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BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: www.dnb.de

2017 · Zweite Auflage

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia AG, Bozen (2011)

Umschlagentwurf: Arch. Christoph Mayr-Fingerle

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

ISBN 978-88-6839-281-9

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

Man braucht nicht dabei zu sein, wenn man unsterblich wird.

(Gustav Mahler)

Drei Wiener Freunden gewidmet:

Inhalt

  1. Mahlers Gefühl der Fremdheit – Abstammung und Peripherie
  2. Mahlers Feriengewohnheiten von Berchtesgaden bis Schluderbach
  3. Mahlers glücklose Liebesverhältnisse
  4. Alma Schindler, eine Frauengestalt des Fin de Siècle
  5. Abstieg und Neubeginn – Amerika, Mahlers »Gelobtes Land« – 1907–1908
  6. Mahlers Ankunft in Toblach 1908
  7. Sommer 1908 – Toblacher Trilogie, Teil eins
  8. Amerika 1908 – 1909 – von der Oper zum Konzert
  9. Sommer 1909 – Toblacher Trilogie, Teil zwei
  10. Mahlers schwindende Popularität in seiner dritten New Yorker Saison, 1909 – 1910
  11. Sommer 1910: die Katastrophe – Toblacher Trilogie, Teil drei
  12. Noch einmal Amerika – Die Krankheit – Das Ende

Endstation Toblach

Obwohl Mahler wie kaum ein anderer Komponist erforscht und gedeutet ist, umgibt ihn bis heute eine Aura der Fremdheit und Unnahbarkeit. Das liegt vor allem an der romantischen Dimension seiner Musik, am dialektalen Einschlag seiner Lieder und Symphonien – an der »Schicht des Dinghaften« und »Naiven« (Adorno) 1 – und an der Weltabgewandtheit seiner Person selbst. Wo sein Zeitgenosse Richard Strauss laut und leutselig auf die Welt zuging, entzog sich ihr Mahler und mied das »Weltgetümmel«. Das mag wohl auch der Grund sein, dass niemand von seinen Zeitgenossen auf die Idee kam, seine Stimme, seine Blicke, seine Bewegungen in Stummfilm und Ton festzuhalten. Wir wissen dank einer seltenen Stummfilm-Aufnahme, wie sein um fünf Jahre älterer Dirigentenkollege Arthur Nikisch das Orchester fixierte und den Taktstock schwang, und wir besitzen sogar eine Aufnahme der Stimme von Johannes Brahms, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts ins Kohlenmikrophon rief: »Johannes Brahms – Doktor Johannes Brahms aus Wien – grüßt Thomas Edison in New York!« 2 Mahler hat Brahms um 14 Jahre überlebt und dennoch kam Thomas Alva Edison, der Brahmsens Stimme mit dem Phonographen festhielt, nicht auf die Idee, auch Gustav Mahler vor das Mikrophon zu bitten, der in New York vier Saisonen lang, sozusagen vor seiner Haustür, wirkte. Ebensowenig unternahm die New Yorker »Columbia Phonograph Company«, die ab 1903 die Stimmen der Stars der »Met« – u. a. von Marcella Sembrich und Antonio Scotti – aufnahm und am 21. Februar 1907, ein Jahr nach Erfindung des Radios – Puccinis Grußbotschaft an Amerika mit dem begeisterten Ausruf »America for ever!« festhielt, den Versuch, Mahler zu einem ähnlichen Gruß an die amerikanische Fan-Gemeinde zu bewegen. 3 So müssen wir mit Photographien, mit Karikaturen, mit Schattenbildern und einer pianistischen Einspielung auf dem Welte-Mignon-Rollenklavier Vorlieb nehmen, um uns auszumalen, wie Mahler sich äußerte, in welchem Ton er einerseits Musiker im »New York Philharmonic Orchestra« anherrschte (»You! You! You play that passage alone!«4) und wie umgänglich er andererseits bei entspannter Konversation sein konnte. Die am 5. November 1905 in Leipzig vom Komponisten eingespielten vier Ausschnitte aus eigenen Werken fördern über den Anschlag und die sehr eigenwillige Handhabung der Zeitmaße einiges über Mahlers Stimmungsschwankungen zu Tage. Im ersten Satz der Fünften, den Mahler auf gestanzte Rollen übertrug, entsteht das Bild eines extrem nervösen Musikers, der sich mit roh trillernden Bässen und doppelt punktierten Rhythmen von seiner heftigsten Seite präsentiert, aber ebenso ungeschminkt – in den weich gespielten rührseligen Sexten des Konduktes – seine Neigung zu trivialer Sentimentalität offenbart. Noch heftiger und auffahrender klingt die Melodie des chromatisch absteigenden Klagegeschreies im Geschwindmarsch des Mittelteils, der sich in der Oktavverdopplung der rechten Hand wie ein Lamento anhört. Ganz anders die extrem frei und launisch gespielten Lieder – »Ging heut’ morgen über’s Feld«, »Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald« und das »Himmlische Leben« aus dem Schlusssatz der Vierten – die einen heiteren, gesprächigen, ja geschwätzigen Mahler wiedergeben, der, statt zu klagen, spannende Märchengeschichten erzählt und sich dabei selbst wie ein Kind zu freuen scheint. 5 So vermittelt uns, wenn schon nicht die Sprechstimme, ein Teil seiner am Klavier gespielten Musik den Eindruck von seinem Wesen und seinem Umgangston: Nicht »der Dichter«, sondern »der Musiker spricht«. Und er spricht umso deutlicher, als er in seiner Musik Motive mit Ausrufezeichen versieht, rasche Sätze in helle Aufregung versetzt und das inbrünstige »Espressivo« der langsamen Sätze bis zur Weißglut treibt.

Mahler, der Komponist der Übertreibung, gab sich aufgrund dieser Verdinglichung ständig Blößen. Und er war sich dessen sogar bewusst. Als er Bruno Walter die Dritte vorstellte, meinte er, »das Ganze« sei »leider wieder von dem so übel beleumdeten Geiste des Humors« und seiner »Neigung zu wüstem Lärm angekränkelt«. 6 Was an Mahlers Musik so anziehend wirkt, ist in der Tat die Rückhaltlosigkeit des Ausdrucks, es ist der Schmerz, der Schrei, der Schwall und die Wehleidigkeit, die das Selbstmitleid und die Tröstung nach sich ziehen. Es ist musikalischer Existenzialismus ante litteram, Verlautbarung von Ontologie, in der Sprache Heideggers: Seiendes, nicht Sein, existenzielle Klangrede und nicht makelloses Kunstwerk. »So viel Einsamkeit, Verzweiflung und schmerzhafte Schönheit«, schwärmt Thomas Quasthoff über den »anarchisch-naiven Volkston« in Mahlers Liedern. 7 Wie im späteren Existenzialismus dargelegt, war Mahlers zentrales Welterlebnis die Sorge: Sorge um die Seinen, Sorge um die eigene kreative Fruchtbarkeit und Sorge um die Beständigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen, vor allem der Liebe. Sein Leben war im Heideggerschen Sinne ein »Dasein zum Tode« und der Tod das Thema, das ihn zu erschütternder Tröstung durch Schönklang hinriss. Mahlers Werk durchzieht diese ergriffene und ekstatische Existenzialität, die im Kierkegaardschen Sinne eben eine »Krankheit zum Tode« war.

Das Heideggersche Diktum, dass »jeder der andere und keiner er selbst sei«, traf auf Mahler am wenigsten zu: Er floh das Leben, an dem die anderen teilhatten, er erlebte und genoss Freuden – besonders die Sommerfreuden – anders als die Masse der Zeitgenossen und noch weniger komponierte er, wie es »der geläuterte Geschmack« der Akademiker der Tonkunst vorsah. Er trat ständig aus den Gewöhnlichkeiten heraus, um – wie Kafka später auch – die Absurditäten des Lebens aus der schiefen Perspektive zu betrachten.

Dieses absonderlich Existenzielle affizierte auch Mahlers Natur- und Ferienverhalten. Sommerfrischen bedeuteten für ihn nicht Ausspannung, sondern höchste Anspannung und die ostinate Annäherung an einen imaginären Inspirations-Pol, an dem die Nadel seines schöpferischen Kompasses in optimaler Weise ausschlagen und die Einfälle wie von selbst aus seinem Unbewussten aufsteigen konnten. Die Suche nach dem landschaftlichen Optimum, das ihn in Erfinderlaune versetzen sollte, vollzog sich bei ihm willkürlich und absolut neurotisch: Er ließ sich dabei nicht nur klimatisch leiten, sondern er folgte gewissermaßen einem siebten Sinn, der sich aus Pantheismus, Naturberauschung, »Lichtzwang«, Hochgebirgsschauer und romantischer »Waldeinsamkeit« zusammensetzte. Seine Landschaftsvorlieben von Berchtesgaden, Steinbach am Attersee, Kitzbühel, Steinach am Brenner, Ridnaun, Vahrn, Bad Aussee, Maiernigg, Schluderbach und Toblach glichen sich in der Vorliebe für offene Horizonte mit hoch aufragenden Felsen als Hintergrund. Das Auge des Romantikers Mahler war nämlich in höchstem Maße affektiv besetzt und die Suche nach dem idealen Ort in dem Maße von innerer Bewegtheit begleitet, als sie ihn zu wahrer Schaffenswut verführte. Dem ersten Satz der »Dritten«, die er – wie ein Prometheus am Felsen – im Anblick des Höllengebirges am Attersee komponierte, gab er den Titel »Der Sommer marschiert ein«: Er dachte dabei an den Gott des Waldes Pan und an die von diesem durchwehte Natur. Zu Bruno Walter, der diese Felswand anstaunte, meinte er: »Sie brauchen gar nicht mehr hinzusehen – das habe ich schon alles wegkomponiert.« 8 Ähnlich mythisch empfand er die Dolomiten-Riesen vom Neunerkofel bis zu den Drei Zinnen: diese sah er mit seinem inneren Auge sogar tanzen. »Die Dolomiten tanzen es miteinander« 9, war einer seiner Lieblingssprüche in Toblach. Dass er das Verb »tanzen«, außer für den phantastischen Höhenflug in seinen letzten Werken, auch für die Bruchlandung in der Ehe gebrauchte und darin sogar den Teufel bemühte, der »es mit ihm tanzte«, 10 beweist, wie erregt seine Phantasie inmitten dieser von Bergriesen umgebenen Natur war.

Sommer, das war für Mahler Synonym für Hitze – metaphorisch für das Ausschweifende und Dionysische in der Musik –, aber auch für »Südwind« und Gewitter, im übertragenen Sinne für »die Raserei des Untergangs«, die Thomas Mann durch die Übertragung von Mahlers Kränklichkeit auf die Figur des Gustav Aschenbach dem sterbenden 19. Jahrhundert andichtete. So gesehen wäre Toblach, wie der Lido von Venedig, ein metaphysischer Ort des Untergangs und der Endzeit. Toblach war Mahlers Rückzugstätte nach dem Rauswurf aus der Wiener Hofoper und nach dem Tod des geliebten Töchterchens, also ein Ort der Flucht, des Abstiegs und der Aufgabe. Nach Toblach zog Mahler als Geschlagener, als Verlierer, als »Untergeher«. Wie Aschenbach war ja sein ganzes Wesen früher auch »auf Ruhm gestellt« gewesen und wie bei Aschenbach war das »tapfer Sittliche an ihm, dass seine Natur von nichts weniger als robuster Verfassung und zur ständigen Abspannung nur berufen, nicht eigentlich geboren war« (»Der Tod in Venedig«). Toblach also ein Ort der Ermüdung und des existenziellen »Ubi existam«. So wie Thomas Manns Held Aschenbach im Anblick des schönen Jünglings des eigenen physischen Verfalls gewahr wird, so wurde Mahler in Toblach schmerzhaft die Unwiederbringlichkeit der Frische der Jugend bewusst. Was nämlich in Venedig für Aschenbach der schöne Tadzio, war für ihn in Toblach die ihm abhanden kommende lebenshungrige Alma. In der dramatischen Ehekrise wurde dem alternden Egomanen Mahler die Unvereinbarkeit von Kunst und Leben zum Problem. »Das Leben ein Traum« (Calderon) oder »Der Traum ein Leben« (Grillparzer), nämlich die Sublimation des Eros, die Mahlers vom Schaffen bestimmtes Dasein erfüllte, ging mit dem prallen Leben, das die junge Frau an seiner Seite repräsentierte, nicht mehr konform. Mahlers Leitmotiv in Toblach war denn auch das bittere lateinische »Vita fugax!« und sein Motto das »Leb wol!«, das er im Partiturentwurf der Neunten mit den Worten ausdrückte: »O Jugendzeit! Entschwundene! O Liebe! Verwehte!« So darf es auch nicht wunder nehmen, dass es ihm in diesem Zustand der Resignation, im regenreicher Toblacher Sommer 1910, wie dem Helden von Thomas Manns »Tod in Venedig« im Scirocco von Venedig erging: er steckte sich – wie Gustav Aschenbach mit der Cholera – mit Angina an, die ihn neun Monate später das Leben kostete: Endstation Toblach.

I. Mahlers Gefühl der Fremdheit – Abstammung und Peripherie

Die jüdische Sehnsucht nach Geborgenheit. Das nie gestillte Verlangen nach Heimat: »Wohin ich geh’? … / Ich wandle nach der Heimat, meiner Stätte!« (»Das Lied von der Erde«)

Die Wurzeln von Mahlers Pessimismus lagen vermutlich nicht nur in Veranlagung und Temperament, sondern tiefer in einer ethnisch bedingten jüdischen Erblast aus der tausendjährigen semitischen Diaspora. Stefan Zweig hat in seiner Welt von Gestern die Einbürgerung seiner Volksgenossen in die verschiedenen europäischen Gastgeberländer als das erste und dringendste Interesse des jüdischen Volkes bezeichnet und dabei den Begriff Heimat zu einer Art Metapher für die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies gedeutet: »Nun ist Anpassung an das Milieu des Volkes oder des Landes, inmitten dessen sie wohnen, für Juden nicht nur eine äußere Schutzmaßnahme, sondern ein tief innerliches Bedürfnis. Ihr Verlangen nach Heimat, nach Ruhe, nach Rast, nach Sicherheit, nach Unfremdheit drängt sie, sich der Kultur ihrer Umwelt leidenschaftlich zu verbinden.« 1

Die gesellschaftspolitische Vision der vollen jüdischen Assimilierung des deutschen Aufklärers Moses Mendelssohn, dem Lessing in seinem Ideendrama Nathan der Weise ein bleibendes Denkmal gesetzt hat, fand auch in den Kronländern der Habsburger Monarchie Verbreitung und Anhänger. Die Lage der jüdischen Minderheit war da nämlich um einiges prekärer als im aufgeklärten Staat Friedrichs II, der bekanntlich schon Mitte des 18. Jahrhunderts die Maxime aufgestellt hatte, dass in seinem Staat »jeder nach seiner Façon selig« werden könne. Zur gleichen Zeit war den Juden in Böhmen und Mähren das Betreten der Städte an Sonn- und Feiertagen verboten, eine Beschränkung, die Franz II 1798 noch verschärfte, indem er verfügte, dass in den »königlichen« Städten Iglau, Znaim und Brünn jüdischer Zuzug ganz und gar untersagt sei, ein Verbot, das noch lange ins 19. Jahrhundert hinein Gültigkeit besaß. 2

In Österreich wurde der Prozess der Emanzipation des Judentums vom allgemeinen Toleranzpatent Josephs II von 1781 eingeleitet und vom besonderen »Mährischen Toleranzpatent« ergänzt. 3 In diesem ordnete der Souverän an, dass die Juden in den böhmischen und mährischen Gebieten deutsche Schulen einrichten sollten und wo das nicht möglich sei, die deutsche christliche Schule zu besuchen hätten. Diese erste einschneidende Maßnahme zur Assimilierung der Juden in Mähren, die auf eine Eindeutschung der vormals Jiddisch sprechenden Volksgruppe abzielte, wurde also von Staats wegen verfügt; eine zweite ging von den Juden selbst aus, namentlich von dem Wiener Rabbiner Isaac Noah Mannheimer und dem Kantor und Musiker Salomon Sulzer, die um 1825 in Wien den jüdischen an den christlichen Gottesdienst anpassten und endgültig mit dem Ashkenazy-Synagogenritus aufräumten, der häufig mit profanen Gesängen auf Jiddisch und in lärmende chassidische Tänze ausartete. Dieser sogenannte »Wiener Ritus«, der auf deutscher Predigt gründete und von einem Kantor mit Gesängen im Stile christlicher Choräle ergänzt wurde, verbreitete sich von Wien aus in der Folge auch in Böhmen und Mähren.

Der österreichisch-jüdische Assimilierungsprozess bestand also hauptsächlich in einer progressiven Germanisierung durch Schule und Synagogenpredigt, ein spezifisch Mendelssohnscher Weg, der die Juden mit den Traditionen der Habsburger Monarchie vertraut machte und dabei einen deutsch-österreichischen Patriotismus förderte. Zwar war dieser Prozess langwieriger und hindernisreicher als in anderen deutschen Gebieten, weil einerseits der hohe prozentuale Anteil an Juden in der katholischen Bevölkerung Ängste und Vorurteile schürte und andererseits die periodischen Migrationsströme von verarmten, asozialen Ostjuden samt fundamentalistischen Rabbinern, religiösen Eiferern und sephardischen Klezmern, die periodisch über Polen, Galizien und die Ukraine nach Österreich hereinkamen, vom Judentum ein sehr ungünstiges Bild verbreiteten, von dem sich natürlich die assimilierungsbereite Schicht der ansässigen Juden distanzierte.

Doch diesen Eindeutschungsbemühungen standen bis 1848 äußerst harte Maßnahmen gegen die innerstaatliche Bewegungsfreiheit und die jüdische Familienbildung gegenüber. Erstere Restriktion behinderte die Anwesenheit der Juden in den Städten durch knapp bemessene Stadtaufenthaltsscheine, die in der Regel mit Schutzgeldern von den »Zaruck« – so nannten die Tschechen die Einwanderungsgendarmen – erkauft werden mussten, die zweite – das bis 1848 gültige »Familiantengesetz« – kontrollierte die jüdische Population durch das Eheverbot für alle Sprösslinge nach dem Erstgeborenen: eine drastische Kontingentierung, die einer Geburtenkontrolle für Juden gleichkam. Sie führte dazu, dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Anzahl der jüdischen Familien in Böhmen die 8.600 und in Mähren die 5.400 Einheiten nicht überschritt. 4 Darüber hinaus blieben gegen die Israeliten nach wie vor die alten Vorurteile bestehen und auch nach der Restauration, gab es Attacken auf Juden, etwa 1848, als eine aufgebrachte Arbeiterschaft das Prager Ghetto stürmte, weil sie jüdische Wucherer hinter den gestiegenen Getreidepreisen vermutete. Noch 1853 war Juden jeglicher Grundankauf verboten und 1855 auch der Zugang zu Notars- und Lehrerberufen untersagt. Schwer zu sagen, ob es der beharrliche Einbürgerungswille der Juden war, der den Assimilierungsprozess weiter vorantrieb, oder ob die österreichische Staatsraison, um den Vielvölkerstaat zusammenzuhalten, zu immer weiteren Konzessionen gegenüber dieser ständig durch Einwanderung wachsenden Volksgruppe bereit war.

Die Anpassung an die Landesgepflogenheiten brachte für die assimilierten Juden nicht nur ökonomische Vorteile. Die Mittelschicht pflegte in den so genannten freien Berufen stramme Haltung und österreichisches Arbeits-Ethos und das jüdische Kleinbürgertum widmete sich mit Fleiß dem Handel und den Manufakturen. Diese lange und geduldig geübte Bereitschaft zur Assimilierung erfuhr durch die k. u. k. Dezemberverfassung von 1867 die entscheidende gesetzliche Belohnung. Verständlich, dass die von Gleichstellung Gesegneten es dem Kaiser in Form von Patriotismus und loyaler Reichsbürgerschaft dankten. Verständlich auch, dass diese Kultur, die den Juden nach all den Verfolgungen und Progromen solches gewährte, zum Leitbild für die Erziehung der Kinder wurde und Vorbildcharakter in Kunst und Wissenschaft annahm.

Das Enklave-Dasein deutschsprachiger Juden im böhmischmährischen Umfeld. Bildung als Behauptungswille: »Der Narzißmus der kleinen Differenzen…« (Sigmund Freud)

Der Assimilierungsstress war in einigen deutschen Enklaven des Vielvölkerstaates allerdings größer als in anderen Kronländern, nämlich da, wo sich eine deutsche Minderheit gegen ein mehrheitlich fremdsprachiges Umfeld behaupten musste, wie im deutschsprachigen Gebiet von Iglau, das von einer tschechisch sprechenden Mehrheit umgeben war, die sowohl zu den Deutsch-Österreichern als auch zu den Juden ein kühles bis feindliches Verhältnis unterhielten. Hier war bei den eingebürgerten Juden umso mehr deutsche Identität gefragt, einerseits um in der Gemeinschaft Schutz zu finden und andererseits die Einbürgerung bis zu dem Punkt voranzutreiben, dass keiner der deutschen Mitbürger an der Loyalität der Juden in ihren Reihen zu zweifeln brauchte. Sigmund Freud hat diese besondere psychoanalytische Dynamik der Abgrenzungen gegenüber Andersgearteten analysiert und ist zum Schluss gekommen: »Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerungen der Aggression übrig bleiben. Ich habe mich einmal mit dem Phänomen beschäftigt, daß gerade benachbarte und auch sonst nahe stehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten […]. Ich gab ihm den Namen Narzißmus der kleinen Differenzen‹ […]. Man erkennt nun darin eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenhalten erleichtert wird.« 5

Für die nach Iglau eingewanderten Juden ging es darum, die »Aggressionsneigungen« innerhalb der neuen Gemeinschaft durch Anpassung und Einbürgerung zu minimieren, im konkreten Fall der Mahlers, sich voll an die neuen kleinstädtischen Gepflogenheiten anzupassen und sich ganz im Sinne der Kultur der Stadt einzudeutschen. Bernhard Mahler übersiedelte schon wenige Monate nach Aufhebung der Siedlungsrestriktionen (Mitte 1860) vom heruntergekommenen böhmischen Provinzkaff Kalischt (heute Kalisté), in dem die Mahlers in einem »armseligen Häusl ohne Fensterscheiben« 6 hatten leben müssen und praktisch kein soziales Leben hatten, ins 40 km entfernte Iglau. Das war der entscheidende, die Existenz sichernde Schritt. Das 20.000 Seelen zählende Städtchen war mehrfach befestigt und gab das Bild einer sauberen und kultivierten Stadt, in der sich Juden gut assimilieren konnten. 7 In Iglau benannte Bernhard Mahler sein bescheidenes Unternehmen in »Liqueur-, Rum-, Rosoglio-, Punch-, Essenzen- & Essig-Fabrik« um und unterstrich damit seinen erheblichen sozialen Aufstieg. Drei Jahre vergingen und Bernhard Mahler wurde mitsamt seiner Familie definitiv Bürger von Iglau, ein Status, der zwölf Jahre später mit dem Ankauf eines zweistöckigen, geräumigen Hauses in der Pirnitzergasse Nr. 265 gekrönt wurde. Den Komplex, ein jüdischer Zugereister in einem fremden Land zu sein, wurde Gustav Mahler Zeit seines Lebens freilich nie los: »Oft sagte er«, erinnert sich Alma Mahler, »Ich bin dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der Welt.« 8 Mahler kompensierte diesen Fremdheitskomplex, der hauptsächlich jüdische Wurzeln hatte, durch Arriviertheit und ein starkes Geltungsbedürfnis. Eine Haltung, die auch Vater Bernhard durch die auffällig breite Titulierung seines Unternehmens an den Tag legte. Betrachtet man die Ablichtungen des Familienoberhauptes Mahler, dann blickt einem ein entschlossener und gebieterischer Mann entgegen, dominant, aufrecht, direkt. Der Aufbruch ist ihm ins Gesicht geschrieben. Dass er obendrein, bei aller cholerischen und jähzornigen Art, die ihm nachgesagt wurde, in gewissen Maßen auch gebildet gewesen sein muss, belegt sein Übernahme »Kutschbockgelehrter«, entsprechend seiner Gepflogenheit, in jüngeren Jahren auf seinem Fuhrwerk neben Likören auch Bücher mitzuführen und zu lesen.

Mahlers Geburtshaus in Kalischt, Böhmen

Der in jeder Hinsicht anstrengende Prozess der zivilen und sozialen Anpassung wirkte sich indes weniger positiv auf das Verhältnis der Eltern untereinander aus. Dass Bernhard Mahler und Marie Hermann nicht zusammenpassten, geht aus zahlreichen Äußerungen Mahlers hervor, ein Scheitern, das neben den enormen psychologischen Belastungen der Anpassung an die neue Gemeinschaft wohl hauptsächlich dem Umstand zuzurechnen ist, dass ihre Ehe keine Liebesheirat war. Die Mutter litt unter der eher grobschlächtigen und triebgelenkten Umgangsart ihres Mannes, was neben den rasch aufeinander folgenden Geburten zusätzliche Belastungen verursachte. Verständlich, dass der äußerst feinfühlige, der Mutter ähnliche Gustav der leidenden »jiddischen Mame« näher stand als dem Vater. Wie wir aus der späteren Analyse von Sigmund Freud wissen, ging die Identifikation Gustavs mit der leidenden Mutter so weit, dass er deren Niedergeschlagenheit als Schuldkomplex internalisierte, sich quasi für dessen Leid verantwortlich fühlte, und dieses Gefühl ein Leben lang als Weltschmerz mit sich herumtrug. Der tieftraurige Blick des Knaben Gustav Mahler, der jenem späteren von Kafka zum Verwechseln ähnlich sieht, die hängenden Mundwinkel und das lebenslange Mitleid für die leidende Kreatur hatten wohl in dieser stark symbiotischen und empathischen Beziehung zur Mutter ihren psychoanalytischen Grund. Dazu kam die Allgegenwart des Todes. Der Erstgeborene, Isidor, verstarb wenige Wochen nach der Geburt, sechs weitere Geschwister verschieden in früher Kindheit, der um zwei Jahre jüngere Lieblingsbruder Ernst verstarb dreizehnjährig an einer Herzbeutelentzündung. Eine Kindheit voller Trauer und Abschiede also, die wie eine depressive Hypothek auf dem späteren hyperaktiven Leben lastete.

Gustav Mahler mit 6 Jahren

Die Familie als Grund nie enden wollender Sorge und Trauer: »In Meran braucht Ihr nicht an das Geld zu denken, sondern lasst es Euch dort wol sein …« (Gustav Mahler an seine Geschwister)

Aus den zahlreichen Briefen Mahlers an seine Familie, die unlängst unter dem Titel Liebste Justi, Briefe an die Familie veröffentlicht wurden 9, entsteht ein Bild permanenter Plackerei und Ängstlichkeit, ein Szenario, in dem Gustav, der in der Fremde lebte, mit den ständigen Schwierigkeiten konfrontiert, zur emotionalen Projektionsfläche aller familiären Ängste um Gesundheit und Fortkommen wurde. Die Problemfamilie Mahler mit einer leidenden Mutter, die 14 Kinder zur Welt brachte, mit einem stets aufgeregten, herzleidenden Vater, zwei beruflich ziellosen Brüdern und drei Schwestern, von denen eine, Justine, Gustav pausenlos alles klagte, war für den aufstrebenden Musiker Gustav alles eher als ein ruhiger Hafen. Es muss dem jungen Musiker, der sich auf dem steinigen Weg nach oben befand, wahrlich unendlich viel Kraft gekostet haben, in dieser nach jüdischer Tradition überschwänglichen Familiarität den beschwerlichen Berufsweg seiner musikalischen Karriere einzuschlagen und sich zu behaupten. Die kontinuierliche Einbindung in die Probleme des Familienlebens ließen in ihm niemals die Nabelschnur zu Iglau reißen, sie steigerte sogar sein Abhängigkeitsgefühl und erhöhte seine Verantwortung für die Seinen auch über den Tod der Eltern hinaus. Wie sehr er aus der Ferne die Geschicke seiner Familie, die mit ihren impulsiven und chaotischen Mitgliedern ständig uneins zu sein schien, in die Hand nahm und zu lenken versuchte, beweist ein Brief, den er Anfang Juni 1886 aus Prag an seine Schwester Justine schrieb und in dem er die Schwester beschwor, »alles zu ertragen«, was auch kommen möge, auf den Vater »Rücksicht zu nehmen«, »der eben wunderlich ist, wie alle kranken Menschen«, auf die Mutter achtzugeben, »dass sie sich gehörig schont« und vor allem, »nicht Öl in’s Feuer zu gießen, wenn es Zank giebt«. 10

Am 18. Februar 1889 starb nach vergeblichen Kuraufenthalten in Karlsbad Vater Bernhard Mahler, im selben Jahr, am 11. Oktober, verschied die Mutter Marie und kurz vorher, am 27. September, die älteste Schwester Leopoldine, »Poldi«, die anscheinend einem Gehirntumor erlag. 11 Dies bedeutete für Gustav nichts weniger, als dass er von nun an die Rolle des Alleinerziehers zu übernehmen hatte. In einem Brief an den Leipziger Opern-Intendanten Staegemann schilderte er Ende 1889 seine familiäre Situation: »Eine jüngere Schwester und einen Bruder lasse ich ihn Wien erziehen, und noch ein anderer (etwas älter) ist jetzt beim Militär. Meine Schwester ist sehr leidend, da sie durch die entsetzlichen physischen Anstrengungen an dem Krankenbette meiner Eltern, und allen damit zusammenhängenden Erschütterungen in ihrem Nervensystem buchstäblich zerrüttet ist.« 12

Der zu immer wichtigeren Engagements fortschreitende Dirigent erhöhte von Jahr zu Jahr seine finanziellen Zuwendungen an die Seinen. Hatte er noch zu Lebzeiten der Eltern die Tantiemen aus den erfolgreichen Bühnenaufführungen der Drei Pintos als »sichere Rente« für Vater und Mutter anlegen lassen, 13 so sandte er nun monatlich an die Geschwister – von denen zwei, Alois und Otto, in Wien lebten, die jüngere Schwester Justine hingegen meistens bei ihm – kleinere und größere Geldbeträge und wurde nicht müde, neben diesen Zuwendungen, direkt oder über seine Lieblingsschwester Justine, zu mahnen, zu warnen, zu vermitteln. Als sein jüngster Bruder, Otto, das Studium am Wiener Konservatorium an den Nagel hängte, setzte der in Hamburg mit sämtlichen großen Wagner-Opern Beschäftigte alle Hebel in Bewegung, um diesen durch allerlei Zuwendungen und Erholungsangebote 14 zum Weiterstudium zu motivieren, und als auch das nichts fruchtete, ihn wenigstens zur Annahme einer untergeordneten Stellung in Bremen und Leipzig zu bewegen, vergebens. Gleichzeitig hatten aber auch die anderen Geschwister, Justine und Alois, ihre Nöte. Auch für sie sorgte der für alle sich verantwortlich fühlende Bruder. Als im Dezember 1892 Justine und Alois, beide kränkelnd, sich auf Kur nach Meran begaben, zahlte der spendable Bruder nicht nur den gesamten Aufenthalt über mehrere Monate, sondern mahnte auch, auf der Reise »absolut nicht zu sparen« und erster Klasse zu reisen, da dort die Wagen besser geheizt und »ventilirt sind« als in der zweiten: »In Meran braucht Ihr nicht an das Geld zu denken, sondern lasst Euch dort wol sein – und wol werden. Wenn das Geld zu Ende geht, dann schreibt mir, und ich sende weiteres.« 15

Dabei waren Mahlers finanzielle Mittel, zuerst in Prag, dann in Leipzig, Budapest und Hamburg, wo er rasch Karriere machte, nicht unerschöpflich. Als im April 1892 Justine mit der treuen Begleiterin Natalie Bauer-Lechner einen dreimonatigen Sommerurlaub in Berchtesgaden plante, erinnerte der besorgte Kapellmeister die spendierfreudige Schwester, dass seine Einkünfte nicht unbegrenzt waren: »Könnt Ihr subtrahieren? – dann setzt freundlichst die Ziffer meines Monatseinkommens und subtrahiert davon das, was ich durchschnittlich an Euch einzusenden habe […] fasse Dich freundlichst bei der eigenhändigen Nase […]. Überlege Dir, wie man es anstellt, sich nach der Decke zu strecken.« 16 Dieselbe Sorge um die jüngste Schwester Emma, der er den Besuch einer Tanzschule zwar erlaubte, es aber für »unpassend« hielt, dass sie »mit einem Fremden einen Ball« besuchte, und die er ermahnte: »Vor allem gewöhne Dich daran, gegen mich rückhaltlos wahr zu sein – also auch alles Unangenehme zu berichten, so wie es die Justi tut.« 17

Im Falle des glücklosen jüngsten Bruders Otto halfen auch die reichlichen Geldzuwendungen nichts. Otto, dessen Lage nach verfehltem beruflichen Anschluss hoffnungslos geworden war, schoss sich am 6. Februar 1895, zweiundzwanzigjährig, eine Kugel in den Kopf. »Ich habe Gustav heute das Bild gezeigt, nun tut es mir leid, er ist so furchtbar traurig geworden«, schrieb Justine zwei Wochen später an die Freundin Ernestine Löhr, bei der Otto gewohnt hatte. 18 Als Gustav Mahler 35 und in den besten Jahren war, blieben ihm also von den zwölf Geschwistern nur noch drei, eine vom Tod überschattete Lebensbilanz, die am treffendsten das bekannte, von emotionaler und sozialer Misere geprägte jiddische Lied besingt:

Zen brider sainen mir gewesn,

hob’n mir gehandelt mit lain,

einer is gestorb’n, sint geblib’n nain.

Nain brider sainen mir gewesn,

hob’n mir gehandelt mit fracht,

einer is gestorb’n, sint geblib’n acht.

Acht brider sainen mir gewesn,

hob’n mir gehandelt mit ribn,

einer is gestorb’n, sint geblieb’ sibn … (etc.)

Refrain:

Oj! Schmerl mit dem Fidele, […]

Tewje mit’n bass,

Schpil’sche mir a lidele […]

Mahlers depressive Charakterstruktur – Regressive Tendenzen: »Kennst Du einen glücklichen Menschen auf dieser Erde, so nenne mir ihn schleunigst …«
(Gustav Mahler an Emil Freund)

Der überlieferte Spruch aus Kindestagen von Gustav Mahler, er wolle am liebsten Märtyrer werden – ein im Grunde nicht allzu ernst zu nehmender Wunsch aus dem Munde eines Kindes – korrespondiert in eigenartiger Weise mir jenem von Rudolf Stefan überlieferten Satz Mahlers, den dieser aus einem Brief Mahlers an Fritz Löhr zitiert: »Nur das Gefühl, daß ich für meine Meister leide und doch vielleicht einmal einen Funken ihres Feuers in die Seele der armen Menschen werfen kann, stählt meinen Mut.« 19 Mahlers Schmerzensbetonung, sein persönliches Leiden und das Mitleiden mit Eltern und Geschwistern deuten auf eine eindeutig depressive Charakterstruktur hin. Der häufige Bezug auf das »Leiden der Kreatur« und die rhetorische Frage, ob man denn »glücklich sein könne, solange es irgend einen auf der Welt gibt, der leidet«, weisen in dieselbe Richtung. Aus den zahlreichen Briefen Mahlers mit all ihren Hilfe- und Geldangeboten an die Eltern und Geschwister liest man das Leitmotiv der depressiv veranlagten Persönlichkeit heraus: »Ich bin, weil ich helfe.« Gewiss hat auch die Großfamilie diese Charakterstruktur Mahlers begünstigt, in dem Sinne, dass durch die innerfamiliäre Solidarisierung und das Aufpassen auf die Geschwister eine Art »Parentifizierung« stattgefunden hat, die sich ein Leben lang als Sorge im Allgemeinen und als existenzielles Bedrohtsein im Besonderen geäußert hat. Im Übrigen sprechen auch Mahlers philosophische Gewährsmänner, vor allem Schopenhauer und Dostojewski, 20 für eine solche Hypothese. Für Starez Sosima in den Brüdern Karamasow, wie übrigens auch für das Judentum, ist das Mitleid das Fundament der Moral, das einzig zählende sittliche Motiv. Moralischen Wert, sagt Schopenhauer, hat nur die aus Mitleid geborene Handlung: »Neminem laede, immo omnes, quantum potes, iuva – Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst!« Schopenhauers Gedanke, der auch eine radikale Genussaskese beinhaltet, gemahnt an Buddha und die fernöstliche Verzichtethik: Da der Mensch in allem Wesen sein eigenes Ich und in allem Leiden sein eigenes Leid erkennt, schaudert ihm vor allem Leben und dessen Genüssen. Eine extrem depressive Weltsicht: »Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, solange es nicht befriedigt ist. Keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehen wir überall gehemmt, überall kämpfend, kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens.« 21

Mahlers Mitleidsethik ging einher mit einer intensiven subjektiven Emotionalität, die aus dem Bewusstsein des allgegenwärtigen Leids sich musikalisch in hochexpressive Adagios hineinsteigerte. Im Finale der »Dritten« und im Schlusssatz der »Neunten« ist diese Erregung in breiten, stark anschwellenden Klangströmen am intensivsten dargestellt. In einem Brief an die Geliebte Anna von Mildenburg erklärte Mahler, was es bei ihm mit dieser gewaltigen Emotionalität auf sich hatte und wie die darin ausgedrückte »Liebe« – »Was mir die Liebe erzählt« – zu verstehen sei: »Aber in der Symphonie, liebes Anni, handelt es sich doch um eine andere Liebe, als Du vermutest. Das Motto zu diesem Satz (Nr. 7) lautet: ›Vater, sieh an die Wunden mein! Kein Wesen laß verloren sein!‹« 22

Mahler hat mit seiner depressiven Neigung die aufwühlenden Ereignisse seines Lebens immer als überbordenden Affekt erlebt, so wie es literarisch die »Sturm und Drang«-Literatur ausdrückt und wie es die moderne Psychiatrie als »bipolare affektive Störung« bei manisch Depressiven definiert. Sergej Rachmaninow, auch ein Depressiver, hat sein periodisches Abfallen in psychische Tiefs ebenfalls in breiten, hochexpressiven, von Gefühl triefenden langsamen Sätzen ausgelebt. Als er einmal von einer Dame gefragt wurde, warum er denn immer nur traurige Musik schreibe, soll er geantwortet haben: »Kennen Sie vielleicht eine andere?« Dieser große Pianist und Komponist hatte sich 1897 als Vierundzwanzigjähriger, nach dem Fiasko seiner ersten Symphonie, in psychiatrische Beratung begeben müssen und fand erst nach langer Behandlung mit Hypnose zum Komponieren zurück. Gustav Mahler, von dem zwar keine so gravierende Depression bekannt ist, befand sich zwanzigjährig in einer ähnlich desperaten Situation, als er nach dem Ende der Bad Haller-Saison ohne Arbeit, ohne echte Berufsperspektive, erfolglos auch als Komponist und inmitten deprimierender Krankheits- und Todesnachrichten nur noch Unglück sah. In einem Brief an seinen Mitschüler Emil Freund brachte er diese seine Weltuntergangsstimmung mit den »Erschütterungen« in Zusammenhang, die der Wahnsinn Hans Rotts und der zu befürchtende von Anton Krisper in ihm auslösten: »Überall ist das Elend zu Hause und es legt die seltsamsten Kleider an, um die armen Menschenkinder zu verspotten. Kennst Du einen glücklichen Menschen auf dieser Erde, so nenne mir ihn schleunigst; bevor mir noch das bisschen Lebensmut entwischt ist.« 23

Indiz für eine depressive Veranlagung und die Zustände dauernder Niedergeschlagenheit ist vor allem die extreme Lärmempfindlichkeit. Laut einer Äußerung von Mahler gegenüber Natalie Bauer-Lechner bestand diese Lärmempfindlichkeit bereits seit Kindestagen und nicht erst ab dem Zeitpunkt intensiver kompositorischer Tätigkeit. Mahler habe schon als Kind gewünscht, »unser Herrgott hätte doch jeden Menschen so ausgestattet, daß im Nu, wenn er zu laut wird, ihn etwas wie ein innerlicher ›Knüppel aus dem Sack‹ tüchtig prügeln und sofort zum Schweigen bringen sollte«. 24

Aus der unbefriedigenden Wahrnehmung der Wirklichkeit entsteht laut Freud allgemein eine Rückkehr in frühere Stadien, er nennt sie – auf pathologische Phänomene bezogen – Regression. Zwar ist dieses Schema auf Normale wie Künstler nicht ohne weiteres anwendbar, doch lassen sich daraus Einsichten ableiten, die besonders beim depressiv veranlagten Mahler plausibel erscheinen. Mahlers Musik verabschiedet sich im Zustand des Traurigseins aus der Gegenwart und kehrt in der Phantasie zu den verlorenen Paradiesen der Kindheit zurück. Die Realitätswahrnehmung kippt beim sensiblen depressiven Künstler zum Traum und evoziert als Trost im Leiden entspannte, naive Paradiese: «Das Träumen ist im ganzen ein Stück Regression zu den früheren Verhältnissen des Träumers, ein Wiederbeleben seiner Kindheit, der in ihr herrschend gewesenen Triebregungen und verfügbar gewesenen Ausdrucksweisen.« 25

Der Einfluss der Peripherie auf Mahlers Charakter: »… die passive Phantasie unausgefüllter Räume …« (Robert Musil)

Hugo von Hofmannsthal hat das vielschichtige Naturell des österreichischen, an der Peripherie Europas lebenden Menschen mit »ein Hauch von Slawischem, ein Glanz von Italienischem, aber aus der tiefsten Deutschheit geschöpft« definiert. 26 Hermann Bahr hat in ähnlicher Weise die Melange des Wiener Blutes nach dessen ethnisch-kultureller Zusammensetzung definiert: »Die Wiener sind Deutsche, Tschechen, Kroaten, aber von den anderen Nationen beleuchtet, mit denen sie leben, und in diesem Lichte sieht das Deutsche, das Slawische anders aus, es wird beweglicher, flüssiger, es hat keine Schwere mehr, es wird sublimiert, es ist sozusagen nur noch ein Abglanz von sich selbst. Daher auch, was man ja nicht verschweigen darf, die Gefahr, in der solche Menschen leicht sind, sich zu verflüchtigen: sie steigen leicht zu hoch, und der Wind weht sie weg, nicht gleich, aber doch in der zweiten und dritten Generation.« 27 Andere haben das Naturell des »Homo austriacus« noch komplizierter und differenzierter gesehen: »Ein Landesbewohner«, schreibt Robert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften, »hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewussten, einen unbewussten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten«. Deshalb, so Musil, habe jeder Erdenbewohner auch noch einen »zehnten Charakter«, der nichts anderes sei als »die passive Phantasie unausgefüllter Räume«, die es dem Menschen gestatte, »nur nicht das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun Charaktere tun und was mit ihnen geschieht«. 28 Wenn Musil seinen »Landesbewohnern« ein so segmentiertes, windschiefes und widersprüchliches Naturell zuschreibt, um wie viel uneinheitlicher und zerrissener muss der aus einem böhmischen Kaff in eine deutsch-mährische Enklave eingeschleuste, von dort in die von Tschechen, Slowaken, Polen, Magyaren, Bosniaken, Ulanen, Ruthenen bevölkerte »Mulde« Wien eingewanderte und schließlich zum katholisch-apostolischen Glauben konvertierte Jude Mahler gewesen sein.

Für eine tiefenpsychologische Betrachtungsweise der Musikcharaktere und deren stilistische Neigungen sind Überlegungen zu Abstammung und Verwurzelung der Komponisten in einem geografischen oder kulturellen Gebiet das psychoanalytische Pendant zur Analyse frühkindlicher Erfahrungen und Triebschicksale. Dabei spielen vor allem zwei gegensätzliche »Orte« eine entscheidende, wiewohl nicht ausschließliche Rolle: der Ort des »Zentrums« und der Ort der »Peripherie«.

»Zentrum« ist der Topos positiven, logischen und konsequenten Denkens und Handelns, das ist ein metaphorisches Gebiet, in dem der Hegelsche »Weltgeist« bläst, wo pragmatische Aufbruchstimmung herrscht, wo Fortschrittsglaube und technologisches Bewusstsein dominieren. »Zentrum«, das ist die Stadtkultur, die avancierte Kunst, das künstlerische Material auf dem letzten geschichtlichen Stand, die Mode, der »dernièr cri«, die Aktualität. Der Aufruhr der Jugend, die Innovation, die Kunst-Revolutionen, sie finden meist im »Zentrum« statt. Die Lebenshaltung ist im »Zentrum« optimistisch, die Kleidung modisch, die Technik auf dem letzten Stand.

Ganz anders die »Peripherie«. Dort schauen die Menschen melancholischer aus, sie gehen langsamer, kleiden sich altmodisch, »streichen sich ruhig«, wie Stefan Zweig seinerzeit feststellte, »über ihre wohl gepflegten Bärte«, halten viel auf Tradition und alte Gebräuche. Die »Peripherie« ist also, gegenüber dem fortschrittlich gesinnten Zentrum, ein Ort der Zeitlosigkeit, der Rückwärtswendung, der Konservierung und insgesamt eine des Stillstandes und Pessimismus. Während im Zentrum die Jugend optimistisch in die Zukunft blickt, schauen die Menschen der Peripherie zurück und leben wehmütig von Erinnerungen. In der Peripherie ist auch die Neigung zu Depression höher als im Zentrum, wo das »Prinzip Hoffnung« die Menschen ideologisch am Fortschritt partizipieren lässt. Natürlich gibt es auch Überschneidungen von »Zentrum« und »Peripherie«, vor allem in kleineren Städten oder sekundären Hauptstädten. So beheimatete etwa das historische Wien, Hauptstadt und geistig-politisches Zentrum eines Vielvölkerstaates, gewiss mehr »Peripherie« als etwa London, Paris und Berlin, in denen homogene Kulturen dem Politoptimismus und dem Positivismus förderlicher waren als in der habsburgischen Metropole.

Peripherie lässt sich am markantesten in der Literatur ablesen. »Peripherie« und »Zentrum«, die Gegensatzpaare wie Dialekt und Hochsprache. Die Literatur der Peripherie bevorzugt die parataktische Erzählform, verliert sich in endlosen Episoden und Nebenschauplätzen, erzählt abseits der Haupthandlung Anekdoten. Jaroslav Haseks Schelmenroman vom Braven Soldaten Schwejk wäre ein typisches Beispiel für Literatur der »Peripherie«: dialektal, umgangssprachlich und vor allem fabulierend.

Es zählt allerdings zu den Paradoxen der »Peripherie«, dass sie manchmal Rückständigkeit in Fortschritt und Weltfremdheit in Originalität verwandelt. Außer Mahler entstammten die Alfred Roller, Josef Hoffmann, Sigmund Freud, Karl Kraus und Stefan Zweig der fruchtbaren mährischen Peripherie. Victor Adler, der Begründer der österreichischen Sozialdemokratie, stammte aus Prag, der Volksschauspieler Josef Kainz aus Ungarn, der Dirigent Felix Weingartner aus Istrien, Julius Epstein, Mahlers Klavierlehrer, aus Agram in Kroatien. Laut Volkszählung lebten um 1880 in der Reichshauptstadt 437.000 Wiener, die nicht in Wien geboren waren, davon allein 26,7 Prozent Böhmen und Mähren. 29

Mahlers Elternhaus in der Pirnitzer Gasse in Iglau

Mahlers »Peripherie« konnte man vor allem an dessen Art, sich zu kleiden, ablesen. Alma erwähnt in ihren Erinnerungen, dass sie als junges Paar durch ihre »Erscheinung allenthalben unliebsames Aufsehen« erregten. Mahler trug »sogenannte Reformkleider (von Kolo Moser gezeichnet), war selbst in den teuersten Gewändern schäbig angezogen, ging immer barhäuptig, den Hut in der Hand, den Kopf nach vorn stechend, dazu hatte er diesen merkwürdigen Gang, dieses unrhythmische, stolpernde Vorwärtsstürmen«. 30