John August

Arlo Finch

Im Bann des Mondsees

John August, geboren 1970 in Colorado, ist ein

US-amerikanischer Drehbuchautor und Journalist. Zu seinen bekanntesten Drehbüchern gehören – teils in Zusammenarbeit mit Tim Burton – die Kinoadaption von »Big Fish«, die Neuverfilmung von »Charlie und die Schokoladenfabrik« sowie »Corpse Bride« und »Frankenweenie«. »Arlo Finch« ist John Augusts Kinderbuchdebüt.

Der Autor lebt mit Mann und Tochter in L. A.

johnaugust.com

Aus dem amerikanischen Englisch
von Wieland Freund und Andrea Wandel

Mit Illustrationen von
Helge Vogt

DIE ZERBROCHENE BRÜCKE

Sie kamen nicht.

Er nahm es ihnen nicht übel. Es klang an sich schon verrückt und am Telefon hatte er es nicht gerade besser gemacht. Ihr müsst einfach schnell herkommen!

Aber warum? Was hatte er gefunden?

Arlo Finch konnte es nicht wirklich erklären. Deshalb brauchte er sie ja. Deshalb stand er an einem heißen Sonntag im Juni auf dem Signalfelsen und starrte in die abgrundtiefe Schlucht. Es gab nur einen Weg zu Arlos Haus in der Green Pass Road und wenn seine Freunde kämen, dann würde er sie sehen.

Er stellte das Fernglas scharf. Seine Hände zitterten ein bisschen und ihm wurde schwindelig. Er stieß einen Schwall Luft aus, versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Das half. Auch seine Gedanken beruhigten sich.

Arlo würde seinen Freunden zeigen, was er gefunden hatte. Wu würde eine wilde Theorie aufstellen. Indra würde eine vernünftige Erklärung finden. Sie würden es ausdiskutieren. Am Ende würden sie zu einer gemeinsamen Schlussfolgerung kommen, die mehr oder weniger richtig wäre.

Vorausgesetzt, sie würden auch kommen.

Keiner von ihnen hatte ein eigenes Telefon, also hatte Arlo das alte in der Küche benutzt. Er hatte zuerst Indra angerufen. Sie war gerade dabei, Klavier zu üben; er hatte es im Hintergrund gehört, als ihr Vater drangegangen war. Auch wenn Indra gesagt hatte, dass sie sofort kommen würde, hatten ihre Eltern wahrscheinlich verlangt, dass sie erst zu Ende übte. Außerdem hatte sie eine Tante aus Boston zu Besuch. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie Indra gehen lassen würden.

Wu hatte von vornherein zögerlich geklungen. In den vergangenen Monaten hatte er nonstop Galactic Havoc 2 gespielt und sich mit einer Horde Fremder auf der ganzen Welt eine virtuelle Sci-Fi-Schlacht geliefert. Arlo hatte ihm über die Schulter geschaut, aber das Spiel nicht richtig verstanden. Arlos Familie hatte immer noch kein Internet zu Hause, zusammen mit Wu spielen konnte er also ohnehin nicht.

Arlo wusste, dass man vierzehn Minuten brauchte, um mit dem Fahrrad von der Stadt hier herauszufahren. Jetzt waren schon zwanzig vergangen. Sie kamen nicht.

Er ließ das Fernglas sinken und rieb sich den Schweiß von der Stirn. Er musste sich entscheiden.

Er konnte zurückgehen und allein Nachforschungen anstellen. Vielleicht war das gar nicht so gefährlich. Immerhin hatte Arlo in den letzten Monaten auf eigene Faust auch die Ränder der magischen Long Woods ausgekundschaftet, ohne dass ihm etwas zugestoßen war. Normalerweise würde er sich einfach weit genug vortasten, um die Verschiebung zu spüren, bis dahin, wo die üblichen Himmelsrichtungen nicht mehr existierten und Norden und Süden bedeutungslos wurden. Nach einem kurzen Besuch würde er sich auf den Weg zurück in die normale Welt machen und mit seinem Ranger-Kompass den Weg nach draußen finden.

Doch an diesem Nachmittag, gleich nach dem Mittagessen, hatte ihn seine Neugier auf einen neuen Weg gelenkt, einen, der tiefer in die Long Woods hineinreichte.

Dort hatte er es entdeckt. Dort hatte er sie entdeckt.

Die Uhr tickte. Wenn Wu und Indra nicht kämen, müsste Arlo zurückgehen und es alleine machen, so gut es eben ging. Aber vorher wäre es wahrscheinlich schlau aufzuschreiben, was er gesehen hatte. Für den Fall, dass er nicht zurückkommen würde.

Gerade als er sich entschlossen hatte, alleine zu gehen, bemerkte er etwas. Eine Bewegung.

Er hob das Fernrohr so abrupt, dass es ihm vor die Nase knallte. Da, auf der Straße. Ein Fahrrad. Nein, zwei. Es waren Indra und Wu. Sie fuhren Seite an Seite und traten wie wild in die Pedalen.

Seine Freunde kamen.

Wu und Indra ließen ihre Fahrräder in den Kies fallen.

Als sie Arlo erreichten, waren sie so außer Atem, dass sie nicht sprechen konnten; die letzte Viertelmeile war steil. Wu hing über seine Knie gebeugt. Indra hatte ein Zopfgummi zwischen den Zähnen, während sie ihr Haar wieder in Ordnung brachte.

Arlo reichte ihnen die Wasserflasche. »Wir müssen uns beeilen. Ich erkläre alles, wenn wir da sind.«

Sie nickten und folgten ihm durch das hohe, trockene Gras. Winzige Insekten flitzten durch den strahlenden Sonnenschein. Als sie am Waldrand angekommen waren, konnte Arlo das Kiefernharz riechen. Unsichtbare Vögel sangen im Wald, dazwischen die Ausbrüche eines hämmernden Spechts.

In den sechs Monaten, die seit dem Schlittenderby vergangen waren, hatte Arlo fünf verschiedene Wege in die Long Woods entdeckt. Er vermutete, dass es rund um Pine Mountain Dutzende weitere Routen gab, jede ein Weg in einen bestimmten Abschnitt der Woods.

Natürlich verliefen die Wege niemals gerade oder offensichtlich. Sie ließen sich nicht auf Karten festhalten, weil sie einen immer wieder zwangen, umzukehren oder unter einem umgestürzten Baum hindurchzukriechen oder einen bestimmten Felsbrocken gegen den Uhrzeigersinn zu umrunden.

Manchmal verschwanden die Wege auch einfach. Arlo hatte wochenlang versucht, einen Weg zurück ins Tal des Feuers zu finden, doch vergeblich. Er war sich nicht mal sicher, ob es die Schlucht noch gab. Vielleicht war sie mit der Drude gestorben, der Waldhexe, die sie im letzten Winter dorthin gelockt hatte.

»Bleibt dicht beieinander«, sagte er und führte Wu und Indra in eine körperhohe Senke. Ein dünnes Rinnsal Quellwasser lief über den Boden. In der feuchten Erde konnte Arlo noch die Spuren erkennen, die er selbst hier vor einer Stunde hinterlassen hatte. Arlo hatte seine Freunde gerade mal ein paar Hundert Meter tief in den Wald geführt, als sein Kompass zu vibrieren begann. Das hier war die Stelle.

Links von ihnen ragten die nackten Wurzelstrünke eines Baumes in die Senke. Arlo packte sie und zog. Die Wurzeln verschoben sich in der Erde, hielten aber. Ein paar fahle Käfer krabbelten erschrocken davon.

Etwas stimmte nicht. Es funktionierte nicht so wie beim letzten Mal.

»Vielleicht müssen wir es alle zusammen machen«, sagte Arlo. Wu und Indra fragten nicht, warum. Sie griffen beide nach einem Wurzelstrunk und zogen gemeinsam mit Arlo.

Diesmal rührten die Wurzeln sich kein bisschen. Stattdessen schien die Welt um sie herum zu schwanken, so als wären die Wurzeln die Klinke einer sehr schweren Tür. Die Sonne glitt über den Himmel, leuchtete auf und ging im Gewirr der Äste in Deckung.

»Wow!«, keuchte Wu.

Das Wasser stieg ihnen bis über die Sneakers. Das Rinnsal führte plötzlich viel mehr Wasser – und eiskaltes dazu.

»Tut mir leid«, sagte Arlo. »Ich hätte euch warnen sollen.« Er ließ die Wurzel los und sie setzten ihren Weg durch den plätschernden Bach fort.

Vor ihnen flatterten schillernde Motten in einem Lichtstrahl und formten, während sie einander nachjagten, kunstvolle Muster. Wie immer wünschte Arlo sich, er hätte ein Foto machen oder ein Video drehen können, aber die sonderbare Magie dieses Wunders machte das unmöglich.

Indra war fasziniert. Sie streckte die Hand aus. Eine Motte landete auf ihren Fingern, schimmernder Staub rann von ihren Flügeln. »Hast du uns deshalb gerufen?«

»Nein.« Arlo schob sich durch die Motten wie durch einen Vorhang. Wu und Indra folgten ihm.

Die Senke öffnete sich auf eine Lichtung, am Rand eines alten Kiefernwalds wiegte sich gelbes Gras in einer sanften Brise. Doch es war nicht die Landschaft, die diesen Ort so außergewöhnlich machte, sondern ein Gebäude.

Am Rand einer Klippe ragte ein mächtiger steinerner Turm auf. Von seinem Sockel ragte ein gestutztes Gewölbe in Richtung eines passenden Turms auf der anderen Seite der gewaltigen Schlucht hinüber.

»Was ist das?«, fragte Indra.

»Das ist eine Brücke«, sagte Wu. »Zumindest war es das mal.« Es war leicht, sich das unbeschädigte Bauwerk vorzustellen, wie seine schweren steinernen Arme die Kluft überbrückten. Viel schwieriger war, sich vorzustellen, wie es dorthin gekommen war und wer es gebaut hatte.

Alles, was sie bislang in den Long Woods entdeckt hatten, war natürlich gewesen – oder, im Fall der Hexenhütte, einfach und handgemacht. Aber hinter diesem alten Turm, dieser Brücke steckte eine gewaltige technische Leistung. Die großen Steine schienen nach genauen Vorgaben zurechtgemeißelt und in Position gebracht worden zu sein. In diesem Gebäude steckten sowohl Kunstfertigkeit als auch Planung. Es hatte einen Zweck, eine Geschichte und einen Schöpfer.

»Das wolltest du uns zeigen«, sagte Wu.

»Nein«, sagte Arlo. »Da drüben.« Er deutete auf die andere Seite der Schlucht, wo vier Kinder neben dem zweiten Turm standen. Sie alle trugen Ranger-Uniformen mit blauen Halstüchern. Ein Mädchen mit wildem, lockigem Haar winkte ihnen zu.

Arlo reichte Indra das Fernglas.

»Wer ist das?«, fragte Wu verwirrt.

Arlo wartete darauf, dass Indra antwortete. Verblüfft und fasziniert ließ sie das Fernglas sinken.

»Das sind wir«, sagte sie. »Blauer Trupp. Das sind wir da drüben.«

VERBORGENES LICHT

Wu griff nach dem Fernglas, um selbst zu sehen. Und sich selbst zu sehen.

Henry Wu und Indra Srinivasaraghavan-Jones standen, was völlig unmöglich war, gleichzeitig auf beiden Seiten der Schlucht.

Es war kein Spiegel. Der Wu und die Indra, die neben Arlo standen, trugen ihre Alltagskleidung, während der Andere Wu und die Andere Indra ihre Ranger-Uniform anhatten, genauso wie die Zwillinge Jonas und Julie Delgado.

Irgendwie standen diese vier Mitglieder des Blauen Trupps auf der anderen Seite der Schlucht und starrten zu ihnen herüber.

»Sind das wirklich wir?«, fragte Indra.

»Wie können wir gleichzeitig dort und hier sein?«, fragte Wu.

»Ich weiß es nicht«, sagte Arlo. »Als ich euch angerufen habe, war ich mir nicht sicher, ob ihr drangehen würdet. Ich dachte, dass es euch und Jonas und Julie aus irgendeinem Grund vielleicht hierherverschlagen hätte.«

»Wie?«, fragte Indra. »Du bist der Einzige, der einen Weg hier rein- oder hier rausfinden kann.«

»Und warum sollten Jonas und Julie bei uns sein?«, fragte Wu. »Wir hängen doch auch sonst nicht mit denen ab.« Das stimmte. Abgesehen von den Ranger-Treffen und den monatlichen Camps unternahm keiner von ihnen etwas mit den Zwillingen.

Indra nahm wieder das Fernglas. »Vielleicht ist es eine Illusion, irgendein Trick. So wie die Drude.« Im Tal des Feuers hatte sich die Drude in eine wunderschöne Frau verwandeln können. Indra betrachtete die Gruppe auf der anderen Seite, die sich wild miteinander beriet. »Ich sehe noch nicht mal so aus.«

»Tust du wohl«, sagte Wu.

»Er hat recht«, sagte Arlo.

Indra war fassungslos. »Nein, tue ich nicht! Das Mädchen hat bescheuerte Haare. Und sie ist dick und lahm. Das bin ich nicht!« Arlo wusste nicht, was er sagen sollte. Das Mädchen auf der anderen Seite der Schlucht sah haargenau so aus wie Indra und benahm sich auch so.

»Es könnte ein Paralleluniversum sein«, sagte Arlo. »Wie in Comics. Vielleicht sind die Long Woods mit einem anderen Pine Mountain verbunden und das da ist der Blaue Trupp in ihrer Welt.«

Wu begann, sich für die Idee zu begeistern. »Vielleicht sind sie böse. Vielleicht begehen die Ranger in ihrem Universum Verbrechen und rauben Banken aus.«

»Warum sollten sie Banken ausrauben?«, fragte Indra.

»Weil alles da drüben anti ist und sie einen Anti-Ranger-Eid geleistet haben.«

»Ich glaube nicht, dass sie böse sind«, sagte Arlo und schaute wieder durch das Fernglas.

Er beobachtete die Andere Indra und den Anderen Wu, die sich flüsternd stritten. Jonas schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Julie stand gedankenverloren ein paar Meter abseits. »Die wirken völlig normal.«

»Leute«, sagte Wu. »Wo ist Connor? Sie tragen alle Uniform, also muss es etwas mit den Rangern zu tun haben. Aber warum sollten sie ohne ihren Truppführer hier sein?«

»Und wo ist Arlo?«, fragte Indra. »Ist doch seltsam, dass sowohl Arlo als auch Connor fehlen.«

»Vielleicht sind sie tot«, überlegte Wu. Indra funkelte ihn an. »Ich meine in ihrem Universum. Ich sage ja nur, dass etwas ziemlich durcheinander ist, wenn du und ich da sind und Arlo nicht.«

»Stimmt. Aber das musst du ja nicht gerade sagen, wenn Arlo hier ist.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte Arlo. »Als ich sie vorhin gesehen habe, kam es mir vor, als würden sie auf mich warten. Als ob sie gewusst hätten, dass ich komme. Sie haben versucht, mir irgendwas mitzuteilen, aber ich konnte es nicht verstehen. Deshalb brauchte ich euch.«

»Was meinst du mit ›dir etwas mitzuteilen‹?«, fragte Indra.

Arlo deutete auf die andere Seite der Schlucht, wo Julie zwei Stöcke mit Halstüchern an den Enden bereithielt, Signalflaggen. Sie hob und senkte sie langsam, um anzudeuten, dass sie eine Nachricht übermitteln wollte.

»Signale habe ich noch nicht richtig gelernt«, sagte Arlo. Zwischen Knoten und Erster Hilfe und übernatürlicher Zoologie hatte er keine Zeit gehabt, sich das Winkeralphabet zu merken. Aber er war sich sicher, dass Indra es draufhatte. Es war Voraussetzung für das Eulen-Abzeichen, das sie schon gemacht hatte.

»Wir müssen ein B zurücksenden«, sagte Indra. »Bereit zum Empfang.« Sie streckte den rechten Arm in einem 90-Grad-Winkel zur Seite und ließ den linken Arm dicht am Körper herabhängen. Arlo und Wu taten das Gleiche.

Julie begann, einzelne Buchstaben zu signalisieren, indem sie die Flaggen in bestimmten Winkeln hielt. Indra und Wu sprachen jeden Buchstaben laut aus.

S-E-I-D-

Der nächste Buchstabe stürzte sie in Verwirrung. »Ist das ein K?«, fragte Wu. Indra zuckte mit den Achseln – sie erkannte es auch nicht. Julie fuhr fort.

E-I-S-E.

»Es war ein L. ›Seid leise‹«, sagte Indra.

»Warum?«, fragte Wu.

»Ich weiß nicht. Frag sie.«

Wu hielt die Arme über den Kopf.

»Das ist U«, sagte Indra und zog seine Arme so, dass sie nicht ganz auf gleicher Höhe beide nach links zeigten.

W-

Wu fuhr fort und zeigte mit beiden Händen rechts von sich Richtung Boden.

A–

Das Problem war, dass sowohl Indra als auch Wu das Winkeralphabet lesen konnten, im Senden aber nicht besonders geübt waren. Der Trupp hatte sich immer auf die Zwillinge verlassen, die darin bemerkenswert schnell und präzise waren.

Arlo sah durch das Fernglas, wie Julie sich zu den anderen umdrehte, um sich mit ihnen zu beraten. Die Andere Indra sagte etwas, während Julie mit den Flaggen eine weitere Botschaft übermittelte: G-E-F-A-H-

»Gefahr«, sagte Indra.

Julie beließ die Flaggen bei dem letzten R und zeigte damit an, dass sie fertig war.

Arlo spürte seinen Puls schneller gehen. Hätten sie überhaupt reden dürfen? Hatten sie zu viel Lärm gemacht? Er blickte zu den dunklen Bäumen in ihrem Rücken hinüber. Im Wald konnte alles Mögliche sein und sie beobachten.

»Sie setzen sich in Bewegung«, flüsterte Wu.

Tatsächlich gingen die vier Mitglieder des Blauen Trupps auf den Turm auf ihrer Seite der Schlucht zu. Julie wies mit den Flaggen zum Gegenstück auf Arlos Seite.

»Sie wollen, dass wir ihnen folgen«, sagte Arlo. Er ging voran, Indra und Wu dicht auf seinen Fersen.

Laut Seite 223 des Ranger-Feldbuchs konnte man Bäume und Winkel dazu nutzen, um in der Wildnis Entfernungen abzuschätzen. Doch obwohl es in den Zeichnungen so einfach wirkte, hatte Arlo den Dreh nie rausgekriegt.

Die Welt war kein Dreieck und Bäume schien es in vielen Größen zu geben. Genau wie das Winkeralphabet war das eine Fähigkeit, die er bislang noch nicht erworben hatte.

Während Arlo also am Rand der Schlucht entlangging, hatte er keine Möglichkeit, ihre Breite einzuschätzen. Er nahm an, dass sie in etwa der Länge eines Fußballfeldes entsprach, aber eine gut geworfene Frisbeescheibe hätte es rüberschaffen können.

Die Tiefe der Schlucht konnte Arlo allerdings sehr wohl schätzen: Sie war unendlich.

»Heiliger Strohsack«, sagte Wu, als er das erste Mal bewusst in den Abgrund schaute. Selbst im strahlenden Sonnenlicht war kein Boden zu erkennen. Der Abgrund hörte überhaupt nicht mehr auf, die Kluft wurde nicht schmaler. Sie reichte einfach immer tiefer, bis da nur noch Dunkelheit war. Diese Schlucht bildete einen Bruch in den Long Woods, die Absonderlichkeit eines absonderlichen Orts.

Wu wurde langsamer, blieb dann stehen. Unsicher sah er sich um.

»Wartet. Da stimmt was nicht.«

»Was meinst du?«, fragte Arlo.

»Seht ihren Turm an. Seht ihr, wie die Brücke abgebrochen ist? Da fehlen Stücke.« Arlo und Indra folgten Wus Zeigefinger, während er auf die Einbuchtungen und Lücken hinwies.

»Und?«, fragte Indra.

»Genau die gleichen Stücke fehlen auf unserer Seite«, sagte Wu. »Und guckt euch das Zeug am Boden an. Seht ihr die großen Felsen? Sie befinden sich auf beiden Seiten an der gleichen Stelle. Alles steht in einer Reihe: Baum, Baum, Felsen, Felsen. Es ist symmetrisch. Ihre Seite ist das Spiegelbild von unserer.«

Arlo fiel es schwer, sich das vorzustellen, bis er darauf kam, sich den Ort in Vogelperspektive vorzustellen. Die linke und die rechte Seite der Schlucht sahen wirklich genau gleich aus: passende Türme, passende Felsvorsprünge, passende Steine.

Der einzige Unterschied war, wer sich jeweils dort befand.

Indra deutete zu dem anderen Trupp hinüber, wo Julie langsam die Flaggen hob und senkte, um auf sich aufmerksam zu machen. »Sie signalisieren etwas.«

Julie richtete ihre Flaggen nach unten. Auf einer Uhr hätten sie 6 Uhr 35 angezeigt.

»Das ist ein A«, sagte Indra. »Aber A was?«

Auf der anderen Seite der Schlucht deuteten der Andere Wu und die Andere Indra wie wild auf einen Trümmerhaufen neben dem Turm.

Arlo ließ das Fernglas sinken und drehte sich um, um das passende Gegenstück neben ihrem Turm zu finden. Viele der alten Steine hatten glatte Ränder, offensichtlich handelte es sich um Stücke der fehlenden Brücke.

»Ich glaube, sie wollen, dass wir nach einem A suchen«, sagte Arlo. Er kletterte durch die Steinbrocken und suchte nach einem mit der passenden Form. Indra und Wu gesellten sich zu ihm und übernahmen jeder einen Bereich.

Die Steine hatten augenscheinlich ziemlich lange auf dem Boden gelegen. Sie waren mit Moos und Flechten bedeckt, was es nicht einfacher machte, ihre Kanten zu unterscheiden. Arlo hob ein vielversprechendes Stück an, nur um auf eine Gespenstheuschrecke zu stoßen, die sich an die Unterseite klammerte. Das verängstigte Insekt erschauerte und brach in zwei Teile, die in verschiedene Richtungen davonliefen.

»Hier drüben!«, rief Indra in einer Mischung aus Flüstern und Rufen. Als Arlo und Wu bei ihr ankamen, deutete sie auf einen Granitbrocken, ungefähr von der Größe eines Schultischs.

Ein undeutliches . war in die Flechten gekratzt.

»Was sollen wir damit machen?«, fragte Wu. Das Trio sah sich nach dem Trupp auf der anderen Seite der Schlucht um. Sie machten alle eine hebende Bewegung.

»Da muss etwas drunter sein«, schlug Arlo vor.

Indra war sich nicht sicher. »Der ist zu schwer. Den kriegen wir nie hoch.«

»Vielleicht können wir ihn umdrehen«, sagte Wu. »Wenn wir alle an einer Seite schieben, können wir ihn drehen.«

Schulter an Schulter suchten sie sich alle eine Position. Stumm zählten sie bis drei und begannen dann, den massiven Block mit aller Kraft anzuheben. Endlich bewegte sich der Stein, eine Kante hob sich ungefähr fünfzehn Zentimeter vom Boden.

»Könnt ihr ihn halten?«, fragte Arlo.

»Nein!«, zischten Wu und Indra. Aber Arlo schätzte, dass sie es wahrscheinlich doch konnten, wenn auch nur für ein paar Sekunden.

»Versucht es einfach!« Arlo nahm die rechte Hand von dem Block und tastete blindlings die Unterseite ab. Sie war dreckig, nass und kalt. Er spürte etwas, das er für einen Wurm hielt. Das Etwas schlängelte davon.

Indra rang plötzlich nach Luft, ihr Griff lockerte sich. »Mach schnell!«

Arlo griff tiefer unter den Stein. Wenn seine Freunde den Stein losließen, würde sein Arm darunter begraben. Aber er war sicher, dass dort etwas versteckt sein musste.

Indra und Wu strengten sich mächtig an. Er sah es in ihren Gesichtern, ihre Fingerknöchel wurden weiß. In dem verzweifelten Bemühen, ihn oben zu halten, stützten sie ihre Körper gegen den Block.

»Arlo, nimm deine Hand weg!«, flüsterte Indra. »Wir können ihn nicht mehr halten.«

Arlo tastete immer noch die Unterseite des Steins ab, jetzt war sein Arm bis zur Schulter verschwunden.

Wu verzog das Gesicht, der Stein rutschte ihm durch die Hände. »Er fällt!«

Genau in diesem Moment spürte Arlo es. Etwas Metallisches. Etwas, das nicht dorthin gehörte. Er packte es.

Der massive Klotz krachte plötzlich nach unten. »Arlo!«, keuchte Indra.

Arlo rollte zurück auf seinen Hintern. Er war gerade noch freigekommen. Sein rechter Arm war noch dran und nicht zerquetscht.

Er grinste. »Ich hab’s.«

Er hielt eine Taschenlampe hoch. Es war eine ganz gewöhnliche Lampe, eine mit zwei großen Batterien. Ursprünglich mal silberfarben, war sie jetzt völlig verrostet. Selbst das Glas war trüb und die Birne kaum dadurch zu erkennen.

»Funktioniert sie?«, fragte Wu und half Arlo auf die Füße.

Arlo versuchte, die Lampe anzuschalten. Er brauchte beide Daumen, um den Schalter zu betätigen. Als er endlich eingerastet war, prüfte Arlo die Birne. Nichts.

»Batterien halten nur ein paar Jahre«, sagte Indra. »Sie ist dadrin wahrscheinlich auch verrostet.«

Arlo reckte die Taschenlampe hoch über den Kopf und zeigte sie dem Trupp auf der anderen Seite der Schlucht. Drüben sprangen alle in die Luft und klatschten sich ab. So viel Begeisterung hatte er seit dem Schlittenderby nicht mehr erlebt.

»Warum sind sie so aus dem Häuschen?«, fragte Indra. »Ist doch bloß eine alte Taschenlampe.«

»Vielleicht ist sie in Wirklichkeit ein Lichtschwert«, sagte Wu. Er nahm Arlo die Taschenlampe ab und hielt sie wie ein Schwert. Er schüttelte sie, versuchte, sie in Gang zu bringen. Aber nichts geschah. »Vielleicht braucht es ein Codewort.«

»Oder es ist einfach eine Taschenlampe«, sagte Indra.

»Da könnte etwas drin sein«, sagte Arlo. »Eine Karte oder so was.« Wu versuchte, die Lampe aufzudrehen. Sie war übel verrostet.

Indra hielt ihn auf. »Warte! Sie wollen nicht, dass du das machst.«

Tatsächlich, die vier Mitglieder des Blauen Trupps wedelten wie wild mit den Händen und schüttelten ihre Köpfe.

»Vielleicht ist es eine Handgranate oder so«, sagte Arlo. Wu reichte Indra die Taschenlampe, als wäre sie eine heiße Kartoffel.

»Sie bewegen sich wieder«, sagte Arlo. Er beobachtete durch das Fernglas, wie die Mitglieder des anderen Trupps zu ihrem Turm gingen. Sie verschwanden dahinter und tauchten dann auf der zerstörten Brücke wieder auf.

Der Andere Wu gestikulierte in Arlos Richtung – Komm schon!

Das war der Moment, in dem Arlo es entdeckte – etwas, das er Wu oder Indra nicht verriet.

Auf der linken Schulter der Uniform des Anderen Wus befand sich ein Abzeichen mit zwei roten Balken. Arlo wusste genau, was es darstellte – keinen Rang, sondern eine Position: Truppführer.

Das erklärte vielleicht, warum Connor bei dem anderen Blauen Trupp fehlte.

Auf der anderen Seite der Schlucht hatte Wu das Sagen.

DER FANG

Ein Gewölbegang verlief mitten durch die beiden Türme, die abgenutzten Granitplatten des Fußbodens führten auf die Reste der zerbrochenen Brücke hinaus.

Arlo erinnerte es an einen offenen Mund mit herausgestreckter Zunge. Auf der anderen Seite der Schlucht streckte der andere Turm ebenfalls die Zunge raus. Wie zwei verzogene Geschwister, die während eines kindischen Streits zu Stein geworden waren.

»Wer, glaubt ihr, hat das gebaut?«, fragte Wu nachdenklich, während sie, sich nach allen Seiten neugierig umschauend, durch das Gewölbe gingen. »Die Magus?«

Das war auch Arlos Gedanke. Er wusste so gut wie nichts von der Zivilisation, die auf der anderen Seite der Long Woods lebte – im Reich Eldritch –, aber irgendetwas kam ihm seltsam vertraut vor an diesem Ort; von den überdimensionalen Proportionen bis hin zu den kunstvollen Schmiedearbeiten der von den Angeln baumelnden Tore. Es war alles größer, kunstvoller als nötig.

»Wer immer es war«, sagte Indra, »sie haben ganz schön was rangeschleppt.« Sie deutete auf die tiefen Kerben im Gestein, die wahrscheinlich von Rädern stammten.

Was sie wohl transportiert haben?, fragte sich Arlo. Und wo hatten sie es her?

Die drei gingen aus dem Turm und fanden sich auf der Brücke wieder. Der verbliebene Übergang überragte kaum ein Viertel der Schlucht, bevor er abrupt endete. Arlo bemerkte, dass es kein Geländer gab. Nach links oder rechts waren es nur anderthalb Meter, danach würde man über den Rand in den endlosen Abgrund stürzen.

Als sie vorwärtsgingen, beschloss Arlo, genau in der Mitte, zwischen den beiden Spuren zu bleiben.

Die vier Ranger auf der anderen Seite der Schlucht waren bis zum Ende ihres Teils der Brücke gekommen. Der Andere Wu gab ihnen ein Zeichen, sich im Kreis aufzustellen, um etwas zu besprechen. Genau wie ein Truppführer es machen würde, dachte Arlo.

Wu hatte eigentlich immer herausposaunt, was er dachte, war mehr ein Querkopf als ein Versöhner. Aber der Andere Wu schien die Meinung der Truppmitglieder zu sammeln, er nickte beim Zuhören.

Eine Entscheidung wurde getroffen. Als sich der Kreis auflöste, näherte sich Jonas dem zerklüfteten Rand der Brücke. Er winkte Arlo über den Spalt zu, bat ihn, näher zu kommen. Dann streckte er beide Hände aus, bereit, etwas zu fangen.

»Was macht er da?«, flüsterte Indra.

»Ich glaube, er will, dass wir ihm die Taschenlampe zuwerfen«, sagte Arlo.

»Nein«, sagte Wu. »Er möchte, dass du sie ihm zuwirfst.«

Tatsächlich zeigte Jonas ganz eindeutig auf Arlo. Als Arlo andeutete, dass er Wu die Taschenlampe geben würde, winkte Jonas ab.

Es war Zeit, selbst einen Kreis zu bilden.

»Wir können sie ihnen nicht einfach geben«, sagte Wu und drehte sich zu dem Trupp um. »Wir wissen doch gar nicht, wer sie sind.«

»Sie sind wir«, sagte Arlo. »Äh, ihr. Sie sind der Blaue Trupp.«

Wu korrigierte ihn: »Sie sehen so aus wie wir …«

»Ich sehe nicht so aus«, sagte Indra.

Wu verdrehte die Augen. »In Ordnung. Sie könnten Betrüger sein. Oder Magus! Vielleicht können sie nicht mal unsere Sprache, deshalb reden sie auch nicht. Oder vielleicht sind sie Hologramme!«

»Warum sollten sie Hologramme sein?«, spottete Indra. »Du bist ja irre.«

Wu schwieg, innerlich kochte er. Arlo hatte das in den vergangenen Monaten immer öfter erlebt: Indra, die Wus Ideen brüsk zurückwies. Sie schien sich nicht bewusst zu sein, wie weh ihm das tat oder warum Wu sie nicht mehr zum Goldschürfen im Bach hinter seinem Haus einlud. Sind sie überhaupt noch Freunde?, fragte er sich. Oder sind sie beide bloß noch meine Freunde?

Arlo versuchte, die Diskussion wieder zurück zum eigentlichen Thema zu bringen. »Warum sollten sie euch abbilden, mich aber nicht?«

»Vielleicht, weil du uns mehr vertraust als dir selbst«, sagte Indra. »Wenn du da drüben einen anderen Arlo Finch sehen würdest, würdest du dich fragen, wer er in Wirklichkeit ist. Aber weil sie wie ich und Wu aussehen, machst du wahrscheinlich, was sie dir sagen.«

Arlo war ein bisschen beleidigt, musste aber zugeben, dass sie recht hatte. Er vertraute seinen Freunden instinktiv.

»Und was meint ihr, was sollen wir jetzt tun?« Während er das aussprach, fiel Arlo auf, dass er ihre Theorie gerade bewies. Er verließ sich immer auf Indras oder auf Wus Rat. Es fiel ihm schwer, eigene Entscheidungen zu treffen.

Wu zuckte mit den Schultern. »Was immer Indra dir sagt, du machst es. Du folgst ihrer Meinung. Das ist immer so.«

Arlo war wie vor den Kopf geschlagen. »Nein, ist es nicht …«, obwohl ihm kein Beispiel einfiel, mit dem er das Gegenteil hätte beweisen können. Es gefiel ihm nicht zwischen den Fronten.

Indra wandte sich an Wu: »Warum bist du so komisch?«

»Weil ich nicht weiß, was ich hier soll«, schnauzte Wu. »Oder da.« Er deutete über die Schlucht. »Du bist die Super-Rangerin, die alles weiß. Arlo ist der Typ mit der magischen Bestimmung und so. Ich bin bloß der andere Typ.«

Du bist der Truppführer, dachte Arlo. Zumindest auf der anderen Seite der Schlucht.

Indra schaute Arlo an. »Du hast die Taschenlampe gefunden. Es ist deine Entscheidung.«

Arlo sah über die Schlucht zum Blauen Trupp hinüber. Vielleicht hatten seine Freunde recht: Er war eher ein Mitläufer als ein Anführer. Das hatte zum Teil damit zu tun, dass er in den letzten Jahren drei Mal umgezogen war; er war immer der Junge, der sich die neuen Namen merken musste. Zum Teil lag es aber auch einfach an seiner Persönlichkeit. Manche Kinder standen gern im Rampenlicht. Arlo stand lieber ein paar Meter abseits, dort wo das Licht nicht so grell war.

Aber von der Seitenlinie aus zuzusehen, half Arlo auch, Dinge zu bemerken, die anderen nicht auffielen. Ihm fiel auf, wie die Andere Julie ihren Bruder ansah, mit einer Mischung aus schwesterlicher Sorge und Verärgerung. Ihm fiel auf, wie selbstbewusst der Andere Jonas wirkte, seine tiefe Konzentration. Ihm fiel auf, wie die Andere Indra nervös eine Haarsträhne zwirbelte, ständig in Erwartung der nächsten Gefahr. Und ihm fiel auf, wie der Andere Wu auf seiner Lippe herumbiss und mit dem Kopf ruckte, als wollte er die Zukunft so in eine bestimmte Richtung bewegen.

Die Entscheidung fiel ihm leicht.

»Das sind keine Betrüger«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum sie diese Taschenlampe brauchen, aber sie brauchen sie. Also gebe ich sie ihnen.«

Arlo näherte sich vorsichtig dem Rand der Brücke und zwang sich, dabei nicht nach unten zu sehen. Weil sie nicht verankert waren, fielen die letzten Steine ein Stück ab. Langsam schob er sich so weit nach vorn, wie er sich traute. Eine kalte Brise trocknete den Schweiß auf seiner Stirn.

Der andere Trupp hatte Jonas als Fänger ausgewählt. Er streckte die Hände aus, bereit, die Lampe aufzufangen, doch Arlo fragte sich, ob er sie überhaupt so weit würde werfen können. Zusammengenommen überspannten die beiden Brückenteile in etwa die Hälfte der Schlucht. Dennoch war es ganz schön weit bis nach drüben. Selbst unter perfekten Bedingungen, ohne Seitenwind und den bodenlosen Abgrund. Arlo war sich nicht sicher, ob er das schaffen würde.

Er musste es zuerst ausprobieren.

Er stopfte die Taschenlampe in den Hosenbund und hob ein ramponiertes Bruchstück von der Brücke auf. Es hatte die falsche Form, aber ungefähr das gleiche Gewicht wie die Taschenlampe.

Jonas verstand, was er vorhatte, und reckte den Daumen.

Wortlos wog er ab, ob er von oben oder von unten werfen sollte, und entschied sich für unten. Er lupfte den Stein in Jonas’ Richtung. Der Brocken flog in einem sanften Bogen durch die Luft. Jonas reckte die Arme und schnappte ihn mit beiden Händen. Ein perfekter Wurf und ein perfekter Fang. Kinderleicht. Auf beiden Seiten der Schlucht jubelten Ranger.

Jetzt ging es ums Ganze. Die verrostete Taschenlampe fühlte sich rau an. Sie war auch ein bisschen schwerer als erwartet. Plötzlich war er sich gar nicht mehr so sicher, was seinen Wurf anging. Selbst wenn es ihm gelang, den Wurf von eben zu wiederholen, könnte es vielleicht nicht reichen. Wenn er aber auch nur zehn Prozent härter zu werfen versuchte, schoss er womöglich übers Ziel hinaus. Da die Brücke kein Geländer hatte, konnte die Taschenlampe leicht in den Abgrund rollen.

Aber war die Taschenlampe wirklich schwerer als der Stein? Plötzlich kamen ihm Zweifel an seinen Zweifeln.

Er schüttelte sie ab und sah Jonas direkt in die Augen. Sie waren beide bereit. Sie hatten nur die eine Chance.

Arlo warf die Taschenlampe.

Dass er es vermasselt hatte, wusste er in dem Moment, als er sie losließ. Ein verirrter Tropfen Adrenalin war ihm in den Arm geschossen und der Wurf war ihm zu hart geraten. Außerdem hatte sein Handgelenk einen extra Schlenzer gemacht. Die Taschenlampe taumelte sich überschlagend fort. Er konnte nur noch zusehen, wie sie über die endlose Leere segelte, auf falschem Kurs und unaufhaltsam.

Jonas wusste, dass sie verloren war. Sie würde über seinen Kopf und vielleicht sogar über den Rand der Brücke fliegen. Er drehte sich zu seinem Trupp um.

Die Andere Indra riss die Arme hoch, reichte aber nicht einmal ansatzweise nahe genug an die fliegende Lampe heran. Julie kniff die Augen zusammen. Nur der Andere Wu war nah genug dran.

Knapp links von der Mitte traf die Taschenlampe klirrend auf die Brücke auf, drei Meter entfernt vom nächsten Ranger. Sie rutschte und schlitterte ein Stück, bevor sie endlich liegen blieb.

Arlo stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Wenigstens die Brücke hatte er getroffen.

Nur dass die Taschenlampe in diesem Moment Richtung Rand zu rollen begann. Sie war dreißig Zentimeter von der Kante entfernt. Zehn Zentimeter. Fünf. Zwei. Einen …

Der Andere Wu setzte zu einem Hechtsprung an. Arlo sah die Taschenlampe schon in den Abgrund fallen.

Doch das tat sie nicht.

Sekunden später rollte der Andere Wu sich auf den Rücken und umklammerte die Lampe wie eine Olympische Fackel. Er hatte es geschafft. Er hatte sie gerettet.

Der Trupp versammelte sich um ihn und feierte ihn still. Der Andere Wu hatte sich offenbar ein paar Schrammen zugezogen, wirkte im Übrigen aber unverletzt.

Arlo trat von der Kante zurück. Er atmete wieder und grinste vor Erleichterung.

Indra beobachtete die andere Seite durchs Fernrohr. Sie wirkte verwirrt. »Sie machen sie auf.«

»Was sagst du?«, fragte Arlo.

»Die Taschenlampe. Sie schrauben sie auf.«

Arlo schnappte sich das Fernglas. Die Mitglieder des anderen Trupps liefen noch immer durcheinander, sodass kaum zu erkennen war, was sie da taten. Aber er sah, dass die Taschenlampe in zwei Teile zerlegt war und dann etwas aus ihrem Rohr gefischt wurde. Es war in ein blaues Stück Stoff eingewickelt. Alles, was er sagen konnte, war: »Da waren keine Batterien darin. Das ist was anderes.«

»Wir hätten sie ihnen nicht geben sollen«, sagte Wu.

»Kannst du sehen, was es ist?«, fragte Indra. »Was war drin?«

Arlo stellte die Schärfe des Fernglases nach, es gelang ihm aber nicht, ein klares Bild von dem Bündel zu kriegen.

Die Andere Indra drehte sich um und sah Arlo direkt an. Sie konnte erkennen, dass er sie mit dem Fernglas beobachtete.

Sie legte den Finger an die Lippen: leise. Dann nickte sie, lächelte und verschwand mit ihrem Trupp Richtung Turmgewölbe. Sie schienen es eilig zu haben.

»Wart mal, hauen die jetzt ab?«, fragte Wu.

Arlo sah, wie Jonas die verrostete Taschenlampe wegwarf. Sie rollte über den Rand der Brücke und fiel in den bodenlosen Abgrund. Die Taschenlampe war nur ein Behälter gewesen; sie hatten allein das gewollt, was sich in ihr befunden hatte.

Und Arlo würde niemals erfahren, was es war.

Er spürte etwas in sich aufsteigen. Es war mehr als Neugierde. Mehr als eine Frage. Es war Wut. Verrat. Was immer in der Taschenlampe gewesen war, er hatte es für sie gefunden.

Er hatte seinen Arm und die Gesundheit seiner Freunde aufs Spiel gesetzt, um es zu kriegen.

Er hatte ein Recht zu erfahren, was es war.

Arlo Finch brüllte, so laut er nur konnte: »SAGT MIR, WAS ES IST!«

Nach so vielen Minuten des Flüsterns wurde sein Körper regelrecht durchgerüttelt von den Worten. Aber gut fühlte es sich an. Es war eine Erleichterung.

Der Trupp auf dem anderen Teil der Brücke drehte sich fassungslos und voller Panik zu ihm um. Jonas und Julie wichen zurück.

Der Andere Wu und die Andere Indra tauschten Blicke. Gleichzeitig brüllten sie: »Lauft!«

Dann folgten sie ihrem eigenen Rat und rannten los, um die Zwillinge einzuholen. Der gesamte Trupp verschwand im offenen Maul des Turms. Und für einen kurzen Moment glaubte Arlo, eine fünfte Person in dem Durchgang gesehen zu haben.

Er drehte sich zu Indra und Wu um. Alle drei waren verwirrt.

Und dann hörten sie das Geräusch.

Eigentlich war es eher ein Heulen. Hätte Arlo diesen Ton aber ganz ohne Zusammenhang gehört, er hätte eine Gabel dahinter vermutet, die über eine Stahltrommel kratzte, oder es für einen seltsam verlangsamten, verzerrten Donnerschlag gehalten. Die Knochen vibrierten ihm davon. Arlo konnte den Ton in Zähnen und Kiefer spüren.

»Da!«, rief Indra und zeigte auf den anderen Turm. Aus dem Abgrund ragte ein gewaltiger Arm über die Brücke. Als er einen Halt gefunden hatte, begann sich daran ein geflecktes grünes Wesen nach oben zu ziehen.

Mit zitternden Händen hob Arlo das Fernglas.

Ein zweiter Arm packte die Brücke. Die Haut des Wesens war trocken und rissig, da und dort sprossen Haarbüschel aus ihm heraus. Schließlich schob sich der Kopf des Ungeheuers über die Kante. Die gelben Augen lagen weit auseinander, das Gesicht war zerdrückt wie übrig gebliebener Ton.

Arlo, Wu und Indra waren so sehr damit beschäftigt, zuzusehen, dass sie gar nicht bemerkten, wie hinter ihnen ein identisches Untier auftauchte.

Dann heulte es auf.

Das Trio wirbelte herum. Arlo ließ das Fernglas fallen. Er hörte, wie es zerbrach.

Das Wesen kletterte bis auf ihren Teil der Brücke. Es hockte auf den Hinterbeinen wie ein Pavian, war jedoch über vier Meter groß. Es nahm die ganze Breite der Brücke ein und blockierte den Eingang zum Turm.

Und es roch ungefähr, wie es aussah: ein Mix aus verrottetem Müll, totem Stinktier und einem übergelaufenen Klo. Der Gestank war so heftig, dass Arlo die Tränen in die Augen traten.

»Ich glaube, es ist ein Troll«, sagte Indra. Sie wollte zurückweichen, doch bis zum Ende der Brücke war es kaum noch ein Meter. Drei Schritte mehr und sie würden in den bodenlosen Abgrund stürzen.

Wu sah sie an. »Wie sollen wir …«

»Ich weiß nicht.«

Arlo trug keinen Salzstreuer mehr in seiner Tasche, aber das hier schien ohnehin nicht die Art Wesen zu sein, bei dem der nützlich gewesen wäre. Salz vertrieb herbeigerufene Wesen; das hier war der Bau des Trolls. Hier waren sie die Eindringlinge.

Der Troll näherte sich langsam, seine mit Krallen verzierten Hände umklammerten die Seitenkanten der Brücke. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln und legte weit auseinanderstehende Zähne bloß.

Wu packte Arlos Arm. »Mach ein Schnipslicht. Wie bei der Drude.«

Monate zuvor, während des Schlittenderbys, war Arlo sein erstes Schnipslicht gelungen. Es war mit einer solchen Wucht aus seinen Fingern geschossen, dass es die Waldhexe glatt umgehauen hatte. Aber seitdem waren Arlos Schnipslichter ganz und gar nicht außergewöhnlich gewesen, nicht besser und nicht schlechter als die der anderen Ranger.

Doch sie hatten nichts zu verlieren. Arlo zog seinen Arm zurück und rieb die Finger, um das vertraute Kribbeln hervorzurufen. Dann ließ er die Hand vorschnellen und jagte einen glühenden Ball aus blitzendem Licht auf den Troll.

Das Schnipslicht traf das Untier mitten im Gesicht. Sonst tat es nichts – es war einfach nur ein gewöhnliches Schnipslicht. Der Troll kriegte kaum mit, dass er getroffen worden war.

Er kam noch näher. Indra und Wu packten Arlo am Arm. Sie wichen den nächsten Schritt zurück. Arlos Blick wanderte über die Kante der zerstörten Brücke. Schwindel überkam ihn.

Der Troll griff jetzt nach ihnen. Seine Krallen waren schwarz und gespalten wie verkohltes Holz nach einem Lagerfeuer.

Dann ertönte von der anderen Seite der Schlucht genau das gleiche unheimliche Heulen.

Der Troll sah an ihnen vorbei, seine Aufmerksamkeit war plötzlich auf den anderen Turm gerichtet. Arlo riskierte einen Blick.

Der Troll auf dem anderen Teil der Brücke hatte offenbar vom Blauen Trupp abgelassen. Jetzt konzentrierte auch er sich auf sie – oder genauer gesagt auf das Wesen, das drauf und dran war, sie zu fressen.

Der Troll auf ihrer Seite beugte sich vor und heulte wieder.

Der Troll auf der anderen Seite richtete sich noch höher auf und heulte zurück.

Diese beiden Ungeheuer mochten bis hin zu den Narben identisch sein, in diesem Augenblick waren sie dennoch zwei Raubtiere, die sich um Revier und Beute stritten.

Wu war der Erste, der erkannte, welche Möglichkeit sich ihnen dadurch bot.

»Kommt schon!«

Er ging voran, geradewegs auf den Troll zu. Er duckte sich zwischen seinen Beinen hindurch und ging einfach weiter. Arlo und Indra folgten ihm in kurzem Abstand. Sie wagten es nicht, sich umzudrehen.

Das Gewölbe des Turms befand sich jetzt direkt vor ihnen.

Ein neues Heulen, diesmal klang es missmutig. Dann kamen die Krallen. Der Troll setzte ihnen nach.

Wu hörte nicht auf zu rennen, bis er den Turm hinter sich gelassen hatte. Erst dann drehte er sich um. Arlo und Indra liefen ihn über den Haufen, alle drei landeten sie im gelben Gras.

Der Troll war zu groß für das Turmgewölbe. Er starrte sie aus dem Durchgang an und heulte vor Enttäuschung.

Arlo und seine Freunde standen auf. Für den Moment waren sie in Sicherheit.

Der Troll kletterte davon – Arlo konnte nicht sagen, wohin er verschwand.

»Kannst du uns hier rausbringen?«, fragte Wu.

Arlo zog den Ranger-Kompass aus der Tasche. Seine Hände zitterten so sehr, dass er nicht sicher war, ob er die zarten Vibrationen spüren konnte. Er holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen.

»Hörst du das?«, fragte Indra.

Das tat er: ein Kratzen. Es kam aus der Schlucht. Aber von wo genau?

Dann sah er es. Der Troll kletterte außen um den Turm herum, seine Krallen frästen sich in den Stein. Er würde sie kriegen – auf die eine oder andere Weise.

Wu rannte zum Wald, in Richtung des Hohlwegs, auf dem sie hergekommen waren.

»Nein!«, schrie Arlo. »Hier lang!«

Er führte sie auf einen anderen Weg. Um den Kompass einzusetzen, blieb keine Zeit mehr. Stattdessen folgte er einer Mischung aus Instinkt und Gedächtnis. Über den Baumstamm, hinter den Baum, um den Felsen.

Der Troll lief hinter ihnen, aber der Wald hielt ihn auf. Während sie sich ducken und krabbeln konnten, musste er durch Bäume und Gebüsch brechen.

Mit klopfendem Herzen führte Arlo sie in einen Espenhain. Die geraden weißen Baumstämme standen verwirrend dicht. Der Troll würde Schwierigkeiten haben, ihnen hierhinzufolgen.

Doch etwas stimmte nicht. Arlo blieb unvermittelt stehen.

»Was ist los?«, fragte Indra.

»Ich habe eine falsche Abzweigung genommen. Das ist nicht der Weg.«

»Dann finde einen anderen Weg«, sagte Wu. »Irgendeinen!«

Arlo nahm seinen Kompass und drehte sich langsam im Kreis. Aus dem Augenwinkel sah er den Troll kommen. Mit seinem gewaltigen Armen fegte er ganze Bäume um.

»Beeil dich!«, rief Wu.

»Dräng ihn nicht!«, fuhr Indra ihn an.

Arlo hätte sie am liebsten beide angebrüllt, dass sie die Klappe halten sollen. In den Monaten, in denen er geübt hatte, in die Long Woods hinein- und wieder hinauszukommen, hatte er gelernt, dass er still sein musste, so leise, dass er die Blätter im Wind beben hörte. Er musste in sich gehen, während er sich gleichzeitig vorstellen musste, weit weg zu sein.

Um einen Weg zu finden, musste er gleichzeitig winzig und riesig sein.

Der Kompass vibrierte. Er hatte etwas gefunden. »Hier lang!«

Der neue Weg führte tiefer in den Espenhain und durch einen plätschernden Bach. Vor ihnen lag ein gewaltiger Felsbrocken, der in der Mitte gespalten war. Arlo führte sie direkt in den Spalt, quetschte seine Schultern hinein, um sich schräg hindurchzuzwängen.

Es war eng, aber er kam voran. Er sah sich nach Indra und Wu um, die ihm folgten. Als der Troll auftauchte, waren sie alle außerhalb der Reichweite seiner Krallen.

Das Untier heulte auf, dann schien es zu grinsen, als käme ihm eine Idee. Es verschwand nach links, aus ihrem Blickfeld.

»Es wird einfach auf der anderen Seite auf uns warten«, sagte Wu.

Aber Arlo war sich sicher: »Nein, wird er nicht.«

Ein paar Körperwindungen später tauchte Arlo aus dem Spalt und fand sich in einem neuen Wald wieder. Das Licht war anders. Der Gesang der Vögel auch.

Sie waren nicht mehr in den Long Woods.

Er schnappte nach Luft und wartete auf Indra und Wu. Das Herz schlug ihm bis zu den Ohren hinauf.

Vor ihnen wurde der Wald lichter. Zusammen traten sie zwischen den Bäumen hindurch und fanden sich auf einer zweispurigen Straße wieder. Arlo war noch nie so froh gewesen, Asphalt zu sehen.

»Wo sind wir?«, fragte Indra.

Wu kramte etwas aus seiner Tasche. »Warte einen Moment.«

Er zog ein Handy hervor.

Es war nicht das neueste Modell, aber schon die bloße Existenz des Geräts war beachtenswert. Keiner der Sechstklässler in Pine Mountain besaß ein Handy. Sie waren weder in der Schule noch in den Ranger-Camps erlaubt. Wu hatte trotzdem eins. Warum hat er mir nichts davon erzählt?, fragte sich Arlo. Und warum habe ich nicht seine Nummer?

Wu öffnete die Karten-App. Er pfiff überrascht und zeigte ihnen dann den Bildschirm.

»Da ist Pine Mountain. Und dieser Punkt, das sind wir. Wir sind zwanzig Meilen entfernt.«