Cover

Heinz G. Konsalik

Sie waren zehn

Roman

hockebooks

Die Hauptpersonen

Peter Radek, 25 Jahre

Oberleutnant

(Piotr Mironowitsch Sepkin)

 

Berno von Ranowski, 24 Jahre

Oberleutnant

(Iwan Petrowitsch Bunurian)

 

Elmar Solbreit, 22 Jahre

Leutnant

(Luka Iwanowitsch Petrowskij)

 

Venno Freiherr von Baldenow, 26 Jahre

Hauptmann

(Leonid Germanowitsch Duskow)

 

Johann Poltmann, 21 Jahre

Leutnant

(Fjedor Pantelijewitsch Iwanow)

 

Detlev Adler, 25 Jahre

Oberleutnant

(Alexander Nikolajewitsch Kraskin)

 

Asgard Kuehenberg, 28 Jahre

Hauptmann

(Kyrill Semjonowitsch Boranow)

 

Dietrich Semper, 22 Jahre

Leutnant

(Sergeij Andrejewitsch Tarski)

 

Bodo von Labitz, 31 Jahre

Major

(Pawel Fedorowitsch Sassonow)

 

Alexander Dallburg, 20 Jahre

Fähnrich

(Nikolai Antonowitsch Plejin)

 

Larissa Alexandrowna Chrulankowa, 22 Jahre

Traktoristin

 

Lyra Pawlowna Sharenkowa, 20 Jahre

Straßenbahnschaffnerin

 

Anna Iwanowna Pleskina, 29 Jahre

Ärztin

 

Ljudmila Dragomirowna Tscherskasskaja, 26 Jahre

Leutnant der weibl. Miliz

 

Wanda Semjonowna Haller, 23 Jahre

Bau-Vorarbeiterin

 

Jelena Lukinischna Puschkina, 19 Jahre

Sekretärin im Kreml

 

Igor Wladimironowitsch Smolka, 40 Jahre

Oberst der sowj. Abwehr

 

Jefim Grigorjewitsch Radowskij, 52 Jahre

General, Verbindungsstab Rote Armee/Stalin

 

Wladimir Leontijewitsch Plesikowski

 

Nikolai Iljitsch Tabun

 

Anton Wasiljewitsch Nuraschwili

 

und Stalin

1

Niemand holte sie ab, denn niemand erwartete sie.

Nach dem Grenzübergang und den letzten Kontrollen der Vopos – der Volkspolizei, hieß das, so hatte man es ihnen gesagt – standen sie im Interzonenzug am Fenster des letzten Wagens und blickten wortlos auf die vorbeijagenden, gut in der Frucht stehenden Felder, die sauberen Dörfer, die gepflegten Straßen und die bunt lackierten Autos, die manchmal parallel zum Zug mit ihnen eine Strecke fuhren, als sei das Ganze ein Wettrennen zwischen Eisenbahn und Automobil. Ein älterer Mann stolperte durch den Gang, warf die Arme ruckartig hoch, riss die Abteiltüren auf und schrie mit Begeisterung: »Wir sind in Deutschland! Wir sind in Deutschland! Freunde, wir sind endlich da!« Wen er greifen konnte, den umarmte er und küsste ihn auf die Wangen. Dann lehnte er sich erschöpft gegen ein Gangfenster, drückte das Gesicht gegen die fleckige Scheibe und weinte leise in sich hinein.

Vor vier Tagen waren sie von Moskau abgefahren. Aber vorher, oje, da hatte es noch einen Abschied gegeben, vor dem sie alle Angst gehabt hatten. Im Sammellager war’s, wohin man sie alle gebracht hatte, die verwerflichen Idioten, wie man sie nannte. Aus allen Himmelsrichtungen waren sie gekommen, mit Frau und Kindern, mit Koffern, Kartons und Säcken, ein halbes oder gar dreiviertel Leben zusammengeschrumpft auf das Gewicht, das man »mit zwei Händen wegtragen« konnte – wie’s in der Ausfuhrerlaubnis hieß –, und dann standen sie Kopf an Kopf vor den Baracken: siebenundzwanzig Männer mit ihren Frauen und dreiundfünfzig Kinder, außerdem sieben Greise und neun Greisinnen sahen den Genossen Kommissar an und hörten stumm, was er sagte. »Da seid ihr also!«, sagte ein Mann, der sich Kyrill Abramowitsch Konopjow nannte. Er war ein dicker, schwerer Mensch, mit Hängebacken wie ein Hamster und kleinen Augen, die in Fettpolstern fast verschwanden. Schöne, gewichste Stiefel trug er und eine weite, dunkelblaue Leinenjacke über einer braunen Hose. Sein Haar bestand aus kleinen grauen Löckchen, und die kratzte er immerzu, wenn er etwas Wichtiges zu reden hatte. »Wieviel Jahre hat euch Russland ernährt, ha?! Wie lange war euch Russland Vater und Mutter zugleich?! Habt ihr nicht alles gehabt, was ein Mensch sich nur wünschen kann? Steht hinter euch nicht der mächtigste Staat der Welt?! Ist die Sowjetunion nicht der sicherste Platz auf unserem Planeten?! Aber nein, nein … sie wollen weg von hier! Weg in den kapitalistischen Westen! Besinnen sich nach einem halben Menschenalter darauf, dass sie Deutsche sind! Deutsche!« Konopjow sprach das Wort aus, als spucke er es gegen die Wand. Dann setzte er sich in Bewegung, schnaufend, und schritt die Front der Stummen ab. Bei jedem blieb er kurz stehen und musterte ihn mit seinen Schweinsäuglein. »Was erwartet ihr vom Westen?«, fragte er. »Was ist da besser als bei uns? Wir haben als Erste das Weltall erobert, wir sind führend in der Technik, der Medizin, der Kybernetik, der Mathematik, der Agrarreform. Wer hat die besten Schachspieler der Welt, na?! Die besten Turner?! Das schlagkräftigste Heer? Ach, was könnte ich noch alles aufzählen! Morgen wäre ich noch nicht damit fertig! Aber was nutzt es bei euch?! Steht da herum mit euren Habseligkeiten und denkt: Lass ihn nur reden, den braven Genossen Kyrill Abramowitsch – wir sind Deutsche! Das redet er uns nicht weg!« Er trat gegen einen Koffer und lachte kurzatmig. Lange Reden strengten ihn an, weil er mit dem Herzen dabei war, und das Herz war heillos verfettet. »Mehr habt ihr von Russland nicht übrigbehalten?! Eine Schande ist das!«

Konopjow strengte sich noch eine Stunde lang an, aber sowohl die Kinder wie die Greise wankten nicht, und an die Männer und Frauen im »besten Alter« war sowieso jedes kluge Wort verloren. Später durchzogen die Ausreisewilligen noch einmal die Schreibstube, um die letzten Papiere zu empfangen: Fahrkarten, den letzten Stempel unter die Genehmigung zur Aussiedlung Deutschstämmiger, die endgültige Unterschrift unter das Dokument, in dem sie versicherten, dass sie keinerlei Ansprüche an die UdSSR mehr hatten, endlich die Grenzüberschrittsbescheinigung und die Ausfuhrerlaubnis für das mehrfach kontrollierte Gepäck.

Nicht einer unter den Aussiedlern war in der Lage, die Kosten eines Fluges nach Deutschland zu bezahlen, um wie ein wirklich freier Mensch in den Westen zu kommen. Auch eine Fahrkarte für einen der internationalen Züge hatte sich keiner gekauft; sie alle waren darauf vorbereitet, gemeinsam in einem Sonderwagen Russland zu verlassen. In Polen musste man dann umsteigen von der sowjetischen Breitspur auf die europäische Normalspur und dann noch einmal in der DDR, dem anderen Deutschland, um angehängt zu werden an den Zug, der durch Thüringen und über die deutsch-deutsche Grenze in den freien Westen fuhr.

Freier Westen?

Konopjow sah das anders. Er saß in der Schreibstube hinter einem Berg von Akten und holte für jeden, der an seinem Schreibtisch vorbeizog, den persönlichen »Vorgang« aus den Aktendeckeln. »Aha! Da sind Sie ja!«, sagte er, als ein mittelgroßer ergrauter Mann an die Tischkante trat und seinen Reiseausweis vorlegte. Konopjow blickte hoch, die Augen der beiden Männer kreuzten sich, dann wanderte Konopjows Blick zu der Frau neben dem Mann und zu einer jüngeren Frau, die – nach den Akten – beider Tochter sein musste. »Sie sind doch ein intelligenter Mensch, Kyrill Semjonowitsch Boranow. Haben sogar den gleichen Vornamen wie ich. Etwas Brüderliches ist das! Erklären Sie mir, warum Sie nach 34 Jahren plötzlich Deutscher sind.«

»Ich bin immer ein Deutscher gewesen, Kyrill Abramowitsch …« Der Mann tippte mit dem Zeigefinger auf sein Papier. »Da steht es: Ich heiße Asgard Kuehenberg. Hauptmann der deutschen Wehrmacht!«

»Ich weiß, ich weiß.« Konopjow verzog sein fettes Gesicht, als habe er ranziges Öl geschluckt. »Ist alles herausgekommen bei Ihrem idiotischen Antrag. Erfolg, na? Zehn Jahre Sibirien! Nach drei Jahren begnadigt nach einer Intervention der westdeutschen Regierung. Aber vierunddreißig Jahre lang haben Sie als Russe unter uns gelebt, und es ist Ihnen gutgegangen. Bekleideten sogar eine hohe Stellung bei der Moskauer Straßenbahn! Warum – so frage ich mich – kommen Sie nach vierunddreißig Jahren auf die verrückte Idee, sich als Deutscher zu erkennen zu geben, als nie gefasster Spion und Saboteur, als fette Made in unserem Speck, und stellen sogar den Antrag, nach Deutschland zurückzukehren?!«

»Das Heimweh, Genosse Konopjow …«

»Heimweh?«

»Wer könnte das besser als ein Russe begreifen?«

»Ihre Frau Lyra Pawlowna ist Russin!« Konopjow starrte die Frau an der Seite des Mannes an. Sie trug ein einfaches Baumwollkleid, moderne Sommerschuhe, aber keine Strümpfe. Sie sah jünger aus als vierundfünfzig Jahre – eine schlanke Frau mit mittelbraunem Haar, in dem sich noch kein weißes Fädchen zeigte. Ihr Gesicht war oval mit leicht hochgestellten Backenknochen. »Und Ihre Tochter Tamara Kyrillowna … sie ist auch Russin!«, sagte Konopjow und schnaufte ergriffen. Sein Blick fiel auf die zweite Frau. Sie war größer als die Eltern, sehr schlank und ausgesprochen hübsch. Eine Taille, mit zwei großen Männerhänden zu umfassen. Brüste wie Äpfelchen der Frühernte. Lange, wohlgeformte Beine. »Eine Schande!«, stellte Konopjow fest. »Wie hat übrigens die westdeutsche Regierung erfahren, dass Sie noch leben?! Dass es Sie überhaupt noch gibt?!«

»Das ist eine lange Geschichte, Genosse.«

»Man kann sie nachlesen.« Konopjow tippte auf das Aktenstück. »Ich frage Sie jetzt amtlich, Kyrill Semjonowitsch Boranow: Wollen Sie nicht auf die Aussiedlung verzichten?«

»Nein!«

»Ich frage die Frauen, die Russinnen: Wollt ihr wirklich eure Heimat für immer verlassen? Wollt ihr – ich sage es jetzt ganz altmodisch – Mütterchen Russland nie mehr sehen?« Er machte eine Pause und kraulte seine grauen Löckchen. Die Frauen zeigten keine Regung, wie er sie erwartet hätte. Sie weinten nicht, sie rangen nicht die Hände. Ihre Gesichter waren unbeweglich.

»Er ist mein Mann!«, sagte Lyra Pawlowna endlich mit klarer Stimme. »Wo er hingeht, da bin auch ich!«

»Er ist mein Vater«, sagte Tamara Kyrillowna ebenso ernst. »Was er tut, ist immer gut.«

»Sie haben Ihre Familie gut im Griff!«, sagte Konopjow. Er wühlte in den Papieren und stellte alles zur Unterschrift zusammen. »Was wollen Sie in Deutschland arbeiten?«

»Ich weiß es nicht.«

»Glauben sie, die Straßenbahnen in Deutschland warten nur auf Sie?!«

»Nein.«

»Oder wollen Sie wieder Offizier werden?«

»Dazu bin ich zu alt.«

»Natürlich sind Sie zu alt. Zu allem zu alt! Vor allem zu alt, noch umzusiedeln! Hier, in der Sowjetunion, hätten Sie einen sicheren Lebensabend, im Westen werden Sie ein lästiges Insekt sein, das auf dem Rand eines Honigtopfes sitzt. Scheel wird man Sie ansehen, weil Sie den anderen auf der Tasche liegen. Was will er hier, wird man sagen. Wäre er doch in Russland geblieben! Jetzt müssen wir ihn miternähren, von unseren Steuergeldern! Erinnert sich nach vierunddreißig Jahren daran, dass er Deutscher ist. So ein blöder Hund!« Konopjow beugte sich etwas vor. Sein Kinn hing ihm über den Kragen. Trotz der Hitze, die über Moskau brütete und die Luft über dem Asphalt in fluktuierendes Gas verwandelte, trug er korrekt ein geschlossenes Hemd und einen Schlips mit dickem Knoten. »Sie werden ein Aussätziger sein, Kyrill Semjonowitsch! Der goldene Westen hat kein Herz, kein Herz für Menschen wie Sie! Sie kommen als alter Mann in ein Land zurück, das Sie nicht mehr kennen! Alles hat sich verändert, alles! Wer nicht mehr brauchbar ist im Arbeitsprozess, der ist weniger wert als ein krummer Nagel! Kennt man noch eine Seele? Ha, nein! Wo sonst das Gewissen sitzt, klebt ein Geldschein! Was Freiheit ist, wird von Beamten bestimmt. Ich weiß, was Sie jetzt denken! Ich seh’s an Ihren Augen! ›Genau wie hier‹ … stimmt’s?«

»Das haben Sie gesagt, Genosse Konopjow!«, antwortete Kuehenberg vorsichtig.

»Wir sind unter uns! Ich frage Sie: Was ist besser im Westen? Glauben Sie, man zahlt Ihnen eine Offizierspension?«

»Das wird sich zeigen.«

»Vieles wird sich zeigen. Vor allem, dass es ein Irrtum war, Russland zu verlassen. Haben Sie sich hier nie wohl gefühlt?« Kuehenberg nickte. Er legte den Arm um seine Frau und seine Tochter und zog sie an sich. Ein schönes Bild war’s. Eine Familie, auf die man stolz sein konnte. So hatte er sicherlich oft in seinem Gärtchen gestanden, draußen, in den neuen Wohngebieten rund um Moskau, wo man in den Wäldern große Flecken rodete und kleine, einfache, saubere Häuschen baute, die man an gute Beamte und bewährte Genossen vermietete. Hatte in die Sonne geblickt und über seinen Garten mit den Kirschen und dem Gemüse und war glücklich gewesen.

»Ich liebe Russland!«, sagte Kuehenberg. »Es tut mir weh, es zu verlassen.«

»Und trotzdem?!«, schnaufte Konopjow. »Sie sind krank, Genosse. Seelisch krank.«

»Im Leben eines Menschen kommt einmal der Zeitpunkt, an dem er das sein möchte, was er ist. Bei den meisten bleibt es eine Sehnsucht – sie leben weiter als das, was sie geworden sind. Ich aber habe die Möglichkeit, wieder ein Deutscher zu sein. Soll ich die Möglichkeit ungenutzt verstreichen lassen?«

»Sie sind ein dummer Mensch, Boranow!« Konopjow knallte einen Stempel auf ein Papier, das schon viele Stempel trug. Es musste ein wichtiges Dokument sein, denn je mehr Stempel ein Papier trug, um so ehrfurchterregender war es. »Wissen Sie, was das war?«

»Ein Stempel!«

»Ihr Tod als Russe! Jetzt sind Sie ein Nichts, bis die Deutschen Sie anerkennen. Dieser Stempel – rum! – löscht Sie aus. Es gibt keinen Kyrill Semjonowitsch Boranow mehr! Ihr neuer Name Asgard Kuehenberg ist bedingt amtlich … Er ist von Ihnen angegeben, aber nicht nachprüfbar, von Ihrer Regierung nur vage bestätigt! Ab sofort sind Sie und Ihre Familie eine Null!« Konopjow schob Kuehenberg die Reisepapiere über den Tisch. »Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Miserabel. Ich gebe es zu.« Kuehenberg raffte die Papiere zusammen und steckte sie in die Tasche seines Rockes. »Sind alle Formalitäten damit erledigt?«

»Alles erledigt.«

»Wann können wir ausreisen?«

»Morgen früh. Vom Leningrader Bahnhof. Gleis 3. Der letzte Wagen ist für die neuentdeckten Deutschen reserviert!« Konopjow hüstelte und lehnte sich zurück. »Eine Rückkehr gibt es nicht.«

»Das ist mir klar!«

»Dann gehen Sie endlich!«, sagte Konopjow laut und scharf. »Treten Sie Ihr geliebtes Russland in den Arsch! Mich tröstet, dass man Sie im Westen bis zu Ihrem Lebensende ununterbrochen in den Arsch treten wird!«

 

Das war vor vier Tagen gewesen.

Nun fuhren sie durch das ersehnte Deutschland, auf Bebra zu, wo sie umgekoppelt werden sollten an einen Zug in Richtung Göttingen, um in Friedland auszusteigen. Der alte Mann am Fenster, es war der Bauer Herbert Zimmermann, der sieben Jahre gegen die Behörden um seine Aussiedlung gekämpft hatte, weinte noch immer. Er konnte es einfach nicht fassen, endlich in dem Land zu sein, aus dem die Zimmermanns vor knapp einhundert Jahren ausgewandert waren an die Wolga. Auch Kuehenberg mit Lyra, seiner Frau, und Tamara, seiner Tochter, stand am Fenster seines Abteils und blickte auf die vorbeifliegende Landschaft.

»Dein Land ist schön …«, sagte Lyra Pawlowna nach einer ganzen Zeit. Das Schweigen ihres Mannes kam ihr unheimlich vor. Hinter seiner Schulter blinzelte sie Tamara zu. Das Mädchen nickte und zeigte auf ein Auto, das eine kurze Strecke neben dem Zug herfuhr, bis die Straße in einer Senke verschwand.

»Ein gelbes Auto! Sieh nur. Ganz gelb!«

Es war ein Postwagen. Kuehenberg wischte sich über die Augen. »Das hat sich geändert. Die Postfarbe war damals rot …«

 

Am Bahnhof von Friedland standen Omnibusse.

Zwei Rote-Kreuz-Schwestern, ein Sanitäter, ein Polizist und ein Zivilist, der sich als Vertreter der Lagerleitung vorstellte, begleiteten den kleinen Trupp mit seinen Koffern und Säcken zu den Bussen und fuhren mit ihm in die steinerne Barackenstadt. Auf dem Platz vor der Verwaltung hielten sie an. Der Sanitäter, ein junger, fröhlicher Mensch, der neben den Kuehenbergs saß, sagte laut: »Nun sind wir da! Ihr habt’s geschafft! Willkommen bei uns!«

Dann standen sie draußen in der Sonne, die genauso heiß war wie in den Vorstädten Moskaus, nur roch die Luft nicht so köstlich nach Blumen und Gemüsen, Gewürzen und Obst wie dort, wenn die Sonne über dem Gärtchen hing und Kyrill Semjonowitsch mit einem Schlauch herumspazierte und die Pflänzchen mit Wasser besprühte.

»Baracken«, sagte Lyra Pawlowna. Jetzt sprach sie Deutsch, weil sie ja in Deutschland waren. Ein hartes Deutsch mit einem rollenden R. Das Wort Baracken klang, als breche man trockenes Holz mittendurch. »Wo ist Freiheit? Baracken wie in Kolposchewa.«

Kolposchewa am Ob. Das Straf- und Arbeitslager in Sibirien. Der berüchtigte Narym-Arbeitsbezirk. Eine flache Stadt der lebendigen Toten. Wer nach Kolposchewa kam, war vergessen.

Kuehenberg holte sein Gepäck aus dem Bus. Die Koffer, drei Kartons und einen Jutesack. Er baute alles vor den Frauen auf, dann nahm er Lyras Gesicht zwischen seine Hände. »Ein paar Tage nur, Lyranja«, sagte er. Späte Zärtlichkeit überkam ihn; er küsste ihre Augen und streichelte ihre Wangen. »Wie hat Konopjow gesagt: Wir sind nur noch eine Null! – Hier wird man eine Zahl aus uns machen! Kennen wir nicht die Verwaltungen? Ein Übergang, Lyranja. Vor allem müssen wir erklären, wohin wir wollen. Es sind bestimmt nur ein paar Tage.«

Ein höherer Beamter der Lagerverwaltung begrüßte sie mit einer kurzen Ansprache und betonte, dass sie nun endlich in der Heimat seien. Ein schwerer Weg liege zurück, aber ein schwerer Weg liege auch noch vor ihnen, denn obwohl sie Deutsche seien, kämen sie ja in ein unbekanntes Land, das ganz anders sei als Russland. Doch das solle keinen schrecken – man würde jede Hilfe zum Eingewöhnen anbieten.

Dann erfolgte die Wohnraumverteilung. Die Kuehenbergs bekamen zwei Zimmer mit einer Dusche. Das große Lager war fast leer, die meisten Baracken waren verschlossen. Die Zeit der großen Rückwandererströme war vorbei. Friedland, der Freudenschrei zurückkommender Kriegsgefangener, war wie zu einem Denkmal geworden. Das Hereintröpfeln der Aussiedler spürte man kaum.

In der Gemeinschaftsküche holten sie ihr Abendessen – Nudeln mit Gulasch, zum Nachtisch einen Vanillepudding mit Himbeersaft. Dann bummelten sie satt durch die verlassene Barackenstadt, standen am Glockenturm mit der berühmten Friedland-Glocke und saßen im Abendrot auf einer weißlackierten Bank vor Blumenbeeten, mit denen man den Hauptplatz verschönert hatte. Als die Abendwolken dunkler wurden und überall im Lager die Lichter aufflammten, gingen sie in ihre Zimmer zurück und packten den ersten Koffer aus. Er enthielt ihre Kleidung und die Wäsche. Zuerst duschte Tamara und zog ihr kurzes Nachthemd an, dann stellte sich Kuehenberg unter die Wasserstrahlen, seifte sich ab und wartete, bis Lyra ihn ablöste. Sie hat noch immer einen schönen Körper, dachte er. Wahrhaftig, sie kann es mit den Jungen noch aufnehmen. Eine straffe, glatte Haut, feste Brüste und nirgendwo ein Gramm unnötiges Fett. Vierunddreißig Jahre sind wir verheiratet. Gott, welch eine Zeit! Und ich liebe sie wie am ersten Tag. Nicht eine Sekunde mit ihr habe ich bereut – aber ob sie immer mit mir glücklich gewesen ist? Was hat sie alles mit mir erlebt: die junge Liebe, die Heirat, die entsetzliche Wahrheit, dass ich ein Deutscher bin, Tamaras schwere Geburt, bei der sie bald verblutet wäre, die ständige Angst vor Entdeckung, die Jahre der Zufriedenheit, dann den Kampf gegen meine Sehnsucht, wieder nach Deutschland zu gehen, die Anträge, Verhöre, Verhaftungen, Schläge und Verurteilungen, die Jahre in Sibirien, die Begnadigung und wieder die Anträge, neue Drohungen, neue Verhöre, bis man sagte: »Gut denn! Sie können nach Deutschland!« Und heute Friedland. Die erste Station eines neuen Lebens. Wieder eine Baracke und hinter dem Lagertor das weite Unbekannte, das es zu erobern gilt. Eine völlig fremde Welt, auch wenn sie Heimat heißt. Lyranja … was habe ich dir in vierunddreißig Jahren zugemutet …

Er griff nach ihr unter der Dusche, zog sie an sich und küsste sie. Ihr glatter nasser Körper platschte gegen seinen, das Wasser sprühte über sie und rann in die Dielenritzen außerhalb der Brausetasse.

»Kyrilluschka, was tust du?«, fragte sie und hielt sich an seinem nackten Leib fest, als habe sie Angst auszugleiten. »Verrückt bist du! Wenn Tamara hereinkommt! So ein alter Bär wie du! Lass das, sag’ ich! Wir setzen das ganze Zimmer unter Wasser. Nachher musst du die Reparatur bezahlen! Kyrill – wir sind doch keine zwanzig mehr.«

Sie lachte und kicherte, genoss seine handgreiflichen Zärtlichkeiten, seufzte wie in den besten Jahren, als er ihre Brüste liebkoste und die starr stehenden Warzen zwischen seine Zähne nahm, umklammerte ihn dann, als er sie gegen die Duschwand drängte, und presste die Beine zusammen. »Du verrückter, verrückter Bär!«, stammelte sie. »Was soll das?! Leg dich hin wie ein anständiger Mensch!« Sie drängte ihn weg, lachte mit einem samtenen Unterton, warf ein Handtuch über seine erregte Männlichkeit und rannte wassertriefend zur Tür, schloss sie ab und rubbelte sich die Nässe von der Haut. Erst als sie trocken war, legte sie sich aufs Bett, auf die ausgebreitete Decke, und blickte ihren Mann erwartungsvoll an.

»Es ist wie vor vielen, vielen Jahren«, sagte sie leise und mit einem Schluchzen in der Stimme, als er sich über sie beugte. »Bist du glücklich, in Deutschland zu sein?«

»Ich liebe dich, Lyraschka. Ich liebe dich von Jahr zu Jahr mehr. Ich …« Er vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge und schwieg. Das Gefühl, in ihr zu sein, war so stark wie vor vierunddreißig Jahren, als er Lyra Pawlowna zum ersten Mal besessen hatte, hinter einem Grashügel draußen in den Leninbergen, am Rande Moskaus, über ihnen ein unendlich blauer Himmel, der zu singen begann, als er ihre warme Haut an seiner Haut spürte.

Ich wäre in Russland geblieben, wenn sie sich geweigert hätte, dachte er und spürte ihre Lippen an seiner Schulter und an seinem Hals. Aber sie hat sich nie geweigert. Alles, was ich tat, war in ihren Augen gut getan. Nie hat sie sich beklagt, nie Vorwürfe gegen mich erhoben, nie Widerstand geleistet, auch wenn vieles, was ich unternahm, in ihren Augen falsch war, denn wer, zum Teufel, tut nur Vollkommenes?! Aber sie hat es nie gezeigt! Sie war immer eine Frau, die ihren Mann bewunderte, selbst wenn er einmal schwach und ratlos war.

Sie duschten sich noch einmal, schlossen die Tür wieder auf und legten sich in ihre Betten. Es war still um sie herum, viel stiller als in ihrem Moskauer Häuschen, wo immer ein Nachbar etwas zum Feiern hatte. Viel stiller auch als im Lager Kolposchewa, wo man nachts in der Baracke Weinen oder Jammern hörte, gestammelte Gebete und heiseres Hecheln, Schnarchen und geknurrte Flüche. Es war eine Lautlosigkeit, die bedrückte. Ein Vakuum an Tönen, das an die Nerven ging. Schlafen wollte man, müde war man wie ein gehetzter Hund, aber man konnte nicht schlafen, weil die Stille zu laut war.

»Die erste Nacht in Deutschland!«, sagte Lyra Pawlowna. Sie lag allein, die Betten waren auseinandergestellt. »Es ist unheimlich, Kyrill. Kein Ton, nur unser Atem.«

»Das ändert sich, wenn wir aus dem Lager sind. Die Welt da draußen ist laut.«

»Lauter als in Russland?«

»Viel lauter. Russland ist dagegen still wie eine leere Kirche.«

»Woher weißt du das?«

»Ich denke es mir. Allein der Verkehr auf den Straßen!« »Werden wir in einer großen Stadt wohnen, Ljubimij (Liebling)?«

»Ich weiß es nicht!«

»Du hast in den Anträgen Köln angegeben. Ist Köln groß?« »Sehr groß.«

»Größer als Moskau?«

»Viel, viel kleiner …«

»Wieso ist es dann groß?«

»Für deutsche Begriffe ist Köln groß.«

»Dann ist in Deutschland alles kleiner als in Russland?«

Ihre Logik war überwältigend. Er dachte darüber nach und lächelte in die Dunkelheit. »Ja«, sagte er. »Vieles ist in Deutschland kleiner.«

»Und warum ist Deutschland dann so groß gegen Russland?«

»Wer sagt das?«

»Alle. Amerika, Deutschland, Frankreich … alle besser als Russland!«

»Das hat aber nichts mit der Fläche der Länder zu tun.« Er räkelte sich und gähnte. »Schlaf jetzt, Lyranja.«

»Gute Nacht, Kyrill.« Ihre Stimme war kindlich klein. »Ich möchte von deinem Deutschland träumen.«

In der Nacht öffnete sich leise die Tür, und Tamara huschte ins Zimmer.

Wie früher als Kind schlüpfte sie zu Lyra ins Bett und kuschelte sich an sie.

»Ich habe Angst, Mamuschka«, flüsterte sie, um Väterchen nicht zu wecken. »Ich habe Angst vor den fremden Menschen und dem fremden Land.«

»Ich auch, Dotschaska (Töchterchen)«, flüsterte Lyra Pawlowna zurück. »Aber sag es nicht und zeig es nicht! Sei ein fröhliches Mädchen. Es ist Väterchens Heimat – das musst du respektieren …«

 

Der erste Tag begann mit behördlichen Fragen, dem Ausfüllen langer Fragebogen, dem Fotografieren für die Kennkarte, die man Personalausweise nannte, und den vorbereitenden Maßnahmen für den Weitertransport. Die meisten Umsiedler hatten es einfacher als die Kuehenbergs; sie hatten Verwandte, zu denen man sie schicken konnte, oder sie bekamen eine Einweisung in landwirtschaftliche Betriebe, wo sie sich akklimatisieren konnten. Auch Handwerker konnten an Fabriken, sogenannte Umlehrbetriebe, vermittelt werden, die Spätaussiedler – welch ein herrliches deutsches Beamtenwort! – umschulten oder in den Arbeitsprozess eingliederten. Der Staat half dabei bis zu einem gewissen Zeitpunkt, bis er annehmen konnte, dass der neue deutsche Mensch nun voll eingegliedert sein müsste.

Bei Asgard Kuehenberg war alles anders.

Er wurde als letzter des Transportes in die Verwaltung gerufen, durchlief nicht die vielen Einzelstationen, sondern wurde in ein Zimmer geführt, in dem ein Mann auf ihn wartete. Er trug einen guten, hellgrauen Anzug, war von mittlerem Alter, hatte forschende Augen unter einer hohen Stirn und trug die braunen Haare modisch lang, jedenfalls länger als die Beamten, die Kuehenberg bisher in Friedland gesehen hatte. Der Mann sprang sofort auf, als Kuehenberg eintrat, und verbeugte sich leicht.

»Heinz Wildeshagen«, stellte er sich vor. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Wie fühlen Sie sich?«

»Gut«, antwortete Kuehenberg vorsichtig. Er umfasste mit einem Blick die Situation. Sie waren allein im Raum, auf dem Tisch lag ein Aktenstück, neben dem Tisch lehnte eine schwarze Diplomatentasche. Das Fenster zur Lagerstraße war trotz der Hitze geschlossen, der Vorhang sogar zugezogen. Eine angenehme Dämmerung lag im Zimmer, die die Kahlheit der Möblierung dämpfte. Heinz Wildeshagen wies auf einen gepolsterten Stuhl vor dem Tisch. Er selbst blieb vor seinem Stuhl hinter dem Tisch stehen.

»Wollen wir uns setzen?«

»Wenn es nötig ist …«

Kuehenberg setzte sich. Dabei fiel sein Blick auf den Deckel des Aktenstückes. Deutlich konnte er lesen: Wildgänse – 1944. Dazu ein Streifen quer über den Deckel. Geheime Dienstsache.

»O Gott«, sagte Kuehenberg. »Muss das sein?! Woher haben Sie den Mist?«

Heinz Wildeshagen ließ sich auf seinen Stuhl fallen und legte die Hände flach über das Aktenstück.

»War Ihnen nicht klar, dass alle Akten von Canaris ausgelagert und über den Krieg gerettet worden sind? Nach der Hinrichtung von Admiral Canaris im Verfolg des 20. Juli 1944 haben die neuen Leiter der Abwehr, Kaltenbrunner und Schellenberg, sofort alle Schriftstücke an sich gerissen. Mit der Übernahme der gesamten Abwehr durch die SS kam ein anderer Wind, kein besserer. Aber das haben Sie ja nicht mehr erlebt.«

»Wir haben nur davon gehört.« Kuehenberg lehnte sich zurück. Wildeshagen bot ihm eine Zigarette an – er nahm sie, rauchte ein paar Züge und musste sich erst an das süßliche Aroma gewöhnen, das so ganz anders war als der beißendstarke Qualm der Machorkazigaretten oder der langen Papyrossi mit dem Pappmundstück. Dann zeigte er mit der brennenden Spitze auf die Akte. »Was soll das alles? Nach vierunddreißig Jahren?! Das ist erledigt.«

»Das Unternehmen Wildgänse befand sich bei den Akten, die dem Amerikaner in die Hände fielen. Als in der BRD das ›Amt Gehlen‹ zu arbeiten begann, kam die Akte erst in der Fotokopie, dann im Original zu uns zurück. General Gehlen – Sie kennen ihn?«

»Flüchtig! Er hat uns im Namen von Admiral Canaris kurz begrüßt. Wir hatten mit der Abteilung ›Fremde Heere Ost‹ kaum etwas zu tun. Wir waren ein Sondertrupp.«

»Das geht aus den Akten hervor. Aber von wem und wie das damals alles geplant war, darüber findet sich nichts. Wir haben jahrelang beim Bundesnachrichtendienst nachgeforscht – vergeblich. Außer dieser dünnen, nur drei Seiten umfassenden Denkschrift mit dem Titel Wildgänse finden wir kein Material.«

»Es existiert auch keins.« Kuehenberg drückte seine Zigarette in einem gläsernen Aschenbecher aus. »Was enthält die Akte?«

»Eine Liste von zehn Namen. Eine zweite Liste mit Namen russischer Städte oder Landschaften. Ein Schreiben aus dem Führerhauptquartier in Rastenburg, unterzeichnet von Generalfeldmarschall Keitel. Der Brief enthält nur einen Satz: ›Der Führer hat das Unternehmen genehmigt.‹ Schluss!«

»Das genügte auch«, sagte Kuehenberg zufrieden. »Und was wollen jetzt Sie, nach vierunddreißig Jahren?«

»Ich bin das, was Sie damals waren, Herr Kuehenberg: Hauptmann.« Wildeshagen schob ihm die Akte zu, aber Kuehenberg rührte sie nicht an. »Ich bin im Führungsstab des Bundesnachrichtendienstes. Der Zweite Weltkrieg mit allen seinen Hintergründen ist aufgrund von Dokumenten, Aussagen und historischen Untersuchungen bis ins Detail erforscht. Es gibt kaum noch Geheimnisse oder offene Fragen. Nur eine einzige, bestimmt höchst interessante Schattenstelle wartet auf ihre Aufhellung: Ihre Wildgänse.«

»Das haben Sie schön gesagt, Herr Wildeshagen.« Kuehenberg lächelte schwach. »Klang fast lyrisch. Es freut mich, dass man gar nichts weiß. Lassen wir die Schatten in Ruhe!« Er stand auf, aber Wildeshagen folgte ihm nicht. Er zog die dünne Akte wieder zu sich heran.

»Herr Hauptmann …«, sagte er gedehnt.

»Stopp! Ich bin seit vielen Jahren Kyrill Semjonowitsch Boranow. Erst seit fünf Tagen höre ich wieder auf Asgard Kuehenberg, aber auch das nur bedingt. Noch habe ich meinen deutschen Personalausweis nicht und die amtliche Anerkennung, dass ich Deutscher bin. Ich bin noch ein behördlicher Vorgang, weiter nichts.«

»Betrachten Sie mich als Überbringer der Nachricht, dass Sie für Deutschland immer der Hauptmann Kuehenberg geblieben sind. Auch wenn Sie vermisst waren. In diesem Aktenstück lebten Sie weiter. Sie – und die anderen neun Offiziere. Sie allein kennen ihr Schicksal.«

»So ist es.«

»Was war Wildgänse?«

»Gänse, lateinisch Anserinae, gehören zu der Ordnung Gänsevögel. Es sind große Schwimmvögel, die sich von Pflanzen ernähren, die sie mit der Schnabelspitze abrupfen und mit den Kerben des Schnabelrandes zerbeißen. Zur Untergattung Anser gehören die nordische braune Saatgans, die Blässgans, so genannt wegen ihrer weißen Stirn, die Höckergans, besonders beliebt bei den Chinesen, und die Grau- oder Wildgans, heimisch in den größeren Gewässern Europas und Nordasiens. Sie brütet am Boden und zieht im Winter bis Nordafrika und Indien. Berühmt in Deutschland ist das Lied: ›Wildgänse rauschen durch die Nacht mit schrillem Schrei nach Norden …‹« Kuehenberg lächelte verträumt. »Wie man das behalten hat, nach vierunddreißig Jahren! So etwas sitzt, wenn es einem eingebläut wurde wie uns. Man hat uns zu halben Ornithologen gemacht. Über Gänse weiß ich alles.«

Wildeshagen grinste säuerlich. »Bravo! Bravo!«, sagte er und klatschte in die Hände. »Aber wir nehmen nicht an, dass mit Zustimmung Hitlers zehn deutsche Offiziere nach Russland geschickt wurden, um dort Unterricht in Gänsezucht zu geben.«

»Wo steht in dem Aktenstück, dass zehn deutsche Offiziere in Russland waren?«

»Herr Kuehenberg, diese Akte ist durch die Hände der besten Experten gegangen. Die Namenliste der sowjetischen Gebiete – Anlage II – nennt Bezirke, die sich wie ein Kragen rund um Moskau legen. Jetzt kommen Sie – als einziger oder als letzter der zehn vermissten Offiziere, auch darüber können nur Sie Auskunft geben – nach Deutschland zurück. Aus Moskau! Und allen war klar, auch wenn es keinerlei Anhaltspunkte gibt, dass das Kommando Wildgänse eng mit Moskau verknüpft war. Aber auch sowjetische Militärforscher und Kriegshistoriker erwähnen mit keinem Wort ein deutsches Unternehmen im Raume Moskau. Selbst General Gehlen, als Intimus von Canaris mit allem bestens vertraut, weiß nichts davon. Wildgänse bleibt ein Rätsel.«

»Das befriedigt mich zutiefst.« Kuehenberg sah auf Wildeshagen. »Verweigert man mir jetzt die Wiederaufnahme in Deutschland und schickt mich nach Russland zurück? Ich bin zurückgekommen, geplagt vom Heimweh – nicht, um nach vierunddreißig Jahren eine Idiotie wiederaufleben zu lassen, und sei’s auch nur in einem Bericht. – Kann ich gehen?«

»Aber Herr Hauptmann! Jederzeit! Sie sind ein freier Mensch! Sie sind nicht mehr in Russland.«

»Es melden sich nach unserem Gespräch bei mir Zweifel an, ob das ein Vorteil ist. Vergessen wir die Wildgänse.«

»Ich habe nur meinen Auftrag ausgeführt.« Wildeshagen erhob sich nun auch und packte die Akte in seinen schwarzen Diplomatenkoffer mit den Nummernschlössern. »Wie sind Ihre Pläne, Herr Kuehenberg?«

»Ich habe noch keine Pläne.«

»Sie haben als Übersiedlungsadresse Köln angegeben.«

»Irgendeinen Ort musste ich ja nennen. Ich entschloss mich für Köln, weil ich damals einen guten Freund hatte, der aus Köln stammte. Er war der einzige Teilnehmer des Lehrgangs, der nicht ›General‹ sagen konnte. Er sagte immer ›Jeneral‹.«

»Oberleutnant Willy Hecht aus Köln-Sülz.«

»Jetzt von mir ein Bravo! Bravo! Sie sind bestens informiert.« Kuehenberg ging zur Tür. »Ja, es war Willy Hecht. Wissen Sie etwa auch, ob er den Krieg überlebt hat?«

»Bedauere.« Heinz Wildeshagen hob die Schultern. »Wo werden Sie in Köln wohnen?«

»Welche Frage! Ich denke, ich bin ein freier Mann?«

»Es war eine fürsorgliche Frage, Herr Hauptmann …« »Verdammt, ich bin Asgard Kuehenberg und weiter nichts. Der Hauptmann liegt seit 1944 irgendwo in Russland.«

»In Moskau.«

»Sie haben die Eigenschaft einer Klette, Herr Wildeshagen! Aber echauffieren Sie sich nicht … ich will mit meinen zweiundsechzig Jahren endlich Ruhe haben und zufrieden in meiner Heimat leben. Sie wissen vielleicht eins nicht: Wir Ostdeutsche waren immer die glühendsten Patrioten! Wir haben nie den Rhein gesehen, aber wir haben ihn angebetet! Warum? Fragen Sie mich nicht … es gibt keine Antwort darauf. Es war einfach so! Wir waren vom Kernland Deutschland so weit weg – aber so groß die Entfernung, so groß unsere Liebe! – Jetzt bin ich hier – und jetzt möchte ich meine Ruhe haben! Verstehen Sie das?«

»Wie Sie es erklären … ja.« Wildeshagen holte aus seiner Brusttasche ein Kuvert hervor und reichte es Kuehenberg hin. Der zögerte zuzugreifen. »Für Sie.«

»Was ist das?«

»Keine Briefbombe und kein vergiftetes Papier. Auch kein Kuvert mit Bakterien. Ein Willkommensgruß der Vereinigung ehemaliger Offiziere.«

»Oje! Das macht mich nachdenklich …«

»Für Sie und Ihre Familie ein vierwöchiger freier Aufenthalt in dem Kölner Hotel ›Blum‹ und ein Scheckbuch über ein Girokonto, das zunächst 5000,– DM beträgt.«

»Zunächst …«, sagte Kuehenberg gedehnt. »Kinder, was erwartet ihr bloß von mir!«

»Besitzen Sie flüssige Mittel?«

»Ja!« Kuehenberg grinste erfreut. »Eine Flasche Wodka!«

»Es ist wundervoll, dass Sie den Humor nicht verloren haben!«

»Warum auch? Wir haben mit unseren Nachbarn und Freunden immer viel Spaß gehabt. Es war ein lustiges Leben … zuerst in der kleinen Wohnung, dann in unserem Häuschen. Die Russen sind fröhliche Menschen. Singen und Tanzen, das kommt ihnen noch aus dem Herzen.« Kuehenberg öffnete die Tür. »Ich fahre also morgen nach Köln.«

»Wie Sie wollen, Herr Kuehenberg.«

»Und wo ist das Hotel ›Blum‹?«

»Direkt dem Dom gegenüber. Das erste Haus am Platze.«

»Wie schön!« Kuehenberg lachte aus voller Brust. »Wie wird man uns ansehen, wenn wir zwischen Marmor und getäfelten Wänden unseren Jutesack abstellen!«

»Sie sind angemeldet.« Wildeshagen kam um seinen Tisch herum. »Ihre Rückkehr wird mit aller Ehre und diskret behandelt.« Er machte vor Kuehenberg die Tür auf, als sei er ein Hotelboy. »Wenn Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie.«

»Ich habe nichts dagegen.« Er blickte Wildeshagen plötzlich bittend an. »Sie können mir helfen. Meine Frau und meine Tochter … für sie wird die Begegnung mit dem Westen wie ein Schock sein. Diese Welt des Überflusses …«

»Und Sie?«

»Auch für mich wird es schwer sein.« Kuehenberg legte seine Hand auf Wildeshagens Schulter. »Seien Sie unser Schwimmlehrer, wenn wir morgen ins heiße Wasser Deutschland springen!«

 

Die Fahrt nach Köln machten sie nicht mit dem Zug, so gern Tamara Kyrillowna mit den schönen neuen Waggons gefahren wäre, die sie hinter den langgestreckten, windschlüpfrigen elektrischen Lokomotiven gesehen hatte. Ein Luxus war das, überall so ein Luxus! Gewiss, auch die U-Bahn in Moskau war ein Wunderwerk. Sie galt als die schönste der Welt, und das stimmte sogar, denn welches Land konnte es sich leisten, jede U-Bahn-Station rundum mit einem anderen Marmor auszukleiden? Und die Tragflügelboote auf der Moskwa oder die großen viermotorigen Flugzeuge, die draußen auf dem riesigen Flugplatz Scheremetjewo inmitten der Wälder landeten, die langen Busse, die von Moskau nach allen Himmelsrichtungen fuhren – das war vielleicht alles besser als hier in Deutschland. Aber der Zug, den sie einmal gesehen hatte, bei Bebra, als sie umgekoppelt worden waren: der Speisewagen mit weißgekleideten Kellnern, der Duft von gebratenem Fleisch, der zu ihnen ins Abteil geweht war – das hatte ihre Neugier gereizt.

Statt dessen kam Kyrill Semjonowitsch, der jetzt wieder Asgard hieß, von der Besprechung zurück und sagte: »Ihr Lieben, wir fahren mit einem Auto nach Köln. Wir sind eingeladen worden.«

»Von wem?«, fragte Lyra Pawlowna zurückhaltend. »Uns kennt doch keiner.«

»Ein Offizier ist’s, mein Täubchen.«

»Es gibt also keine Ruhe?« Ihre schwarzen Augen, die er immer besonders liebte und bewunderte, wenn sie vor Erregung leuchteten, als brächen Feuer aus der Tiefe hervor, bekamen einen traurigen Schimmer. »Was wollten sie von dir?«

»Sie interessieren sich für Wildgänse.«

»Was hast du geantwortet, Papuschka?«

»Ich habe dem Herrn einen vogelkundlichen Vortrag gehalten. Mit dem Erfolg, dass wir in das beste Hotel von Köln einquartiert und von einer Vereinigung ehemaliger Offiziere eingeladen werden. Wir werden die ersten Wochen als Staatsgäste leben. Sie nennen es Kameradschaft, aber in Wirklichkeit wollen sie ihren Juckreiz loswerden, der sie seit vierunddreißig Jahren quält: Was ist Wildgänse?!«

»Du sagst es ihnen?«

»Nein!«

»Sie werden sehr böse darüber sein.«

»Warten wir es ab.«

»Nach Russland können wir nicht mehr zurück, Kyrill Semjonowitsch.«

»Wir werden ein Stück Land finden, auf dem die Kuehenbergs in Ruhe leben können.« Er zog Lyra an sich und streichelte über ihr leicht gewelltes Haar. Sie ist nie bei einem Friseur gewesen, fiel ihm plötzlich ein. Früher, als ihre Mutter noch lebte, schnitt diese allen die Haare. Einmal im Monat war Barbiertag. Da hockte die ganze Familie Sharenkow in der Küche – später auch die Familie Boranow –, und Elisawetha begann ihren Kampf gegen den Haarwuchs. Zuerst kam Oleg, der Familienpatriarch, an die Reihe, saß auf dem Küchenstuhl, ein Handtuch um den Hals, saß da wie erstarrt, den Kopf kerzengerade gereckt, und Elisawetha schnippelte mit einer Schere und einem Rasiermesser, das sie ab und zu an einem Lederriemen wetzte, die überflüssigen Locken ab. War die Familie gestutzt, übernahm die älteste Tochter Lyra das Werkzeug und verschönte ihre Mutter, und das änderte sich nicht in all den Jahren, wurde auch bei den Boranows fortgeführt. Tamara erwies sich als so geschickt und begabt, dass sie sogar eine Lehre bei einem Friseur machte und zu Hause einen Privatsalon gründete, nur für die Nachbarschaft, und ohne ein Rubelchen zu nehmen. Denn das wäre strafbar gewesen – aber wenn jemand ein Geschenk brachte, konnte man es nicht ablehnen. Wer schenkt, soll doch nicht beleidigt werden!

»Hast du Angst?«, fragte Kuehenberg jetzt. Lyra Pawlowna nickte. Wieder Offiziere, dachte sie. Achtundzwanzig Jahre lang die Angst, man könne entdecken, wer Kyrill Semjonowitsch wirklich ist. Dann sagte er es selbst, und die Torturen begannen. Verhöre, Drohungen, Haft in den Kellern des KGB und immer wieder Fragen und Fragen: ein kleines Heer von Offizieren, das die Boranows belagerte. Ein paarmal kam sogar ein General aus dem Kreml, der mit ihnen in einer Wolgalimousine herumfuhr und zu Kyrill sagte: »Nun zeigen Sie mir mal in allen Einzelheiten, wie Sie das damals organisiert haben! Erinnern Sie sich noch an Einzelheiten? Kyrill Semjonowitsch, das ist ja alles vergessen und vergeben … es geht jetzt nur noch um die Vervollständigung der Historie. Alles bleibt im Kremlarchiv unter Verschluss! Sie haben nichts zu befürchten. Es war ja Krieg. Wir alle haben für unser Vaterland das Beste getan!« Aber dann brachte man sie doch noch nach Sibirien, an den Ob, in ein Arbeitslager, das gleichzeitig Umschulungsstätte sein sollte. Aus einem ideologisch schwankenden Russen einen guten leninistischen Sowjetbürger zu machen – das war das Ziel. Aber Kyrill Semjonowitsch fiel nicht in die Knie. Mit jedem Jahr an den einsamen Ufern des Ob wurde seine Stimme lauter und fester: Ich bin Deutscher. Ich heiße Asgard Kuehenberg. Ich erbitte, nein, ich verlange meine Rückführung nach Deutschland! Ich habe Russland gegenüber keine Schulden abzutragen. Im Gegenteil, ich bin ein halbes Menschenalter ein guter russischer Bürger gewesen. Ich habe Frau und Kind, ein Häuschen bei Moskau und bin Oberinspektor der sowjetischen Straßenbahn, Bezirk Moskau I. Das sind die Vorzeigebahnen, Genossen. Die Innenstadtbahnen. Die Propagandawaggons. Die, welche man den westlichen Touristen vorführt. Blitzsauber, neueste Modelle, die Schaffner in gepflegten, gut sitzenden Uniformen. Da hängen die Genossen nicht wie Trauben draußen auf dem Trittbrett, und kein Schaffner brüllt: »Hinweg, ihr Schiefmäuligen! Überfüllt! Überfüllt! Wer herunterfällt und unter die Räder kommt, hat kein Mitleid zu erwarten! Sabotage ist das! Springt ab, sag ich euch! Überfüllt!« Und dann ratterte sie los … ein Kloß Menschen mit knirschenden Rädern darunter. Nein! Nicht meine Bahnen vom Bezirk Moskau I! So ein guter Mensch war ich … über dreißig Jahre lang! Aber jetzt will ich wieder ein Deutscher sein!

»Was können sie dir tun, Papuschka?«, fragte Lyra. Sie packte dabei den Koffer Nr. 1 wieder ein. Tamara trug bereits die anderen Gepäckstücke ins Freie vor die Baracke, darunter den dicken Jutesack, gefüllt mit Kissen aus besten, selbstgerupften Gänsedaunen. Ja, auch Gänse hatten sie in dem Gärtchen gehabt. Immer vier Stück. Seit siebzehn Jahren. Konnte man sich in Deutschland auch Gänse halten?

»Sie werden mir gar nichts tun, Lyranja«, sagte Kuehenberg und band sich eine Krawatte um, weil er gesehen hatte, dass auch Hauptmann Wildeshagen mit weißem Hemd und Schlips gekommen war. »Wir werden viel Besuch empfangen, das ist alles. Lauter höfliche Menschen. Und alle werden sie irgendetwas bieten: Eine gute Stellung, eine Tasche voll Geld, die Garantie eines geruhsamen, sorglosen Lebensabends. Irgendwann einmal wird durch die Mauer, die uns unsichtbar umgeben wird, etwas durchsickern, denn jede Mauer hat Löcher und Risse. Dann werden die Reporter der großen Zeitschriften und Zeitungen kommen, die Buchverleger, Film und Fernsehen, der Rundfunk … und sie werden uns noch mehr Geld auf den Tisch legen und sagen: ›Mein lieber Kuehenberg, machen Sie den Mund auf! Sie haben die moralische Pflicht, der Welt zu sagen, was Wildgänse war!‹«

»Und du wirst es sagen?«

»Nein.«

»Bei so viel Geld!«

»War ich je käuflich, Lyranja?«

»Waren wir jemals so arm wie heute, Kyrill?«

»Es ist nur eine Übergangszeit, glaub es mir.«

»Ich glaube dir alles, Ljubimij …«

»Du bist eine wunderbare Frau.«

Er küsste sie wieder. Tamara kam ins Zimmer gerannt und klatschte in die Hände, weil ihre Eltern für einen Augenblick die Welt vergessen hatten.

»Ein Auto ist da!«, rief sie. »Bei Gott, welch ein Auto! Nur in Zeitungen habe ich solche Autos gesehen! Sollen wir damit fahren? Sieh dir das an, Väterchen!«

Kuehenberg trat ans Fenster. Wie erwartet: Es war der Dienst-Mercedes von Wildeshagen. Der schwarze Lack glänzte in der Sonne. Im Inneren dunkelgraue, dicke Polster aus geripptem Stoff. Nackenstützen hinten und vorn. Eine lange ausgezogene Antenne. Nicht nur Radio, dachte Kuehenberg, auch Sprechfunk oder Autotelefon. Wildeshagen selbst öffnete jetzt den Kofferraum und lud das Gepäck Kuehenbergs ein. Die Koffer aus Kunstleder, die zwei Kartons, den Jutesack. Er ließ den Kofferraumdeckel zuschnappen, wischte sich mit dem Handrücken über die schweißige Stirn und lockerte etwas den Knoten seiner Krawatte. Frühsommer. Extrem warm. Im Schatten 26 Grad. Es müsste mal wieder regnen. Vor allem an Rhein und Mosel. Hitze und Feuchtigkeit – das gibt einen vorzüglichen Wein.

Kuehenberg trat vom Fenster zurück ins Zimmer. Tamara hatte trotz ihrer achtundzwanzig Jahre glühende Wangen wie ein Kind, das etwas Unerhörtes erlebt hatte.

»Es stimmt, Tamarenka«, sagte er und zog seinen Rock wieder an. »Es ist ein Mercedes. Mit ihm fahren wir jetzt nach Köln. Ein paar Stunden Autobahn.«

»In die kleine Stadt Köln …«

»Du wirst dich wundern. Was du sehen wirst, wird dich erschlagen. Und mich wahrscheinlich auch.«

»Wir werden uns ein Kleid kaufen«, sagte Lyra Pawlowna. Er dachte an das Scheckbuch und das Bankkonto über 5000,– DM. Ich zahle es zurück, nahm er sich vor. Ich bin nicht zurückgekommen, um mir etwas schenken zu lassen. Was ich entnehme, leihe ich mir bloß. Ich bin ein gesunder Mensch, ich kann noch arbeiten. Das habe ich viele Jahre lang bewiesen, zur vollen Zufriedenheit der sowjetischen Bahnverwaltung. Sobald ich meine endgültigen Papiere habe, spucke ich wieder in die Hände. Und Tamara? Sie ist gelernte Friseuse. Für sie wird es leicht sein, eine Stellung zu bekommen.

Heinz Wildeshagen begrüßte Lyra Pawlowna und Tamara mit einem Handkuss. Sie nahmen das innerlich erstarrt hin, denn Handküsse hatten sie bisher nur in Filmen gesehen, die die dekadente Zarenzeit schilderten. Dann stiegen sie in den Mercedes und wagten kaum, sich auf die feinen Polster zu setzen. Kuehenberg setzte sich vorn neben Wildeshagen und legte den Sicherheitsgurt an. Kaum hörbar sprang der Motor an.

»Halt!«, sagte Kuehenberg, als Wildeshagen losfuhr. »Wir können so einfach weg? Ohne Formalitäten?«

»Es ist alles erledigt, Herr Kuehenberg.«

»Ich möchte mich vom Lagerleiter verabschieden.«

»Nicht nötig. Er ist beschäftigt, außerdem kennt er Sie gar nicht. Sie sind hier nur als Durchgang abgehakt …«

»Ach so!« Kuehenberg lehnte sich zurück und lockerte, nach dem Beispiel Wildeshagens, auch seinen Schlips. »Von jetzt an kann ich also machen, was ich will?«

»So kann man es sehen.«

»Dann habe ich eine Bitte: Fahren Sie langsam über die Autobahn, halten Sie auf irgendeinem Rastplatz an, da, wo Menschen sind.«

Wildeshagen sah ihn verblüfft an, nickte und fuhr los. Nach wenigen Minuten erreichten sie die Autobahn nach Kassel. Wie versprochen zockelte der schwere Wagen auf der rechten Spur ziemlich langsam dahin. Autokolonnen überholten sie, Lastwagen, Tankzüge. Ein paarmal, wenn ein Kleinwagen an ihnen vorbeischnurrte, blickten die Insassen verwundert zu ihnen hinüber. Ein 350er Mercedes schleicht über die Autobahn. Was ist denn mit denen los?

»Halt!«, sagte Kuehenberg. Sie sahen von Weitem das rechteckige blaue Schild mit dem großen, weißen P. »Können wir hier ‘raus?«

»Aber ja.«

Wildeshagen fuhr auf den Rastplatz und bremste. Wald umgab sie. Vogelgezwitscher. Der Duft gemähten Grases. Um einige Steintische saßen Autofahrer und hatten ihren Reiseproviant ausgepackt. Ganze Familien, Kinderlachen. Ein Hund bellte. Etwas weiter zur Ausfahrt hin parkten vier Lastzüge. Die Fernfahrer saßen auf den Trittbrettern und tranken Kaffee aus Thermosflaschen.

»Hier ist es gut«, sagte Kuehenberg und stieg aus. Ziemlich ratlos folgte ihm Wildeshagen. »Viele Menschen aller Klassen.« Er zog den Schlipsknoten bis auf die Brust herunter und öffnete die beiden oberen Hemdknöpfe. »Ich habe gelesen, dass die beliebtesten Politiker in der Bundesrepublik Schmidt, Kohl, Strauß und Scheel heißen. Und Ihr Finanzminister heißt Apel, nicht wahr?«

»Er ist jetzt Verteidigungsminister.«

»Aha. Noch besser!«

Er ging auf die Tische zu, die Hände in den Hosentaschen, wie ein flegelhafter Junge sah er aus. Wildeshagen folgte ihm verwirrt. Er rätselte, was Kuehenberg wohl gleich aus sich herauslassen würde.

Und es kam plötzlich und massiv. Und etwas ganz anderes, als Wildeshagen erwartet hatte.

Kuehenberg nickte den essenden Autofahrern zu. »Schmeckt es euch?«, fragte er so laut, dass es über den stillen Parkplatz schallte. Hohe Tannenhecken hielten den brummenden Lärm der Autobahn weitgehend ab.

Die Rastenden nickten. Ihre Aufmerksamkeit wuchs. Der Alte hat einen hinterm Ohr, dachten sie. Zwei Flaschen Bier bei dieser Hitze, das spürt man. Vergnügt hob einer seine Kaffeetasse aus Plastik und prostete Kuehenberg zu.

Und plötzlich sagte Kuehenberg sehr laut:

»Bundeskanzler Schmidt ist ein Arschloch!«