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ELISABETTA DE LUCA

Neapel

ABSEITS DER PFADE

Eine etwas andere Reise in die europäische
Metropole am Mittelmeer zwischen
Antike und Moderne

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Alle Rezepte stammen von Luigi Barbaro. Der Verlag dankt ihm für die Zurverfügungstellung und die Abdruckgenehmigung.

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1. Auflage 2019

Lektorat: Susanne Falk

ISBN 978-3-99100-274-1

Ich widme dieses Buch dem großen neapolitanischen
Schriftsteller und Philosophen Luciano De Crescenzo,
der mein Neapelbild geprägt und mir beigebracht hat,
diese Stadt mit den Augen der Liebe zu betrachten.

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Für meine geliebte Tochter Chiara
und meine Neffen Leonardo und Giacomo –
tre piccoli napoletani!

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Per papà – un napoletano D.O.C.
e secondo la filosofia di Bellavista
un’uomo d’amore.

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Per mia mamma –
sempre con amore.

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Per tutta la mia famiglia
con grande affetto.

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Inhalt

Vorwort

1. Das Land, wo die Zitronen blühn

Italien - ein Gefühl

2. Bella Napoli

L’Arrivo – Ankunft

3. Luciano De Crescenzo

Eine Liebeserklärung

4. Il centro storico

Antike Seele einer modernen Stadt

5. I napoletani

Die Menschen Neapels

6. Il napoletano

Sprache, Dialekt und Gebärden

7. Bella figura

Ganz Neapel eine Bühne

8. La cucina napoletana

Essen & Trinken

9. La spesa: Einkaufen in Neapel

Negozi, mercati e bancarelle

10. Passeggiata I

Ein Spaziergang durch die Vergangenheit

11. Passeggiata II

Kunst und Kultur auf Schritt und Tritt

12. Gite intorno a Napoli

Ausflüge rund um Neapel

13. Und zum Schluss: un caffè!

Per finire in bellezza

Quellen

Zeittafel

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Città di Napoli

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Centro Storico di Napoli

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Vorwort

Man muss wahrlich dankbar sein, aus einer solch schönen Stadt wie Neapel zu stammen. Aber noch dankbarer muss man sein, wenn man die Möglichkeit hat, ein Buch über sie schreiben zu dürfen und damit aller Welt zeigen zu können, wie schön sie wirklich ist.

Jedoch war das nicht immer so. Unsere Mutter, eine stolze Wienerin, die einst mit uns aus Neapel in ihre schöne Heimat zurückgekehrt ist, um uns dem Chaos, dem Schmutz und der Kriminalität dieser Hafenstadt am Mittelmeer zu entziehen, hat meinem Bruder und mir ein etwas düsteres Neapelbild vermittelt. Sie, als emanzipierte Frau aus dem Norden, durchlebte in den 1960er-Jahren einen wahren Kulturschock, als sie in diese nahezu orientalisch anmutende Stadt kam. Daran konnte auch die uneingeschränkte Liebe unseres neapolitanischen Vaters zu ihr und seiner Heimat nicht viel ändern. Mit kritischem Blick beäugte ich jahrelang die Stätte meiner Kindheit aus sicherer und großer Entfernung, als mir eines Tages – es muss während meiner Gymnasialzeit in den 1980er-Jahren gewesen sein – erstmals ein Buch von Luciano De Crescenzo in die Hände fiel. Und von da an liebte ich Neapel!

Neapel ist eine sehr lebendige und auf den ersten (vielleicht auch auf den zweiten) Blick chaotische Stadt, die einen Besucher anfangs etwas irritieren kann. Auch wenn sie seit einigen Jahren – ahimè! – immer „europäischer“ wird.

Ihre Schönheit wird von vielen Dingen geprägt. Da ist einmal die herrliche Lage, ausgestreckt am Fuße des Vesuvs und direkt am Meer beheimatet! Im Hafen liegen Schiffe und Yachten aus aller Welt vor Anker und dazwischen, wie vor Hunderten von Jahren, kleine bunte Fischerboote. Eindrucksvolle Palazzi säumen die Straßen und erzählen von Jahrtausende dauernder Fremdherrschaft und verschiedensten Kulturen. Dazwischen verströmen – oftmals in prächtigen Höfen versteckte – Gärten mit Orangen- und Feigenbäumen sowie Palmen einen betörenden Duft. Außerdem ist dies die Stadt der tausend Kirchen. Es gibt nahezu keinen Platz und keine Straße, in der nicht mindestens eine Kirche, eine Kapelle oder wenigstens ein Heiligenstock steht. Tausende überladene Geschäfte und Hunderte bunte Märkte vervollständigen die Vielfalt dieser Metropole. Brunnen plätschern an jeder Ecke. Und dann noch der Verkehr!

Aber das, was die Schönheit und das Flair dieser Stadt wirklich ausmacht, sind ihre Menschen. Nirgendwo anders auf der Welt wird so viel geredet, gelacht, flaniert – gelebt! Die Menschen hier sind fröhlicher, herzlicher, hilfsbereiter, gastfreundlicher als anderswo. Ein besonders schönes Denkmal hat diesem Volk der Schriftsteller Luciano De Crescenzo gesetzt. Er ist für mich der Neapolitaner schlechthin. Kein anderer Künstler hat es je geschafft, die Seele Neapels so treffend zu erfassen, die Stadt und ihre Menschen so liebenswert darzustellen und weit über die Grenzen Italiens hinaus bekannt zu machen, wie er.

Bei den Arbeiten zu jedem meiner Bücher über Neapel habe ich immer wieder etwas Neues über meine Heimatstadt gelernt und bin neuen Menschen begegnet. Diesmal war es die Bekanntschaft mit Pietro Fusella, die mich besonders berührt hat. Er stammt aus einer alten neapolitanischen Familie und führt mit sehr viel Hingabe und Liebe zum Detail das charmante und außergewöhnliche „Hotel Chaija“ im Palazzo seiner Familie, der „L’antica Casa Lecaldano Sasso la Terza“, das – unweit der Reggia, also des Königspalastes gelegen – einst ein Freudenhaus für den neapolitanischen Adel war. 2003 machte er daraus ein kleines, aber feines Bed & Breakfast, wo er auch ganz besondere neapolitanische Literatur- und Musikabende veranstaltet.

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Elisabetta e Papà, Napoli 1969

Und genau solche Menschen wie er sind es, die dieser Stadt ihre unvergleichliche Seele einhauchen und ihr ein gewisses Flair verleihen.

Neapel ist eine komplexe Stadt und eine pulsierende Metropole. Dieses kleine Buch soll daher keinesfalls den Anspruch erheben, ein ganzheitlicher Reiseführer zu sein. Einen solchen habe ich vor fünfzehn Jahren schon einmal geschrieben. Das war vor allem harte Recherchearbeit mit vielen Öffnungszeiten, Telefonnummern und Internetadressen. Diesmal darf ich – dank dem Braumüller Verlag – einen wunderbaren Spaziergang durch meine Heimatstadt machen und sie Ihnen so zeigen, wie ich sie ganz persönlich sehe: Bellissima!

Aber worauf warten wir? Stürzen wir uns ins Getümmel der schönsten Stadt der Welt – Napoli!

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1. Das Land, wo die Zitronen blühn

„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,

im dunklen Laub die Goldorangen glühn,

ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,

die Myrte still und hoch der Lorbeer steht.“

Italien – ein Gefühl

Alles begann mit diesen Zeilen aus Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, mit denen der Dichter im 18. Jahrhundert eine neue Italienbegeisterung entfachte, die bis heute anhält. Als Synonym des Paradieses auf Erden wurde „das Land, wo die Zitronen blühn“ damit für die Menschen diesseits der Alpen zum Sehnsuchtsort schlechthin, der die Üppigkeit der Natur und pralle Lebensfreude verhieß. Über die Stadt am Fuße des Vesuvs meinte der deutsche Dichterfürst auf seiner „Italienischen Reise“ gar: „Neapel ist ein Paradies, jedermann lebt in einer Art von trunkener Selbstvergessenheit. Mir geht es ebenso, ich erkenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer Mensch.“

Leider hat sich Italien seither stark verändert. Industrialisierung, Globalisierung und Massentourismus haben ihre Spuren hinterlassen. Wenn man heute „vom Brenner talwärts steigt“, empfangen einen längst nicht mehr Zitronen- und Feigenbäume, Maultiere und fröhliche „Obstweiber“ mit Körben voll frischer Pfirsiche, sondern rauchende Schlote, Autobahnen und von der Jagd nach Wohlstand gehetzte Menschen mit ernsten Mienen. Das gilt zumindest für den Norden …

Nicht so im Süden! Denn hier ist Italien auch heute noch jenes Fleckchen Erde, nach dem sich Generationen von Menschen seit Goethe (spätestens aber seit den Peter- Alexander-Schlagern, Caterina-Valente-Filmen und Conny- und-Peter-Schnulzen der 1950er-Jahre) sehnen! Von Rom abwärts lebt das irdische Paradies in der Kultur des Mediterraneo weiter. Hier glitzert das Meer nach wie vor strahlend blau. Hier duftet die Luft verheißungsvoll nach mehr. Und hier haben sich die Menschen ihre Lebensfreude bewahrt.

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Der Golf von Neapel vom Vomero aus gesehen

So wurde das Land rund um Neapel ob seiner Fruchtbarkeit schon seit den Zeiten der Magna Graecia als Campania felix (glückliche Landschaft) bezeichnet. Dank mangelnder Bodenschätze und Industrie wird es auch heute noch vorwiegend agrarisch genutzt. Und genau das scheint es vor der Zerstörung durch die Wirtschaft bewahrt und ihm sein ursprüngliches Aussehen sowie seinen einzigartigen Charme erhalten zu haben. Wenn man mit dem Zug von Mailand über Bologna, Florenz und Rom nach Neapel reist, kann man diese Veränderung in der Landschaft und den augenscheinlichen Unterschied zwischen Nord und Süd besonders gut beobachten. Nicht umsonst befinden sich von den 46 Kultur- und 4 Naturerbestätten Italiens, die von der UNESCO geschützt werden, der Großteil im Süden. Dazu zählt ob ihrer atemberaubenden Schönheit, neben bedeutenden Kulturschätzen wie der Reggia di Caserta (das etwa mit Schönbrunn vergleichbare Schloss der Bourbonen) oder Naturschätzen wie der Costa Amalfitana, auch die Altstadt von Neapel.

Dementsprechend hoch sind hier auch heute noch Lebensqualität und Lebensfreude. Und dazu braucht der Neapolitaner nicht viel. Denn im Herzen ist er ein einfacher Mensch geblieben, dem Werte wie Familie, Essen und Natur besonders viel bedeuten. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass Neapolitaner sich am liebsten unter freiem Himmel aufhalten. Das gesamte soziale Leben spielt sich im Freien ab. Schon in der Früh trifft man einander auf der piazza, um den ersten caffè des Tages gemeinsam mit den Freunden einzunehmen und über die neuesten politischen Ereignisse zu reden, ehe man zur Arbeit geht. Den Einkauf macht die Hausfrau auf einem der vielen mercati, wo das herrlichste regionale und saisonale Obst und Gemüse, frisch gefangener Fisch, unzählige Sorten von Oliven und sogar Dinge wie Waschpulver und Kochtöpfe angeboten werden. Was man für den Haushalt eben so braucht. Klatsch und Tratsch inklusive. Globale Supermarktketten wie im Norden, beispielsweise Despar oder Carrefour, haben da keine Chance.

Am Wochenende geht’s dann mit der ganzen Familie an die Costa Amalfitana oder einen der vielen anderen Strände, wo man den Tag mit Baden, Bocciaspielen und Entspannen verbringt. Wer es sich leisten kann, fährt mit dem eigenen oder einem gemieteten Boot aufs Meer hinaus und stattet den Inseln Capri und Ischia einen Besuch ab, um in einer der Buchten vor Anker zu gehen und in einem der unzähligen kleinen Restaurants köstlich zu speisen. Das ist Leben, süßes Leben, dolce vita eben!

Doch kaum etwas vermittelt einem das Lebensgefühl des Südens – gestern wie heute – besser als das in den 1990er- Jahren entstandene Lied „Mediterraneo“ des süditalienischen Sängers Mango. Die darin besungene, über allem thronende glühende Sonne, das tiefblaue Meer mit seinen unendlichen Küsten, die weißen Felsen und fernen Inseln, der von Möwen überzogene endlose Azur, steile Olivenhaine, duftende Pinien und leuchtende Orangen sind darin ebenso Protagonisten wie die Menschen, die hier leben und sich als Teil dieses großen Ganzen verstehen. Mit dem Lied hat der Künstler seiner Heimat ein musikalisches Denkmal gesetzt. Der Text ist reine Poesie. Für mich das moderne Äquivalent zu Goethes Gedicht. Und einmal mehr bestätigt sich, dass Italien mehr ist als ein Land – es ist ein Gefühl!

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Napoliklischee pur: Pinien und Meer

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A

Hotel Chiaja

B

Hotel San Francesco al Monte

C

Ostello per la gioventù

D

Grand Hotel Vesuvio

2. BELLA NAPOLI

Ankunft

Schwerelos gleitet das Flugzeug über den Wolken in der gleißenden Sonne dahin, als zur Rechten im glitzernden Meer langsam eine Insel inmitten der goldenen Wellen auftaucht: Capri! Gebannt lehnen sich die Fluggäste ans Fenster, um in der Schönheit dieses Augenblicks zu schwelgen, als die Maschine mit einer Linkskurve zum Landeanflug auf den Flughafen Capodichino ansetzt und plötzlich die steilen Hänge des mächtigen Vesuvs ganz nahe vor den Fenstern erscheinen.

Genau diese Diskrepanz zwischen der verlockenden Schönheit der Landschaft und der ständigen Bedrohung durch den Vulkan ist es, welche die Menschen, die seit Jahrtausenden in dieser Stadt leben, prägt und die gleichzeitig den Reiz Neapels ausmacht. Man lebt ganz im Hier und Jetzt. Denn, wer weiß, morgen kann alles schon ganz anders sein. Der Neapolitaner genießt sein Leben, kostet jeden Moment aus, versucht jeder Situation das Beste abzugewinnen. Das Heute ist das einzige, was zählt.

Einst im 5. Jahrhundert v. Chr. als griechische Kolonie gegründet, erfreut sich Neapolis (die neue Stadt) seither größter Beliebtheit. Daran konnte auch der ein oder andere Vulkanausbruch nichts ändern – selbst der im Jahr 79 n. Chr. nicht, welcher sämtliche Städte ringsum, so auch Pompeji und Herculaneum, zerstörte und mit ihnen die Menschen sowie die Kultur einer hoch zivilisierten Gesellschaft unter sich begrub. Zu schön ist die Gegend, zu angenehm das Klima, zu fruchtbar das Land! Dazu die strategisch günstige Lage in einem natürlichen Golf, der einst schon vielen Generationen von Herrschern natürlichen Schutz gegen deren Feinde geboten hatte, die ihnen das schöne Leben im fruchtbaren Paradies am Fuße des Vesuvs neideten.

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Antike und Moderne existieren in Neapel ganz selbstverständlich nebeneinander.

Des Weiteren kommt ein durch die spezielle Lage zwischen Berg und Meer begünstigtes Klima hinzu, das Lüfte und Düfte hervorbringt, die weltweit ihresgleichen suchen. Steht man beispielsweise auf der Via Caracciolo, dem Lungomare Neapels, und blickt sehnsüchtig aufs Meer hinaus, um am Horizont einen Blick auf Capri und Ischia zu erhaschen, wird man sich dabei ertappen, plötzlich tiefer und ruhiger zu atmen als sonst. (Besonders, seit diese Straße vor einigen Jahren zur Fußgängerzone umgewidmet wurde.) Ganz so, als wolle man diese herrlich prickelnde Luft gleich einem köstlichen Parfüm in sich aufsaugen und nicht mehr preisgeben. Und gleich wie bei einer Droge setzt die Rauschwirkung auch unmittelbar ein und man ist für immer gefangen vom Zauber dieses Ortes.

Ich gebe es ja zu, was Neapel betrifft, so bin ich befangen. Sobald ich aus dem Flugzeug oder Zug aussteige und den ersten Atemzug in dieser berauschenden Luft mache, tauche ich unmittelbar in das pralle Leben dieser Stadt ein und werde ein Teil von ihr. Daran können auch der Smog, der Verkehrslärm und das ständig aufkeimende Müllproblem nichts ändern, wofür diese Metropole leider immer wieder in die Medien gerät. Ich sehe diese Stadt nämlich nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen. Und sie ist atemberaubend schön! Mit dieser Meinung scheine ich übrigens nicht die Einzige zu sein, denn keine andere Stadt auf der Welt wird so oft mit dem Adjektiv „schön“ bezeichnet wie Neapel. So gibt es weltweit unzählige Hotels, Restaurants und Speisen, die den Namen „Bella Napoli“ tragen – sogar in Neapel! Irgendetwas muss da doch dran sein.

Offiziell zählt Neapel zwar nur eine Million Einwohner, die Dunkelziffer jener, die nicht ordnungsgemäß gemeldet sind, ist jedoch recht hoch, weshalb die tatsächliche Einwohnerzahl auf das Doppelte geschätzt wird. Und sie alle sind laut, reden gleichzeitig, hupen Tag und Nacht, essen ständig und machen überall Schmutz. So ist es nicht leicht, die Schönheit zu bewahren. Neapel aber gelingt das spielend. Wie alle neapolitanischen Frauen zieht sie – ungeachtet des Chaos’ ringsumher – jeden Morgen ihr schönstes Kleid an, setzt ihr bezauberndstes Lächeln auf und verführt alle mit ihrem Charme. Nicht nur Touristen kommen scharenweise aus aller Welt, um sie zu bewundern, auch die Neapolitaner selbst würden mit niemandem auf der ganzen Welt tauschen wollen. Wehe dem, der schlecht über ihre Geliebte spricht!

Den ganzen Tag drängen, schieben und wälzen sich die Menschen durch die engen Gassen der Großstadt. Und das ungern zu Fuß, sondern lieber mit dem Auto oder der Vespa. Nur behäbig schiebt sich die Blechlawine ständig hupend durch die uralten Straßen von Neapolis, die eigentlich gar nicht für den modernen Verkehr gemacht sind. Das rote Ampelsignal ist dabei bestenfalls eine Empfehlung. In Neapel gilt die Vorfahrtsregel: „Besser dreimal gehupt als einmal gebremst.“ Teilweise sind die Wege hier noch mit jahrhundertealten Steinquadern oder Flusssteinen aus der Renaissance gepflastert, auf denen zu gehen berührend und abenteuerlich zugleich ist. Dass letztere auf der Piazza Dante – einem der schönsten Plätze der Altstadt – vor einigen Jahren durch banale, moderne Granitsteine, gleich jenen am Wiener Stephansplatz, ersetzt wurden, war eine schmerzhafte Erfahrung für mich.

Mein Neapel jedenfalls bleibt jenes teils archaische, teils pittoreske Fleckchen Erde, an dem einfach alles möglich ist. Die berühmte „L’arte di arrangiarsi“ ist jedem Neapolitaner in die Wiege gelegt. Diese Kunst, sich mit den Gegebenheiten des Lebens zu arrangieren, sich anzupassen bzw. sich das Leben trotz aller Umstände schön zu machen, ist hier entstanden, wo die Menschen seit Jahrhunderten Fremdherrschaft und Unterdrückung durch die unterschiedlichsten Herrscher und Usurpatoren überlebt haben: Italiker, Etrusker, Griechen, Römer, Byzantiner, Normannen, Staufer, Anjou, Aragon, Odoaker, die spanischen Habsburger und später auch noch die österreichischen, Bourbonen, Napoleon, die Alliierten und zuletzt die EU … „Ma passerà anche questo.“ – „Aber das wird auch noch vorbeigehen.“ Die Neapolitaner nehmen es mit Humor.

Anscheinend haben die Neapolitaner aus der Geschichte gelernt. Sie haben begriffen, dass man nichts verlieren kann, was man nicht besitzt. Von ständigen Wechseln der unterschiedlichsten Machthaber geprägt, haben sie durch die Jahrhunderte hindurch ihre eigenen Strukturen geschaffen und ihre ganz eigene Art zu leben gefunden. Der berühmte neapolitanische Schauspieler und Regisseur Vittorio De Sica meinte dazu einmal: „Eines der Geheimnisse Neapels liegt in seiner über die Jahrhunderte unveränderlichen Art, welche die Menschen, ihre Gewohnheiten und ihre Philosophie ausmachen.

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Alte Palazzi sind mit Leben erfüllt.

Davon erzählen bis heute nicht nur die Architektur und die Mentalität der Menschen. Nirgendwo liegen Geschichte und Gegenwart so nah beieinander wie in Neapel. Nirgendwo anders in Europa sind die archaischen sozialen Kluften von einst auch heute noch so stark zu spüren und im Alltag so sichtbar wie in Neapel. Und dennoch, in Neapel ist man in erster Linie Mensch. „Leben und leben lassen“ lautet hier die oberste Maxime. Jeder hat seine Daseinsberechtigung und seinen Platz. Hier leben alle im gegenseitigen Respekt miteinander. Denn die Neapolitaner haben begriffen, dass trotz all der Unterschiede keiner ohne den anderen (über)leben kann. Und so findet man hier Menschen aus aller Herren Länder, die – ganz selbstverständlich – als Teil der sich seit Jahrtausenden ständig verändernden Gesellschaft akzeptiert werden. Das ist gelebte Integration.

Steinernes Zeugnis davon legen die Palazzi des 17. und 18. Jahrhunderts ab. Es sind Städte in der Stadt. Ausgerichtet darauf, mehreren Familien unterschiedlichster sozialer Schichten ein Zuhause zu bieten. Dem adeligen Hausherren und seiner Familie ebenso wie dem ihm direkt unterstehenden „maggiordomo“ (Hausverwalter), den im Haushalt tätigen Dienern und schließlich den unterprivilegierten „servi“ (aus dem Lateinischen „servus“ – der Sklave), also Dienstboten, welche stets die niedrigsten Tätigkeiten in diesem großen Haushalt verrichtet haben. Jeder hatte seinen Platz, jeder seine Lebensberechtigung, jeder seine Würde.

Und das ist auch heute noch so. In den alten Palästen hat sich nichts verändert. So hat beispielsweise jedes dieser Gebäude seinen Hausmeister, den „portiere“, der in seiner Loge, der „portineria“, gleich einem Dirigenten im Orchestergraben über das Leben im Haus wacht und seine Geschicke lenkt. Er ist eine unantastbare Respektsperson und das soziale Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Bewohnern des Palazzos, der Vermittler zwischen oben und unten und der Verbindungsmann nach außen. An ihm kommt keiner vorbei. Da wäre beispielsweise der Hausmeister Gennaro, der im Palazzo, in dem mein Zio Vincenzo und meine Zia Antonietta wohnen, der eigentliche Herr im Haus ist. Er wird von den Menschen im Quartier seit jeher nur „Don Genna“ genannt und gleichsam dem heiligen Namenspatron respektiert. Wenn er etwas sagt, dann gilt es. Sein Wort hat Gewicht – so wie er auch. Von eher stattlicher Statur trägt er tagein, tagaus stets denselben Anzug. Die dunkle Farbe ist nicht mehr genau auszumachen, die einst goldenen Knöpfe sind ganz zerkratzt, der Stoff spiegelt und das gute Stück kneift angesichts der Körperfülle seines Trägers an allen Ecken und Enden. Dennoch ist Don Gennaro mit seinem schwarzen Schnurrbart, seinen dunklen, samtenen Augen und seiner strengen, aber gleichzeitig gütigen Miene stets so etwas wie ein Übervater gewesen. Wenn ich als Kind meinen Onkel und meine Tante besuchen wollte, musste ich erst an Gennaro vorbei. Stets stand er mit strengem Blick und hinter dem Rücken verschränkten Armen mitten im Eingang des Palazzos und überwachte das Kommen und Gehen. Die Passanten hatten Angst vor ihm, die Bewohner des Hauses respektierten ihn, jedoch für uns Kinder hatte er stets ein liebes Wort und ein Bonbon übrig. Heute ist er ein alter Mann mit weißem Schnurrbart und getrübtem Blick. Und obwohl er mit seinen fast 80 Jahren längst in Pension gehen könnte, ist er jeden Tag auf seinem Posten anzutreffen. Zwar steht er nicht mehr vorne am Tor, sondern sitzt – angesichts der schmerzenden Füße – lieber in seiner Portiersloge, den Überblick hat er sich aber bis heute bewahrt. So wie den Respekt der Menschen im Quartier.

Die Beletagen der meisten Palazzi werden auch heute noch von den noblen Nachfahren ihrer adeligen Erbauer bewohnt, ganz so, als hätte sich in den letzten Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg nichts geändert, während die anderen Stockwerke als Wohnungen und Büros vermietet werden. Im Erdgeschoss, wo einst die Stallungen und „servi“ untergebracht waren, parken heute anstatt der Kutschen teure Autos und sind bunte Geschäftslokale eingezogen. Und so pulsiert das Leben auch heute noch hinter den jahrhundertealten Mauern.

Hat jemand aus dem Haus ein Problem, so ist es nicht ungewöhnlich, dass er sich, selbstverständlich nicht ohne Vermittlung des „portiere“, an den „Hausvorstand“ wendet, der oft heute noch, wie einst seine Vorfahren, mit „eccellenza“, also Exzellenz, angesprochen wird und sich auch immer noch so verhält. Zu Weihnachten, zu Ostern und zum Geburtstag macht man ihm seine Aufwartung und kleinere (oder größere) Geschenke. Man respektiert ihn als Obrigkeit, der man sich freiwillig gleichsam als Schutzbefohlener unterstellt. Immerhin haben in all den Jahrhunderten die Adelsfamilien für mehr Kontinuität, Sicherheit und Wohlstand gesorgt als so mancher offizielle Machthaber.

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Der berühmte Palazzo Sanfelice: trotz seiner historischen Bedeutung kein Museum, sondern ein ganz „normales Wohnhaus“

Palazzo Sanfelice

Einer der berühmtesten neapolitanischen Palazzi dieser Art ist der Palazzo Sanfelice. Zwischen 1724 und 1728 vom berühmten Architekten Ferdinando Sanfelice für sich und seine eigene Familie abseits des dicht besiedelten Centro Storico auf einer luftigen Anhöhe vor den Toren der Stadt erbaut, mit Blick über den Golf, steht er heute etwas verwahrlost da, ist aber nach wie vor bewohnt. Er liegt inmitten des Rione Sanità. Vor einem kleinen Geschäftslokal neben dem einst prächtigen barocken Portal bietet ein Obstverkäufer seine Waren an. Auf Höhe der ehemaligen Beletage wehen nasse Leintücher auf der Wäscheleine. Als erstes vieler für Neapel typischen Gebäude aus jener Zeit weist er jenes offene Treppenhaus „ad ali di falco“ (mit Falkenflügeln) auf, wofür der Architekt berühmt geworden ist. Hier kann man noch erahnen, wie die Menschen einst in diesem Palazzo lebten. Aufgrund seiner besonderen Bauweise war dieses Gebäude immer wieder Kulisse für Filme wie zum Beispiel „Die vier Tage von Neapel“ von Pasquale Festa Campanile oder „Diese Gespenster!“ von Eduardo De Filippo.

Via Sanità 6, 80137 Napoli

www.comune.napoli.it

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De Lucas gibt es in Neapel viele – darunter sogar eine Dynastie von Floristen.

Der Adelsstand wurde in Italien zwar mit der Monarchie 1946 abgeschafft, die Adelspartikel „di“ und „de“ wurden aber – ähnlich wie in Deutschland, jedoch anders als in Österreich – zu offiziellen Bestandteilen der Namen. In Neapel haben darüber hinaus, obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg staatsrechtlich aufgehoben, auch die Rangbezeichnungen wie „Barone, Conte, Marchese“„Principe“