie zum Mittelpunkt öffentlichen Interesses werden würde, wäre er bestimmt nicht nach Ischia in Urlaub gefahren.

Er hatte sich vorgenommen, einmal richtig auszuspannen, sein Rheuma im heißen Sand zu begraben, auch ein wenig Diät zu halten, weil er seinen Gürtel um ein Loch hatte vorstellen müssen, und überhaupt wollte er einmal drei Wochen nichts von der Firma hören, um »neue Kraft für den Kampf gegen die Behörden aufzutanken«, wie er es nannte.

Da, in der zweiten Woche, geschah das Ereignis, ohne dass er es verhindern konnte, denn als es sich anbahnte, hatte er sich gerade in den Poseidon-Thermen massieren lassen, danach gemütlich eine deutsche Zeitung gelesen und sich auf das Abendessen gefreut. Aber schon von Weitem, als er den Park seines Hotels betrat, ahnte er nichts Gutes: Auf einem mit blauem Samt bezogenen hohen Podest sah er seine Tochter Monika stehen, in einem goldfarbenen Badeanzug, mit einer Schärpe dekoriert und eine in der Sonne blitzende Messingkrone auf den Haaren. Mindestens zweihundert Menschen applaudierten, eine Filmkamera fuhr auf einer rollenden, von drei Männern gezogenen Plattform auf sie zu; es sah alles so aus, wie es Barrenberg schon einmal im Fernsehen gesehen und ein »idiotisches Affentheater« genannt hatte: eine Misswahl.

Und schon stürzte sich der Hoteldirektor auf ihn, breitete die Arme aus und beherrschte sich sichtlich, um Barrenberg nicht an seine Brust zu drücken. Er sprach ein gutes Deutsch, aber in der Aufregung vermengte er es mit der Muttersprache.

»Signore!«, rief er. »Gratuliere! Einen doppelten Preis!« Es folgte eine Flut italienischer Sätze, die Barrenberg nicht verstand, aber dem Tonfall nach drückten sie explosive Begeisterung aus. »Das hat es noch nicht gegeben! Zwei in einer Familie! Meine Gratulation!«

»Was geht hier vor?«, fragte Barrenberg zurückhaltend.

»Ihre Tochter …«

»Die sehe ich! Mit Krone und Schärpe! Grinsend wie ein geplatzter Pfannkuchen. Mein Gott, nicht einmal massieren lassen kann man sich, schon geht was schief!«

Er ließ den Hoteldirektor stehen, betrat die Liegewiese rings um den riesigen Swimmingpool und sah jetzt erst, dass unterhalb des Podiums, auf dem seine Tochter stand, auch seine Frau Maria hinter einem großen Strauß roter Rosen in die Kamera lächelte. Sie trug einen schlichten schwarzen Bikini, und um sie herum sprangen aufgeregte Männer, die ihr ein Mikrofon vor den Mund hielten, sie von allen Seiten fotografierten und fortwährend auf sie einredeten. Ein Mann mit schwarzgrauen Locken umarmte sie sogar und küsste sie auf die linke Wange, während die Kamera alles aufnahm. Maria tat sehr verschämt, lächelte tapfer und schien aufzuatmen, als jemand brüllte: »Ende! Ist im Kasten!«

Die Kamera schwenkte weg, Monika stieg von ihrem Podest, hielt dabei ihre schwankende Messingkrone fest und erkannte ihren Vater.

»Da ist Papa!«, rief sie. Barrenberg zog das Kinn an und blickte düster, als sich die Köpfe ihm zuwandten. Monika winkte, nahm ihre Krone ab und lief mit wehenden Haaren auf ihn zu. Maria folgte ihr, den riesigen Rosenstrauß gegen die Brust drückend, in Begleitung des Mannes, der sie vor allen Leuten geküsst hatte.

»Papa!«, rief Monika wieder. Sie hielt ihm die Krone hin und zupfte an der Schärpe. »Ich bin gewählt worden! Ausgerechnet ich! Und als sie dann Mama gesehen haben …«

»Was geht hier vor?«, fragte Barrenberg wieder. Er musterte den forschen Mann mit dem Lockenhaar, dann seine Frau, und stellte fest, dass Maria einen ganz anderen Blick hatte: strahlender, fordernder, aggressiver.

»Mein Name ist Barrenberg«, sagte er abweisend.

»Puratzke. Holger Puratzke«, sagte der lockige Mann.

»Das ist nicht Ihre Schuld.« Barrenberg freute sich über diese Antwort; sie wies gleich die Marschrichtung aus. »Was soll das alles?«

»Wir sind von der ›Spectra-Film‹ und drehen gerade auf Ischia. Ich bin der Regisseur. Der Film heißt: ›Sommerwind‹. Gut, was?«

»Und für Ihren Wind brauchen Sie meine Frau und meine Tochter?«

»Eduard«, sagte Maria; der Glanz in ihren Augen verlor sich. »Wir sind überrumpelt worden. Ich liege am Pool und sehe den Dreharbeiten zu, und Monika geht gerade zum Schwimmbecken, da kommt Herr Puratzke angelaufen und ruft …«

»Eine Offenbarung!« Puratzke klatschte in die Hände. »Allerdings habe ich das gerufen! Ein Wunder! So etwas suche ich schon lange! Solch ein Mädchen! Solch eine Figur! Ganz unbefangen, nicht so wie die scharfen Beißerchen vom Fach. Ich brauchte nämlich eine Miss-Szene! Und als ich Ihre Tochter sah, habe ich sofort umgestellt, und wir haben eben diese Miss-Szene gedreht. Ihre Monika ist ja ein Naturtalent … Aber dann hat’s mich umgehauen!« Puratzke wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Kommt die Mutter daher! Jawohl, Ihre Gattin, Herr Barrenberg. Ich schalte sofort! Drehbuch ändern! Neue Szene hinein: Wahl der schönsten Mutter! Auch die ist im Kasten! Ich sage Ihnen: Dieses Gespann Mutter-Tochter wird noch von sich reden machen!« Puratzke holte tief Luft. »Das war’s. Nun zu Ihnen! Keine Angst! Ich mache Sie nicht zum schönsten Vater! Ich brauch’ nur ein paar Informationen. Wie heißen Sie?«

»Eduard Barrenberg. Sie wissen es doch!«

»Beruf?«

»Ich baue Häuser. Noch mehr?«

»Hat Ihre schöne Frau auch einen Beruf?«

Maria wollte etwas sagen, aber Barrenberg winkte ab. »Hausfrau! Was sonst?!«

»Die Tochter, die süße?«

»Macht ihr Abitur. Interview im Kasten? Sind wir gnädig entlassen? Wie hoch ist eigentlich die Gage von Mutter und Tochter?«

Puratzke erstarrte einen Moment, dann lachte er meckernd und hielt es für nützlich, sich schnell zu entfernen. Am Rande des Pools hörte man ihn brüllen: »Umbau! Wir drehen Nummer neunundzwanzig! Ist Franzi mit Schminken fertig?! Wo bleibt der zweite Reflektor?«

»Du warst sehr unhöflich zu ihm, Eduard«, sagte Maria. Sie gingen zum Hotel zurück, nebeneinander, Barrenberg in der Mitte. Monika ließ die Messingkrone um ihren Unterarm kreisen, Maria trug ihre Rosen wie einen Brautstrauß.

»War das nötig?«, brummte Barrenberg.

»Es kam so plötzlich. Du hättest es auch nicht verhindern können.«

»Irrtum. Wenn ich etwas nicht will, dann passiert es auch nicht.«

»Das kennen wir!«, sagte Monika. Barrenberg blickte sie böse an.

»Meine Frau und meine Tochter als Filmstars! Mit Krone, Schärpe und roten Rosen! Miss Sommerwind und ihre schöne Mama! Ihr habt euch ganz schön lächerlich gemacht!«

»Ich fand es lustig.« Maria Barrenberg drückte ihr Gesicht in die Rosen. »Aber wenn du willst, werf ich die Blumen weg. Wir sind zur Erholung hier und nicht zum Streiten.«

»Stell sie im Zimmer in eine Vase. Sie waren teuer genug! Dieser Clown von Regisseur hat dich auch noch geküsst!«

»Nur auf die Wange. Und nur für die Kamera! Nun mach daraus bitte keine Affäre, Eduard!«

»Papa würde nie eine andere Frau küssen!«, sagte Monika frech. »Aber er würde ja auch nie Mister Sommerwind werden.«

»Ganz richtig!« Barrenberg blieb in der Hotelhalle stehen. »Wenn ich damals so gedacht hätte wie eure Generation, dann stünde ich heute noch an der Mischmaschine!«

Damals … Das war ein Thema, vor dem Monika sich fürchtete. Damals … Das war die Generation, die anscheinend nur Wunder vollbrachte.

Sie gab ihrem Vater einen Kuss und rannte die Treppen hinauf, während Eduard und Maria Barrenberg den Lift nahmen.

Am späten Abend, nach dem Essen – Fenchelgemüse, in Salzwasser gekocht, mit einer Scheibe gekochtem Schinken und einer kleinen Kartoffel – Reduktionskost nannte man das, am Tag nicht mehr als 1000 Kalorien – saßen sie auf der Hotelterrasse, tranken einen trockenen Wein und blickten hinaus in den von Lampen beschienenen subtropischen Park. Im Hintergrund, im Speisesaal, spielte eine Streicherkapelle im Stile Mantovanis zärtliche Musik.

»Mir geht etwas durch den Kopf, Maria«, sagte Barrenberg. »Dir hat das mit dem Filmfritzen gefallen?«

»Es war mal etwas anderes, Eduard. Eine lustige Abwechslung.«

»Du vermisst das? Du brauchst so etwas? Warum hast du mir das nie gesagt?«

»Ich vermisse nichts.« Sie lächelte ihn an. »Wie kannst du so was denken? Ich habe doch dich und Monika.«

Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu. Sie sah zauberhaft aus, verjüngt im Dämmerlicht, ein Bild des Glücks.

Eduard Barrenberg war wieder sehr zufrieden.

Es war genau 5 Minuten nach 20 Uhr, als ein menschlicher Körper fast waagerecht durch die Tür von »Ferrys Schuppen« flog, sich auf der Straße abrollte, noch zweimal um sich selbst kugelte und dann liegenblieb. Etwas verkrümmt, die Hände gegen den Magen gedrückt, die Beine angezogen. Aus einer Schürfwunde an der Stirn sickerte Blut. Im gleichen Augenblick bog ein Moped um die Ecke, musste abrupt bremsen, um nicht in den Menschenklumpen hineinzufahren, schlidderte über den Asphalt, der Fahrer hatte alle Mühe, sich auf den Rädern zu halten und stemmte dann die Beine auf die Straße, während er den Motor abwürgte. Er starrte auf den verkrümmten Körper, stieg aus dem Sattel, ließ das Moped einfach umfallen und kniete sich neben den Liegenden. Als er den rotweiß lackierten Helm abnahm, quollen lange blonde Haare hervor und wehten um ein schmales, entsetztes Mädchengesicht.

Das Mädchen streckte beide Hände aus, zögerte einen Augenblick, griff dann aber kraftvoll zu und drehte den verkrümmten Körper auf den Rücken. »Sind Sie verletzt?«, fragte es. »Was haben Sie?«

»Ich liege immer hier!« Der junge Mann streckte sich, wischte sich mit dem Handrücken das Blut von der Stirn und setzte sich. Er trug ausgebeulte schwarze Cordhosen, ein bis zum Gürtel offenes kariertes Hemd und darüber einen grünen, geflickten Parka amerikanischer Herkunft. An einer dicken silbernen Kette baumelten ein in Silber gefasster großer, gebogener Tierzahn, ein Amulett, das einen indischen Götterkopf darstellte, und ein koptisches Kreuz. Seine braunen Haare waren schulterlang – fast so lang wie die blonden Mädchenhaare, aber strähnig, stumpf und über der Stirn mit Blut verklebt.

»Meine Spezialität!«, sagte er. Seine Stimme klang heiser, mit einem weinerlichen Unterton. Als er nochmals die Hand hob, um das Blut wegzuwischen, zitterten seine Finger, als durchjage ihn ein Schüttelfrost. »Ich übernachte hier! Glotz nicht so dämlich! Hau ab, sage ich!«

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte das Mädchen.

»Helfen? Mir? Du?!« Der junge Mann zog die Beine an, stemmte sich hoch, aber als das Mädchen ihm unter die Arme greifen und ihn stützen wollte, schüttelte er sie ab. Als er stand, schwankte er, drehte den Kopf zu »Ferrys Schuppen«, sagte laut: »Ihr verdammten Arschlöcher!« und ging verkrampft, wie eine aufgezogene Puppe, auf die andere Straßenseite. Dort lehnte er sich an die Hauswand, schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser steigt, und sah dem Mädchen zu, das sein Moped über die Straße schob und neben ihm stehenblieb. »Sie bluten!«, sagte das Mädchen und stützte sich auf den Lenker. »Was ist denn passiert?«

»Scheiß drauf! Zisch ab, Biene!«

»Soll ich Sie zu einem Arzt bringen?«

»Ach du dickes Ei! Arzt?! Wie tickst du denn?« Er äffte ihr nach mit verstellter Fistelstimme: »Kann ich Ihnen helfen! – Ihnen! Wo sind wir denn? Kommst wohl aus ‘nem Stall, wo die Hühner von goldenen Tellern fressen, was? Wer bist du?«

»Ich heiße Monika Barrenberg. Und – du?«

»Freddy the Tiger!« Er tippte auf den in Silber gefassten Zahn vor seiner Brust. »Der ist echt! Von ‘nem richtigen Tiger. Hab’ ihn aus Indien mitgebracht. War das ‘ne Schau, als sie das Biest endlich geschossen hatten! Ein Menschenfresser. Hatte schon vierzehn Bauern im Bauch! Ich hab’ mir den Zahn aussuchen können … Ich hab’ damals einen der Treiber gespielt …«

»Du warst in Indien?«, fragte Monika Barrenberg. Sie holte aus ihrer Lederjacke ein Taschentuch und drückte es Freddy auf die Schürfwunde. Er sah sie verblüfft, fast erschrocken an, ließ es aber geschehen. Er lehnte sogar den Kopf an die Mauer zurück und schloss die Augen.

Der zarte Parfümgeruch des Taschentuches machte ihm übel. Er begann zu würgen, das Zittern in seinem Körper verstärkte sich. Die Finger ballten sich zu Fäusten, er drückte sie gegen seine Brust.

»Nimm das Scheißtuch weg!«, keuchte er. »Ich muss gleich kotzen!«

»Du hast eine Gehirnerschütterung!«

»Blödes Luder!«

»Übelkeit nach einem Sturz ist der Beweis für eine Gehirnerschütterung. Ich habe das in einem Erste-Hilfe-Kurs beim Roten Kreuz gelernt.«

»Du lieber Himmel – halt’s Maul!«, keuchte Freddy. »Ich bin auf’n Affen …« Er stieß Monikas Hand mit dem Taschentuch weg und stierte sie aus zitternden Augen an. »Das habt ihr feinen Miezen beim Roten Kreuz nicht gelernt, was? Noch ‘ne halbe Stunde, und ich lecke die Straße ab! Ich kenne das. Diese Sauhunde da drüben! Lassen einen verrecken, lassen einen kalt lächelnd verrecken, und haben genug zum Drücken in der Tasche! Fünfzig Mark für einen scheißigen ›Hongkong-Rock‹! Die haben wohl ‘ne Meise! Glotz nicht so dämlich! Ich muss achtmal am Tag drücken, um über die Runden zu kommen. Das sind vierhundert Mark, am Tag! Die bringen mich um, die Hunde, die bringen mich um …«

Er presste die Fäuste gegen seinen Bauch, krümmte sich nach vorn und schlug die Zähne aufeinander. Schweiß brach aus seinen Poren und überschwemmte den Körper, als treibe eine innere Dusche das Wasser durch die Haut. Monika wollte ihn wieder stützen, aber er stieß mit dem Kopf nach ihr und begann, mit den Füßen aufzustampfen.

»Hau ab!«, keuchte er heiser. Plötzlich griff er zu, bekam Monika an der Schulter zu packen, riss sie an sich und umklammerte ihren Hals. Seine Hände schienen darin Übung zu haben, sie lagen genau, beide Daumen auf dem Kehlkopfknorpel, er brauchte nur fester zuzudrücken und die Luftzufuhr war sofort abgeschnitten. Ihre Gesichter waren jetzt ganz nahe: Monikas schmales Mädchengesicht, in Fassungslosigkeit erstarrt, mit weiten, angstvollen blauen Augen – und Freddys verzerrtes, von Schweiß, verwischtem Blut und Straßenstaub entstelltes Gesicht, in dem die graubraunen Augen brannten, die Pupillen zitterten.

»Du hast Geld, was?«, zischte er. Seine Lippen zogen sich in einem Krampf zusammen. Nur einen halben Schuss, dachte er mit einer jämmerlichen Demütigkeit. Nur eine kleine Dosis. Nur einen Hauch von H. Nur ein Tröpfchen aus der Nadel … das wäre schon genug. Dann kann man wieder etwas atmen, dann hört der verrückte Schmerz in den Eingeweiden auf, dann ist das verdammte Zittern weg, das Gefühl, man trockne aus, der lederne Gaumen wird wieder feucht, die Augen sehen die Welt wieder klar … Und die Angst ist weg, die verfluchte Angst zu sterben … zu sterben mit diesen Krämpfen, die alle Muskeln zusammenziehen. Nur ein Hauch … zur Beruhigung, zum Weiterleben … Habt doch Mitleid, Kumpels, ich war doch immer ein ruhiger, guter Kunde, immer bar auf die Hand. Ihr kennt mich doch: Freddy the Tiger, Trompeter bei den »The Heaven-Rockers« in der Diskothek »Number Sex«. Ihr bekommt euer Scheißgeld doch morgen früh, um 5 Uhr, wenn die Schau gelaufen ist. Ich bringe es euch, mein Ehrenwort, ich habe euch noch nie draufgesetzt, ihr könnt mir den Schädel einschlagen, wenn ihr um 5 Uhr früh nicht die Kohlen habt … Jungs, ich brauche doch nur zwei Gramm, das sind lumpige hundert Mark, nur hab’ ich sie im Augenblick nicht, aber ich brauche gerade jetzt einen Schuss … Ihr seht das doch, ihr könnt mich doch nicht so hängen lassen, wie soll ich denn spielen ohne einen Druck, sagt mir das mal?! Ihr Scheißkerle, ihr könnt mich doch nicht verrecken lassen … es sind doch nur ein paar Stunden … ich beschaffe doch das Geld …

»Wie viel Geld hast du bei dir?!«, zischte er sie an. Sein Atem roch sauer und gallig.

»Ich – ich weiß es nicht …«, stotterte Monika. »Ich komme gerade aus einem Konzert …«

»Woher?!«

»Aus einem Flötenkonzert …«

Über Freddys Gesicht zog ein verzerrtes Grinsen. »Ist das zum Kotzen!«, sagte er. »Die haben da bestimmt die falschen Flöten geblasen …«

»Es waren Kompositionen von Friedrich dem Großen …«

»Hast du Geld?!« Seine Finger strichen über Monikas Hals, aber sie drückten nicht zu. Dann wanderten sie tiefer, abwärts, glitten über das Brustbein, verhielten einen Moment und legten sich dann kurz auf ihre Brüste, über denen das weiche Leder ihrer Jacke lag. Als habe er etwas Feuriges berührt, zuckten seine Hände zurück zu ihrem Hals. »Monika, ich brauche Geld. Sofort! Blöde fünfzig Mark. Oder auch nur fünfundzwanzig, das reicht. Sie geben mir nichts auf Versprechungen. Rausgeschmissen haben sie mich. Monika, ich brauche einen Druck, einen ganz kleinen Druck … Gib das Geld her …«

»Wir gehen sofort zu einem Arzt!«

»Du dämliches Arschloch!« Freddy keuchte. Seine Hände fielen herab, die Augäpfel rollten, sein Mund klappte auf, Speichel tropfte über sein Kinn – es sah schrecklich aus. Die Krämpfe kehrten zurück – er zog die Knie an, als schrumpfe er in sich zusammen und kauerte an der Hauswand.

Aus der Tür von »Ferrys Schuppen« kamen drei Männer und ein Mädchen, ihr Lachen schallte über die Straße. Freddy hob den Kopf und versuchte, sich aufzurichten. Es gelang nicht, die Krämpfe machten ihn bewegungsunfähig.

»Da ist er …«, stotterte er. »Lass ihn nicht weg, Monika … lass ihn nicht weg! Das ist Kemal – der Türke! Ich krepiere, Monika, ich schwör’s dir … ich krepiere auf der Straße … Wenn du ein paar Heiermänner hast …«

»Was soll ich haben?«, fragte Monika, noch immer steif vor Schrecken.

»Geld! Die Spritze! Lass ihn nicht gehen!« Wieder hörte sie, wie seine Zähne klapperten, es klang schauerlich. »Sag ihm … sag ihm … einen halben Schuss … Von mir aus einen billigen Hongkong … nur ein bisschen, ein bisschen …«

Monika wusste später nicht zu erklären, was sie dazu bewogen hatte, Freddy in seinem gefährlichen Zustand an der Hauswand zu lassen und mit festen Schritten über die Straße zu gehen. Mitten auf der Fahrbahn hob sie die Hand und rief mit heller Stimme:

»Kemal! Bleiben Sie stehen!«

Der Mann, der Kemal hieß, wirbelte herum, als habe er einen Schuss in den Rücken bekommen. Die beiden anderen Männer sprangen sofort an die Hauswand, während das Mädchen sich duckte und weglaufen wollte. Dann erkannten sie alle zur gleichen Zeit nur einen einzigen Gegner: ein Weib in einer Lederkombination. Man hatte die Polizei schon in vielen Variationen erlebt, auch als Rocker, Zuhälter und Dealer, aber noch nie hatte sie die Dummheit begangen, eine junge Beamtin allein und als Rockerbraut verkleidet ins Feuer zu schicken. Möglich, dass irgendwo die anderen Burschen vom Einsatzkommando lauerten, um zu beobachten, wie sich Kemal benehmen würde.

»Ganz ruhig!«, sagte Kemal durch die Zähne. Er war ein großer, hagerer Mensch mit dem olivbraunen Teint des Orientalen, ohne den typischen Schnauzbart der Türken, auch ohne ihre schwarzen, wachen Augen. Er glich eher einem ausgezehrten, lebergeschädigten Arbeiter, der frühzeitig auf Rente gesetzt war. »Die müssen uns für ausgesprochen dämlich halten.« Er sprach ein gutes Deutsch, mit hessischem Einschlag. Seit vierzehn Jahren lebte er in Frankfurt, hatte fünf Jahre im Straßenbau gearbeitet, dann drei Jahre in einer chemischen Fabrik, vier Jahre als Kellner in einer Schwulenkneipe und zwei Jahre als Portier vor einem Pornoschuppen in der Moselstraße. Dann hatte er sich selbständig gemacht, war schnell zu Geld gekommen, hatte sich eine Eigentumswohnung gekauft, fuhr einen Alfa und war seit einiger Zeit mit einer Landsmännin verheiratet, die als Bauchtänzerin in einem Etablissement an der Kaiserstraße aufgetreten war. Woher sein plötzlicher Aufstieg kam, war kein Gesprächsthema mehr in Frankfurt. Schon wiederholt waren Neugierige in Frankfurter Kliniken eingeliefert worden, immer mit den gleichen Verletzungen: Ihre Gesichter waren mit einem Rasiermesser zerschnitten. Aber die Verstümmelten schwiegen, trotz wochenlanger Verhöre durch die Polizei. Ein paar Narben im Gesicht sind besser als eine enge Kiste unter der Erde. Kemal der Türke hatte es geschafft. Gegen die große chinesische Konkurrenz, die von Amsterdam aus arbeitete und ganz Westeuropa kontrollierte, hatte er mit Hilfe von dreiunddreißig türkischen Familien einen Ring aufgebaut, der völlig undurchlässig war. Die Ware kam nicht mit Massentransporten per Schiff, Lastwagen oder Flugzeug, sondern ganz brav im Handgepäck aus dem Heimaturlaub zurückkehrender türkischer Gastarbeiter. Wer will sie kontrollieren, diese nie endende Völkerwanderung? Was nutzen Schnüffelhunde in Frankfurt, wenn in München mit einem Sonderzug 6000 Urlauber fröhlich, winkend und gestikulierend aus Istanbul eintreffen und ihre zweite Heimat Deutschland mit rührender Liebe begrüßen?! Wer fände da bei Yügel die 20 Gramm Heroin, die in einer Unterhose eingerollt sind, oder die 50 Gramm bei der schönen, blitzäugigen Leila, die weich und sicher in einem Karton mit Binden liegen?

Nur einen Feind hatte Kemal der Türke, aber den konnte er nicht ausmachen. Der Unbekannte war der ganz Große im Frankfurter Umschlagplatz. Man kannte seinen Namen nicht, man hatte ihn nie gesehen, nie gesprochen … Er operierte aus dem Hinterhalt über Delegierte und Unterdelegierte, und er schickte sogenannte Informationstrupps, deren Aufgabe es war, Leuten wie Kemal das Leben schwer zu machen. Noch war es nicht zu einer offenen Auseinandersetzung gekommen, aber Kemal erwartete sie in aller Kürze. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, vor allem der Tod zweier seiner türkischen Freunde, die – laut Frankfurter Polizeiakten – an einer Überdosis Heroin, dem »Goldenen Schuss«, gestorben waren.

Das war lächerlich. Die beiden Türken waren biedere Familienväter gewesen, die das von der türkischen »Fabrik« gelieferte weiße 80%ige Heroinpulver, eine geradezu goldene Ware, nur herübergebracht und Kemal abgeliefert hatten. Sie selber verabscheuten die Spritze. Wenn sie dennoch durch eine Überdosis gestorben waren, so stellte sich das für Kemal so dar: Die Kommandos des Unbekannten hatten die beiden treuen Freunde gegriffen und ihnen gewaltsam den Tod in die Armvene gejagt.

Auch von dort kann diese Falle kommen, dachte Kemal. Er ging bis an die Bordsteinkante und sah Monika mit zusammengekniffenen Augen an, als sie näherkam. Seine rechte Hand hatte er in die Rocktasche vergraben, sie umklammerte eine kleine Pistole. Erst als ihm Monika gegenüberstand, kamen ihm Zweifel. Das ist kein Profi, dachte er verblüfft. Seine Menschenkenntnis hatte sich in den vergangenen zwei Jahren als Basis seines Kapitals erwiesen. Die Kleine hat Angst. Ihre großen blauen Augen sind ein stummer Aufschrei.

»Was ist denn?«, fragte Kemal. »Was heißt hier stehenbleiben?«

»Ich – ich möchte kaufen …«, sagte Monika viel zu laut. Bei den letzten Schritten waren ihr die Füße bleischwer geworden. Jetzt, wo sie ihm gegenüberstand, dachte sie nur an Freddy, der drüben auf der anderen Straßenseite verkrümmt, wimmernd, von Krämpfen geschüttelt, zu sterben glaubte, und dem nur zu helfen war, wenn er das bekam, was er einen Schuss nannte. Mit sicherer Stimme fragte sie: »Was kostet es?«

»Was?«, fragte Kemal abweisend zurück.

»Sie wissen schon.«

»Ich weiß gar nichts!«

»Er braucht einen Schuss …«

»Mädchen, ich bin kein Waffenhändler!« Kemal lachte. »Du hast an der falschen Hausnummer geklingelt.«

»Reichen zwanzig Mark? So viel habe ich noch …«

Kemal schüttelte den Kopf. Er wurde unsicher. Sein inneres Warnsystem versagte, die Klingel in seinem Hirn schlug nicht an. »Falsch verbunden!«, sagte er hart. »Waren ‘n paar Cola mit Rum zu viel, was? Leg dich in die Klappe!«

»Freddy braucht einen Schuss!«, sagte Monika laut. »Er war vorhin bei Ihnen, Sie haben ihn aus dem Lokal werfen lassen. Warum haben Sie ihm keinen Kredit gegeben? Freddy ist verloren ohne Schuss, das wissen Sie genau!« Sie griff in ihre Lederjacke, zog ein zierliches Portemonnaie heraus und hielt zwei zerknitterte Geldscheine in die Luft. »Zwanzig Mark!«

Die beiden Männer im Hintergrund grinsten, das Mädchen kicherte. Kemal – und ein Zwanzigmark-Geschäft! Das war ein Witz, der bald die Runde machen würde. Der erbärmlichste Junkie gab sich mit solcher Lächerlichkeit nicht ab. Ein halber Schuss … und Kemal sollte ihn verkaufen! Auch in dieser Branche gab es noch Humor!

»Wo ist Freddy?«, fragte Kemal, wider Erwarten ruhig.

»Dort drüben. Der Fleck an der Hauswand! Er wird verrückt! Sie müssen mir etwas geben …«

»Komm mal näher, ganz nah! So ist’s richtig!« Kemal fasste Monika vorn an der Lederjacke und zog sie an sich. Sie machte sich steif, der Mann war ihr widerwärtig, sein Blick hatte etwas Lähmendes, das knochige Gesicht mit der dunkel getönten Haut erinnerte sie an ein Bild, das sie im Buch über ägyptische Geschichte gesehen hatte: Die Mumie des Pharaos Ramses.

»Woher kennst du Freddy?«, fragte Kemal.

»Ich habe ihn eben erst kennengelernt. Ich hätte ihn beinahe überfahren. Er lag ja auf der Straße.«

»Und schon besorgst du ihm Stoff?«

»Er krümmt sich …«

»Und er hat dir gesagt, dass ich Kemal bin?!«

Instinktiv spürte Monika die Gefährlichkeit dieser Frage. »Nein!«, sagte sie. »Er hat nur gesagt: Da drüben ist Kemal! Aber da gingen ja drei Männer! Aber als ich Kemal rief, sind Sie stehengeblieben. Also müssen Sie Kemal sein.«

»Scheiße! Und jetzt wirst du jedem erzählen, dass du Kemal getroffen hast!«

»Wen interessiert das schon?!«

Diese Antwort traf ins Volle. Kemal blickte Monika ungläubig an, winkte dann nach hinten und zog die beiden Zehnmarkscheine aus Monikas Finger. »Franz, gib ihr für einen halben Schuss.« Dann griff er in Monikas Haare und ließ die blonden Strähnen durch seine Finger rinnen.

»Ich habe nur Afghanen bei mir«, sagte Franz. »Die kosten …«

»Den Rest verrechnen wir.«

»Kemal –«

»Schnauze!« Er ließ Monikas Haare los und lächelte schwach. »Für alles muss bezahlt werden, auch dafür, dass ein Engel ein Stückchen Hölle kauft!« Er drückte Monika ein kleines Briefkuvert, das Franz ihm gereicht hatte, in die Hand. »Sag Freddy, das ist ein goldener Stoff. 80 Prozent rein! Er versteht das schon. Daraus macht er drei Nadeln. Willst du ‘n guten Rat hören?«

»Von Ihnen?«

»Den besten für deinen Jahrgang: Gib Freddy das Zeug, steig auf dein Moped und dann ab durch die Mitte. So schnell wie möglich! Ohne umzugucken! Gib Gas und weg! Und vergiss alles! Denk, das hast du nur geträumt. Und komm nicht auf den Gedanken, Freddy zu retten. Der ist nicht mehr zu retten, der hängt nur noch an der Nadel.«

»Ihr seid Mörder!«, sagte Monika dumpf. »Ihr seid alle Mörder mit weißen Händen. Man kann es nicht laut genug schreien!«

»Dann schrei mal schön!« Kemal lachte kurz auf. Es war ein hartes, knöchernes Lachen; Monika überlief eine Gänsehaut. Auch die beiden anderen Männer und das Mädchen lachten. Sie traten aus dem Hausschatten heraus und nahmen erst jetzt für Monika Gestalt an. Die Männer waren jung, nicht älter als Freddy, trugen enge Jeans und taillenkurze, blusenähnliche Jacken. Das Mädchen war ordinär geschminkt, die Brüste fielen fast aus dem Ausschnitt der dunkelblauen Satinbluse, die Hose klebte an den langen, schlanken Beinen. Sie hatte rote Haare, zu tausend kleinen Löckchen gedreht.

»Das feine Töchterlein!«, kreischte die Rote. »Bist studiert, was?«

»Ich mach’ mein Abitur.«

»Hört ihr das?!« Die Rote juchzte auf. »Latein kann se, bestimmt. Aber richtig gebumst hat se bestimmt noch nicht. Kannst du bumsen?«

»Nicht für Geld wie du!«, sagte Monika mit einem Mut, der ihr selbst rätselhaft vorkam.

Kemal lachte laut.

»Du blonde Kapitalistensau!«, schrie die Rote, aber da hatte sich Monika schon umgedreht und war auf dem Weg zu Freddy. Als sie sich auf der anderen Straßenseite noch einmal umwandte, sah sie, wie Kemal und seine Begleiter weitergingen. Einer der Männer hatte die Rote am Arm gepackt und zerrte sie mit sich. Sie rief immer noch unflätige Worte und hob drohend die Faust.

Freddy saß vor einem Hauseingang und zerwühlte mit beiden Händen seine Haare. Er stöhnte und keuchte, scharrte mit den Schuhen über den Asphalt und zuckte ab und zu so heftig zusammen, als jage man Stromstöße durch seinen Körper.

»Freddy, ich habe drei Schüsse …«, sagte Monika langsam.

Es war, als läuteten alle Glocken Frankfurts. Freddys Kopf sank nach hinten, seine Augen leuchteten, mit offenem Mund sah er Monika an.

»Wo?«, keuchte er. »Wo …?«

»Hier.« Sie hielt ihm das Tütchen hin. »Kemal sagt, es sei 80prozentig. Aus Afghanistan. Du könntest drei Nadeln …« Sie stockte. Freddy stemmte sich an der Haustür hoch und griff nach dem Tütchen. Sein Gesicht war wie verklärt, aber der ganze Körper zitterte, Schweiß rann über seine Brust. »Freddy, nimm es nicht auf einmal!«

Er hatte das Tütchen aufgeklappt und schnüffelte. »Reiner Schnee! Mein Gott, Monika, das hab’ ich seit Monaten nicht gehabt! Immer nur die Scheiße, gestreckt mit Mehl, Puderzucker oder Strychnin. Da haste dann weniger als 30 Prozent H in der Nadel. Und ein Gefühl ist das, wenn die Soße in dich reinläuft! Erst wird’s dir ganz heiß, dann musst du pinkeln – du glaubst aber nur, dass du pinkeln musst – und wenn du richtig gedrückt hast, so einen Schuss in die Blutbahn, dann bläht sich dein Kopf, dann macht’s da oben und da drinnen bum-bum, dann sagste dir: Jetzt platzt du! Jetzt fliegt dir der Kopf weg! Wie’n Ballon ist er, und drinnen haut einer auf die Pauke! Aber dann ist alles gut … dann wirste ruhig und stark und lustig, und ich kann meine Posaune blasen, und bei den Schicksen werden die Hosen nass vor Begeisterung. Das musste mal sehen! Und später stehen sie Schlange vor der Garderobe und wollen alle von mir gebumst werden! Und dann haue ich mir den zweiten Schuss rein und nehme gleich drei auf die Bude. Die schaff’ ich dann, ehrlich!« Er strahlte Monika an, griff in die Tasche seines Parkas und holte einen Plastikbeutel heraus. »Reiner Schnee …«

»Was hast du da?«, fragte Monika. Freddys Enthusiasmus erzeugte in ihr keinen Abscheu, sie hatte nur noch mehr Mitleid mit ihm.

»Das Werkzeug!« Freddy hielt den Plastikbeutel hoch. »Die Spritze, ‘n Blechlöffel und ‘ne Kerze. Willste dabei sein, wie ich das Süppchen koche?«

»Nein!«

»Dann hau ab!« Er drückte die Haustür auf und blickte in das Treppenhaus. Ein Vorplatz, mit Kacheln ausgelegt. Im Hintergrund die breite Holztreppe. Ein idealer Platz, um in aller Ruhe das Heroin auf dem Blechlöffel über der Kerzenflamme mit etwas Wasser aufzukochen und zu verflüssigen. »Willste etwa ‘n Dank?!«

»Nein!«

»Kannste aber haben! Nach dem Schuss gehen wir auf meine Bude. Wie spät ist es?«

»Halb elf.«

»Um elf muss ich antreten. In ‘ner halben Stunde können wir allerhand wegstecken.«

»Danke.«

»Zicke!« Freddy grinste Monika breit an. »Ich spiele in der Disko ›Number Sex‹. Kann ja sein, dass du mal hinwillst. Immer nur Flötenkonzert vom Alten Fritz … ist doch ‘n Scheiß! Komm in die Disko. Wenn die Platten heißgelaufen sind, machen wir die Einlage in Natur! Ganz cool, sag ich dir! Und ich blase ein Solo, da kannste deine Flöten einweichen. Komm mal hin, Monika …«

»Vielleicht.« Sie sah ihn flehend an. »Freddy, nur ein Drittel nehmen!«

Er nickte, trat in den Hausflur und warf mit einem Fußtritt die Tür zu. Aber trotz aller Sehnsucht nach der Nadel wartete er mit dem Aufkochen, bis er draußen das Knattern des Mopeds hörte.

Erst als es wieder still um ihn war, rannte er zur Treppe, setzte sich auf die dritte Stufe, stellte die Kerze neben sich, zündete sie mit dem Gasfeuerzeug an, hielt den Löffel darüber und schüttete vorsichtig, damit nicht ein einziges wertvolles Staubkörnchen verloren ging, das Heroin aus dem Tütchen. Den dritten Teil, wie versprochen. Aber seine Nerven zitterten. Die Sehnsucht nach einem Wunderschuss war übermächtig. 80prozentiger Afghane … Freddy, wann kommt das jemals wieder?

Während er sich den Schlips umband – korrekt, Windsorknoten, die Oberseite des Knotens einfarbig, vom Knoten abwärts das dezente moderne Streifenmuster –, beobachtete er durch den großen Spiegel im Bad, wie Bettina den Strumpf über ihr linkes Bein aufrollte. Eine Locke ihres schwarzen Haares fiel dabei ins Gesicht, ihre linke Brust lag auf ihrem Knie, die Linie ihres Körpers, von den Schultern über die Hüften, die Oberschenkel entlang, die langen Beine hinunter bis zu den schmalen Fesseln war vollkommen. Das ist Schönheit, dachte er. Das ist Ebenmaß. Er verstand etwas von Linien und Formen. Was unter seinen Händen entstand, waren Häuser und ganze Städteplanungen, waren Entwürfe für Eigenheime, die der Volksmund Traumvillen nannte, oder auch Profanbauten für Behörden – Rathäuser, Turnhallen, ein Stadion – oder gar die Entwicklung eines Projektes für den Ölstaat Abu Dhabi: eine Schule für die ins 20. Jahrhundert katapultierten Wüstensöhne.

Der Spiegel im Badezimmer war ihm ein Vertrauter geworden, ein heimlicher Kuppler, ein stets bereiter Voyeur. Er wusste nicht, ob Bettina das erkannt hatte: Wenn man im Badezimmer stand, konnte man durch diesen Spiegel das halbe Schlafzimmer überblicken. Sicherlich wusste Bettina das nicht, denn fast immer, wenn er im Badezimmer verschwand, schien sie sich völlig zu lösen, ganz hingegeben ihren intimsten Gefühlen. Fasziniert hatte er einmal durch den Kumpan Spiegel beobachtet, wie sie, nackt auf dem Bett liegend, mit den Fingerspitzen ihren Körper liebkoste, sie um die Brüste kreisen, über den flachen Leib gleiten ließ … Den Ausdruck ihres Gesichtes vergaß er nie.

Oder, vor vier Tagen, da hüpfte sie auf Zehenspitzen lautlos und grazil zu dem runden spanischen Sonnenspiegel an der Schmalwand des Zimmers und betrachtete die beiden roten Flecke, die seine Lippen unter ihren Brüsten hinterlassen hatten. Sie hatte die Hände darunter geschoben, hob sie noch höher und neigte den Kopf zur Seite, als seien die beiden roten Flecke etwas ganz Wertvolles, das man intensiv betrachten müsste.

Sie streifte die Strümpfe über. Es sah im Spiegel ungemein aufreizend aus: die blanke Haut, die schwungvolle Linie ihrer geknickten Hüften, der durch das aufgestützte Bein halb angeschnittene Schoß … Barrenberg blähte die Nasenflügel, korrigierte den Sitz seiner Krawatte und atmete schwer, wie belastet von soviel Glück.

Sie gehört mir, dachte er. Ich, Eduard Barrenberg, im einundfünfzigsten Lebensjahr auf der obersten Sprosse der Erfolgsleiter, ein Architekt, der nicht nur baut, über dessen Bauten man auch schreibt, ich kann es mir leisten, eine solche Geliebte zu verwöhnen. Sie ist mein mit allem, was ich sehe – ich kann sie küssen, ich kann sie besitzen, ich kann bis zum stammelnden Glückswahnsinn in ihren Armen liegen. Und sie stellt keine Forderungen, sie erhebt keinen absoluten Besitzanspruch wie eine Ehefrau – sie ist einfach da, ist Körper und Geist, ein Brunnen unerschöpflicher Erquickung, ist warme, zitternde Haut, bebender, keuchender Leib, fließende Erfüllung, tierhafte, anschmiegsame Dankbarkeit.

Fast ein Wunder, empfand er. Wenn es noch Wunder gibt, dann geschehen sie durch die Frauen. Er hatte sich fertig angekleidet, blieb aber am Spiegel stehen und sah Bettina zu, wie sie den anderen Strumpf überstreifte, die Haltung veränderte, das Standbein wechselte, so dass ihre Brüste jetzt frei unter dem vorgeneigten Oberkörper hingen. Ihre Zehen bewegten sich in dem Strumpf, sie glättete das feine Gespinst, feuchtete ihren Finger an und strich über die Rückseite ihres Beines, um das letzte Fältchen wegzustreichen. Dann richtete sie sich auf, blickte zu ihm hin, aber aus einem Winkel, der sie den Spiegel nicht sehen ließ, sie lächelte, warf mit einer Kopfbewegung die schwarze Haarsträhne aus ihrem Gesicht, griff zur Seite und hob den BH vom Sitz eines mit Goldbrokat bezogenen Sessels. Erst als die weißen Spitzen ihre Brüste umschlossen, räusperte er sich.

»Wie weit bist du?«, rief sie. Ihre Stimme war angenehm dunkel. Ein Klang in Moll.

»Fertig!«, antwortete Eduard Barrenberg.

Er verließ das Badezimmer, fasste sie um die Taille und küsste ihre Halsbeuge. »Das Weggehen ist immer das Fürchterlichste. Dieses Wegmüssen! Diese Heimlichtuerei! Ich möchte endlich einmal eine ganze Nacht mit dir –«

»Wer hat gesagt: Lass uns nicht weiter denken, als das Bett breit ist?!« Sie zog ihren Rock über die Hüften, und er zog den Reißverschluss zu, nicht ohne über ihre Schenkel zu streicheln.

»Ich! Das ist die Philosophie der Scheinheiligen, auf die das Licht der Öffentlichkeit fällt. Da scheint’s überall nur Engel zu geben! Betty, manchmal habe ich eine wilde Lust, auszubrechen! Alles anders zu machen, neu anzufangen, mit dem Wissen von heute noch einmal ganz jung zu sein – mit dir die Zukunft zu erobern … Mit dir!«

Er nannte sie Betty, seit jenem Abend, an dem er sie zum ersten Mal geliebt hatte, vor knapp einem Jahr, hier in dieser Wohnung. Sie mochte die Koseform nicht, sie klang ihr so professionell, zu gossenhaft. »Betty, die Geliebte« – sie sah bei diesem Wort nur die Hand, die Geld für versteckte Stunden kassierte. Aber er fand Betty gut und zärtlich, sagte Betty, wenn er sie liebkoste und seufzte Betty, wenn er ermattete. Und so beließ sie es dabei und ertrug den Namen.

Ob sie ihn liebte? Das hatte sie sich selbst oft gefragt – wenn er gerade weggegangen war, oder wenn sie wusste, dass er in wenigen Minuten kommen würde. Sie war seine Geliebte geworden, als ihre Bekanntschaft nicht älter als sieben Stunden war. Eigentlich hatte sie sich von dem großen Architekten Eduard Barrenberg nur ein bisschen Anerkennung erhofft; sie war mit einer Mappe Graphiken zu ihm gekommen, die ein Kunde Barrenbergs bei ihr bestellt hatte und mit denen er sein neues, von Barrenberg gebautes Bürohaus ausschmücken wollte. Sie hatte die Blätter vor Barrenberg ausgebreitet, vor dem Schreibtisch, auf dem Boden des großen Büros, und Barrenberg hatte neben ihr gekniet, mit Geschmack die besten Entwürfe herausgesucht und sie dann zum Essen eingeladen. Natürlich hatte sie bemerkt, dass er sie oft von der Seite musterte, dass er ihr Parfüm bewusst einatmete, dass ihm der Geruch ihres Haares nicht entgangen war und dass sein Blick oft auf dem Ausschnitt ihres Kleides verweilte, das vorne geschlitzt war und von drei schmalen Riegeln in schicklichen Grenzen gehalten wurde. Trotzdem sah man genug, und was man sah, konnte ein Mann wie Barrenberg offenbar nicht ignorieren.

Ein attraktiver Mann – das, was man einen Traummann nennt, war Barrenberg nicht. Er war etwas über mittelgroß, hatte breite Schultern und einen runden Kopf mit graufädigem dunkelblondem Haar, seine grauen Augen blickten meistens mit forschendem Misstrauen auf seine Partner, sein Mund war schmallippig, sein Kinn sogar weichlich: ein Mann, der Maßanzüge brauchte, um zu betonen: Ich habe es geschafft! Ein Erfolgreicher im ledernen Chefsessel, von Telefonen umgeben. Der Boss.

Dieser erste Eindruck verflog aber, wenn er sprach, wenn er mit einer alltäglichen Stimme gleichsam den unsichtbaren Lorbeer um sein Haupt wegredete. Dann erkannte man den Menschen, einen klugen, von unbefriedigten Sehnsüchten erfüllten Menschen, der sich im Leben alles hatte leisten können, nur das eine nicht: zu sich selbst zu finden.

Bettina hatte das schon beim Essen bemerkt. Man hatte über Kunst gesprochen, über Ausstellungen, über Modeströmungen in der Malerei. Barrenberg hatte gesagt:

»Wenn man so will: Ich bin von Kunst umzingelt. Mein Beruf war nie das bloße Entwickeln von Häusern; bei jedem Bau kam es mir auch auf den ästhetischen Ausdruck an. Meine Frau war früher eine bekannte Pianistin – Maria Sakrow, vielleicht haben Sie den Namen mal gehört, als Kind, ja, da müssen Sie noch ein Kind gewesen sein, aber es gibt heute noch Schallplatten von ihr, sie war eine exzellente Chopin-Interpretin. Und so klingt unser Haus! Noch heute sitzt Maria täglich drei Stunden am Flügel – ein Bösendorfer, ein Geschenk der Fabrik übrigens – und übt die großen Sonaten oder spielt am Sonntagabend ein ganzes Konzert, wobei dann der Orchesterpart als Background von einem Tonband kommt. Das ist wunderbar, ganz ohne Frage. Nur – wenn man das zweiundzwanzig Jahre lang hört und weiß: Morgen ist Sonntag. Morgen spielt sie Mozart. Oder: Am Mittwoch muss Schubert kommen. Wenn sie dann statt Schubert aber Brahms spielt, erschrickt man und fragt: Maria, was ist los? Fühlst du dich nicht wohl? – Ja, so weit ist das schon,- man lebt die Tage nach Sonaten und Nocturnes.«

Da hatte Bettina gelacht, es klang so absurd komisch. Aber sie brach ab, als sie Barrenbergs traurige Augen bemerkte. »Verzeihung!«, hatte sie gesagt und ihre Hand auf seinen Handrücken gelegt. Er hatte seine Hand umgedreht und ihre schmalen Finger umklammert.

»Dabei liebe ich Musik über alles. Ja, und da war mein Sohn. Georg Marcel – Marcel nach einem Bruder meiner Frau, Champagnerfabrikant in Reims. Sie müssen wissen: Maria ist eine internationale Mischung. Großvater Russe, Großmutter Estin. Emigranten nach der sowjetischen Revolution. Wohin flüchtete ein reicher Russe 1919? Natürlich nach Paris. Großvater Leonid Pantelejewitsch Sakrow, wohnhaft in einem Palais in Petersburg, verdankte seinen Reichtum dem Besitz von drei Salzbergwerken. Der Zarenhof würzte seine Speisen nur mit Sakrowsalz. Die Salzsteine, an denen die kaiserlichen Pferde und die Kühe der großen Güter leckten, lieferte Großvater. In Paris wurde er Portier, trug eine goldbetresste Uniform und hatte dreiundvierzig Huren und neun Schwule zu bewachen. Ja, das war noch eine Zeit, als die Bordelle wie literarische Salons geführt und zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens erhoben wurden, eingerichtet wie pompöse Hotels! Schließlich wurde Großvater Leonid von einem betrunkenen algerischen Schiffskapitän, den er nicht ins Etablissement lassen wollte, erstochen. Sein Sohn, also der Vater von Maria, heiratete die Erbin einer kleinen Champagnerkellerei. Ein wunderhübsches Mädchen, dessen Mutter Portugiesin war. Er machte aus der Kellerei im Schatten der Großen ein angesehenes Unternehmen, das immerhin viermal die Goldmedaille für den besten Champagner Brut gewann. Er zeugte neun Kinder, was wohl beweisen sollte, wie gesund Champagner ist. Eines davon war meine Frau Maria, ein anderes jener Marcel, der heute die Fabrik führt und nach dem mein Sohn genannt wurde.« Er schwieg, sah Bettina erstaunt an und drückte ihre Hand, die er noch immer umklammerte. »Was haben Sie, Fräulein Ahrendsen? Sie sehen mich an, als hätten Sie nicht verstanden.«

Sie hatte geantwortet: »Im Gegenteil! Ich könnte Ihnen stundenlang zuhören. Das ist eine neue Welt …«

»Jetzt wird es traurig. Ich warne Sie!« Er hatte ihr noch einmal Wein eingeschenkt und legte seine Hand zurück auf die ihre. Es tat ihr gut, sie hatte den Druck vermisst, und als seine Hand wieder auf ihrem Handrücken lag, schloss sich so etwas wie ein Stromkreis, und alles war wieder in Ordnung.

»Georg Marcel wurde einundzwanzig Jahre. Er studierte Jura in Köln, aber viel lieber hockte er auf einer dieser Teufelsmaschinen und fuhr Motocross-Rennen. Je schwieriger und dreckiger, umso schöner! Bis ein Wolkenbruch kam und die Bahn in einen Sumpf verwandelte. Bevor das Rennen abgebrochen werden konnte, wurde Georg aus der Kurve getragen. Wir haben es gesehen. Auf dem Bildschirm. Er wurde mit einer Wolke von Dreck wegkatapultiert, krachte gegen einen Zaun und brach sich das Genick. Der Zaun war schon lange beanstandet worden. Jetzt wurde er abmontiert, aber ich hatte keinen Sohn mehr.«

Von hier ab – so glaubte Bettina ihre Empfindungen später analysieren zu können – war Eduard Barrenberg plötzlich mehr für sie geworden als ein zufälliger Gesprächspartner, mit dem man ein Essen eingenommen hat. Etwas Unerklärliches verband sie mit dem Mann, der sein Glas Wein trank, sich die Lippen mit der Serviette abtupfte und sie mit seinen ruhigen grauen Augen anblickte. Es war kein Mitgefühl, kein Mitleid, kein Mittrauern, kein Trost – es war so etwas wie schicksalhafte Verbundenheit. Sie wusste noch, als sei es gestern geschehen, wie sie sagte: »Es muss furchtbar gewesen sein …« – und wie er geantwortet hatte: »Man muss da hindurch. So grausam es klingt: Wissen Sie, was ich gedacht habe und was mich wahrscheinlich vor dem Absturz in völlige Resignation gerettet hat: Im Krieg haben Millionen Väter ihre Söhne verloren – und das war ebenso sinnlos wie dieser Tod hinterm Steuer. Und sie mussten auch noch schreiben: In stolzer Trauer! – Das brauchte ich nicht. Ich schrieb: Er suchte die Freude und starb durch einen sich öffnenden Himmel. – Das hat man mir sehr übel genommen – der Pfarrer, Maria, die Verwandten, Onkel Marcel aus Reims, liebe Kollegen, Parteifreunde. Ich bin dann auch aus der Partei ausgetreten. Als Christ betrachte ich es auch als mein Recht, mit Gott und dem Himmel zu hadern wie einst Hiob.« Er hatte sich dann zurückgelehnt und geschwiegen. Nach einer Weile hatte er gesagt: »Dann ist da noch Monika, meine Tochter. Sehr hübsch, sehr begabt, sehr klug. Sie wird ihr Abitur machen und dann Kunstgeschichte studieren. Oder Musik. Ein Mädchen, das geradezu unheimlich ihrer Mutter gleicht, obwohl die Mädchen doch meistens dem Vater nachschlagen. Ein Mensch wie eine Sylphide. Ich sage das nicht aus Vaterstolz, ich höre es überall. Eigentlich sollte sie Monique heißen, wegen der französischen Verwandtschaft. Aber ich setzte mich durch. Monika heißt sie. Sie spielt Klavier, Viola da Gamba, Gitarre und – total verrückt für ein Mädchen! – auch Schlagzeug!«

»Welch eine Mischung!«

Er hatte mehrmals genickt. »Poetisch ausgedrückt: Aus den Steinen meines Hauses atmet Musik. Jetzt gibt es Konzerte für Klavier und Gambe. Einmal wäre ich fast selbst in den Strudel geraten. Ich sang beim Rasieren, da stürzt plötzlich Maria ins Bad und ruft: ›Schatz! Was ist denn das? Warum hab’ ich das noch nie bemerkt? Du hast ja einen wunderbar warmen Bariton! Wenn wir nur ein bisschen Stimmschulung machen würden …‹ – Seither habe ich nie mehr gesungen, auch heimlich nicht.«

Ich würde meinen Partner nie Schatz nennen – hatte Bettina gedacht. So ein verbrauchtes Wort.

Nach dem Essen waren sie zu einer Baustelle gefahren, einem Geschäftshaus in der Bockenheimer Landstraße. Und nach einer Stunde hatte Barrenberg gesagt: »Jetzt müssen wir uns den Zementstaub aus der Kehle spülen. Ich wette, Ihr Hals sieht innen wie gepudert aus! Was schlagen Sie vor? Sachsenhausen? Äppelwoi?!«

»Gehen wir zu mir«, hatte sie wie selbstverständlich gesagt. »Ich bin allerdings keine Hausfrau; ich kann nicht kochen und einen saftigen Braten kann ich bloß malen, aber einen starken Kaffee bekomm’ ich noch hin.«

Barrenberg blieb dann bei ihr bis neun Uhr abends. Als er ihr Kleid aufknöpfte, als sie sich liebten, war es, als würden sie sich schon lange kennen. Es war das Natürlichste von der Welt, ein erwartetes Tun, weder von Skrupeln noch von Reue belastet.

»Wir kennen uns schon hundert Jahre!«, sagte sie in seinen Armen. »Kann das sein?« Und sie nannte ihn nicht Schatz, sondern »Voice«. Stimme.

»Warum das?«, fragte er irritiert.

»Ich liebe deine Stimme«, hatte sie an seiner Schulter geflüstert. »Sprich mit mir, erzähle etwas, irgendetwas, ganz gleich, was … nur sprich! Ich kann mich in deine Stimme einwickeln wie in ein Badetuch …«

War das Liebe?

Bettina hatte es aufgegeben, darauf eine klare Antwort zu suchen. Sie blickte Eduard Barrenberg nach, wie er durch das Wohnzimmer ging, sich einen Kognak einschenkte und ihn mit weit zurückgelegtem Kopf kippte. Das tat er immer, wenn er von ihr ging. Ein Kognak zum Abschied, wie ein Ritual.

»Was machst du jetzt?«, rief er ins Schlafzimmer hinüber.

»Ich setze mich vor den Fernseher. Um elf kommt ein toller Krimi.«

»Und dazu ziehst du dich an?«

»Ich kann nicht nackt und allein im Sessel sitzen. Da komme ich mir blöd vor.«

»Du weißt, dass ich nicht bleiben kann!«

»Es hat doch niemand einen Ton gesagt …«

»Aber jetzt kommt eine Überraschung.« Er kam zurück und lehnte sich gegen die Tür. »In drei Tagen fahre ich zu einem Architektenkongress nach Florenz. Allein. Maria will nicht mit. Sie kennt Florenz wie ihren Kosmetikkoffer. Komm mit, Betty! Vier Tage – und vier Nächte. Florenz, die Hochburg der Renaissance. Es könnte wunderbar werden. Die Vorträge sind immer nur am Vormittag. Wir hätten also die halben Tage und die Nächte ganz für uns.« Er griff in seine Rocktasche. »Ich habe die Flugtickets schon gekauft. Weißt du, was da steht? Mr. und Mrs. Barrenberg. Wir werden ein Zimmer haben in einem Schlösschen, das zu einem Hotel umgebaut wurde.«

Sie sah ihn an, etwas wie Erschrecken lag in ihrem Blick, aber er deutete es als ungläubiges Staunen. »In drei Tagen? Das geht unmöglich, Voice …«

»Nichts ist unmöglich, wenn man sich liebt!«

»Du weißt, ich habe meine Kollektion für die Galerie Bieringer abzuliefern.«

»Ich rufe Bieringer morgen früh an und lasse alles um eine Woche verschieben.«

»Das geht nicht! Du weißt genau, dass es für die Ausstellung ist. Und du weißt, wieviel für mich davon abhängt.«