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Für meine Enkelkinder
Mögen sie niemals genötigt sein, Schattenexistenzen zu werden
.

Gewidmet den Frauen und Männern, die viele Entbehrungen auf
sich nahmen, und unter Lebensgefahr den Verfolgten halfen
.

Copyright © 2019 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © porah/iStockphoto
ISBN 978-3-7117-2079-5
eISBN 978-3-7117-5398-6

Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Brigitte Ungar-Klein studierte Geschichte und Germanistik und übte den Lehrberuf aus. Daneben wissenschaftliche Forschung zum Thema Zeitgeschichte und Holocaust. Sie ist Direktorin des Jüdischen Instituts für Erwachsenenbildung in Wien. Coautorin des im Picus Verlag erschienenen Buches »Kündigungsgrund Nichtarier. Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Wiener Gemeindebauten in den Jahren 1938–1939« sowie Herausgeberin von »Jüdische Gemeinden in Europa. Zwischen Kontinuität und Aufbruch«.

BRIGITTE UNGAR-KLEIN

Schattenexistenz

JÜDISCHE U-BOOTE IN WIEN
1938–1945

PICUS VERLAG WIEN

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

I. EINLEITUNG

II. SUCHE NACH DEN SPUREN DER VERBORGENEN

1. Überblick

2. Die Zentralregistrierung der Opfer des Naziterrors

3. Der U-Boot-Verband

4. Die Opferverbände

4.1. Der KZ-Verband

4.2. Relevanz der Fragebögen und Antragsformulare des KZ-Verbands als Quelle

5. Die Tagesrapporte der Gestapo-Staatspolizeileitstelle Wien

6. Entschädigungsanträge und Verfahrensverlauf im Rahmen der Opferfürsorge

7. »Wer ein Leben rettet …« – Die Auszeichnungsverfahren von Yad Vashem

8. Betroffene erzählen – Oral History

9. Weitere Informationsquellen

III. OBJEKTIVIERUNG UND AUSWERTUNG DER RECHERCHEN

1. Definition des relevanten Personenkreises

2. Demografische Daten der U-Boote

3. Unterkünfte und Wohnorte von U-Booten

4. Die Beziehung zwischen U-Booten und Helfern/Helferinnen

5. Demografische Daten der Helfer/Helferinnen

IV. LEBEN IM VERBORGENEN

1. Jüdisches Leben in Wien vor 1938

2. Vom »Anschluss« zum Novemberpogrom – Gründe, in Wien zu bleiben: Gewollt und ungewollt – Die Ersten tauchen unter

3. Die Situation der jüdischen Bevölkerung mit Beginn der Deportationen

4. Die Entscheidung, unterzutauchen

5. Der Alltag in der Illegalität – Quartiersuche, Gefahren und Suche nach Lösungen

6. Von Bezugsmarken bis zum täglichen Stammgericht im Wirtshaus. Von Schwarzarbeit und Schwarzhandel

7. »Und da sprang ich in den Donaukanal!« – Dramatische und tragische Ereignisse

8. Besonders »menschenunwürdige« Unterkünfte und tragische Umstände

9. Krankheit – Tod – Geburt

9.1. Vom angesehenen Arzt zum »jüdischen Krankenbehandler« – Wichtige Helfer für U-Boote

9.2. »Eine Leiche im Keller« – Todesfälle im Verborgenen

9.3. »Sonderfall – Fritz Rottenberg – 5.IX.44 geb. Kind« –Als U-Boot geboren

10. Sie wollte keine überlebende Anne Frank sein – Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen, die als U-Boote überlebt haben

11. »… und verwandelte mich vom Schmetterling zurück in eine Raupe« – Überleben mit einer falschen oder verfälschten Identität

12. »… da ich mit einer Liquidierung der restlichen Juden rechnete.« – Die letzten Monate und Wochen als U-Boot

13. »Um Gottes willen, ich habe es überlebt …« – Neubeginn – Freude und Trauer über das Ende

V. »… HAT SICH SEIT 1942 IN WIEN UNTERSTANDSLOS UMHERGETRIEBEN, UM SICH DER EVAKUIERUNG ZU ENTZIEHEN.« – GESCHEITERTE VERSUCHE, ALS U-BOOT ZU ÜBERLEBEN

VI. »TAPFERE WIDERSETZLICHKEIT« – HILFESTELLUNG FÜR U-BOOTE

1. Allgemeine Voraussetzungen – Motive des Helfens

2. Hilfe durch Organisationen

2.1. Der »Stall« – Die erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken

2.2. Hilfe durch die Schwedische Mission Stockholm – Die Schwedische Israelmission

3. »Du bleibst bei mir!« – Individuelle Hilfestellung

VII. »AUCH U-BOOTE SIND OPFER« – DER UMGANG ÖSTERREICHS MIT DEN OPFERN DER NS-VERFOLGUNG

VIII. ERLEBTES – AUFGESCHRIEBEN UND ERZÄHLT

1. Wilhelm Winterberg

2. Ida Hirschkron

3. Elisabeth Györi-Grohsmann

4. Adolf Springer

5. Rudolf Hönigsfeld

6. Paula Hönigsfeld (Wolfgang), geb. Jellinek

7. Friederike Neustadtl

8. Familie Embacher und Hermine Schwarz

9. Harry Turkof

10. Fritz Bihseliches

11. Robert Schindel Code: 4.4.44

IX. VERZEICHNISSE

1. Archive und Quellen

2. Literaturverzeichnis

3. Abbildungsverzeichnis

VORWORT

Die Beschäftigung mit dem Schicksal der »U-Boote« begann durch einen Zufall: Ich half der Tochter von Freunden bei Schulaufgaben, und als sie eines Abends von ihrem Vater abgeholt wurde, fingen wir an zu plaudern. Wir kamen auf seinen damals bereits verstorbenen Vater zu sprechen, der ursprünglich ein außerordentlich lebenslustiger Mensch gewesen war, ein Musiker, ein Künstler, der mit vielen bekannten Personen der damaligen Künstlerszene Kontakt gehabt, durch die vielen Jahre im Untergrund aber seinen Charakter völlig verändert hatte. »Untergrund?«, fragte ich. »Was meinst Du damit?« Da begann er zu erzählen, dass er seine ersten Lebensjahre im Keller verbringen musste, ebenso wie seine Geschwister. Er sprach davon, wie bewundernswert seine Mutter gewesen sei, die als Nichtjüdin ihren Lebensgefährten – Heirat war zu dieser Zeit ausgeschlossen –, dessen Mutter und schließlich drei Kinder als U-Boote durchgebracht hatte.1 Dass Hausparteien davon gewusst hätten, manche hätten zwar immer wieder Drohungen ausgesprochen, letztendlich konnte die Familie aber im Keller eines Hauses im 5. Wiener Gemeindebezirk überleben.

Das Schicksal der U-Boote sollte mich seit Kenntnis dieser Überlebensgeschichte nicht mehr loslassen, ich begann mit wissenschaftlichen Recherchen. Der Wissensstand zu dieser Thematik war gering, auch wenn das Tagebuch der Anne Frank allgemein bekannt war und viele wussten, dass es Leben, Überleben im Versteck bzw. zumindest Versuche, auf diese Weise dem nationalsozialistischen Terror zu entgehen, gegeben hatte. Die überaus schwierige Quellenlage war sicher mitverantwortlich dafür, dass diese Opfergruppe wenig Beachtung im Rahmen der Forschung zu den Verbrechen der NS-Ära fand. Nun liegt dazu erstmals eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung für in Wien verortete Fälle vor.

Es fiel mir nicht immer leicht, eine objektive Herangehensweise, eine gewisse Distanz, die wissenschaftliches Arbeiten gebietet, zu bewahren, da ich Emotionen nicht völlig ausklammern konnte. Die furchtbarsten Demütigungen und Entwürdigungen haben Menschen Menschen angetan, auf verbale Bedrohungen folgten Taten, die im millionenfachen Mord am europäischen Judentum mündeten. Die Recherchen zu den Schicksalen der gescheiterten Versuche, als U-Boot zu überleben, erzeugten auch nach vielen Jahren der Beschäftigung mit diesem Aspekt der Shoah Trauer und Entsetzen.

Menschen, die im Untergrund lebten, konnten dies nur – bzw. sie erhöhten ihre Überlebenschancen –, wenn sie von anderen dabei unterstützt, aufgenommen, verköstigt und betreut wurden. Trotz massivster Strafandrohung gab es sie, die »Gerechten«. Weshalb haben Menschen geholfen? Welche Motive führten dazu, Jüdinnen und Juden bei sich aufzunehmen?

Die Schriftstellerin Elfriede Gerstl bezeichnete die Hilfe als »tapfere Widersetzlichkeit«, und für Helene Buben, Mitarbeiterin der erzbischöflichen Hilfsstelle für nichtarische Katholiken, war die Unterstützung »so selbstverständlich, dass man darüber gar keine Worte verlieren muss«. Ganz so selbstverständlich war Hilfestellung für Jüdinnen und Juden nicht, es gab nur allzu viele Denunziantinnen und Denunzianten, gerade deshalb war es mir ein wichtiges Anliegen, mit dieser Arbeit aufzuzeigen, dass es auch unter den schwierigsten und gefährlichsten Bedingungen möglich war, Mensch zu bleiben und Hilfesuchenden zur Seite zu stehen. Es hat sicher besonderen Mutes bedurft oder inniger Zuneigung, das Wagnis auf sich zu nehmen, jemanden zu verstecken, zu beherbergen, zu verköstigen, zu schützen. Auch heute können jene »Gerechte unter den Völkern« Vorbild für uns alle sein, Bedrängten zur Seite zu stehen.

Die Recherchen beschäftigten mich über einen langen Zeitraum – viele Menschen waren Wegbegleiter, halfen mir, spornten mich an, unterstützten mich in fachlichen Belangen, wiesen mich auf Quellen hin, stellten Kontakte zu Zeitzeuginnen und Zeitzeugen her. Ohne die zahlreichen Gespräche, die ich mit Betroffenen führen konnte, wäre die Arbeit in dieser Form nicht möglich gewesen. Das unendliche Leid, die Alltagsprobleme, die geschildert wurden, machten die unfassbare Anspannung und psychische Belastung spürbar.

Ich denke mit Dankbarkeit an Menschen, die leider bereits verstorben sind, die mich angeregt haben, zu dieser Thematik zu forschen und die mich lange auf meinem historischen Weg begleitet haben: Univ. Prof. Erika Weinzierl setzte Vertrauen in mich und eröffnete mir erste Forschungsansätze. Prof. Herbert Steiner, langjähriger wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, half mit Ratschlägen und Hinweisen. Für Prof. Herbert Exenberger, Bibliothekar des DÖW, war es Bedürfnis und Freude zugleich, helfen zu können.

Ich danke Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Archiven, Organisationen und Institutionen, die mir bei der Suche nach relevanten Beständen bzw. bei der Abgleichung von Personendaten halfen: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Israelitische Kultusgemeinde Wien – Abteilung für Matriken, Wiener Stadt- und Landesarchiv, Yad Vashem. Dr. Gerhard Ungar, Florian Niederhofer, Mag.a Piroska Kelemen und Irene Kulp halfen in technischen Fragen.

Freundschaftlich beratend und korrigierend motivierte mich Univ. Doz.in Dr.in Brigitte Bailer-Galanda.

Dr. Alexander Potyka möchte ich für das Interesse an meiner Arbeit danken, Dr. Barbara Giller für das kompetente Lektorat, ebenso dem gesamten Team des Picus Verlages.

Zuletzt sei meiner Familie, ganz besonders aber meinem Gatten, gedankt. Seine liebevolle Zuwendung und das große Verständnis waren für mich größte Unterstützung.

1Es handelt sich um Familie Ehlers.

I. EINLEITUNG

»Ich war Sternträgerin vom Inkrafttreten der Verordnung bis zu meinem Untertauchen im Mai 1942. Zu diesem Zeitpunkt wurden alle Personen in meiner damaligen Wohnung (Massenquartier 2., Tandelmarktgasse) durch die SS ausgehoben und in die Sperlschule zwecks Deportation eingeliefert. Nachdem ich damals nicht zu Hause war, entging ich der Aushebung. Von diesem Zeitpunkt an tauchte ich unter und mein Leben als ›U-Boot‹ begann. Diese 3 Jahre waren ein einziges Martyrium. Morgens wusste ich nie, wo und ob ich abends eine Möglichkeit finde, irgendwo zu schlafen. Außerdem hatte ich als U-Boot 3 Jahre keine Lebensmittelmarken, und es war für mich daher sehr schwer mir die notwendigsten Lebensmittel zu beschaffen.«1

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»Am 1.5.1942 kamen die Schergen der Gestapo um uns nach Polen zu verschleppen, was den sicheren Tod für uns bedeutet hätte. Es gelang Herrn Krenberger samt meiner Schwester, die er bereits geheiratet hat und mir zu fliehen. Wir lebten von da an bis zum Einmarsch der roten Armee – also 3 Jahre – als U-Boote. Auf diese Art verloren wir unser ganzes Eigentum und konnten nur das nackte Leben und das was wir am Leib hatten retten. Was es heißt 3 Personen ohne Lebensmittelmarken und ohne ständigem Quartier zu leben lässt sich schwer schildern2

»Untertauchen« – »U-Boot«? Welche Schicksale stehen hinter diesen Begriffen? Wie war es möglich, den NS-Schergen zu entkommen? Über Tage, Wochen, Monate, Jahre? Gab es viele, die es wagten, in einem Versteck unterzutauchen oder die durch eine Verfälschung ihrer Identität für die Behörden nicht mehr existierten? Überlebten sie? Hatten sie Hilfe?

Mit Beginn der Naziherrschaft begannen auch die Versuche der Jüdinnen und Juden, sich den Verfolgungsmaßnahmen zu entziehen, in Deutschland bereits ab 1933, in Österreich ab März 1938. Zunächst nur für kurze Zeit, ein paar Tage oder Wochen: Viele zogen es vor, sofern sie Gelegenheit hatten, bei nichtjüdischen Freunden, Verwandten kurzfristig unterzutauchen, um in relativer Ruhe die nötigen Papiere für die Ausreise zusammenzutragen und die Zeit vor der endgültigen Ausreise unbehelligt leben zu können. Auch während des Novemberpogroms suchten viele Schutz, um den von den Nazis gesteuerten Prügel-, Raub- und Brandexzessen zu entgehen.3 Als mit Februar 1941 die sogenannten »Umsiedlungen«, also die Deportationen in den Osten, einsetzten, stieg die Zahl der Personen, die es wagten, ein Leben in der Illegalität zu versuchen. Ludwig Haydn, Rechtsanwalt in Wien, schrieb zwischen 1942 und 1944 eine Art Tagebuch und vermerkte in einer Eintragung vom 17. Juli 1942: »Tausende Juden haben es vorgezogen, ihre Wohnungen im Stich zu lassen, um unauffindbar zu sein, wenn sie für Polen geholt werden sollten, und vagieren nun herum, ohne festen Unterstand, schlafen heute in einem Keller, morgen in einem Magazin, dann wieder bei mitleidigen Ariern, ihre Habseligkeiten da und dort verteilt – Ahasver im wahrsten Sinn! Ich kenne einen 65-jährigen Advokaten, der seit Wochen sich bei Tag in einem licht- und luftlosen Magazin aufhält, in der Dämmerung herauskriecht und bei Bekannten einen Gnadenteller Gemüse mit einem Stück Brot empfängt.«4

Im Laufe der Jahre schmolz diese Personengruppe in Österreich zu einem kleinen Grüppchen, nur mithilfe anderer war es möglich, der Deportation zu entkommen, etliche scheiterten und wurden mit ihren Helferinnen und Helfern festgenommen. Nach Kriegsende wurden U-Boote bei der »Zentralregistrierstelle für die Opfer des Naziterrors« als eigene Opfergruppe aufgelistet. In einem Artikel der »Arbeiter-Zeitung« über die Opfer des Nationalsozialismus sind die »Wahnsinnszahlen der Grausamkeit« aufgelistet:5

»22.000 Opfer des Naziterrors sind bis zum 30. August im Rathaus verzeichnet worden. Das bedeutet unsagbares Leid für etwa 70.000 Menschen.

7842 Personen waren aus politischen Gründen in Zuchthäusern, Gefängnissen und Konzentrationslagern. 20.881 Jahre waren sie insgesamt in Haft. 190 Partisanen sind bis jetzt gemeldet und 1205 Hingerichtete oder in der Haft Verstorbene mahnen, dass ihr Opfer nicht umsonst gewesen sein darf, 1325 rassisch Verfolgte haben sich als KZ.ler gemeldet. In dieser Zahl sind die aus Wien zur Liquidierung verschleppten 46.500 Juden nicht enthalten. 885 Gesuchte lebten ohne Lebensmittelkarten als ›U-Boote‹ illegal unter der Gestapoherrschaft. Ebenso haben sich 434 Fahnenflüchtige registrieren lassen. Mehr als 10.000 aus politischen und rassischen Gründen Gemaßregelte sind die passiven Opfer.

Täglich kommen noch KZ.ler zurück und melden immer neue Grausamkeiten der Nazischergen, unter ihnen befinden sich in der Haft Erblindete, taub Gewordene und Zwangssterilisierte.

Für die dringendsten Fälle wurden 3832 Ausweiskarten und 3900 Soforthilfescheine ausgegeben.

Bei den im Rathaus Registrierten handelt es sich nur um jene Menschen, die ihren Wohnsitz in Wien oder in der nächsten Umgebung haben.«6

In der ursprünglich von der sowjetischen Besatzungsmacht angeregten, von der Gemeinde Wien genehmigten antifaschistischen Ausstellung »Niemals vergessen!« wurden Zahlen zum »Schicksal der Glaubensjuden in Österreich« veröffentlicht und dabei die Zahl der U-Boote mit 800 Personen beziffert.7 In einem an gleicher Stelle erschienenen Beitrag von Hugo Glaser ist Folgendes zu lesen: »Dann tauchten die ›U-Boote‹ empor, die oft jahrelang verborgen gelebt hatten, untergetaucht, wie ihr Name besagt, zumeist im Menschentrubel der Großstadt, selten, wenn das ein glücklicher Zufall ihnen erlaubte, irgendwo auf dem Lande; sie hatten das gefahrvolle Dasein von Menschen gewählt, die ohne Ausweispapiere, ohne Lebensmittelkarten vertrauensvoll die Zeit abwarteten /…/. Das Schicksal der einzelnen ›U- Boote‹ zu verfolgen, heißt einen spannenden Roman lesen. So war es oft. Ein paar Tage verborgen leben, das geht leicht. Aber Jahr für Jahr – wie viel Nervenkraft gehörte dazu und wie viel Glück. Wie viel Hilfsbereitschaft und wie viel Phantasie, um allen Gefahren zu entgehen, die doch, man kann sagen, in jeder Minute herantraten und alle Opferjahre ihres Erfolges berauben konnten. Meistens war es ein Freund, der einem half, der einen aufnahm oder weiter empfahl. Einer, der den eigenen Kopf riskierte, um den des Freundes zu retten. Es gab wenige, die so waren. In einer Zeit, in der die Bestialität genormt war, war für Freundschaft wenig Platz. Aber sie war doch da, hie und da, selten, aber herrlich, wunderbar, göttlich, menschlich, wie sie in gewöhnlichen Zeiten nie sein kann. Denn es ist leicht, der Freund eines Mannes zu sein, der Stellung und Einkommen und vielleicht auch noch ein Auto hat. Aber ihr waret anders, ihr waret Freunde in der bittersten Not, ihr waret wirkliche Freunde. Seid bedankt dafür, ihr alle /…/ Es ist manches interessante Schicksal unter diesen Überlebenden. Mancher kann berichten, wie er gerade einmal daran war, erkannt und verhaftet zu werden, und wie er doch noch entkam. Da ist einer hier, er ist jetzt hoher Funktionär bei Gericht, der rettete sich ins ›U-Boot‹-Dasein auf seltsame Art: Er und seine Frau gaben sich als Liebespaar aus und fanden ein Absteigquartier, das sie aufnahm. Meldezettel verlangte man von ihnen nicht – seit wann melden sich solche Liebespaare? Von einem kann man erzählen, dass er nach etlichen Irrfahrten im letzten Augenblick, als die Gefahr des KZ schon unvermeidlich schien, sich entschloss, in die eigene Wohnung zurückzukehren, um dort sich versteckt zu halten. Er hatte bald nach dem Einbruch Hitlers zum Schein seine Frau – wie tapfer und aufopferungsvoll war sie immer! – und damit die Wohnung verlassen, und als man ihn später suchte, war jene Wohnung kaum mehr verdächtig. /…/ Das Haus durfte er nicht verlassen, nur alle paar Wochen einmal, beim Fenster durfte er sich nicht zeigen, wenn es läutete, durfte er nicht öffnen; er hatte Glück, sie suchten ihn doch nicht dort. /…/ Es gab ›U-Boote‹, die durften kühn sein und einiges wagen, andere, die mussten auf jede Minute achten, da in jeder eine Gefahr schlummerte. Die Umstände des einzelnen Falles bestimmten das.«8

Obwohl, wie diese Beispiele zeigen, schon sehr bald nach Kriegsende bekannt wurde, dass etliche Personen im Untergrund, im Verborgenen überlebt hatten, dauert die historische Aufarbeitung des Schicksals, des Überlebenskampfes dieser Opfergruppe bis in unsere Tage. Widerstandskämpfer, Widerstandskämpferinnen, Überlebende der Konzentrationslager, Vertriebene, sie alle wurden bei der Aufarbeitung der Geschehnisse bedacht. Nur in wenigen Fällen wurden U-Boot-Schicksale in ihrer Gesamtheit betrachtet. Auch in den übrigen europäischen Ländern konnte man eine ähnliche Vorgangsweise beobachten. Einzelschicksale – es sei an dieser Stelle nur an Anne Frank, stellvertretend für alle anderen erinnert – wurden publik, umfassende Darstellungen zum Überlebenskampf der U-Boote scheiterten: »Systematic research on Jews who found shelter during the Nazi era and on their non-Jewish rescuers – that is, the concealment of Jews, whether done by individuals, families, networks of individuals or church organisations – were secret and virtually undocumented. It was only after the publication of a number of books and autobiographies, after Yad Vashem’s Department of Righteous Gentiles had recognised several thousands rescuers (6.948 individuals from 1962–1986), and after activity by Yad Vashem turned up rescued and rescuers who provided testimony, that research could be untertaken which was based on first-hand testimonies and interviews.9

In einem Bericht zum Forschungsprojekt »Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1945« wird zum Forschungsstand ähnliches angeführt10 und im Vorwort zum Katalog für die Gedenkstätte »Stille Helden« in Berlin – der Fokus liegt hier bei Personen, die durch ihre Hilfeleistung die Rettung der Verfolgten versucht haben – wird als Ursache für die späte Aufarbeitung angeführt: »Die meisten schweigen nach 1945 über ihre Hilfeleistungen, die viele von ihnen als selbstverständlich begreifen. Erst später wird ihr Handeln gewürdigt.«11

Ein Grund für das geringe Wissen über diesen Teil der Verfolgten ist, dass es während der Zeit der Verfolgung als Sicherheitsvorkehrung praktisch keine Aufzeichnungen geben durfte. Je weniger einzelne Personen über die Existenz eines »U-Bootes« wussten, umso besser war es für alle an einem »Fall« Beteiligten. Das Schicksal der U-Boote geriet für die breite Öffentlichkeit in Vergessenheit, erst in den sechziger Jahren – durch die Forschungen von Univ.-Prof. Erika Weinzierl, die den »Zu wenig Gerechten« Österreichs auf die Spur kommen wollte und durch die Auszeichnungsverfahren von Yad Vashem – griff man diese Opfergruppe und diese Form des Überlebens neu auf, und das Interesse an den Schicksalen der U-Boote und ihrer Helferinnen und Helfer wuchs an.12 Eine der ersten, die in Österreich in diesem Zusammenhang ausgezeichnet wurde, war die Schauspielerin Dorothea Neff, die ihre Freundin Lilli Wolff bei sich in der Wohnung über mehrere Jahre versteckt hatte. Die Möglichkeit, Helfer – »Gerechte« – auszeichnen zu lassen, veranlasste zahlreiche Überlebende, ihre Wohltäter diesem Verfahren zu unterziehen. Beglaubigte Erlebnisberichte sowie Bestätigung durch Zeugenaussagen waren und sind Voraussetzung für eine positive Erledigung. Dadurch erhält man einen Überblick über die Hilfsbereitschaft, die in den verschiedenen europäischen Ländern teilweise vorhanden war. Bis zum heutigen Tag werden derartige Verfahren beantragt. Weshalb sich einzelne Personen so lange Zeit gelassen haben, ist mit unterschiedlichen Ressentiments zu erklären. Viele wollten die schreckliche Zeit so rasch wie nur irgend möglich vergessen, hinter sich lassen, einfach aus dem Gedächtnis streichen. Erst nach mehreren Jahrzehnten sind sie selbst, jedoch manchmal auch erst ihre Kinder oder Enkelkinder imstande, die Erlebnisse nachzuerzählen. Mittlerweile überwiegen die posthumen Ehrungen.13

Wer ist U-Boot?

»U-Boote« lebten im Untergrund, in der Illegalität – an einem Wohnort oder an mehreren Wohnorten ohne polizeiliche Anmeldung –, sie verschleierten die wahre Identität, verwendeten falsche Papiere oder manipulierten die eigenen Personaldokumente derart, dass sie wenigstens einen geringen Schutz gewährten. Sie waren nirgends registriert, erhielten keine Bezugsmarken und waren auf die Hilfe anderer angewiesen. Das sind nur einige Kriterien, die U-Boote kennzeichnen. Quellen belegen, dass diese Personengruppe sich schon sehr bald diese besondere Bezeichnung – »U-Boot« – selbst gegeben hat – vor allem im deutschsprachigen Raum.14

Eine Betroffene drückte ihre Empfindungen über ihre Situation als U-Boot und die ihrer Meinung nach verfehlte Bezeichnung folgendermaßen aus: »Die volkstümliche Bezeichnung ›U-Boot‹ ist wahrlich nicht ganz zutreffend, weil das kameradschaftliche Zusammenhalten mit der Mitbesatzung und der Ausblick in den hellen Himmel durch das Periskop und das gelegentliche Auftauchen wegen Einnahme frischen Sauerstoffs fehlten. Ein besserer Vergleich wäre wohl das ›Katakombenleben‹ der ersten Christen zu Zeit des römischen Endlösers Nero.«15

Die langjährige Beschäftigung mit diesem Thema und die Recherchen ergaben eine Fülle an Material und Informationen, Daten unterschiedlichster Herkunft und Qualität. Das vorliegende Buch beschränkt sich bei der Beschreibung und Bewertung der U-Boot-Fälle auf solche, die sich vorwiegend in Wien zugetragen haben. Ebenso werden Personen im Vordergrund stehen, die allein aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden. Lediglich in einigen Fällen, in denen politischer Widerstand und jüdische Herkunft einhergingen, wird darauf eingegangen. Um ein konkretes Beispiel anzuführen: Walter Greif war jüdischer Abstammung, politisch für die KPÖ tätig und kämpfte ab 1937 im Spanischen Bürgerkrieg. Ende 1938 ging er nach Frankreich, wo er unter falschem Namen lebte, bis er schließlich mit gefälschten Papieren, als französischer Zivilarbeiter getarnt, im November 1942 nach Wien zurückkehrte, um die politische Widerstandsarbeit fortzusetzen. Als Helferin stand ihm Theresia Meller zur Seite, die ihn in ihrer Wohnung aufnahm. Im August 1943 wurden jedoch beide verhaftet, Walter Greif nach Auschwitz deportiert und dort nach Aussage von Zeugen ermordet, Theresia Meller wurde nach einem Verfahren vor dem Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 9. Jänner 1945 im Landesgericht Wien hingerichtet.16

Schwierige Quellensuche

Einem systematischen Herangehen stand zunächst die schwierige Quellenlage entgegen. Waren es zu Beginn der Recherchen vor allem die persönliche Kenntnis von Schicksalen und die Kontaktaufnahme zu Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, folgten schließlich Hinweise auf Archivbestände, die eine konkrete Suche nach U-Booten und den Helferinnen und Helfern zuließen.

Zu den für diese Thematik systematisch untersuchten Akten zählen die Tagesberichte der Gestapo-Staatspolizeileitstelle Wien, die neben allgemeinen Stimmungsberichten zur jeweiligen Periode, zu politischen und wirtschaftlichen Vorkommnissen auch mit größter Genauigkeit die Festnahmen und Abtransporte von Juden festhielten – sie geben Zeugnis für die unzähligen Versuche, sich durch Verstecken den Verfolgungsmaßnahmen zu entziehen.17

»Zentralregistrierstelle für die Opfer des Naziterrors« – Nach Kriegsende meldeten sich Verfolgte bei Magistratsstellen, vor allem aber im Rathaus, Personaldaten wurden aufgenommen, auf Karteikarten wurden Verfolgungsgrund, Verhaftung, KZ-Aufenthalt oder eben Leben als U-Boot verzeichnet.18

Opfer erhofften sich von diversen neu gegründeten Verbänden, Vereinen und Organisationen Unterstützung in vielfacher Hinsicht. Im zerbombten Wien eine Wohnung oder wenigstens ein Zimmer zugewiesen zu bekommen, Essenszuwendungen, Kleidung, Zigaretten. Die Hoffnungen, die in diese Verbände gesetzt wurden, blieben zumeist nur ebensolche, trotz deren vielfältiger Bemühungen. Unterlagen des KZ-Verbands und anderer Opferverbände sowie die Kartei des sogenannten U-Boot-Verbands finden sich im DÖW. In diesen sind mehr oder weniger umfangreich Daten der Betroffenen widergespiegelt. In den Formblättern des KZ-Verbands wurden ähnlich wie bei der Zentralregistrierstelle neben den reinen Personalia auch Erlebnisschilderungen in meist geringem Umfang, manchmal auch Fotos beigefügt, während auf den Karteikarten des U-Boot-Verbands, bei dem Opfer und Helferinnen und Helfer aufgenommen werden konnten, ausschließlich personenbezogene Daten verzeichnet sind.19

Mit dem bereits im Juli 1945 beschlossenen Opferfürsorgegesetz sollten vor allem Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer mit diversen Vergünstigungen, Steuererleichterungen oder auch Renten bedacht werden. Rassische Verfolgung wurde zu diesem Zeitpunkt nicht als entschädigungswürdig erachtet, außer Opfer konnten einen aktiven Beitrag für ein freies Österreich nachweisen. Das zweite Opferfürsorgegesetz 1947 brachte eine Erweiterung in diesem Punkt. Der Überlebenskampf als U-Boot wurde jedoch weiterhin nicht als eigener Entschädigungsgrund anerkannt, der Kampf um Anerkennung dauerte bis in die sechziger Jahre, viele der Betroffenen waren zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr am Leben. Die Akten geben aber unmissverständlich Zeugnis, wie unwürdig die Republik Österreich mit dieser Opfergruppe über Jahrzehnte verfahren ist.20 Für die umfassende Dokumentation einzelner Fälle sind sie jedoch wertvolle Ergänzung.21

Im Rahmen der Recherchen wurden mehr als 60 Interviews, Gespräche mit Betroffenen – U-Boote und Helferinnen und Helfer – geführt, einige biografische Aufzeichnungen wurden zur Verfügung gestellt.22 Viele Opfer konnten lange Zeit nicht über ihre Erlebnisse sprechen, ebenso die Helfer und Helferinnen. Manche verweigerten auch nach Jahrzehnten ein Gespräch, besonderes Einfühlungsvermögen ist bei Gesprächen mit Menschen, die unsägliches Leid erfahren mussten, unabdingbar.

Fragestellungen

Die am häufigsten gestellte Frage ist wohl die nach der Anzahl. Wie viele U-Boote gab es? Wie war die Geschlechterverteilung? Brauchte ein U-Boot mehr als eine Helferin, einen Helfer, mehr als eine Unterkunft, um zu überleben? Mussten die U-Boote für die Hilfeleistungen bezahlen? Scheinbar einfache Fragen, die Antworten sind es jedoch nicht, sie müssen differenzierter ausfallen. Ich versuche aber nicht nur Antworten auf diese Fragen zu geben. Mein Ziel ist, ein möglichst abgerundetes Gesamtbild entstehen zu lassen: Wie hat der Alltag für die Betroffenen ausgesehen – trotz individueller Unterschiede gab es natürlich Gemeinsamkeiten in den Rahmenbedingungen –, aus welchen sozialen Schichten stammten sie, welche Berufe wurden ausgeübt usw. Bei diesen Betrachtungen werden beide Seiten – U-Boote und Helferinnen und Helfer – Berücksichtigung finden. Darüber hinaus werden die gesammelten Personendaten nach verschiedenen Aspekten ausgewertet.

Wie wurde man U-Boot? Wie wurde man zur Helferin, zum Helfer? Zeit zum Nachdenken gab es selten, und so erfolgte zumeist eine völlig spontane Entscheidung, wie es zum Beispiel Dorothea Neff erzählte: »Das rechtlose Ausgeliefertsein dieses Menschen [gemeint ist hier ihre Freundin Lilli Wolff, die sich bei der Sammelstelle zum Abtransport in den Osten melden sollte] an eine brutale Macht griff mir /…/ überwältigend ans Herz. Plötzlich hörte ich eine Stimme. ›Du darfst das nicht zulassen‹ /…/ ich griff nach der Hand von Lilly. ›Schluss damit, räum das Zeug weg, das ist alles unsinnig, du gehst heute Abend nicht dorthin zurück, du bleibst bei mir, jetzt und weiterhin.‹«23 Viele hatten jedoch zunächst keinen Plan oder auch keine Möglichkeit, sich an jemanden zu wenden, U-Boote irrten daher mitunter auch den ganzen Tag umher, fuhren mit der Straßenbahn von einer Endstelle zur anderen, wussten nicht, wo sie die nächste Nacht verbringen würden. Von einigen U-Booten wissen wir, dass sie zeitweise in Grüften auf Friedhöfen Unterschlupf suchten. Sie waren Hunger, Kälte und Hitze ausgesetzt. Wie konnte die Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung oder Schuhen in einer Zeit, in der man legal ausschließlich mit von der Behörde ausgestellten Marken Produkte kaufen konnte und in der Mangel an allem vorherrschte, erfolgen? Wie muss man sich die Lebensbedingungen unter den oftmals primitivsten hygienischen Bedingungen vorstellen? Betroffene wohnten in den in Wien so zahlreich existierenden »Bassenahäusern«, wo sich WC und Wasser im Stiegenhaus befanden. Häufig war es aber, auch wenn es Sanitäreinrichtungen in der Wohnung gab, nicht möglich, diese zu benützen: Geräusche in einer leer stehend geglaubten Wohnung hätten mit Sicherheit Verdacht erweckt. Welche Möglichkeiten hatte man im Falle von Krankheit oder Tod? Ängste, Hilflosigkeit, Beengtheit über Monate, Jahre. Welche Auswirkungen hatten die Erlebnisse für die Betroffenen nach Kriegsende? Konnte diese Opfergruppe mit Kriegsende einfach »auftauchen«? Erwin Ringel, der im selben Haus wie Dorothea Neff gewohnt und die kranke Lilli Wolff in den letzten Kriegsmonaten medizinisch betreut hatte, meinte, dass sich im Leben der U-Boote sicherlich größte Dramatik abgespielt habe: »Ich habe später Leute gesehen, die zeitweilig als U-Boot gelebt haben. Diese Leute hatten alle ungeheure Angstpotentiale, sie waren voll Misstrauen und Unsicherheit – und von paranoider Reaktionsbereitschaft. Ich glaube schon, dass das ein unbeschreiblich zurücklassender Eindruck ist, den man sein ganzes Leben lang nicht abschütteln kann.«24

Forschung in Österreich

Abgesehen von den zuvor beschriebenen Erwähnungen bald nach Kriegsende wurde diese Opfergruppe mit ihren ganz speziellen Schicksalen wenig beachtet, kaum dokumentiert oder einer historischen Aufarbeitung zugeführt. Die Forschungen von Erika Weinzierl in den späten sechziger Jahren, mit der Fragestellung: »Wer hat Juden geholfen?« im Fokus, gaben einen wichtigen Anstoß. In diese Zeit fallen aber auch Projekte, die sich mit Widerstandsforschung auseinandersetzten, und neben der Aktendurchsicht in Archiven erhielten auch Aussagen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen eine neue und wesentliche Gewichtung.25 Zum Leben und Überleben von U-Booten in Österreich fasste erstmals C. Gwyn Moser nach Durchsicht wichtiger Archivbestände erste Ergebnisse zusammen.26

Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes betrieb seit Anfang der achtziger Jahre gemeinsam mit dem Institut für Wissenschaft und Kunst ein Projekt, in dem Personen, die entweder am Widerstand teilgenommen hatten oder Verfolgte der verschiedenen Opfergruppen waren, befragt wurden: »Erzählte Geschichte«.27 Die Autorin zeichnete im Band »Jüdische Schicksale« für den Themenkomplex: »Leben im Verborgenen – Schicksal der U-Boote« verantwortlich.28 Mehrere Veröffentlichungen der Autorin mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen erschienen in Sammeldruckwerken. Herbert Exenberger hat in seiner Geschichte der Simmeringer Jüdinnen und Juden – »Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer« – über den Lebensweg einiger U-Boote geschrieben.29 Neben Darstellungen in Biografien, Familiengeschichten, Einzelschicksalen, lokalhistorischen Arbeiten, Erwähnungen in Publikationen zur allgemeinen historischen Aufarbeitung der Zeit 1938–1945 sowie in exemplarischen Darstellungen in Ergebnisberichten der Österreichischen Historikerkommission existieren für Österreich bis zu dieser Arbeit keine umfangreichen zusammenfassenden Publikationen zu dieser Thematik.

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Bei der historischen Behandlung der Periode zwischen 1938 und 1945 stehen im Allgemeinen vorwiegend negative Aspekte im Fokus. Der Nationalsozialismus als totalitäres Regime, das die furchtbarsten, unmenschlichsten Seiten des Daseins hervorkehrte. Die Schrecken und Leiden des Krieges. Die völlige Unterdrückung des Einzelnen, Verfolgung Andersdenkender und politischer Gegner gepaart mit physischer Vernichtung von Millionen von Menschen aufgrund ihrer rassischen Herkunft oder ihrer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen. Diese Thematik bietet jedoch auch die Möglichkeit, positive Aspekte hervorzuheben: Menschen, die im Verborgenen lebten, konnten dies nur bzw. erhöhten ihre Überlebenschancen, wenn sie von anderen dabei unterstützt, aufgenommen, verköstigt und betreut wurden. Es wird zu zeigen sein, inwiefern es sich um Hilfe aufgrund von Widerstand, Zivilcourage oder reiner Humanität handelte. Vorweg kann gesagt werden, dass nur in wenigen Fällen von finanzieller Entschädigung und dem Ausnützen der Notlage die Rede war.

Ein weiterer – sehr persönlicher – Aspekt soll erwähnt werden: Durch die zahlreichen Treffen und Gespräche mit Betroffenen entwickelte sich zu vielen eine Nähe, eine persönliche Beziehung. Auch war es nicht immer einfach bzw. möglich, in einem Interview zu einem für die Arbeit erfolgreichen Ergebnis zu kommen, intime Fragen zum Erlebten zu stellen. Die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner wurden von einer »historischen Quelle« oftmals zu Bekannten, die eben über ihr Leben bei Kaffee und Kuchen erzählten und von sich aus weiter Kontakt halten wollten. Die persönliche Kenntnis des Schicksals bedingt auch in der Folge menschliche Nähe. Edeltrud Posiles, die gemeinsam mit ihrer Schwester Charlotte Becher ihren späteren Gatten und dessen Bruder retten konnte, war so. Über Jahre hinweg hielt sie Kontakt, brachte immer neue Dokumente, Fotos und Briefe, die sie über ihre Geschichte gesammelt hatte.30

Mir ist es daher ein wichtiges Anliegen, neben der Darstellung der Lebensumstände und Schicksale der jüdischen U-Boote aufzuzeigen, wie die nicht hoch genug zu schätzende Leistung der Helferinnen und Helfer war, die unter Einsatz ihres Lebens menschliche Größe gezeigt haben. »Wer ein Leben rettet, der rettet die ganze Welt!«

1Paula Hönigsfeld, 1902–1964. Selbstverfasster Lebenslauf, Privatsammlung Ungar-Klein (in weiterer Folge als PUK gekennzeichnet).

2Ida Hirschkron, vh. Stohlawetz, 1903–1992. Selbstverfasster Lebenslauf in DÖW 20100/4424. Josef Krenberger, geb. 1899, Edith Krenberger, geb. Hirschkron, geb. 1902.

3Novemberpogrom, »Reichskristallnacht«: Nach dem Tod des am 7. November 1938 von Herschel Grynszpan angeschossenen Ernst vom Rath initiierte der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 einen reichsweiten Pogrom als »spontane« Vergeltungsmaßnahme.

4Ludwig Haydn. Meter, immer nur Meter! Das Tagebuch eines Daheimgebliebenen. Scholle Verlag Wien 1946, S. 34.

5Arbeiter-Zeitung Nr. 37, 47. Jg., Dienstag, 18.9.1945, S. 3.

6Erst durch das Projekt »Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaust-Opfer« und die unter www.doew.at abrufbare Datenbank wurden die Opfer zahlenmäßig erfasst. In der Datenbank sind aktuell 76.161 Einträge zu finden (6.4.2017). Neben den österreichischen Shoah-Opfern sind auch Spiegelgrund-Opfer sowie Opfer politischer Verfolgung gelistet. Die Datenbank wird regelmäßig dem jeweiligen Wissensstand angepasst.

7Gemeinde Wien (Hrsg.). Niemals vergessen! Ein Buch der Anklage, Mahnung und Verpflichtung. Verlag für Jugend und Volk Wien 1946. Gestaltet wurde die Ausstellung vom Grafiker Victor Theodor Slama (1890–1973), der sich in der Zwischenkriegszeit als Gestalter von politischen Plakaten einen Namen gemacht hatte. Sie wurde am 14. September 1946 im Künstlerhaus in Wien eröffnet, laut Abschlussbericht wurde sie bis zum Ende am 26. Dezember 1946 von ca. 260.000 Personen besucht.

8Hugo Glaser. Die Überlebenden. In: Niemals vergessen, S. 102ff. Dr. Hugo Glaser überlebte selbst als U-Boot und war Gründer des U-Boot-Verbandes. Bei dem Ehepaar, das sich als Liebespaar ausgab, handelte es sich um Dr. Hedwig und Dr. Karl Wahle. Die Identität des Mannes konnte nach den angeführten Angaben nicht eindeutig geklärt werden, möglicherweise schilderte Hugo Glaser aber hier sein eigenes Überleben.

9Eva Fogelman. The Rescuers. A Socio-psychological Study of Altruistic Behavior during the Nazi Era. Doctoral dissertation, City University of New York 1987. Zitiert in: Leo Baeck Instiute. Year-Book XXXVII. London/Jerusalem/New York 1992, S. 328f.

10Marie-Luise Kreuter. Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1945. Ein Dokumentationsprojekt mit Datenbank am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46,. Metropol Verlag Berlin 1998, S. 445–449.

11Gedenkstätte Stille Helden. Widerstand gegen die Judenverfolgung 1933 bis 1945. Katalog zur Ausstellung. Hrsg.: Gedenkstätte Stille Helden in der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Berlin 2009, S. 2.

12Erika Weinzierl. Zu wenig Gerechte. Österreicher und Judenverfolgung 1938–1945. Verlag Styria Graz/Wien 1969. 1953 verabschiedete das israelische Parlament das »Gesetz zum Andenken an die Märtyrer und Helden«. Es wurde die Errichtung einer Gedenkstätte – Yad Vashem – beschlossen, gleichzeitig sollte den »Edlen aller Völker, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um Juden zu retten«, ein Denkmal gesetzt werden. Bis 2016 wurden 109 Personen aus Österreich ausgezeichnet. Liste der Ausgezeichneten siehe www.yadvashem.org.

13Yad Vashem, Abteilung Gerechte unter den Völkern/The Righteous Among The Nations.

14Mitunter findet sich auch die Langversion des Wortes: »Untersee-boot«.

15Anna Deutsch, geb. 1886, verfasste diese Definition im Rahmen ihres Antrags auf Entschädigung, Kopie in PUK.

16Vgl. Opferdatenbank des DÖW (www.doew.at). Siehe dazu auch Herbert Exenberger. Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer. Die jüdische Gemeinde in Simmering 1848 bis 1945. Mandelbaum Verlag Wien 2009, S. 308f.

17Bestand des DÖW.

18Formblätter bzw. Karteikarten archiviert im Bestand des Wiener Stadt- und Landesarchivs (WStLA).

19Bestand des DÖW.

20Zur Opfergesetzgebung siehe Brigitte Bailer. Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus. Löcker Verlag Wien 1993.

21Aktenbestand des Wiener Stadt- und Landesarchivs sowie des DÖW.

22Einige dieser Interviews wurden publiziert in: Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten. Erzählte Geschichte. Band 3. Hrsg.: DÖW. ÖBV Wien 1992. In weiterer Folge als »Jüdische Schicksale« zitiert.

23Peter Kunze. Dorothea Neff. Mut zum Leben. Orac Verlag Wien 1983, S. 94.

24Interview Erwin Ringel, PUK. Prof. Dr. Erwin Ringel, 1921–1994, österreichischer Arzt, Psychiater, Neurologe, Suizidforscher. Siehe auch Jüdische Schicksale, S. 658.

25Siehe dazu u. a. Wolfgang Neugebauer. Zur Geschichte der Widerstandsforschung. In: DÖW (Hrsg.). Jahrbuch 2013 – 50 Jahre DÖW. Wien 2013, S. 211–232 sowie ders. Der österreichische Widerstand 1938–1945. Überarbeitete und erweiterte Fassung. Edition Steinbauer Wien 2015.

26C. Gwyn Moser. Jewish U-Boote in Austria, 1938–1945. In: Simon Wiesenthal Center Annual Volume 2 1985, S. 53–62.

27Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten. Band 1: Arbeiterbewegung. Hrsg.: DÖW, Institut für Wissenschaft und Kunst. ÖBV, Jugend und Volk, Wien/München 1985. Band 2: Berichte von Männern und Frauen in Widerstand wie Verfolgung – Katholiken, Konservative, Legitimisten. ÖBV Wien 1992. Band 3: Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten. ÖBV Wien 1992. Band 4: Spurensuche. Erzählte Geschichte der Kärntner Slowenen. ÖBV Wien 1990.

28Leben im Verborgenen – Schicksal der »U-Boote«. In: Jüdische Schicksale, S. 604–670.

29Vgl. Exenberger. Makkabäer.

30Edeltrud Posiles, geboren 1916, verstarb kurz nach ihrem 100. Geburtstag. Sie wurde in einem Ehrengrab der Stadt Wien beigesetzt.

II. SUCHE NACH DEN SPUREN DER VERBORGENEN

1. ÜBERBLICK

Die Quellen, die diesem Buch zugrunde liegen, entstammen einem Zeitraum von mehreren Jahrzehnten, die Archivalien sind von unterschiedlicher Provenienz, variieren in Quantität und Qualität und bedürfen daher auch einer entsprechenden Kritik, sie müssen unter dem Gesichtspunkt der Zeit ihres Ursprungs und der damit verbundenen Intentionen analysiert werden.

Die Zeit von 1938 bis 1945 wird durch die Tagesberichte der Gestapo-Staatspolizeileitstelle beleuchtet. Diese Tagesberichte geben vor allem Auskunft über Festnahmen von Personen, die Widerstand gegen das NS-Regime zum jeweiligen Zeitabschnitt geleistet haben, es wird über die Beschlagnahme von diversen Druckwerken berichtet und auch von verschiedenen für den staatspolizeilichen Bereich relevanten Ereignissen.31 Sie halten aber auch mit größter Genauigkeit die Festnahmen und Abtransporte von Juden fest und geben Zeugnis über die unzähligen Versuche von Jüdinnen und Juden, sich durch Verstecken den Verfolgungsmaßnahmen zu entziehen.

Form- und Karteiblätter verschiedener bald nach Kriegsende geschaffener Meldestellen bzw. der einzelnen Opferverbände geben Erkenntnisse über Anzahl und Geschlecht der U-Boote und der Personen, die geholfen haben. Sie enthalten im Wesentlichen lediglich Personaldaten, es sind eben Formblätter, die von den Betroffenen auszufüllen waren. In Einzelfällen finden sich Beilagen, die eidesstattliche Erklärungen und Ähnliches enthalten.

Detaillierte Schilderungen über das Erlebte enthalten die Unterlagen der Opferfürsorge. Mit der Neuordnung des Wiener Magistrats wurden die Bezirksfürsorgeämter für das Wohlfahrtswesen verantwortlich.32 Ansuchen um Anerkennung als Opfer und Anträge auf Entschädigung nach dem Opferfürsorgegesetz mussten an diese gestellt werden. Bereits in den achtziger Jahren konnten erstmals Akten der MA 12 für Forschungsprojekte des DÖW durchgesehen werden, ich sammelte im Zuge dieser Untersuchungen zusätzliche Informationen zu einigen U-Booten. Im Rahmen der »Namentlichen Erfassung der österreichischen Holocaust-Opfer« erfolgte ab 1992 eine systematische Bearbeitung. Damit war es nun möglich, mehr über die Lebensumstände von U-Booten zu erfahren, gleichzeitig wurde sichtbar, wie beschämend der Umgang Nachkriegsösterreichs mit dieser Opfergruppe war.33

Eine ganz andere Intention verfolgte und verfolgt nach wie vor Yad Vashem (»Ein Denkmal und ein Name«). 1953 verabschiedete das israelische Parlament ein »Gesetz zum Andenken an die Märtyrer und Helden«, und es wurde die Errichtung einer Gedenkstätte in Jerusalem für die Opfer der Shoah beschlossen. Gleichzeitig sollten Personen, die Jüdinnen und Juden unter Einsatz ihres eigenen Lebens Hilfe gewährt hatten, eine Ehrung und Auszeichnung erfahren. Dossiers wurden für die Auszeichnungsverfahren gesammelt, diese werden bis heute bearbeitet. Da für derartige Verfahren umfangreiche notariell beglaubigte Aussagen und die Beibringung von Zeugen gefordert werden, bedeuten diese Unterlagen für Historikerinnen und Historiker wertvolle Quellen.

Besondere Beachtung in der Bewertung als Quelle müssen die Gespräche mit Betroffenen – U-Booten, Helferinnen und Helfern – finden. »Oral History« wurde durch die technische Entwicklung zu einer anerkannten, aus der Zeitgeschichtsforschung nicht mehr wegzudenkenden Methode.

2. DIE ZENTRALREGISTRIERUNG DER OPFER DES NAZITERRORS

In einem Schreiben vom 5. Juni 1945 ist zu lesen, dass bereits am 15. April 1945 die Zentralregistrierung der Opfer des Naziterrors in Wien ins Leben gerufen wurde:

»Dies in der Voraussicht, dass die gesamten Opfer des Naziterrors in Österreich und im besonderen Wiens erfasst werden müssen«34. Weiter heißt es: »« Es wird weiter der »Feuereifer« der eingesetzten Mitarbeiter beschrieben und dass es für die erfolgreiche Tätigkeit unerlässlich wäre, die Mitarbeiter auch anzustellen: ».