Über das Buch

Veza Canettis Stück ist ein beklemmender Bilderbogen mit scharf umrissenen Personen: neben dem Oger, dem menschenfressenden Riesen aus dem Märchen, ist besonders Zlata, seine Frau, eine unvergessliche Figur, die an Horváths Frauengestalten erinnert. Ein Stück in der Tradition des Wiener Volkstheaters. Vor dem Zweiten Weltkrieg in Wien geschrieben, wurde das Stück erst 1992 in Zürich uraufgeführt.

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Veza Canetti

Der Oger

Ein Stück

Carl Hanser Verlag

PERSONEN

STJEPO PAVLOVITSCH

ZLATA, seine Frau

DRAGA und MILKA seine Töchter

BOGDAN STOITSCH, Verwalter

DER ALTE IGER

DER JUNGE IGER

EIN STUDENT DER MEDIZIN, später: DER JUNGE DOKTOR SCHWAB

BESSAROVITSCH, Präsident des Bekleidungsvereins

EIN AGENT

ZWEI TANTEN des jungen Iger

ZWEI KOMITEEDAMEN

ZWEI TISCHDAMEN

STJEPO, ZLATA, Dragas Kinder

EINE BONNE, EIN KELLNER

Hochzeitsgäste, Ballgäste, Waisenkinder

Im Vorspiel: Eine Stadt in Bosnien zur Zeit der Monarchie.

Neun Jahre später: Nach dem Zusammenbruch in der früheren Hauptstadt. Die frühere Hauptstadt der Monarchie ist Wien.

ERSTER AKT

STJEPO PAVLOVITSCH sitzt in seinem besten Zimmer. Seiner Pfeife entströmt behaglicher Rauch, sein Bauch ist voll Behagens, seine runden Wangen sind es und selbst sein Weib fühlt sich wohl, obgleich sie nur an der Schmalseite des Tisches sitzt, indessen er sich breitmacht. Er hält ein Salzfaß hoch und schlägt es auf den gedeckten Tisch nieder.

PAVLOVITSCH Ich sage dir, ich will kein Salzfaß!

MUTTER Um Gotteswillen, du schüttest das Salz aus, das gibt ein Unglück!

PAVLOVITSCH Ich w i l l kein Unglück … eh … Salzfaß! Ich will ein Weinfaß! Das ist groß, das ist breit, das hat Wein, das hat Platz für Wein!

MUTTER Aber es geht hier nicht um ein Faß, Lieber!

PAVLOVITSCH So ein Salzfaß! Ein Klotz! Schau dir diesen Klotz an! Unbeweglich schwer, nichts ist drin. Ich hab die Beweglichen gern. Die Vollen! Ein volles Weinfaß! Das hat der Bauer angefüllt, und es rollt doch, es hüpft, es hüpft über Stufen, Mutter!

MUTTER Aber es geht hier um kein Faß, es geht um unsere Tochter!

PAVLOVITSCH Es geht um meinen Schwiegersohn.

MUTTER Sie soll kein Faß heiraten! Sie soll einen braven Mann nehmen! Sie ist schön und gut gewachsen! Man schaut ihr auf der Straße nach! Wir brauchen sie nicht anzupreisen!

PAVLOVITSCH Niemand preist an, die Sache ist abgemacht. Sie ist schon lange abgemacht.

MUTTER Aber wenn sie nicht will …

Draga und Milka stürzen herein, Draga hat dunkle Augen und schwarze Zöpfe. Ihre Sanftmut im Gegensatz zur Glut ihrer Farben ist ihr Liebreiz. Milka die Jüngere, ist neben der Schwester noch ein wenig eckig. Sie ist lebhaft und hat helle Farben. Beide Mädchen stürzen auf den Vater zu und zeigen ihm Schmuckstücke.

MILKA Schau, Papa! Echt Silber! Alles echt! Zweihundert Dinar! Er wollte dreihundert, aber ich hab gefeilscht. Draga hätt es nicht um zweihundert bekommen.

PAVLOVITSCH Zweihundert Dinar! Ein Kapital! Laß sehen.

Die Mädchen zeigen ihre Halsketten. Milka zieht einige Berlocken heraus und zeigt sie ihm.

MILKA Schau, Papa! Ein Hufeisen! Eine Silberkugel! Ein Silberschuh! Schreit verwundert Innen ist er vergoldet! Schau den Ring an! Alles Silber!

PAVLOVITSCH nimmt ihr den Schmuck aus der Hand und versteckt ihn im Rücken. Das gehört mir!

MILKA Nein, Papa, was tust du … sei nicht so … Sie entreißt ihm den Schmuck, er lacht dröhnend.

Draga hat indessen ihren Schmuck von der Mutter bewundern lassen.

MILKA Wir haben auch noch Seidentücher!

PAVLOVITSCH Auch noch Seidentücher! Bringt her! Laßt sehen!

BEIDE MÄDCHEN eilen nach links hinaus und lassen die Türe offen.

PAVLOVITSCH blickt ihnen nach. Putz, Kleider, ein reiches Haus, das braucht sie. Und das wird ihr der Iger bieten.

MUTTER Schwab kann ihr das auch bieten. Schwab ist reich.

PAVLOVITSCH Ein Salzfaß ist er. Ein Klotz. Eine Sklavenseele.

MUTTER Er hat Herz, und das ist die Hauptsache. Wir haben sie verwöhnt. PAVLOVITSCH nickt grimmig. Wir haben sie mit Liebe großgezogen, sie wird das entbehren bei dem jungen Iger. Er ist tüchtig und fleißig, aber er ist ein Rechner.

PAVLOVITSCH Ist er ein Rechner! Wird also meine Tochter einen Rechner heiraten. Ein Teufel ist er! Ein Kopf! Reiz mich nicht, Zlata, hier wird nicht mehr gesprochen. Ich will den jungen Iger, und den jungen Iger wird sie nehmen.

MUTTER streichelt ihn. Sicher versteh ich nichts, aber weißt du, ich hab die beiden zusammen gesehen, wie sie noch den Laden geführt haben. Immer ist mir eingefallen, wie gutherzig Schwab ist.

PAVLOVITSCH Eine Sklavenseele.

MUTTER Da ist so eine Bäuerin in den Laden gekommen und hat Tuch gekauft. Der junge Iger hat ihr das schlechte Tuch angepriesen, ein Tuch wie Holz, ein Holzstoff. Schwab hat immer versucht, ihr das bessere zuzuschieben, sie hat sich aber von dem jungen Iger überreden lassen und hat das Holz genommen. Das war jeden Tag …

PAVLOVITSCH brüllt Ausgezeichnet! Jeden Tag ist er reicher geworden und Schwab steht noch immer am selben Platz. Der Krebs. Hat er den besseren Stoff hingeschoben! So ein Klotz!

MUTTER Ich versteh dich nicht, Lieber, wie oft kann sich eine Bäuerin einen Stoff kaufen?

PAVLOVITSCH Kauft sie nicht oft! Weil der Stoff noch zu gut ist. Papier wird man ihr nächstens verkaufen, dann wird sie öfter kommen. Froh wird sie sein, wenn sie oft kommen kann, bist du nicht froh, wenn du oft kaufen kannst! Weiberhirn! Er dreht wütend den Kopf und schreit. Draga! Milka!

BOGDAN STOITSCH erscheint statt der Mädchen in der Türe.

PAVLOVITSCH Wo sind die Nachtigallen?

BOGDAN STOITSCH Sie probieren oben.

PAVLOVITSCH Wo steckst du, Stoitsch?

BOGDAN STOITSCH Ich mach die Abrechnung über den Wald. Ich bin gleich fertig.

PAVLOVITSCH ruft ihm nach Laß den Wald und komm zu uns herein. Heut wird nicht mehr gerechnet. Zu Zlata Da hast du es klipp und klar. Vor Augen hast du es und kapierst noch immer nicht. I c h sitze hier. Er zeigt zur Türe hin. Stoitsch bedient mich. I c h befehle, er gehorcht. Im selben Laden haben wir gearbeitet, dasselbe Mädchen haben wir verlangt. I c h hab dich bekommen, e r ist mein Verwalter geworden. Er arbeitet für mich. Er arbeitet gut und er verdient gut. Aber ein Untergeordneter ist er doch.

MUTTER Glaubst du … ich wäre schlecht mit ihm gefahren?

PAVLOVITSCH Bist du schlecht mit m i r gefahren?

MUTTER Es … waren damals andere Zeiten, Lieber, meine Eltern haben mich so streng gehalten, daß es mir in deinem Haus wie im Paradies erschienen ist. Wir haben die Kinder aber freier erzogen …

PAVLOVITSCH Das hast d u auf dem Gewissen! Gestern sehe ich unsere Älteste nirgends. Sie ist nicht im Hof, ich seh in der Küche nach, ich klettere in ihr Zimmer. Da sitzt sie und liest ein Buch. Ein B u c h liest sie. Damit sie verdorben wird.

MUTTER Was soll sie mit ihrer freien Zeit anfangen, Lieber.

PAVLOVITSCH Teppiche soll sie knüpfen.

MUTTER Was braucht sie Teppiche knüpfen, wir haben genug Teppiche für sie eingekauft. Sie liest nur ein Buch, aus dem sie etwas lernen kann. Sie soll lernen, dann wird sie zu denken beginnen und wissen, was sie will.

PAVLOVITSCH Wenn sie zehnmal weiß, was sie will, ich will den jungen Iger und den jungen Igerwird sie nehmen.

MUTTER flehend Warte noch ein Jahr, Vater.

PAVLOVITSCH Soll ich warten, bis sie sich in einen Affen vergafft! Der uns das Kind verführt und die Heirat erpreßt! Ich kenn den alten Iger, das sind gesunde Leute, das sind Sparer, meine Tochter heiratet sechs Häuser.

MUTTER E i n Haus ist genug, wenn sie gern drin lebt. Warte doch noch ein wenig. Warum sollen wir sie schon jetzt verlieren?

PAVLOVITSCH Soll ich warten, bis wir sterben. Willst du sie allein in der Welt zurücklassen? Ich kenne die Igers, sie sind gesund. Habt ihr Weiber eine Ahnung, was für Seuchen die Männer mit sich herumschleppen? Kann ich jedem ins Blut sehen? Willst du ein verseuchtes Kind haben! Ich will gesunde Enkelkinder, so wahr ich lebe. Ich höre da unsere Gäste kommen! Er eilt hinaus und führt den ALTEN und den JUNGEN IGER herein. Der ALTE IGER sieht STJEPO PAVLOVITSCH ähnlich und hat denselben Kneifer über seinem Bauch hängen. Der JUNGE IGER ist kurzbeinig und hat eine fahle Gesichtsfarbe. Seine Augen sind lebhaft, seine Nase gleicht einem Schnabel.

PAVLOVITSCH Ich freue mich, das ist ein Festtag, setzt euch.

DER ALTE IGER setzt sich neben ihn, der JUNGE IGER neben den Vater.

DER ALTE IGER Wo sind die Mädchen?

PAVLOVITSCH Gleich werden sie hereinstürmen. Ich hab sie zum Basar geschickt, jetzt ist ihnen der Kopf voll von dem Kram. Bist du einverstanden, Freund, daß wir die Sache heute festlegen?

DER ALTE IGER Einverstanden. Ich hab den Verlobungspakt mitgebracht. Willst du ihn lesen, so setz den Kneifer auf und lies.

PAVLOVITSCH liest Also wenn die Verlobung durch unser Verschulden zurückgeht, zahlen wir euch hunderttausend Dinar. Wenn sie aus eurem Verschulden zurückgeht, zahlt ihr uns hunderttausend Dinar. Einverstanden. Jetzt noch eine Frage. Ist dein Sohn einverstanden?

DER ALTE IGER Ich habe sechs Häuser, vier Grundstücke, Aktien für eine halbe Million und das Geschäft. Wenn mein Sohn einverstanden ist, die Frau zu nehmen, die ich ihm aussuche, bekommt er sofort vier Häuser und erbt die Grundstücke und das Geschäft. Wählt er selbst die Frau, bekommt meine Tochter alle Häuser und Grundstücke. Mein Sohn aber kann das Geschäft haben, damit es nicht heißt, ich stoß ihn auf die Straße. Das Geschäft geht gut, er wird nicht verhungern. Mein Sohn hat die Wahl.

MUTTER ist die ganze Zeit unbeachtet mit ihnen gesessen. Jetzt blickt sie den JUNGEN IGER an.

DER JUNGE IGER schweigt

PAVLOVITSCH Meine Tochter bekommt zwei Millionen Dinar in die Hand und erbt nach meinem Tode zehn Millionen Dinar. Meine Frau erbt das Haus.

DER ALTE IGER Du wirst drei Millionen geben, Papachen.

PAVLOVITSCH zornig Nein, das werde ich nicht. Ich muß erst sehen, wie dein Sohn das Geld verwaltet. Wächst es, dann bekommt er in fünf Jahren die dritte Million.

DER ALTE IGER Wir wollen das gleich notieren. Er nimmt den Pakt und schreibt. ›In fünf Jahren die dritte Million.‹ Und dann erbt sie zehn.

PAVLOVITSCH Dann erbt sie neun.

DER ALTE IGER Vorhin hast du gesagt — z e h n.

PAVLOVITSCH Vorhin hab ich gesagt z w e i Millionen bar. Das Geld ist ihr sicher, ich wills nicht ins Grab. Aufessen können wirs auch nicht, meine Frau und ich. Meine Tochter nimmt man auch ohne Geld.

DER ALTE IGER Meinen Sohn auch. Er notiert Die Spesen für die Hochzeit bezahlst du.

PAVLOVITSCH zufrieden Die Spesen bezahle ich.

DER ALTE IGER schreibt Wieviele Gäste?

PAVLOVITSCH Wegen meiner fünfhundert.

DER ALTE IGER Weißt du, Papachen, ich bin nicht dafür, daß du dir so viele Gäste aufhalst. Was willst du dein Geld hinauswerfen. Was brauchen wir die Schmarotzer. Zwanzig gute Geschäftsfreunde sind mehr wert als fünfhundert Schmarotzer. Die Liste mach ich.

PAVLOVITSCH Gut, mach du sie, das soll kein Hindernis sein. Wie du das anstellen wirst mit zwanzig, weiß ich nicht. Wir allein mit unserer Sippe sind schon mehr.

DER ALTE IGER Meine Verwandten lad ich nicht ein, nur meine Schwestern. Lade du deine Verwandten selbst ein. Die Liste der Freunde mach ich.

DRAGA und MILKA stürzen herein und rufen schon bei der Türe Papa!

Beim Anblick der Gäste verstummen sie. DRAGA steht wie versteinert. Sie hat einen gelben Seidenschal mit langen Fransen über die Schultern geworfen, MILKA einen blauen. Jede trägt auch noch einen Schal über dem Arm.

PAVLOVITSCH Na kommt nur her und zeigt eure Einkäufe.

MILKA faßt sich Der gelbe und der rote Schal sind für Draga, der blaue gehört mir, der weiße uns beiden zusammen.

PAVLOVITSCH lacht dröhnend Euch beiden zusammen!! Und wenn sie nicht hier sein wird, deine Schwester?

DRAGA zuckt zusammen

MUTTER zu Draga Wie gut ihr die Kette steht. Leise Ich zieh’s hinaus. Bis die Aussteuer fertig ist, das dauert noch. Laut zum ALTEN IGER. Die Mädchen haben sich Silberketten eingekauft.

DER ALTE IGER derb Silberketten! Er stößt seinen Sohn an.

DER JUNGE IGER zieht eine Schatulle aus der Tasche und reicht sie Draga.

DRAGA schüchtern Was ist das?

DER ALTE IGER Schau einmal nach, was das ist!