Daniela S. Sedlaczek

Acqua Di Fedo

Carla Lamponis 1. Fall

Inhalt

1 – Hunger

2 – Deutsche und italienische Tage

3 – Der Anruf

4 – Der Stein kommt ins Rollen

5 – Pläne und Kekse

6 – Caffè und Hörnchen

7 – Benvenuti a Sardegna

8 – Die Reise beginnt

9 – Monte d‘Accoddi

10 – Gute Nacht, Freunde

11 – Glück im Unglück, oder?

12 – Beulen und was Frau sonst nicht braucht

13 – Gerührt, nicht geschüttelt

14 –Sind Träume Schäume?

15 – Trau, schau wem!

16 – Entwischt!

17 – Pack schlägt sich…

18 – Pack verträgt sich

19 – Polyphonie im Ku-Klux-Klan

20 – Dampfende Flüsse

21 – Atemlos (durch die Nacht)

22 – Alles ist Energie!

23 – Denke nicht an rosa Elefanten!

24 – Indiana Jones

25 – Füüüp

26 – Das Hotel am Monte d‘Accoddi

27 – Acqua di Fedo

28 – Der Freiheit ganz nah

29 – Der Freiheit entgegen

30 – Singen hilft immer!

31 – Asche zu Asche

32 – Das Leben geht weiter

33 – Venedigs dunkle Wasser

Rezepte

Malloreddus à la Signora Baronu

Malloreddus tipico Sarda

Zuppa Gallurese

Coniglio marinato con patate

Sebadas – Sardische Teigtaschen

Pardulas – Ostergebäck

Carciofo con agnello- Artischocken mit Lamm

Sa Cordula - Grillspieß mit Lamm- oder Ziegeninnereien

Bistecca di melanzane - gegrillte Auberginen

Pasta alla buttariga (bottargo) - Spaghetti mit Bottarga

1 – Hunger

„Pronto?“

„Signora Lamponi? Carla Lamponi?“

„Ja. Am Apparat. Wer ist denn da?“

„Hier ist Luigi Baldini.“

Pause. Carla runzelte die Stirn. Sollte ihr dieser Name etwas sagen? Ihr Gegenüber am Telefon schien ihr Zögern zu bemerken.

„Wir kennen uns. Ich bin ein Kollege Ihres Bruders. Wir haben schon einmal telefoniert, vor längerer Zeit. Sie riefen hier in der Redaktion an, um mit Federico zu sprechen.“

Die Furchen auf Carlas Stirn vertieften sich.

„Ach ja?“

Sie hasste es, beim Kochen gestört zu werden. Gerade hatte sie sich eine Pizza in den Ofen schieben wollen. Zugegeben, Kochen konnte man das eher nicht nennen. Aber man wurde satt davon… Seit dem kargen Frühstück - ein Caffè, ein Hörnchen – am Bahnhof Santa Lucia heute Morgen hatte sie nichts mehr gegessen. Jetzt war neun Uhr abends. Sie hatte Hunger, richtigen Hunger. Und immer, wenn sie Hunger hatte, dann war sie nicht mehr sie selbst.

„Und warum rufen Sie mich an? Um diese Uhrzeit!“

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe. Ich würde gerne einige Minuten mit Ihnen reden, wenn es sich einrichten lässt. Es geht um Ihren Bruder. Federico.“

Er machte eine kurze Pause, schien eine Antwort zu erwarten.

„Aha.“

Zu weiteren Worten konnte sie sich nicht durchringen. Sie hatte einen furchtbaren Tag mit dieser Nervensäge Signora di Leoni verbracht, einer Dame mit deutlich mehr Geld als Verstand. Leider traf dies auch auf ihren Geschmack zu. Baronessa di Leoni – und auf diesen Titel legte sie besonderen Wert – war der Meinung, dass der Besitz von Geld mit dem Besitz von gutem Geschmack gleichzusetzen war. Aber Carla würde ihr deutlich beibringen, dass sie als Innenarchitektin mehr von Stil verstand als…

„Signora…? Sind Sie noch da?“

Luigi Baldini lauschte in den Hörer.

„Es ist wirklich wichtig. Ich suche Ihren Bruder.“

Sie hatte sich in ihren Gedanken verloren. Wieder einmal.

„Ja, ich bin noch da. Aber Sie rufen ungünstig an. Ich bin beschäftigt. Melden Sie sich bitte morgen Vormittag nochmals…“

Zu dieser Zeit musste sie sich aufs Neue mit der Baronessa auseinandersetzen und würde unterwegs sein. Da konnte dieser Signore… hm, Baldini, anrufen, bis er schwarz wurde. Sie grinste. Und verspeiste in Gedanken bereits genüsslich ihre Pizza.

„…nichts mehr gehört.“

Er hatte weitergesprochen. Oh, was hatte er gemeint?

„…und er ist einfach abgetaucht.“

„Was? Die Verbindung ist schlecht. Was haben Sie gesagt? Sie rufen morgen wieder an? Bis dann!“

Sie wollte den Hörer auf die Gabel legen. Sie konnte die Pizza selbst im gefrorenen Zustand riechen… Oh Madonna, ihr Magen knurrte wie ein Kettenhund. Wenn sie nicht bald was zwischen die Zähne bekam…

„Bitte legen Sie nicht auf… Ich habe Angst, dass Federico etwas zugestoßen sein könnte!“

Himmel, jetzt war es passiert. Keine Pizza der Welt rechtfertigte es nun noch, aufzulegen, den Anrufer zu ignorieren und auf morgen zu vertrösten. Oder doch?

„Wie meinen Sie das? Was ist mit Fedo?“

Carla sah in Gedanken ihren Bruder in Mailand vor sich, wie er mit geistesabwesender Miene, auf seinem Bleistift kauend, rasend schnell Stichworte für einen seiner Zeitungsartikel in den kleinen Notizblock kritzelte. Wenn er arbeitete, dann ging er ganz in seiner Schreiberei auf, sah und hörte nichts Anderes mehr. Carla hatte das nie verstanden. Bereits in der Schule hatte sie Aufsätzen, Erörterungen und Essays nicht das Geringste abgewinnen können. Egal, wie sehr sie sich angestrengt und wie viel Mühe sie sich gegeben hatte: Sie war über schlechte Mittelfeld-Noten nie hinaus gekommen. Sie war sich immer sicher gewesen, dass die Lehrerin sie nicht objektiv beurteilt hatte.

Weshalb sie mit ihrem die Kriminalliteratur liebenden Bruder die Idee geboren hatte, ihn eine Hausarbeit für Carla schreiben zu lassen. Anhand der Note wollten sie die mangelnde Objektivität der Lehrerin ein für alle Mal beweisen. Jeden Abend waren die Geschwister im Dunkeln auf ihren Betten gesessen, hatten mit einer Taschenlampe in ihre Gesichter geleuchtet und sich ausgemalt, wie sie die Lehrerin überführten. Der Direktor würde sie außerordentlich loben. Und selbstredend würde auch die örtliche Polizei auf die kleinen Detektive aufmerksam werden und ihnen fortan kniffelige Fälle zur Lösung übertragen, bis sie in ganz Italien berühmt gewesen wären. Federico und seine ältere Schwester hatten gerne Detektiv gespielt. Stets witterten sie ein großes Geheimnis. Ob in der Nachbarschaft ein Apfelkuchen gestohlen worden war oder sich fremde Gestalten in der Straße herumtrieben, sofort nahmen sie die Fährte auf…

„Mein Gott, wie lange ist das her?“

Carla dachte laut.

„Ich habe seit fünf Wochen keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt“, sagte Luigi.

„Cosa? Was?“

Sie verstand nicht. Ihre Kindheit war doch länger als fünf Wochen her? Mindestens 30 Jahre lagen zwischen diesen Erlebnissen und dem heutigen Tag. Die Überführung der bösartigen Lehrerin hatte kurz darauf in einem Eklat geendet, bei dem sie nur knapp einem Schulverweis entgangen waren. Als hätten sie an der Übersiedlung von Deutschland nach Italien in Kinderjahren nicht sowieso schon genug zu knabbern gehabt. In ihrer Erinnerung verschwamm das Gesicht der Lehrerin mit dem der Baronessa. War die di Leoni die Reinkarnation ihrer mittlerweile bestimmt verstorbenen Lehrerin? Nein, das passte mit dem Alter nicht, doch konnte sie nicht ihre Schwester sein?

Sie schüttelte den Kopf. Da ging alles durcheinander. Das war immer so, wenn sie Hunger hatte. Sie bekam dann nichts mehr auf die Reihe. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie den Telefonhörer noch in der Hand hielt, auch, dass da jemand auf der anderen Seite der Leitung etwas von ihr wollte. Doch sie hörte ausschließlich ihre eigenen Gedanken kreisen. Ihr Magen knurrte und wollte nur eines: Dass man ihm viel zu arbeiten gab. Das hatte höchste Priorität, alles Andere konnte, musste warten. Sie nahm noch einmal ihre ganze Konzentration zusammen.

„Hören Sie. Im Moment geht es wirklich nicht. Wenn es wichtig, wenn es notwendig ist, dann melden Sie sich morgen Vormittag bei mir. Ich verlasse gegen zehn Uhr das Haus, ab neun bin ich hier erreichbar.“

Carla ließ ihrem Gesprächspartner keine Chance zu antworten. Wenn es ihm wirklich wichtig war, konnte er am nächsten Tag wieder anrufen. Das musste genügen.

2 – Deutsche und italienische Tage

Ihr Wecker klingelte um halb acht. Jeder vernünftige Italiener hätte sich um diese Uhrzeit noch einmal im Bett umgedreht. Doch Carla konnte ihr deutsches Erbe genauso wenig abstreiten wie ihre italienische Ader, die hin und wieder recht impulsiv zum Ausdruck kam. Sie seufzte und stellte den Wecker ab. Rollte zurück auf den Rücken und starrte an die Decke.

Das Telefonat von gestern Abend kam ihr wieder in den Sinn. Sie hatte nach dem Auflegen des Hörers ihre Pizza in den Ofen gesteckt, ihr verträumt beim Backen zugesehen, die Zeit mit mindestens zwei Gläsern Rotwein überbrückt und die Teigscheibe mit Heißhunger verschlungen. Der Alkohol tat sofort seine Wirkung. Ihr Kopf schwirrte. Vor ihrem inneren Auge sah sie abwechselnd ihre Lehrerin, ihren Bruder, Berge von Pizzen und Gelati, die Wohnung in Rom, in der sie als Kind mit den Eltern gewohnt hatten.

Dann war ihr wieder die Baronessa in den Sinn gekommen, die rosa Plüschsessel mit blauen Samtvorhängen und einem gelben Plastiktisch kombinieren wollte. Und das in einem venezianischen Palazzo aus dem 17. Jahrhundert. Schauderhaft!

Schließlich war ihr gröbster Hunger gestillt gewesen und sie hatte sich einen Caffè zum Abschluss gegönnt. Heiß, stark und süß.

„Dein Caffè ist wie Du, mein Stern“, hörte sie Gianpaolo sagen.

Sie lächelte beim Gedanken an ihn. Auch wenn er ihr das Herz gebrochen hatte – es war eine großartige Zeit gewesen. Und vermutlich würde kein Mann mehr das in ihr auslösen, was Gianpaolo in ihr zum Klingen gebracht hatte. Zu schade, dass sie erst später herausgefunden hatte, dass Gianpaolo eigentlich nur Paolo hieß und auch sonst nicht viel von dem stimmte, was er ihr erzählt hatte. Ganz zu schweigen von dem, was er ihr NICHT erzählt hatte! Wie zum Beispiel von seiner Frau und den drei kleinen Bambini, die jeden Abend auf ihren Vater warteten, während er angeblich auf Dienstreise war oder wieder einmal Überstunden im Büro vorschob.

Trotzdem: Sie hatte ihn mit jeder Faser ihres Herzens geliebt.

Sie seufzte. Männer waren offensichtlich nicht ihre Welt und sie war fürs Erste geheilt. Sie wollte von Kerlen nichts mehr wissen. Zumindest nicht für die nächsten 30 Jahre.

Ihre Gedanken kehrten zurück zu diesem merkwürdigen Telefonat von gestern Abend. Sie war nach dem Essen wie ein Stein ins Bett gefallen, hatte geschlafen wie eine Tote. Ob sie geträumt hatte, wusste sie nicht. Sie hatte aber kaum über das nachgedacht, was der Anrufer gesagt hatte.

Er suchte ihren Bruder. Wenn sie recht verstanden hatte, so hatte sich Federico seit einiger Zeit nicht mehr in der Redaktion blicken lassen. Ob er Urlaub machte? Vielleicht waren die bei der Zeitung auf eine große Sache gestoßen und hatten ihn darauf angesetzt? Er war schließlich der beste Journalist der Zeitung, das zumindest hatte er immer behauptet. Sie nahm ihm das ab. Er hatte stets sehr kompetent auf sie gewirkt. Dabei war er seriös geblieben, selbst wenn einige reißerische Konkurrenzblätter ihm wieder und wieder Avancen gemacht hatten, um ihn abzuwerben. Er aber stand unbeirrbar zu seiner Abendzeitung, egal, wie viel die Konkurrenz ihm geboten hatte. Carla fand das beeindruckend. So wie sie die deutschen Macken ihrer Mutter geerbt hatte, so hatte auch ihr Bruder sein teutonisches Päckchen zu tragen. Treue und Standhaftigkeit gehörten da vermutlich dazu. Ihr Vater, ein Vollblut-Italiener, hatte das nie verstanden. Noch bis kurz vor seinen Tod hatte er den Sohn davon überzeugen wollen, dass das Leben leichter war, wenn man ein gewisses Laissez-Faire einziehen ließ und das Dolce Farniente im Alltag pflegte. Hin und wieder auch mal Fünfe gerade sein lassen konnte und Familie und Essen wichtiger und höher einschätzte denn beruflichen Erfolg oder Termintreue.

„Ach Papa, Du fehlst mir“, dachte sie zärtlich.

Bestimmt hatte es ihr Vater auch nicht leicht gehabt in seiner Ehe. Schließlich waren hier Welten aufeinandergeprallt. Auf der einen Seite das Dolce Vita, das ein jähes Ende in der deutschen Fremde gefunden hatte, als der Vater in den Sechzigern nach Süddeutschland zum Arbeiten gezogen war. Und auf der anderen Seite die deutsche Ehefrau, die Gründlichkeit und Zuverlässigkeit verlangte und ihr Leben lang versucht hatte, wenigstens ein bisschen davon ihrem Manne beizubringen. Carla erinnerte sich gut an diese explosive Mischung zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Und die ohne einander nicht mehr leben konnten. So sehr nicht mehr ohne einander leben konnten, dass ihre Mutter nur wenige Tage nach dem Tod ihres geliebten Ehemannes selbst die Augen für immer geschlossen hatte.

Carla schniefte. So oft sie an ihre Eltern dachte, überkam sie Traurigkeit. Sie vermisste beide, war sie doch von ihrem Naturell her eine Mischung aus beiden Persönlichkeiten. Eine so ausgewogene Melange, dass die Deutschen sie nur als Italienerin sahen und die Italiener sie hier in Bella Italia auch nur als die Deutsche mit den entsprechenden Tugenden wertschätzten. In jeder dieser Nationen war sie eine Fremde, die meist anders reagierte als man von ihr erwartete. Sie selbst sah das differenzierter. Sie war davon überzeugt, dass sie aus beiden Volksseelen das Beste abbekommen hatte.

Und zudem war sie nach einigen Beziehungsfehlversuchen mit Männern zu der Meinung gekommen, dass es eine solche Liebe, wie es sie zwischen ihren Eltern gegeben hatte, heutzutage nicht mehr gab. Zumindest nicht für sie.

Carla schluchzte noch mehr. Sie vermisste Gianpaolo – Paolo. Er war so zärtlich gewesen, hatte sie zum Lachen gebracht, hatte ihr die Sterne vom Himmel holen wollen. Sie wünschte, sie hätte an jenem Tag, als Paolos Ehefrau vor ihrer Tür gestanden und eine Erklärung verlangt hatte, einfach nicht geöffnet. Sie hätte heute noch mit ihm glücklich sein können.

Tief in ihr sagte die warnende deutsche innere Stimme, dass das ein Trugschluss war. Doch ihre italienische Seele träumte sich weiterhin romantisch in seine Arme und fühlte, dass alles hätte gut werden können. Carla Lamponi wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, warf in Gedanken ihren Eltern einen Handkuss zu und schleppte sich in die Küche. Heute hatte sie anscheinend einen deutschen Tag. Ihr war nach einem deftigen Frühstück.

Sie teilte ihre Tage gerne in deutsche und italienische ein. Je nach dem was sie gerade fühlte, konnte sie dies entweder dem italienischen oder deutschen Temperament zuordnen. Und Gelüste nach gekochten Eiern, Orangensaft, Vollkorn-Butterbrot, dick mit Schinken belegt und Nutella mit dem Löffel direkt aus dem Glas gegessen, entsprachen eindeutig einer deutschen Vorstellung von Frühstück. Auch wenn das wiederum bedeutete, dass sie den Start der Diät, die sie unbedingt hatte einlegen wollen, wieder um einen Tag nach hinten verschieben musste. Aber so konnte sie heute wenigstens ein richtiges Mittagessen zu sich nehmen. Eine Mittagspause, in der sie Abstand von der Baronessa gewann, war eine prima Idee. Und außerdem hielt Essen Leib und Seele zusammen, davon war sie überzeugt. Was sich leider in ihrer Kleidergröße niederschlug. Kein Wunder, dass sich kein Mann für sie interessierte… Nicht mal ein Italienischer, dachte sie resigniert. Und bestrich mit deutscher Gründlichkeit ihr Brot mit einer doppelten Portion guter Butter.

Nach der zweiten Tasse deutschen Kaffees fühlte sie sich annähernd wie ein Mensch und als ihr Magen zu arbeiten anfing, begann auch ihr Verstand wieder zu funktionieren. Ihr Vater hatte sich stets darüber lustig gemacht, dass bei ihr Magen- und Hirnaktivität so stark zusammenhingen. Carla selbst fand es eher befremdlich, dass es bei anderen Menschen anders war und empfand sich als etwas Besonderes. Dass dies auch Nachteile haben konnte, kam ihr gerade in den Sinn, als ihre Erinnerung preisgab, dass Federicos Kollege sich ein bisschen ratlos und sogar beängstigt angehört hatte. Besonders als er sagte, dass ihrem Bruder vielleicht was zugestoßen sein konnte.

Verdammt, warum hatte er das denn nicht gleich gesagt, fragte sich ihre italienische Hälfte. Ihre deutsche, gerechtigkeitsliebende Hälfte raunte ihr zu, dass dieser Luigi durchaus deutlich artikuliert hatte, dass er sich sorgte.

Sie nahm sich gedankenverloren noch etwas mehr von der Nussnougatcreme. Hm, das schmeckte so gut. Wer hatte eigentlich diese blöde Idee mit der Diät gehabt?

Als sie das Telefonat noch einmal Revue passieren ließ, war sie sich nicht im Klaren darüber, was das alles bedeutete. Hatte Federico seinen Job hingeschmissen? Selten, dass sein Temperament so mit ihm durchging, doch nicht ausgeschlossen. Er konnte ohne seine Zeitung nicht leben und sie war sich sicher, dass er bis zur Rente bei diesem Blatt bleiben würde – wenn nicht sogar länger. Das war aber auch alles, bei was sie sich sicher war.

Wann hatte sie das letzte Mal mit ihrem Bruder Kontakt gehabt? Das war mehr als drei Monate her. Zu Weihnachten hatte er ihr die obligatorische Weihnachtskarte geschrieben – typisch deutsch mit weißer Schneelandschaft und leuchtendem Weihnachtsbaum.

Sie hatte dieses Jahr keine Karte versendet, ihr Herz war noch weidwund und blutete wegen Gianpaolo. Sie hatte nichts als Leere in sich gespürt und weihnachtliche Stimmung war bei ihr nicht aufgekommen. Und außer zu solchen Anlässen wie Weihnachten, Namenstag oder Geburtstag hatten sie und ihr Bruder Federico kaum Kontakt.

Sie hatten anscheinend beide nicht das Bedürfnis nach geschwisterlicher Nähe, seit dem Auszug aus dem elterlichen Haushalt schon nicht mehr. Carla hatte sich nie Gedanken darüber gemacht. Es fiel ihr jetzt zum ersten Mal bewusst auf, dass sie kaum etwas über ihren Bruder wusste, das nicht mit ihrer gemeinsamen Kindheit zusammenhing. Was kannte sie von seinem derzeitigen Leben, seinem Umfeld, seinen Zielen, seinen Träumen? Eigentlich nichts. Sie fühlte grundsätzlich nicht die Notwendigkeit, mehr darüber wissen zu wollen. Sie empfand das auch nicht als weiter schlimm. Empörend fand ihre italienische Familienseele allerdings, dass ihr Bruder umgekehrt anscheinend ebenso wenig Interesse an ihrem Leben zeigte wie sie an dem Seinigen. Die Familie war schließlich das Wichtigste für einen Italiener!

„Halbitaliener!“, sagte ihre deutsche Stimme.

Sie hasste deutsche Tage!

3 – Der Anruf

Je länger Carla über diesen merkwürdigen Anruf nachdachte, desto ungeduldiger wartete sie darauf, dass das Telefon erneut klingelte. Nach ihrem wunderbaren, deutschen und wieder viel zu reichlichen Frühstück meldete sich ihre Intuition. Sie spürte, dass es wichtig war, sich um den Anruf – oder das, was man ihr damit sagen wollte – zu kümmern.

Auf ihre innere Stimme hatte sich Carla bisher immer verlassen können. Sie wusste gar nicht, wann sie zum ersten Mal festgestellt hatte, dass ihr erster Gedanke oftmals der Beste war. Vorausgesetzt, ihr Magen wies eine gewisse Grundfüllung auf. Oft hatte sie als Kind nach ihrem Bauchgefühl gehandelt und diese instinktive Vorgehensweise hatte sie auch als Erwachsene nicht abgelegt. Meist war sie gut damit gefahren. Wenn man davon absah, dass ihre Intuition immer dann durch Abwesenheit glänzte, wenn es gerade um ihre eigenen Partner ging. Bei ihren Freundinnen war sie als allwissende Beziehungsberaterin verschrien. Sie konnte mit schlafwandlerischer Sicherheit nach dem ersten Kennenlernen sagen, um was für einen Typ Mann es sich handelte. Egal, ob Muttersöhnchen, Macho, Kuscheltyp, Abzocker oder AufEwigTreuer – sie erkannte sie alle. Nur eben leider nicht, wenn es um die ging, mit denen sie fürderhin ihr Leben teilen wollte. Dann konnte sie davon ausgehen, dass sie genau den Falschen nahm.

Carla verstand das nicht – wenn ihre Intuition bei Anderen funktionierte, dann musste ihr Bauch doch auch bei ihr richtig liegen. Immerhin war sie die Chefin dieses gesamten Kunstwerks von Körper, der freundlicherweise wieder beschlossen hatte, alle morgendlichen Kalorien, die sie ihm zuhauf zur Verfügung gestellt hatte, rechts und links der Hüftknochen zu platzieren. Sie konnte regelrecht hören, wie ganze Armeen von winzigen Fettzellen rund um ihren Bauch ihre Zelldeckelchen aufschraubten und laut nach Füllung schrien. Carla schaute auf ihre Hüften und sah sie anschwellen.

„Madonna, ich verfette im Sitzen! Ab Morgen mache ich mehr Sport und esse weniger!“

Sie versuchte, überzeugend zu klingen, denn das mit den Diäten war keine ihrer Stärken. Es war ja nicht so, dass sie formlos als wandelnder Gnocchi durchs Leben wanderte. Sie hatte eine annehmbare Figur. Allerdings wusste sie auch, wie italienische Mamas oftmals mit Fünfzig aussahen… Nein danke, das wollte sie dann doch nicht haben. Also brauchte es einfach wieder ein paar Tage FDH, dann würde das schon wieder werden!

An was hatte sie gedacht, bevor ihre Gedanken Richtung Hüftgold abgewandert waren? Ach ja, das Telefonat und ihre Intuition – sie konnte regelrecht riechen, wie das Unheil näher kam. Sie dachte an ihren Bruder und ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken. Carla Lamponi war gewiss kein Angsthase. Aber sie fragte sich doch beklommen, was der zu erwartende Anruf an Informationen bringen würde.

Ihre innere – deutsche! - Stimme ließ sie im Minutentakt auf ihre Armbanduhr schauen. Es war kurz vor neun, langsam konnte dieser Herr Baldini anrufen. Unpünktlichkeit war eine Unsitte der Italiener, über die sie nicht mehr so einfach hinwegsehen konnte. Ihrer Mutter hatte diese lockere italienische Interpretation von fixen Terminen immer sehr zu schaffen gemacht. Mehr als einmal waren deshalb zu Hause die Fetzen geflogen. Und Carla bemerkte, dass, je älter sie wurde, ihre eigene Toleranzgrenze tiefer sank.

„Wenn ich sechzig bin, kann ich in diesem verrückten Land überhaupt nicht mehr leben. Dann muss ich zurück nach Deutschland“, dachte sie. Im Grunde wusste sie allerdings, dass das Land ihrer Mutter nicht mehr das Ihre war. Sie hatte noch einiges an Verwandtschaft dort in Germania. Hin und wieder lud sie jemand ein, doch sie hatte bisher dankend abgelehnt. Sie hatte kein Interesse an der alten Heimat, an der dortigen Familie. Die Meisten kannte sie eh nicht, kamen aus dem weit verzweigten Clan der Mutter. Die deutschen Großeltern lebten schon lange nicht mehr. An diese hatte Carla keine liebevollen Erinnerungen, da sie von Anfang an gegen die Verbindung der Tochter mit so einem Itaker gewesen waren, wie man damals die italienischen Gastarbeiter genannt hatte. Ihre Mutter hatte es nicht leicht gehabt, sich in der damaligen Zeit gegen ihre Eltern durchzusetzen. Aber sie war stark gewesen, getragen von der tiefen und innigen Liebe ihres Antonio. Und nachdem sich dann Carla angekündigt hatte, war es den Eltern ihrer Mutter plötzlich sehr wichtig gewesen, die Beziehung zu legalisieren. So kam Carla als Sechsmonatskind zur Welt.

Ein erneuter Blick auf die Uhr. Es war sieben nach neun. Dieser Mensch war unpünktlich. Das machte ihn sofort unsympathisch. Wenn der Anruf so wichtig war, wie er behauptet hatte, dann war es ja ein Ding der Unmöglichkeit, sie derart lange warten zu lassen!

Der Anruf kam neun Uhr dreiundzwanzig – nach gefühlten Stunden des Ausharrens, in denen sie zwischenzeitlich zwei weitere große Tassen Kaffee getrunken hatte. Diese schienen ihren Körper komplett passiert zu haben und meldeten sich nun vehement in ihrer Blase. Sie hätte rechtzeitig aufs Klo gehen sollen, sie hatte es sich überlegt. Aber bei ihrem derzeitigen Glück saß sie gerade auf der Schüssel, wenn der Anruf kam und verpasste ihn. Das wollte sie auf keinen Fall! Also nahm sie die Zähne zusammenbeißend den Hörer ab und meldete sich gleich nach dem ersten Läuten.

„Pronto?“

„Signora Lamponi? Hier ist wieder Luigi Baldini. Wie vereinbart rufe ich Sie an.“

„Sie wissen aber schon, dass Sie um neun anrufen wollten? Ich warte hier seit Ewigkeiten neben dem Telefon!“

„Das tut mir leid. Scusi! Ich hatte noch eine Besprechung. Können wir jetzt ein paar Minuten miteinander reden?“

Dieser Luigi schien ein bisschen betröppelt.

„Ja, ein paar Minuten habe ich noch – wie Sie wissen, muss ich um zehn Uhr einen Termin halten. Also machen Sie’s so kurz wie möglich. Was genau wollen Sie von mir?“

„Alora, das ist gar nicht so leicht zu erklären, ich weiß ja selbst nicht recht, um was ich Sie bitten soll. Es ist nur so, ich mache mir ernsthafte Sorgen um Federico. Ich weiß nicht, wo er abgeblieben ist. Und da Sie seine Schwester sind, dachte ich, Sie könnten mir vielleicht sagen, ob er sich bei Ihnen gemeldet hat. La Famiglia – Sie verstehen…?!“

Sie konnte ihn entschuldigend lächeln hören.

Und die Italienerin in ihr rief:

„Siehst Du: Eine Schwester weiß, wo sich ihr Bruder aufhält! Und Du?“

Sofort fühlte sie sich unzulänglich. Und ärgerte sich im gleichen Moment enorm darüber. Sie ließ sich immer noch viel zu häufig durch die Erwartungshaltung Anderer ins Bockshorn jagen!

„Hören Sie, ich bin nicht meines Bruders Hüterin! Federico ist ein erwachsener Mann und muss mir keine Rechenschaft darüber ablegen, wo er was und mit wem tut oder wo er sich aufhält.“

Luigi Baldini hielt den Hörer vom Ohr weg und schaute ihn verständnislos an. Was in aller Welt hatte denn dieser Ausbruch zu bedeuten? Er hatte sie doch nur gefragt, ob sie wusste, wo ihr Bruder war. Eine ganz normale Frage. Sie aber benahm sich, als habe er ihr ein unmoralisches Angebot unterbreitet. Merkwürdige Frau!

Dass das Fedos Schwester sein sollte, das konnte er sich nicht vorstellen. Federico war allenthalben gut gelaunt, höflich und hilfsbereit. Was man von seiner Schwester nicht behaupten konnte. Er schluckte die Worte, die ihm bereits auf der Zunge lagen, hinunter. Nein, es ging hier nicht um sie, auch nicht um ihn, sondern einzig um seinen vermissten Kollegen.

„Das wollte ich damit nicht andeuten, Signora Lamponi. Bestimmt nicht. Tut mir leid, wenn ich mich falsch ausgedrückt haben sollte“, säuselte er. „Ich dachte, dass sich Ihr Bruder vielleicht während seiner letzten Reise bei Ihnen gemeldet hat. Per Postkarte oder per Handy. Ich selbst habe ihn seit fünf Wochen nicht mehr gesehen oder gehört.“

„Das sagten Sie bereits gestern! Fünf Wochen sind doch keine lange Zeit. Er wird Urlaub machen, irgendwo die Seele baumeln lassen. Ich finde, er hat sich den Urlaub verdient. Und überhaupt…“

„Es geht hier nicht um freie Tage, Signora“, unterbrach er sie. „Federico ermittelt in einer Sache im Süden. Er ist inkognito dorthin gereist und wollte vor Ort recherchieren. Sie kennen ihn ja: Permanent auf der Suche nach der Riesenstory…“

„Na, da haben Sie ja Ihre Erklärung, warum er sich nicht gemeldet hat! Er steht vielleicht kurz vor dem Pulitzerpreis und Sie wollen, dass er bei Ihnen anruft und Belanglosigkeiten austauscht?“

Carla war noch immer wütend, am meisten auf sich selbst.

„Federico hat mir leider nicht gesagt, um was es bei der Sache geht. Er hat mir aber klar zu verstehen gegeben: Wenn er sich über längere Zeit nicht bei mir meldet, dann solle ich beginnen, nach ihm zu suchen. Er sagte mir, Sie seien seine erste Anlaufstelle, wenn er Probleme haben sollte…“

Carla war platt. Sie, Federicos erste Anlaufstelle? Seit wann? Seit jetzt? Vorhin noch war sie der Überzeugung gewesen, dass ihr Bruder genauso wenig Interesse an ihr hatte wie sie an ihm – und nun so ein Spruch? Oder war das nur eine Finte ihres Gesprächspartners, der sich ihrer Mithilfe versichern wollte, kostete es, was es wollte? Finte oder nicht: Sie spürte Sentimentalität in sich aufsteigen. Ach, Italiener!

„Signore Baldini, ich kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, dass mein Bruder das gesagt haben soll. Doch egal. Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass ich von ihm in den letzten fünf Wochen ebenfalls nichts gehört habe.“

Dass es eher fünf Monate waren, musste sie ihm ja nicht gleich auf die Nase binden. Zudem fühlte sie sich mittlerweile hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, ihre Blase zu entleeren und dem Bedürfnis, endlich zu verstehen, was diese ganze Telefoniererei sollte.

„Und nun weiß ich nicht, wie ich Ihnen helfen könnte. Leider habe ich keine Nachricht erhalten. Aber mein Bruder kann auf sich selbst aufpassen, das ist sicher“, sprach Carla versöhnlicher in die Muschel.

Wieder lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sollte das ein Zeichen sein? Apropos Zeichen: Wie spät war es eigentlich? Sie wollte auf keinen Fall zu spät zu Baronessas Termin kommen. Pünktlichkeit war eines von Carlas beruflichen Aushängeschildern.

Gestatten: Carla Lamponi, Venedigs pünktlichste Innenarchitektin.

„Ich würde Ihnen ja Recht geben, aber selbst Federico hat gesagt, dass seine Ermittlungen nicht ganz ungefährlich sein könnten und dass der Ein oder Andere sicherlich nicht wolle, dass er Dreck aufwühlt. Er hat mir ans Herz gelegt, nach ihm zu forschen, wenn er nicht mehr auftaucht. Und ich gedenke, mein Wort zu halten“, sagte Luigi sehr überzeugend.

„Haben Sie deutsche Vorfahren?“, fragte Carla.

Luigi verstand nicht, was das für eine Rolle spielen sollte.

„Nein – wieso?“

„Ach, nur ein Gedanke. Oh, gerade klingelt es an der Tür… Bleiben Sie bitte am Apparat“, rief Carla, offensichtlich schon von weiter weg.

Er hatte die Türklingel überhaupt nicht gehört. Er lauschte angestrengt in den Hörer, konnte jedoch nichts wahrnehmen, nicht mal Straßengeräusche. Dann, plötzlich, war es ihm, als hörte er von Ferne Wasser rauschen. Und Carla war wieder da.

„Hier bin ich wieder!“

Ihr Tonfall hatte sich irgendwie verändert. Luigi überlegte, was anders war… sie kam ihm… hm… erleichtert vor? Seltsam.

„Signore, mein Termin rückt näher, ich muss los. Was also können wir tun?“

„Ich möchte mich mit Ihnen treffen. Ich denke, wenn wir uns persönlich sehen, dann können wir uns besser eine Strategie erarbeiten, um Federico zu finden“, sagte er.

„Treffen? Wir? Äh, Sie meinen das ernst? Ich sehe nicht, was das helfen könnte. Außerdem kann ich nirgendwo hin, ich habe wichtige und unverschiebbare Termine. Ich leite den Umbau eines Palazzos. Ich bin nämlich Innenarchitektin“, gab sie an.

„Das ist mir bekannt. Keine Angst, ich werde dafür sorgen, dass Sie alle Termine halten können. Ich fahre heute Abend nach Dienstschluss zu Ihnen rüber nach Venezia. Wenn ich über die A4 komme, dann brauche ich knapp dreieinhalb Stunden. Ich wäre so gegen halb elf bei Ihnen.“

Luigi schien keinen Widerspruch zu dulden. Er machte jetzt Nägel mit Köpfen.

„Ich bin sowieso bis in den Abend in der Nähe des Busbahnhofes beschäftigt. Parken Sie Ihr Auto, nachdem Sie vom Festland über die Ponte della Libertà gekommen sind, am großen Parkplatz an der Piazzale Roma, am Ende der Brücke. Dort werde ich auf Sie warten.“

Carla war klar, dass sie den Typen am schnellsten los wurde, wenn sie auf seine Ideen einging. Einmal treffen, das Problem klären, dann konnte sie sich beruhigt wieder dem ganz normalen Wahnsinn zuwenden, der ansonsten ihr Leben beherrschte.

„Wie erkenne ich Sie?“