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Michael Opoczynski

Geisterfahrer

Kriminalroman

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Lektorat: Christine Laudahn, München

Das Buch ist unter der ISBN 978-3-7109-5109-1 auch als Audioversion erhältlich.

Sämtliche Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden. Sollten sich Ähnlichkeiten zu lebenden Personen oder realen Ereignissen ergeben, so sind diese rein zufällig.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

1

März. Der Pizzakurier kommt. Andere freuen sich über den Frühling. Die Wärme. Besonders freuen sich gewisse Autofahrer: Straßen ohne Eis, ohne Schnee und eine Autobahn ohne Limit. Gefährliches Berlin – jedenfalls für manche

»Ciao!«

»Sera!«

»Pizza Napoli! Ist bestellt!«

»Moment, ich will was sagen!«

»Die Pizza! Avanti!«

»Aber …« Der Wirt schluckte. Und schwieg.

Seine Frau an der Theke wandte sich ab, während der Wirt Pasquale Bianchi nach einem bereitliegenden Pizzakarton griff und ihn über die Theke reichte. Der junge Pizzakurier griff zu, rüttelte den Karton hin und her, zweifelnd, auf seiner Stirn bildete sich eine Falte, er zögerte, doch dann tippte er sich mit zwei Fingern an die Schläfe und ging.

Grabbeallee. Berlin-Niederschönhausen. Das Ristorante Amalfi war voll, sogar jetzt, an einem ganz normalen Werktagsabend. Alle Tische besetzt. Im Eingang, zwischen Außentür und schwerem Vorhang, standen zwei Paare, ziemlich eingezwängt und trotzdem gut gelaunt. Ein junges Paar, ein altes Paar, und sie warteten, dass etwas frei werden möge. Pasquale Bianchi hatte ihnen Gläser mit einem Aperitif in die Hand gedrückt – italienische Gastfreundschaft, zum Überbrücken der Wartezeit. Es war laut, es wurde gelacht, es war warm und duftete typisch italienisch: nach Butter und Salbei, nach Basilikum und heißem Olivenöl, nach Pasta und Gebratenem. Kellner mit vollen Tellern schlängelten sich durch die engen Gänge. Das Lokal brummte. Bianchi hätte zufrieden sein können.

Amalfi! In Italien! So hieß sein Lokal, denn Amalfi war sein Sehnsuchtsort. Dort, in der kleinen und romantischen Stadt an der Küste war er geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Im Meer vor Amalfi hatte er schwimmen und segeln gelernt. Er liebte die Sonne, das blaue Wasser, die vielen am Hang wachsenden Zitronenbäume, aus denen man Limoncello machte. In Salerno, gleich nebenan, hatte er Koch gelernt. Arbeit fand er dort nicht.

Irgendwann war Pasquale Bianchi nach Berlin gekommen, eher ungeplant und zufällig. Er hatte in einigen kleinen, engen, heißen Küchen italienischer Restaurants gearbeitet, vieles gelernt, sparsam gelebt, Geld beiseitegelegt und gewartet. Er hatte seine Frau gefunden, auch sie kam aus Italien, aus Sizilien. Sie waren glücklich zusammen.

Das Warten hatte sich gelohnt: Als hier in der Grabbeallee ein indisches Lokal dichtmachte und ein Mieter gesucht wurde, griff er zu, unterschrieb den Vertrag und eröffnete sein eigenes Restaurant. Es lag zwar an einer viel befahrenen und breiten Straße, zum Teil scheußlich wegen der Plattenbauten aus DDR-Zeiten. Das erinnerte rein gar nicht an seine süditalienische Heimatstadt. Aber es war egal und dennoch war klar: Amalfi – so musste sein Lokal heißen. In die Küche brauchte er nicht viel reinstecken, Herde und Kühlschränke vom Inder konnte er übernehmen. Aber der Gastraum? Der musste anders werden. Ganz anders. Nur weg mit den scheinexotischen Schnitzereien, mit den Krishnas und vielarmigen Tänzerinnen. Rein weiß mussten die Wände werden, mit Flaschenregalen voll mit guten italienischen Weinen, mit Fotos von der Amalfitana, Gemälden von Neapel und Positano. Mit neuer Theke und verglaster Vitrine für Tiramisu und Panna cotta. Das Lokal lief von Anfang an gut. Die Pankower kamen gerne und die von weiter her auch. Er hatte bald Stammgäste. Er verdiente Geld. Bianchi war glücklich mit seinem Amalfi.

Ausgeträumt. Der Kurier war gegangen. Ein junger Mann, mittelgroß und schlank, schwarze kurze Haare, darüber eine Basecap, dünne teure Daunenjacke, modische Jeans: destroyed und ripped. Er war an den Wartenden vorbeigegangen, durch den Gastraum bis zur Theke. Wie immer. Fordernd. Kalt.

Pasquale Bianchi wandte sich jetzt schweigend dem Bierzapfhahn zu. Seine Frau schaute auf den Monitor mit den Bestellungen und stellte eine Weinflasche und vier Gläser auf ein Tablett. »Diesmal nicht!«, sagte er zu ihr. Sie sagte nichts. »Es geht nicht mehr«, sagte er, »es muss Schluss sein!« Und erhoffte sich eine Reaktion. »Ich weiß«, sagte sie.

Das Lokal brummte.

Der Junge war weg. Er hatte nicht bezahlt. Er war keinem aufgefallen.

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Es kam aus dem Nichts.

Eben lief noch alles wie geplant – und nun das.

Es war für ihn ein völlig neues, fremdes, schmerzhaftes Gefühl: eine Situation, die nicht beherrschbar war. Er wurde fremdbestimmt.

Dominic Walch saß im Auto. In seinem Auto. In einem schwarzen langen 300-PS-Gefährt, ausgestattet mit allem, was die Hersteller ihren Käufern beim Kauf nahezubringen versuchen. Assistenzsysteme nannten das die Fachleute. Unterstützung beim Parken, beim Überholen, beim Abstandhalten, im Stau, beim Navigieren. Walch war stolz auf sein Auto.

Es war sein Auto, er liebte das Gefühl des Eigentümers, des Herrschers, er nannte das Auto »Black Beauty« und fuhr es, wann immer er konnte, aus. Sein Eigentum hatte ihm zu gehorchen. Umso schlimmer jetzt dieses Erlebnis. Es brachte seine Welt ins Wanken. Es war ungehorsam! Walch fand sich selbst ziemlich perfekt und war es gewöhnt, dass man ihm folgte. Ungehorsam machte ihn rasend. Er war Partner in einer großen Frankfurter Beratungsfirma, hohes Einkommen, anerkannter Consultant im Bereich Hotellerie und Gastronomie, in den Dreißigern, unverheiratet, noch jung und schon wohlhabend. Manche Kollegen formulierten das hinter vorgehaltener Hand etwas anders: Er sei ein Arschloch, arrogant und selbstverliebt, rücksichtslos und zur Empathie unfähig. Wieder andere, seine Opfer, sagten, er sei einer, der Geld machte, in dem er andere knechtete, indem er Arbeit verdichtete, Löhne drückte und Ausstattung einsparte, einer, dessen Beratung darin bestand, Kosten zu schneiden, Personal abzubauen und Profite zu erhöhen. Diese Bilder, die andere über ihn zeichneten, kannte Walch. Es machte ihm nichts aus. Neider!

Walch drückte immer aufs Tempo. Immer. Nicht nur, wenn er spät dran war. Er fuhr schnell aus Prinzip. Er bedrängte andere Verkehrsteilnehmer, er fuhr zu dicht auf und freute sich, wenn sie flüchteten. Auch das gehörte zu seinem Charakter. Also war er auch jetzt mit Tempo 200 auf der Autobahn unterwegs. Nur wenige andere Fahrer konnten es mit ihm aufnehmen. So wie gerade ein kleiner roter japanischer Sportwagen. Seit ein paar Minuten versuchte der, an ihm vorbeizukommen. Keine Chance, haha! Ein Japaner!

Noch zwei Stunden bis Berlin, alles war bisher bestens gelaufen. Dann kam es. Aus dem Nichts. »Was soll das?«, schrie Walch. Er schrie. Niemand konnte ihn hören. Aber er war erschrocken und empört zugleich. Seine »Black Beauty« verweigerte sich. Sie bremste erst leicht, dann sogar stärker, fuhr einfach von der Überholspur nach rechts, das Lenkrad bewegte sich selbsttätig, andere überholten ihn, nur der Japaner nicht, wo war der denn geblieben? Er spürte, dass ihn das ungewohnte Überholtwerden nervte.

»Was zum Teufel soll das?« Immer noch sprach er laut. Niemand antwortete. Aber sein Auto lenkte selbstherrlich ganz nach rechts zwischen die vielen Lastwagen. Das Lenkrad verweigerte sich seinem Zugriff. Das Gaspedal ließ sich in die Tiefe drücken – keine Reaktion. Dafür senkte sich langsam, wie von fremden Kräften gesteuert, das Bremspedal. Der Blinker entschied sich, rechts zu blinken. Er konnte nichts tun. Sein Auto verweigerte ihm den Gehorsam. Er war machtlos.

Sie verließen die Autobahn, seine »Black Beauty« und er, und fuhren auf den Parkplatz einer Raststätte, hinter ihm immer noch der rote Japaner, den er normalerweise noch nicht mal zur Wettfahrt herausgefordert hätte. Ein Japaner! Er fragte sich: Was ging hier vor? Sein verrückt gewordenes Auto parkte selbsttätig auf einem für Frauen reservierten Parkplatz. Auch das noch! Halt. Motor aus. Stille. Der andere rollte langsam vorbei. Vielleicht lachte der ihn aus? Er spürte neben der Angst auch die Demütigung: Frauenparkplatz!

Walch zitterte. Was hatte er gerade erlebt? Er hatte die Kontrolle verloren – und das hasste er. Das konnte er nicht aushalten. Nicht im Beruf. Nicht privat. Walch atmete tief ein und aus, regelmäßig, wie beim Joggen. Viermal in kurzen Zügen einatmen, kurz anhalten, viermal in kurzen Stößen ausatmen. Das hatte ihm mal ein Trainer beigebracht. Immer wieder, ganz langsam. Kontrolle erlangen. Er wurde ruhiger.

Wo war denn diese Nummer? Er schnallte den Gurt ab, spürte, dass seine Hände zitterten und öffnete das Handschuhfach. Irgendwo da drin war die 0800er-Telefonnummer des Herstellers, die Hilfe, Trost und schnellen Service versprach, das Mobilitätsversprechen. Er hatte es noch nie benötigt. Er kaufte sich ohnehin jedes Jahr ein neues Auto. Nach 30 000 Kilometern. Er wählte die Notfallnummer. Er hörte das Klingeln, dann das Verbinden, dann die Ansage: »Das Gespräch wird zur Verbesserung unserer Servicequalität aufgezeichnet.« Herrgott! Ja! Ja!

»Bitte bleiben Sie in der Leitung.« Macht endlich, ihr Idioten!

Eine Frauenstimme: »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich stehe hier bei einer Raststätte. Mein Auto ist verrückt geworden!«

Stille.

Er wurde sauer. »Hallo? Hören Sie mich?«

Ein Räuspern. »Ja, hallo! Was genau ist denn Ihr Problem?«

»Ich stehe hier bei der Raststätte, äh …«, wo war er eigentlich? Er schaute auf dem Monitor nach. »Mein Auto hat von selbst gebremst, ist rechts rangefahren und ist dann einfach hier rausgefahren. Auf diesen Parkplatz. Gegen meinen Willen. Sie müssen mir helfen!«

»Ihr Auto hat von selbst gebremst, sagen Sie? Von selbst?«

»Sind Sie taub, oder was? Ja, von selbst. Ich habe nichts dagegen tun können!«

Wieder Stille.

»Hallo?« Bisher war er nur aufgeregt. Jetzt wurde er sauer.

»Einen Augenblick. Ich verbinde Sie!« Rauschen. Eine Ansage: »Wir verbinden Sie weiter …«

Die hielten ihn wohl für blöd, oder was? Das Rauschen endete. Es meldete sich ein Mann. Der sagte, er sei Techniker. Der sich das Vorgefallene noch einmal schildern ließ. Der dann erwiderte, so etwas habe es noch nie gegeben, es sei technisch auch gar nicht möglich und er habe Zweifel, ob …

»He! Sie! Tomaten auf den Augen, oder wat? Dit is’n Frauenparkplatz!« Von draußen klopfte einer heftig an die Scheibe. Typ LKW-Fahrer, klein, schmuddelig und ziemlich dick.

Der Techniker sprach weiter. Walch öffnete stinksauer das Fenster. Dass man sich mit solchen Leuten herumärgern musste! »Ja, sorry! Ich habe eine Panne! Sehen Sie doch!«

Aus dem Telefon schallte die Stimme des Technikers. Walch war abgelenkt. Wieso kümmerte sich so ein Trucker überhaupt darum, ob er auf einem Frauenparkplatz stand? Was ging den das an?

Der Techniker am Telefon wiederholte seine Fragen. Dann verstummte er. Walch kam nicht zum Antworten. Der LKW-Typ da draußen stemmte die Fäuste in die Seiten, blies die Backen auf und sah plötzlich gar nicht mehr nett aus. Bloß weg von dem! Walch ließ den Motor an. Das Telefon schwieg. Er legte den Rückwärtsgang ein, fuhr rückwärts aus dem Parkplatz.

Der LKW-Typ blieb breitbeinig stehen. Von der Seite hörte er ihn lautstark zetern: »Von wegen Panne! Schöne Panne!«

Walch – immer noch sauer und seinen eigenen Hochdruck spürend (da musste er bald mal was machen) – fuhr langsam an den anderen parkenden Fahrzeugen vorbei. Essende, trinkende oder rauchende Menschen schauten ihm nach und kommentierten, was sie sahen, aber nicht verstanden.

Und das Auto? Es gehorchte! Walch trat vorsichtig auf das Gaspedal. Die Automatik schaltete ruckfrei hoch. Er fädelte sich auf die Autobahn ein, gab richtig Gas und sein Auto wurde schnell, so wie es sich gehörte. Immer noch pünktlich erreichte er Berlin. Als er ankam, hatte er das Erlebte bereits erfolgreich verdrängt. Alles. Es gehörte zu seinem Erfolgskonzept, dass er Vergangenes löschen konnte, wenn es ihm nichts nützte.

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Mit Schwung knatterte der Pizzakurier auf seinem Motorroller in den Neuköllner Hinterhof, hinter sich auf dem Gepäckträger einen isolierten Kasten, wie ihn auch andere Pizzalieferanten auf ihren Rollern hatten. Er brauste durch die Toreinfahrt, viel zu schnell durch den ersten Hof, durch eine weitere Toreinfahrt in den zweiten Hof bis vor das zweite Hinterhaus. Es war ein schmutzig gelb verputzter verwahrloster Kasten aus den Anfängen des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Hof standen ein paar Autos, ein Lieferwagen, für den Müll zwei große graue Sammelbehälter, bei einem der Deckel offen, sodass es keine Zweifel über den Inhalt gab. Man sah es, man roch es. Irgendjemand hatte mit seiner Mülltüte nicht genau getroffen. Auf dem Boden lagen Kartoffelchips, leere Dosen, Orangenschalen.

Das Haus hatte fünf Etagen, ein verwahrlostes Treppenhaus mit ausgetretenen Stufen und klebrigem Metallgeländer. Links und rechts Türen zu den Wohnungen: Hohe Räume mit billigen Kunststofffenstern, nachträglich eingebaut. Bis unters Dach aufgeteilt in Zwei-Zimmer-Wohnungen mit hellhörigen Rigipswänden, mit billigen Bädern und Toiletten. Mit welligen Plastikböden und Heizkörpern vom Baumarkt. Damit konnte ein Vermieter viel Geld machen. Wohnungen waren knapp. Mieter mit dunkler Hautfarbe und vielleicht ohne Ausweis oder Nachweis einer festen Anstellung mussten kräftig zahlen. Beschweren durften sie sich schon gar nicht. Sie hatten keine Rechte.

Neben dem Hauseingang gab es eine Außentür, schmal, ganz aus Metall, und daneben ein Fenster mit Milchglas. Man konnte nicht hineinsehen und sollte es auch nicht. Eine Klingel an der Tür, ein blecherner Briefkasten, ein auf den Kasten geklebter Zettel, Druckbuchstaben, handgeschrieben: Valorvino GmbH. Vor dieser Tür stellte der Kurier seinen Roller ab, ging zum Kasten auf dem Gepäckträger und holte Pizzakartons heraus, sechs verschiedene, bunte und mit Schrift bedruckte – als hätte er bei vielen verschiedenen Pizzerien eingekauft. Und dann noch zwei Aluminiumschalen mit Aludeckel. Er packte seine Beute mit beiden Händen und ging zu der schmalen Tür. Die Klingel war defekt. Das wusste er. Also stieß er mit dem Fuß gegen die Füllung. Die Tür ging auf. Er ging hinein.

»Dann lass mal sehen«, sagte der mittelalte Mann, nachdem der Kurier alles auf den Tapeziertisch gelegt hatte. Die Rückwand war zu einem Viertel belegt mit Kartons: gefüllt mit Weinflaschen, jeweils 12 Stück in einem Karton. Eine dünne Leuchtstoffröhre sorgte für mattes blaues Licht und graue Gesichter. In der Mitte der farbverkleckste Tapeziertisch. Zwei ausrangierte Bürostühle mit Rollen und zerfetzter Sitzfläche. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch und nach alten Pommes frites.

Der junge Pizzabote setzte seinen Helm ab und legte ihn auf einen der Stühle. Der Mann begann damit, die Kartons und die Aluschalen zu öffnen. Geldbündel fielen heraus, Hunderterscheine und Fünfzigerscheine. Jedes Bündel wurde separat auf ein Häufchen gelegt, auf den zugehörigen Karton. Auch aus den Aluschalen fielen Geldscheine. Nur aus einem Pizzakarton fiel kein Geld. Stattdessen ein Briefumschlag.

»Was zum Teufel?!«, knurrte der Mann. Der Junge, der sich inzwischen auf einen der Bürostühle gesetzt und eine Zigarette angezündet hatte, wandte ihm den Kopf zu.

»Was ist das, frage ich dich!«, rief ihm der Mann zu. Der Junge stand auf und schlenderte aufreizend langsam zu dem Tisch. Er sagte nichts.

»Was hast du da mitgebracht?«

Der Junge zuckte die Schultern und rauchte.

Der Ältere riss den Umschlag auf und zog ein Blatt heraus. Er faltete es auseinander. Er las stumm. Viel stand da nicht. Er las noch einmal. Dann zog er die Luft zwischen den zusammengepressten Zähnen ein. Es zischte. Er murmelte.

Er hob den Kopf und sah den Jungen an. »Was für eine Scheiße hast du da mitgebracht, he?«

Der Junge sagte nichts. Er kam näher und sah dem Mann über die Schulter.

Der las vor. »›Ich kann nicht. Ich habe kein Geld übrig.‹ Von wem ist das?«

Der Junge sah sich den Pizzakarton näher an, nahm die Zigarette aus dem Mund und nuschelte: »Amalfi.«

»Amalfi? Der Bianchi?«

Der Junge nickte.

Der Mann kniff die Lippen zusammen, zog dabei beide Mundwinkel nach unten und schwieg ein paar Sekunden.

»Du weißt, was jetzt zu tun ist?«

Der Junge nickte, ließ die Zigarette fallen und drückte sie mit dem Schuh aus.

Der Mann sagte: »Er bekommt eine Nachricht. Frist drei Tage.«

Der Junge nickte.

»Wenn er zahlt ist Ruhe. Dann fährst du noch mal hin.«

Der Junge bohrte mit der Zunge zwischen den Zähnen.

»Wenn nicht, machen wir es nächste Woche. Du und ich. Mittwoch um sechs treffen wir uns. Klar?«

Der Junge nickte.

»Mach dein Maul auf!«

»Ja, Chef!«

Der Mann war zufrieden. »So. Jetzt zählen wir. Du weißt, dass du weniger kriegst.«

»Weniger!?«

»Es fehlt ein Anteil. Wenn’s dir nicht passt: mach die Fliege.«

Der Mann war breitschultrig und kräftig. Er beherrschte ein paar schnelle Griffe und harte Schläge und wusste, dass andere das auch wussten. Außerdem war er bekannt dafür, nicht lange zu zaudern.

Der Junge zog die wattierte Jacke aus und sagte nichts.

»Wer nichts bringt, der kriegt nichts ab!«

Der Junge schwieg.

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Amerikaner in Paderborn waren seltene Exemplare. Es gab zwei beim Fußballverein. In der Bundesliga mit den vielen ausländischen Söldnern fielen sie nicht aus dem Rahmen. Aber sonst? Amerikaner? In Paderborn?

Das störte Jeremy Lions nicht. Dann bin ich halt ein Exot, dachte er, mir egal, Hauptsache ich verstehe genug Deutsch für meinen Job. Er arbeitete als IT-Mann in der Entwicklungsabteilung einer Paderborner Firma. Ein Unternehmen, weltweit führend, das Geldautomaten herstellte und Maschinen, die in Supermärkten die Pfandflaschen annahmen. Er machte seinen Job gerne. Manchmal dachte er: Paderborn for ever? Niemals! Aber dann wandte er sich wieder den Geheimnissen der Pfandflaschenautomaten zu.

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Moretti saß an seinem Schreibtisch. Der Schreibtisch stand in seinem Büro. Ein Büro in einem grauen einstöckigen staubigen Zweckbau im Industriegebiet von Lecce, der italienischen Stadt weit im Süden, in Apulien, am Sporn der Halbinsel, mit 90 000 Einwohnern nichts Besonderes.

Moretti. Giulio Moretti. Boss der Mafia von Lecce.

Er war mittelgroß, ziemlich stämmig, 48 Jahre, hatte olivfarbene Haut und einen stetig wachsenden Bauch bei gleichzeitig fortschreitendem Verlust der schwarzen Haare. Er trug einen zu engen schwarzen Anzug (das Jackett ließ sich nicht mehr richtig schließen), dazu ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Er saß an seinem Schreibtisch, rauchte eine Marlboro. Und dachte nach. Das tat er in letzter Zeit oft, öfter, als er es sich selbst zugestehen wollte. Ein Chef darf nicht zu viel denken, er muss handeln, zumal als Mafioso. Aber heute konnte er nicht anders. Er musste nachdenken.

Sein Schwager hatte ihm eine E-Mail geschickt. Das Geschäft in Berlin, schrieb der, lief nicht ganz reibungslos. Es gab Unruhe. Einer der Kunden hatte sogar aufbegehrt und sich geweigert zu zahlen. Der Schwager kündigte eine, wie er schrieb, Maßnahme an. Eine Maßnahme, die die anderen Kunden nicht übersehen könnten. Außerdem wolle er insgesamt mehr Präsenz und Härte zeigen. Die Berliner Szene sei verlottert, schrieb er. Die Menschen in der deutschen Hauptstadt seien keine Disziplin gewohnt, oft ungehorsam. Das werde ich in unserem Geschäftsfeld ändern, schrieb der Schwager und Giulio Moretti wurde unwohl. Einerseits, weil er das, was sich hinter »Präsenz und Härte« verbarg, nicht mochte. Andererseits, weil er der Boss war. Er hatte Maßnahmen anzuordnen. Nicht der Schwager.

Von außen betrachtet sieht das alles so toll aus, dachte Moretti. Ich bin ein Boss, habe eine nette Familie, wohne in einem schönen Haus, bin in der Kirchengemeinde anerkannt. Mein Auto ist deutsch. Ich trage einen schwarzen Anzug. Es gibt bestimmt viele, die mich beneiden, wenn sie mich so sehen. Die nicht wissen, wie hart ich für all das arbeiten muss. Die nicht wissen, dass ein Boss keinen Urlaub kennt, jederzeit entscheiden muss, sich manchmal die Hände schmutzig machen und Verantwortung tragen muss für seine Leute.

Moretti drückte die Zigarette aus. Er ging zu dem halbhohen Regal an der Wand und warf den Wasserkocher an. Er brauchte einen Tee. Einen Kräutertee, der würde ihm guttun. Seine Gedanken schweiften. Er hatte das Geschäft ausgeweitet. Die Gründung der Filiale Berlin war eigentlich eine gute Idee gewesen und er hatte sich gefreut, dass sein Schwager die Geschäftsleitung übernommen hatte. Aber das alles war so weit weg, so schwer zu kontrollieren.

Er seufzte, zog den Bauch ein und die Hose hoch, stand auf und ging zum Fenster. Er blickte auf den trostlosen Hof. Dort parkte seine einzige Freude, sein großer schwarzer Audi, den er frühmorgens noch hatte waschen lassen mit einer Extraportion Seifenlauge für die Alufelgen. Tja – er ließ seine Gedanken wandern … fuhr mit seinem SUV durch die Weinberge bei Lecce, nahm jede Kurve mit Schwung, spürte durch das geöffnete Fenster den Duft der frühlingshaft atmenden Erde, winkte einer jungen rothaarigen Winzerfrau zu, sie winkte zurück und … Moretti! Giulio!! Komm sofort zurück!!! Er landete unsanft im Hier und Jetzt, in seinem traurigen Büro im Industriegebiet von Lecce. Ging zum Schreibtisch. Nahm seinen PC in Betrieb, seufzte, und schrieb seinem Schwager nach Berlin: Nächste Lieferung geht raus.

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Eine Woche später, sieben Uhr abends. Niederschönhausen, Grabbeallee. Wieder war das Amalfi voll. Es war tatsächlich warm geworden in Berlin, sogar jetzt noch, in der Abenddämmerung, spürte man den Frühling.

Bald würde Pasquale Bianchi seinen Leuten sagen, sie sollten den gepflasterten Vorgarten kräftig fegen, dann die Tische und Stühle aufstellen und vorausschauend auch gleich die Füße für die Sonnenschirme aus dem Keller holen. Dann würde er rotkarierte Tischdecken auflegen lassen; so sah es einladender aus. Das war gut fürs Geschäft.

Heute ließ er fürs Erste die Tür seines Lokals offen stehen, damit die Frühlingsluft ins Innere ziehen konnte. Die Gäste kamen gerne zu ihm und er freute sich darüber. Zugleich – wie ein permanenter Zahnschmerz, den man zwar immer spürt, aber zwischendurch zu vergessen sucht – war da die Angst. Lange hatte er bezahlt und sie ruhiggestellt. Viel zu lange. Die Forderungen waren gestiegen, immer weiter gestiegen, bis ihm nichts mehr geblieben war. Er musste heraus aus diesem Teufelskreis, er konnte nicht mehr zahlen. Es ging einfach nicht mehr – auch jetzt nicht, nachdem am Wochenende eine hämische »letzte Mahnung« ins Haus geflattert war. Es musste Schluss sein, damit sich die Arbeit wieder lohnte.

Vor seinem Lokal, an der offenen Tür, standen zwei Frauen und rauchten. Sie unterhielten sich lautstark und schnippten die Asche in den großen Stehascher, der die Form eines überdimensionierten Diabolos hatte und mit Sand gefüllt war. Der Wirt würde sie rufen, wenn ihr Essen auf dem Tisch stand. Sie sprachen gerade über ihren gemeinsamen neuen Chef in der Firma und waren sich uneins, ob er okay sei oder nicht. Da sahen sie sie kommen.

Der schwarze Mercedes fuhr vor, direkt vor den Eingang. Alle Parkplätze auf der Straße waren besetzt, also drängelte er sich auf den Bürgersteig und blockierte alles. Zwei Männer stiegen aus, ein mittelalter kräftiger und ein schmaler junger. Der Junge ging schnellen Schritts in das Amalfi, der Ältere verriegelte mit einem hörbaren Blip das Auto und stellte sich zu den Frauen an den großen Stehascher. Rauchen wollte er nicht. Will der mich anmachen?, dachte die eine Frau. Sieht nicht schlecht aus, der Typ, dachte die andere.

Bianchi sah ihn kommen und atmete tief ein. Er drehte sich schnell zu seiner Frau an der Theke und sagte: »Los, in die Küche!« Sie ging nicht in die Küche. Sie dachte nicht daran. Stattdessen drehte sie dem Raum ihren Rücken zu, griff zu ihrem Mobiltelefon und wählte die 110. Er hatte es ihr verboten. Egal.

»Die Pizza!«, sagte der Kurier. »Nein«, sagte Bianchi. »Keine Pizza.«

Der Junge starrte Bianchi an. Sekundenlang. Bianchi versuchte, zurückzustarren. Der Kurier zog den rechten Mundwinkel hoch. Es sah aus wie ein Lächeln, war aber keins.

Der Junge drehte sich schweigend um und ging hinaus. Er trat vor die Tür, blickte den Mann am Eingang an und schüttelte den Kopf. Wie auf Kommando betraten sie nun zusammen das Amalfi. Ihr Auftritt erregte Aufsehen, denn da kamen keine Restaurantbesucher, das sah man. Manche Gäste blickten hoch, einige hielten inne, die Gabel am Mund, das Glas in der Luft. Andere merkten nichts, weil sie mit dem Rücken zur Tür saßen. Sie plauderten weiter, während ihr Gegenüber ihnen nicht mehr zuhörte. Die Musikanlage spielte unbeschwert San-Remo-Hits. Der Frühling verzog sich aus dem Raum wie eine Wolke und es wurde kalt.

Der Ältere trat an Bianchi heran, sagte kein Wort, griff blitzschnell zu und drehte ihm den linken Arm auf den Rücken, weit hinüber auf die rechte Körperhälfte, viel zu weit. Bianchi schrie auf und beugte den Oberkörper, um dem Schmerz zu entgehen. Der Mann führte sein Opfer durch den schmalen Raum zwischen den Tischen hindurch nach draußen, stieß dabei rücksichtslos an sitzende Gäste und fegte sogar ein Gedeck zu Boden. Es klirrte, während der Jüngere die Gäste beobachtete. Er sah die Wirtin mit dem Telefon am Ohr, ging schnellen Schritts zu ihr, riss ihr das Telefon weg und warf es in die gläserne Vitrine, Glas splitterte, das kleine Gerät flog in die Form mit dem Tiramisu. Die Frau flüchtete schluchzend in die Küche.

Ein Gast, ein junger Mann, sprang auf und schrie: »He, was soll denn das?« Der Junge ging zu ihm, holte schnell aus und schlug ihm ins Gesicht. Zugleich drückte er ihm den Stuhl in die Kniekehle, sodass der andere sich gegen seinen Willen setzte. Der Widerstand war gebrochen, keiner der anderen Gäste wagte es noch zu protestieren. Manche dachten: Hoffentlich komme ich hier heil raus. Andere dachten: Eigentlich müsste ich was tun, aber vielleicht nicht gerade jetzt.

Der Junge stellte sich vor den Ausgang und blockierte ihn. Draußen hielt der Ältere den Wirt gepackt, trieb sein willenloses Opfer eng an sich gepresst mit dem Gesicht nach vorne bis zur Hauswand und schleuderte ihn mit Wucht gegen das Mauerwerk.

Die beiden rauchenden Frauen sahen ungläubig, was sich vor ihren Augen abspielte. Eine ließ die glimmende Zigarette fallen, beide schrien laut. Sie drehten sich sinnlos um sich selbst, griffen sich an den Händen wie Konfirmandinnen und liefen erst einen Schritt nach rechts und dann nach links und schließlich in das Lokal, wo sie auf den Jungen trafen, der sie hineinließ und nicht mehr hinaus. Eine rief: »Hilfe!« Die andere rief: »Da draußen!« Niemand reagierte. Alle blickten wie abwesend auf die Tische oder in die Ferne.

Bianchis Kopf prallte mit Wucht an die Wand, direkt neben dem Kasten mit der Speisekarte: Einmal. Ein dumpfer Aufprall. Noch einmal, noch ein dumpfer Aufprall. Bianchi war fast still, nur ein Stöhnen bei jedem Aufprall war zu hören. Ein drittes Mal. Mit Wucht. Gegen die Wand. Jetzt rutschte der Wirt langsam in die Knie. Auf der Wand eine Blutspur. Der Ältere packte sein Opfer, schleppte ihn zu dem Standaschenbecher und drückte sein Gesicht tief in den Sand. Bianchi ging in die Knie. Der Ältere blickte in das Lokal und rief mit heiserer Stimme »Pronto!« Der Junge kam im Eilschritt heraus, sie bestiegen den Mercedes. Der Mann am Steuer. Er fuhr zügig, aber ohne Eile ab.

Bianchi – auf den Knien – hob seinen Kopf zum Himmel. Sein Gesicht war blutig und teilweise bedeckt mit Sand und Zigarettenasche. Er schluchzte. Für eine halbe Minute herrschte völlige Stille in seinem Lokal.

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Der Polizist verdrehte die Augen. Er stand jetzt seit zwanzig Minuten im Amalfi und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen.

Auf der Grabbeallee, vor dem Lokal, in der zweiten Reihe neben den parkenden Autos standen zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei, Blaulicht aus, Warnblinker an. Ein Rettungswagen der Berliner Feuerwehr, Blaulicht an, Hecktüren geöffnet. Ein SUV in rotweißer Lackierung und mit der Aufschrift Notarzt in großen Buchstaben. Es gab einen Verkehrsstau wegen der blockierten Fahrbahn.

Vor dem Lokal einige Gaffer, die zu wissen glaubten, was da drinnen passiert war: »Schlägerei!« – »Schlechtes Essen, ich geh da sowieso nicht hin!« – »Garantiert die Stasi!« – »Berlin wird immer schlimmer!«

Der Standaschenbecher in Form eines Diabolos war umgefallen, zur Seite gerollt und hatte Sand und Asche verstreut.

»Die haben uns bedroht! Die wollten uns ans Leder!«, versicherte eine der beiden Frauen, die draußen geraucht hatten. Jetzt standen sie mitten im Lokal, eine sprach, die andere nickte und fuhr sich immer wieder hektisch durch die Haare. Sie rauchten beide. Niemand sagte etwas dagegen. »Sind Sie verletzt?«, fragte einer der Polizisten. »Nein, ich habe mich gewehrt«, versicherte die Frau, während ihre Kollegin und Begleiterin wieder nickte und dann dazwischenredete: »… Sie hätten die sehen sollen, die waren echt brutal!« Und als der Polizist wissen wollte, wie jene denn aussahen, die er hätte sehen sollen, kam nicht mehr viel. Höchstens, dass der Junge so ein dunkles kurzes wattiertes Jäckchen angehabt hätte. Na toll, dachte der Polizist, das trägt jetzt jeder.

»Er hat mich geschlagen!« Der junge Mann befühlte seine Wange, als wäre da noch etwas zu sehen. »Geschlagen!«

»Wie sah er aus?«

»Nun ja, also …«

Der Polizist wandte sich ab.

Der Wirt saß an einem Tisch am Rande, während ein Sanitäter sein Gesicht abtupfte und danach mit einer Eiskompresse versuchte, den Schwellungen beizukommen. Die Tischdecke war zur Seite geschoben, benutzte Teller und Gläser hatte jemand auf dem Nebentisch gestapelt, stattdessen lagen da Verbandspäckchen, ärztliches Besteck und aufgerissene weiße Plastikverpackungen von medizinischem Zubehör. »Sie sollten mit uns kommen«, sagte die Notärztin. »Sie gehören ins Krankenhaus.« Bianchi schüttelte den Kopf und sagte nichts. Seine Lippe war aufgeschlagen und stark geschwollen. Er wollte nicht sprechen und konnte es auch kaum.

Die Polizisten hatten sich Mühe gegeben. Der Wirt sagte gar nichts. Die Wirtin weinte und schwieg beharrlich. »Fragen Sie meinen Mann«, war alles, was von ihr kam.

Blieben die paar Zeugen unter den Gästen. Nachdem die verfolgt hatten, wie der Wirt und seine Frau sich verweigerten, wurden auch sie einsilbig. Klare Erinnerungen konnten Folgen haben. Also verschwamm ihnen in der Erinnerung alles zu einem Nebel, aus dem keine Abläufe und keine Gesichter hervorstachen. »Es ging alles so schnell«, sagte eine Frau.

Viele Gäste waren schon vor dem Eintreffen der Polizei geflüchtet. Manche fühlten sich in der Verantwortung und hatten Geldscheine auf den Tischen gelassen. Andere nicht. Ein paar wenige waren geblieben, hatten die Wirtin getröstet, den Wirt auf einen Stuhl gesetzt und seine Wunden gekühlt, auf die Polizei und den Notarzt gewartet.

Auftritt der Presse. Seit der Polizeifunk nicht mehr so leicht abgehört werden konnte, waren Journalisten auf andere Quellen angewiesen. Die junge Frau von der B.Z. hatte einen Anruf erhalten, ohne dass der Anrufer seinen Namen nannte: Hallo meine Soljanka! Schau doch mal, beim Amalfi in der Grabbeallee hat es eine Schlägerei gegeben, komische Sache, könnte O.K. sein. Wir wurden von der Wirtin gerufen, Notarzt ist auch da. Von mir hast du’s nicht, vergiss dein Dankeschön nicht, mach’s gut, meine schöne Soljanka!

Da war sie also, die Reporterin. Die erst einmal Fotos machte von dem Großaufgebot von amtlichen Fahrzeugen vor dem Lokal, dann ganz schnell im Gastraum, bevor jemand protestieren konnte. Dann zückte sie Block und Stift und begann mit dem Ausfragen. Bei den Polizisten stieß sie auf Widerstand. »Können Sie mal bitte draußen bleiben? Dies ist ein Tatort«, sagte einer. »Kommen Sie, wir gehen raus«, forderte die Pressedame die beiden Frauen auf, nachdem sie einen schnellen Blick in die Runde geworfen hatte. Die sahen so aus, als könnten sie nützlich sein.

Draußen rauchten sie gemeinsam. Die Journalistin hatte eine Runde ausgegeben. Dann ging es los. »Brutale Typen waren das!«, sagte die eine, wobei sie die Zahl der Täter und ihre Gefährlichkeit mit zunehmendem zeitlichem Abstand von der Tat wachsen ließ. Und da die andere nicht ins Hintertreffen geraten wollte, räusperte sie sich und sagte: »Ich habe die Typen genau beobachtet. Ich weiß das alles noch wie eben.« Das war gut. Gut für die Presse.

Die Polizisten verließen den Tatort, fuhren in ihre Dienststelle in einem nüchternen Plattenbau in der Pankower Hadlichstraße. Einer von ihnen verfasste den mageren Bericht. Eine Fassung ging an die Staatsanwaltschaft. Eine weitere an das Landeskriminalamt, Abteilung 4, Organisierte Kriminalität. Sie wurde weitergeleitet an Oberkommissar Werner Dreier, der eigentlich zur Abteilung 3 gehörte, Wirtschaftskriminalität. Jetzt geben die mir auch noch solche Jobs, dachte Dreier. Er blickte auf den leeren Schreibtisch seines Kollegen direkt gegenüber. Den hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Personalrat müsste man sein, dachte er.

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Ex-Bulle als Buchhalter. Wirt am Boden. Feuer unterm Dach beim LKA. Wir müssen reden! Kontaktaufnahme unter kommerziellen Bedingungen, Annäherung, Ratschlag

Cromm saß im Hinterzimmer von Parma 1, dem Lokal, das seine Schwester führte. Es gab außerdem noch Parma 2 und Parma 3 und inzwischen seit ein paar Monaten sogar Parma 4 in Kreuzberg, allesamt erfolgreiche und beliebte italienische Restaurants. Giuseppa hatte ein Händchen für die Gastronomie. Sie hielt die größeren Geschäftsanteile. Er, Silvio Cromm, war die Nummer zwei, mit den Aufgaben Buchhaltung und Personal (das waren die Pflichtnummern) sowie Weineinkauf (das war die Kür, verbunden mit der Lizenz zum Probieren). Er erhielt ein festes Gehalt, deutlich weniger als seine Schwester. Aber da war außerdem die Pension aus seiner Zeit als Beamter. Er kam klar.

Also Buchhaltung. Cromm seufzte. Er beugte sich über den Ordner mit den Wareneingängen, rechnete die Umsatzsteuer heraus und addierte die Beträge für den Vorsteuerabzug. Die Übermittlung funktionierte elektronisch, aber der Weg dorthin war altmodisch analog.