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Karl Plepelits

Erobern wirst du sie

Erotischer Liebesroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Anstelle eines Vorwortes

Aus der Liebeskunst des römischen Dichters Ovid:

 

Als Erstes sollte in dein Hirn hinein 

die Zuversicht, dass alle Frauen zu

erobern sind. Erobern wirst du sie,

leg du nur deine Schlingen!

 

1

Ihm steht das Herz still. Er ist starr vor ungläubigem Staunen. Ist ihm jetzt die Jungfrau Maria erschienen? So wie in Lourdes, in Fátima? Oder hat er einfach eine Halluzination?

Man stelle sich folgende Szene vor:

Ein wunderschönes, wunderbar erhaltenes römisches Theater voller Menschen. Vielstimmiges Geschnatter. Ein Büchlein in der Hand, postiert sich einer auf der Bühne und macht Anstalten, irgendwas von sich zu geben, vielleicht, um die phänomenale Akustik des Theaterrunds zu demonstrieren. Das Geschnatter verstummt. Nein, er will nichts demonstrieren, liest nur aus besagtem Büchlein vor, übrigens auf Deutsch, und hüpft dabei herum wie ein Kasperl.

Der Vortrag endet. Rauschender Applaus setzt ein. Richtige Schauspieler nachäffend, verbeugt sich der „Kasperl“ auf der Bühne nach allen Richtungen. Im selben Augenblick erstarrt er in seinen Bewegungen, als hätte ihn der Schlag getroffen. Oder als sähe er die Jungfrau Maria vor sich.

Hat er doch keine Halluzination? Ist das vor ihm wirklich die Jungfrau Maria? Oder vielleicht irgendein anderes weibliches Himmelswesen?

Wie gebannt blickt er auf eine Dame mittleren Alters in der ersten Reihe, nahe dem Eingang. Dann springt er von der Bühne wie ein aufgescheuchtes Reh und stürzt auf sie zu, hält knapp vor ihr inne und starrt sie mit offenem Mund an wie eine übernatürliche Erscheinung, ohne einen Laut von sich zu geben. Und sie? Sie blickt ihn ihrerseits mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Gesicht glüht. Ihre Lippen zittern, bringen aber ebenfalls keinen Ton heraus. Sie scheint wie vom Blick der Gorgo Medusa versteinert, in eine der marmornen Sitzstatuen verwandelt, wie man sie in Ruinen römischer Städte gelegentlich noch sehen kann.

 

Diese merkwürdige Szene trug sich am 25. März des Jahres 2006 in Leptis Magna zu, einer großen und unglaublich gut erhaltenen Römerstadt in Libyen, damals noch Gaddafis Reich und noch nicht im heutigen Bürgerkriegschaos versunken. Nur, was war denn gar so spannend an dem Vortrag des „Kasperls“, dass Hunderte von Zuschauern aus wer weiß wie vielen Ländern in ihrem Geschnatter verstummten und ihm andächtig schweigend lauschten?

Der „Kasperl“ auf der Bühne hatte sein Büchlein geschwenkt und mit lauter Stimme angekündigt, den ersten Akt aus der römischen Komödie Die Brüder des römischen Dichters Terenz vortragen zu wollen. Sie ist ja in diesem Theater bestimmt wiederholt aufgeführt worden, nämlich in der Römerzeit. In diesem Stück treten zwei ältere Herren auf, zwei Brüder, die sich gegenseitig nicht riechen können, und geraten aneinander.

Und während er das vorlas, hüpfte er, wie schon erwähnt, herum wie ein Kasperl. Nein, so sah es natürlich nur aus. In Wirklichkeit versuchte er durch Stellung und Intonation einmal die eine und dann wieder die andere Person zu verkörpern. Für manche Zuschauer sah das bestimmt so aus wie Herumhüpfen, und das gefiel ihnen wahrscheinlich. Aber alle, die andächtig zuhörten (und Deutsch verstanden), erkannten rasch, dass es in diesem Stück um ein zeitloses Thema geht, nämlich um die Frage: Wie soll man seine Kinder erziehen? Streng oder liberal? Mit Härte oder mit Liebe? Soll man sie kurzhalten, oder soll man sie verwöhnen?

Nächste Frage: Wer war denn der herumhüpfende Kasperl, der dort aus einer römischen Komödie vorlas? Nun gut, ich will’s gestehen: Das war meine Wenigkeit. My humble self.

Und wer war die übernatürliche Erscheinung, die mich derart aus der Fassung brachte, dass mir das Herz stillstand? Etwa doch die Jungfrau Maria? Nein, dafür war sie definitiv zu alt. Die Jungfrau Maria erscheint den Menschen ja bekanntlich stets als attraktives junges Mädchen, nur halt verhüllt wie eine Nonne oder eine gläubige Muslimin. Und vor allem hätte sie mich niemals derart aus der Fassung bringen können, dass ich glaubte, meine Augen spielen mir einen Streich und gaukeln mir ein Phantom vor

Nein, das war doch eindeutig unvergessene, aber zu meinem Leidwesen seit vielen Jahren aus meinem Gesichtskreis verschwundene unsterbliche Geliebte Yvonne. Sie saß in der ersten Reihe, nahe dem Eingang, und applaudierte heftig. Ich erkannte sie sofort. Sie selber scheint mich erst erkannt zu haben, als mein Blick wie unter einem Zauberbann an ihr hängen blieb. Denn da verwandelte sie sich mit einem Schlag in eine marmorne Sitzstatue und blickte mich mit großen Augen an.

Ja, es war Yvonne, meine unsterbliche Geliebte. Denn wir waren einstmals wirklich „unsterblich“ verliebt, alle beide. Und dies, obwohl, oder vielleicht auch, weil wir uns keineswegs auf den ersten Blick verliebt hatten. Es hatte ganz schön lang gedauert, bis aus uns ein Liebespaar wurde.

Waren wir also, nach so vielen Jahren, nach so langer Trennung, noch immer unsterblich verliebt, alle beide?

 

2

Unsere Liebe nahm ihren Anfang im Sommer 1984. Genauer, da hätte sie ihren Anfang nehmen können. Tat es aber noch nicht.

Na ja, was man halt konkret unter Liebe versteht. Was damals, im Sommer 1984, seinen Anfang nahm, war unsere Liebe im Sinne der Sehnsucht nach den anderen. Was damals noch nicht seinen Anfang nahm, war unsere körperliche Liebe. Da kam mir ein anderer zuvor, weil ich dafür zu „anständig“, sprich, zu feig, zu gehemmt, zu schüchtern war.

Ich war noch ein junger Tupf und hatte gerade erst meine Karriere als Reiseleiter begonnen, da hatte ich für das Grazer Reisebüro, bei dem ich angeheuert hatte, eine Busreise nach Padua zu leiten. Es war erst meine dritte Reiseleitung. Auf dem Programm standen nicht nur Besichtigungen in Verona, Venedig und Padua selbst, sondern vor allem der Besuch dreier Opernaufführungen in der Arena von Verona. Daher hatte ich auch eigens einen Opernexperten mit, der gleich auf der Hinfahrt zu allen drei Opern ausführliche Einführungen gab, sodass sich mein Reiseleiterstress fürs erste ziemlich in Grenzen hielt.

Dieser für einen Reiseleiter ungewöhnlich idyllische Zustand änderte sich schlagartig mit unserer Ankunft in Padua. In unserem Hotel gab es nämlich „zu unserem größten Bedauern“, wie man mir versicherte, ein Zimmer zu wenig, oder genauer, zwei Einzelzimmer zu wenig und dafür ein Doppelzimmer zu viel. So blieb also an mir die heikle Aufgabe hängen, zwei Alleinreisende in ein Doppelzimmer zu stecken.

Ah, da hatte ich ja Glück. Unter den Alleinreisenden befand sich die mit Abstand Jüngste von allen. Ihre Frau Mama hatte mich beim Einsteigen in Graz beinahe auf den Knien angefleht, ein wachsames Auge auf sie zu haben. Denn sie sei erst achtzehn.

Ja, die gebe ich ins Doppelzimmer, klar. Aber wen noch? Ich konnte auf meiner Teilnehmerliste beim besten Willen keine passende Partnerin für sie entdecken. Was tun, spricht Zeus. Mich und Seppi, meinen Busfahrer, in ein Doppelzimmer stecken? Ausgeschlossen. Ich wusste nur zu gut, dass Seppi größten Wert auf ein Einzelzimmer legt. (Und wusste mittlerweile auch, warum.)

In meiner wachsenden Verzweiflung entschloss ich mich, mich selbst zu opfern und mit der Achtzehnjährigen, und das war eben die Yvonne, in ein Doppelzimmer zu gehen, natürlich in der stillen Hoffnung, dass sie mir nicht in Ohnmacht fällt, wenn sie von ihrem Schicksal erfährt. Nur durften davon selbstverständlich die anderen nichts erfahren. Der Einzige, den ich einzuweihen gedachte, war der Seppi. Ihn kannte ich schon recht gut und teilte mit ihm auch noch so manch anderes Geheimnis.

Sobald also alle anderen abgefertigt waren, überreichte ich der geduldig wartenden Yvonne, einem, wie mir erst jetzt klar wurde, ganz entzückenden Mädchen, einen Schlüssel und erklärte ihr mit gedämpfter Stimme, wir müssten uns ein Doppelzimmer teilen, es gehe leider nicht anders, und es mache ihr doch hoffentlich nicht allzu viel aus. Und dabei schlug mir wie einem verliebten Jüngling das Herz bis zum Hals – aber nicht so sehr, weil ich in sie bereits verliebt gewesen wäre, sondern einfach aus Angst, sie könnte jetzt einen Schreianfall erleiden oder dergleichen.

Yvonne hörte mich geduldig an, errötete lieblich, schüttelte tapfer den Kopf und trollte sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Und mir fiel ein großer Stein vom Herzen.

Als ich jedoch nach Erledigung der üblichen Formalitäten an der Rezeption in unsere nun gemeinsame Behausung nachkam und ihr in wohlgesetzten Worten für ihr Verständnis dankte, da hörte sie sich meinen Sermon mit unbewegter Miene an und gab hierauf, wiederum lieblich errötend, etwas höchst Verwirrendes von sich. Zwar verwirrte mich nicht allein das, was sie sagte, sondern auch ihr Anblick, ihre Nähe, das Alleinsein mit ihr. Es erregte mich sogar ein wenig. Ich gestehe freimütig, dass ich mich schon damals zwischen Selbstbeherrschung und Begehren – wohlgemerkt, Begehren, noch nicht Verliebtheit – hin und her gerissen fühlte. Ja, einen Augenblick lang bedauerte ich es außerordentlich, Frauen gegenüber ein eher gehemmter Typ, außerdem schon verheiratet und zu allem Überfluss Yvonnes Reiseleiter zu sein.

Aber gut, was sie von sich gab, war verwirrend genug. Folgendes sagte sie nämlich wortwörtlich: „Gellns‘, Herr Reiseleiter, Sie werden die Situation bitte eh nicht ausnutzen.“ Und meinte damit zweifellos: Gellns‘, Herr Reiseleiter, Sie werden meine Tugend bitte eh nicht in Gefahr bringen. Oder: Gellns‘, Sie werden sich eh nicht auf mich stürzen, um mich flachzulegen. Und das exakt zu dem Zeitpunkt, wo ich ohnehin mit mir zu kämpfen hatte, eben dies nicht zu tun.

Ich errötete vermutlich mindestens ebenso heftig wie sie und versicherte ihr hoch und heilig, sie habe selbstverständlich nicht das Geringste zu befürchten.

„Liebes Fräulein Maurer, ich bin Ihnen ja so unendlich dankbar, dass Sie mich durch ihr Einverständnis aus einer argen Verlegenheit gerettet haben. Überdies bin ich moralisch bestimmt nicht weniger gefestigt als der Papst oder, sagen wir, ein Mönch.“ (Damals waren die moralischen Verfehlungen zahlreicher geistlicher Herren noch nicht an die Öffentlichkeit gedrungen.) „Und darum können Sie vollkommen beruhigt sein ...“

Und so weiter. Zuletzt flehte ich sie meinerseits an, unser Geheimnis ja nicht auszuplaudern.

Wieder hörte sie mich schweigend und mit unbewegter Miene an. Und nachdem ich geendet hatte, nickte sie nur und war es allem Anschein nach zufrieden.

Nun gut. Vorerst hatten wir sowieso kaum Gelegenheit, unsere traute Zweisamkeit zu pflegen. Denn es hieß sogleich wieder davoneilen, um das Mittagessen einzunehmen. Und nach dem Mittagessen gab es nur eine kurze Siesta, die ich Yvonne allein in unserem Zimmer verbringen ließ, nicht so sehr, um ihre Tugend zu schonen, sondern um, wie stets, die nähere Umgebung des Hotels zu erkunden. Schließlich soll sich ein Reiseleiter überall perfekt auskennen. Und dann war es auch schon Zeit, erneut den Bus zu besteigen und uns von Seppi nach Verona chauffieren zu lassen. Dort angekommen, machte ich zunächst eine Führung und zeigte den mir anvertrauten „Schäflein“ die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt, als letzte das römische Amphitheater, die sogenannte Arena. In dieser bezogen wir schließlich gemeinsam unsere Sitzplätze, um eine Aufführung von Così fan tutte mitzuerleben.

(Der italienische Titel bedeutet: So machen es alle Frauen. Gemeint ist natürlich: Alle Frauen sind bei Bedarf zur Untreue, zum Seitensprung, kurz, zum außerehelichen Sex verführbar. Mozart und sein Librettist, Lorenzo Da Ponte, übrigens ein katholischer Priester, scheinen das genau gewusst zu haben.)

Als wir gegen halb drei Uhr nachts wieder nach Padua zurückkamen, lud mich Seppi ein, mit ihm zusammen noch ein Fläschchen Wein (ein „Stifterl“) aus den Tiefen seines Busses zu leeren. So könne ich ihm noch ein wenig Gesellschaft leisten und würde nebenbei „meiner“ Yvonne Gelegenheit geben, sich auszuziehen und ins Bett zu schlüpfen, ohne Angst um ihre Tugend oder auch nur vor meinen gierigen Augen haben zu müssen.

Diese Einladung nahm ich sehr gern an und war trotz meiner Müdigkeit froh, ihm mein Herz ausschütten zu können. Ich schwärmte ihm von den körperlichen und moralischen Vorzügen „meiner“ Yvonne vor, wie süß, wie reizend, wie bezaubernd sie doch sei, und zugleich, wie zurückhaltend, wie sittsam, wie tugendhaft. Ich scheute mich auch nicht, ihm von meiner Verwirrung, meinem Begehren, meinem inneren Kampf zu berichten, und genoss es, mich von ihm bedauern, trösten und loben zu lassen, nämlich dafür, dass ich all diesen bösen Versuchungen nicht einfach dadurch aus dem Weg gegangen sei, dass ich Yvonne ihr bestelltes Einzelzimmer gegeben hätte und dafür mit ihm ins Doppelzimmer gegangen sei.

Ja, so sprach unser braver Seppi und hatte es anscheinend überhaupt nicht eilig, ins Bett zu kommen. Aber gut, er konnte sich auch, im Gegensatz zu mir, am nächsten Morgen nach Herzenslust ausschlafen. Da stand nämlich die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten von Padua selbst auf dem Programm. Und dazu brauchten wir weder einen Bus noch einen Seppi, sondern einzig und allein unsere Beine. Ich ging voran, und meine Leute folgten mir artig nach wie eine Herde Schäflein ihrem Hirten. (Darum bezeichnen ja die Reiseleiter ihre Leute gerne liebevoll als Schäflein, wobei natürlich im Hintergrund noch der biblische Vergleich mit dem Hirten und seinen hundert Schafen mitschwingt, von denen eines verloren geht). Und auch am Nachmittag konnte sich Seppi wunderbar erholen. Die Besichtigung von Verona hatten wir ja schon hinter uns, und darum setzte ich die Abfahrt zur zweiten Opernaufführung entsprechend später an.

Aus demselben Grund entschloss ich mich, diesmal selber gar nicht mitzufahren. An diesem Tag wurde ich ja nicht mehr gebraucht, und mein Opernexperte war, glaube ich, sogar froh, einmal freie Hand zu haben. Ein weiterer Grund für meinen Entschluss war der Umstand, dass an diesem Abend I Lombardi alla prima cruciata (Die Lombarden auf dem ersten Kreuzzug) von Verdi gegeben wurden. Und auf diese Oper war ich, um ehrlich zu sein, von allem Anfang an nicht besonders neugierig. Und schließlich fühlte ich mich mittlerweile, wie die Italiener sagen, völlig „zerstört“ und hatte nur noch eins im Sinn: mich in mein Bett fallen zu lassen und zu schlafen, und zwar zur Abwechslung allein, ohne die so verwirrende, erregende, beunruhigende Gegenwart der süßen Yvonne. Sie ließ es sich ja als erklärte Opernliebhaberin nicht nehmen, auch diesmal wieder mit nach Verona zu fahren.

Also verabschiedete ich feierlich meine Leute, empfahl sie unserem Opernexperten und sah im Übrigen dazu, dass ich ins Bett kam. Ich schlief auch ganz wunderbar, wurde irgendwann vom Lärm meiner heimkehrenden Schäflein wach und schlief beruhigt wieder ein, ehe Yvonne hereinkam.

Wer beschreibt jedoch mein Erstaunen, ja Entsetzen, als ich das nächste Mal aufwachte, und zwar vom Läuten meines Weckers, und feststellen musste, dass Yvonnes Bett leer war – leer und unberührt. Da sprang ich, wie von der Tarantel gestochen, aus dem Bett, schlüpfte hastig in meine Kleider und stürmte in den Frühstücksraum hinunter. Nur, Yvonne war nirgendwo zu sehen. Auch Seppi war noch nicht da. Aber der Opernexperte. An ihn wandte ich mich jetzt und fragte mit vorgetäuschter Beflissenheit, ob der Abend zufriedenstellend verlaufen sei, und ob auch wirklich niemand verloren gegangen sei.

„Oh, alles bestens“, erwiderte er mit sichtlichem Stolz. „Die Aufführung war ein Traum. Alle unsere Reisegäste waren hochzufrieden. Und nein, niemand ist verloren gegangen.“

Endlich, als ich schon vor Besorgnis zu platzen glaubte, ging die Tür auf. Und siehe da, jetzt kam Yvonne herein, zwar einigermaßen zerknittert und mit auffällig geröteten Wangen, aber allem Anschein nach unversehrt, gesund und munter und mit der Miene eines unschuldsvollen Engels. Ja, und gleich hinter ihr – welch ein Zufall! – folgte Seppi und strahlte, dass es eine Freude war.

Ohne ihn jedoch zu beachten, stürzte ich mich, aufgeregt wie ein auf frischer Tat ertappter Ehesünder, auf sie und fragte, ob alles in Ordnung sei. Deutlicher konnte ich hier ja nicht werden.

„Ja, ja“, murmelte, nein, stammelte sie als Antwort und schenkte mir ein verlegenes Lächeln. „Sie haben sich doch hoffentlich keine Sorgen gemacht?“

Diese Frage aus ihrem Mund brachte mich so sehr aus der Fassung, dass Seppi, der in unserer Nähe stehen geblieben war, zu kichern anfing, was mich nur noch mehr aus der Fassung brachte. Hierauf packte er mich am Ellbogen, schob mich mit sanfter Gewalt aus dem Frühstücksraum und bugsierte mich in eine stille Ecke. Und dort entspann sich folgender Dialog:

 

SEPPI: Du, Peter, ich hoff, du bist mir eh nicht bös.

ICH: Weil du mich ausgelacht hast? Hältst du mich für einen Kindskopf?

SEPPI: Aber nein, nicht deswegen. Außerdem, ausgelacht hab ich dich ja nicht. Sondern wegen der Yvonne.

ICH: Ja, stell dir vor, sie ist die ganze Nacht nicht heimgekommen. Ich hab mir schon solche Sorgen gemacht.

SEPPI: Ja, eben. Hab ich befürchtet. Drum mein ich ja, ob du mir eh nicht bös bist.

ICH: Wieso dir?

SEPPI: Na ja, ich hab sie halt auf ein Stifterl Wein eingeladen. So wie dich am Vortag.

ICH: Du meinst, in deinem Bus, nach der Rückkehr aus Verona?

SEPPI: Genau. Ich musste ja schauen, ob das alles stimmt, was du mir über sie erzählt hast.

ICH: Ja, und dann? Ihr werdet doch nicht bis jetzt im Bus gehockt sein?

SEPPI: Aber nein, natürlich nicht. Drum hab ich dich ja gefragt, ob du mir hoffentlich eh nicht bös bist.

ICH: Jetzt sag schon. Du wirst sie doch nicht in dein Zimmer verschleppt haben?

SEPPI: Aber wo denkst du hin? Sie ist selbstverständlich freiwillig mitgegangen.

ICH: Freiwillig mitgegangen? Wohin denn?

SEPPI: Sag ich doch. In mein Zimmer.

ICH: In dein Zimmer? Ja, und dann?

SEPPI: Na ja, dann sind wir halt aufgestanden und frühstücken gegangen. Wie du siehst.

ICH: Was? Ich hör wohl nicht recht. Sie war die ganze Nacht bei dir im Zimmer?

SEPPI: Na, die ganze Nacht nicht. Erst ab drei, halb vier, so was.

ICH: Was sagst du da? Sie hat bei dir geschlafen? Wo du doch nur ein Einbettzimmer hast?

SEPPI: Ach, jetzt kapier doch endlich! Bei mir. Und mit mir.

ICH: Sie hat mit dir geschlafen?

SEPPI: Na, wenn ich’s dir sag.

ICH: Und du mit ihr?

SEPPI: Na, was glaubst du wohl? Drum bin ich ja so besorgt, dass du mir vielleicht bös sein könntest.

ICH: Ich werd verrückt. Gevögelt hast mit ihr? Gebumst? Geschnackselt? Gepudert?

SEPPI: Jetzt beruhig dich doch! Und weißt du, was das Beste ist? Sie war noch Jungfrau.

ICH: Was? Und du hast sie ...

SEPPI: Entjungfert, ich weiß. Aber sie wollte es nicht anders. Glaub nicht, dass ich sie genötigt hab oder so. Hast du gesehen, wie glücklich sie heute dreinschaut? Drum solltest du wirklich nicht bös sein. Ihr nicht. Und mir nicht.

 

So weit also jener merkwürdige Dialog zwischen Seppi und mir. An dieser Stelle war er abrupt zu Ende. Denn mittlerweile war ich nicht nur fassungslos, sondern auch sprachlos. Mir blieb schlichtweg, wie man so schön sagt, die Spucke weg. Die widersprüchlichsten Gedanken schossen mir durch den Kopf und erzeugten darin ein unbeschreibliches Tohuwabohu. Und Seppi hatte, glaube ich, ganz schön zu tun, um aus mir wieder einen einigermaßen brauchbaren Reiseleiter zu machen. Gleich nach dem Frühstück wollten wir ja aufbrechen, diesmal in Richtung Venedig.

An diesem Abend war ich in Verona wieder dabei. Schließlich stand Puccinis Tosca auf dem Programm. Und nach unserer Rückkehr ins Hotel? In welches Zimmer zog es da Yvonne? Nun, ich hätte es mir denken können: erneut in Seppis Einbettzimmer.

Es war dies zum Glück – ich meine, zum Glück für meine Nerven – die letzte Nacht im Rahmen dieser Reise. Schon am folgenden Tag chauffierte uns Seppi wieder nach Graz zurück. Und ich gestehe, dass ich erleichtert aufatmete, als ich Yvonne – angeblich – heil und unversehrt wieder ihrer treusorgenden Frau Mama übergeben konnte. Und dass ich vermutlich schamrot wurde, als ich mir ihre Dankesworte für meine – angeblich – so sorgsame Betreuung anhören musste.

Ja, und seither fragte ich mich ohne Unterlass: Was habe ich nur falsch gemacht? Was hat der gute Seppi, was ich nicht habe? Denn von da an platzte ich nicht mehr vor Besorgnis, sondern ganz einfach vor Neid. Ja, natürlich hätte ich mir damals in Padua nichts sehnlicher gewünscht, als in Seppis Haut zu stecken. Moralisch gefestigt? Dass ich nicht lache! Wenn’s darauf ankommt, sind wir doch alle gleich – ich meine, alle Mannsbilder (vom Papst und einigen Mönchen natürlich abgesehen). Das wusste übrigens schon Ovid, einer der auch heute noch lesenswertesten Dichter Roms. In einem seiner Liebesgedichte (Amores) lehrt er Folgendes:

Stets zieht uns das Verbotne an,

und was uns verwehrt, begehren wir.

Also noch einmal: Was hatte der Seppi, was ich nicht habe? Und vor allem: War Yvonnes Aufforderung an mich, die Situation nicht auszunutzen, nun ernst gemeint, oder war sie etwa gar nicht ernst gemeint? Oder bezog sich die Aufforderung vielleicht nur auf mich persönlich, nicht aber etwa auf den Seppi? Oder war sie zwar in dem Moment, wo sie ausgesprochen wurde, durchaus ernst gemeint, aber nur so lange, bis einer daherkam, der forsch genug war, sich darüber hinwegzusetzen?

Und so berauschte ich mich seither an dem Gedanken, ich hätte auch selbst bei Yvonne Erfolg gehabt, wenn ... ja, wenn Ovid auch mit einer anderen Behauptung recht hätte, die man in seiner berühmten Liebeskunst (Ars amatoria) liest. Sie lautet:

Als Erstes sollte in dein Hirn

die Zuversicht hinein, dass alle Frauen zu

erobern sind. Erobern wirst du sie,

leg du nur deine Schlingen!

War ich jetzt ein Ehebrecher? Na ja, laut katholischer Morallehre schon. Weil, wie sagt Jesus? Jeder, der eine Frau begehrlich ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. Das trifft doch hundertprozentig auf mich zu. Und wie es auf mich zutrifft! Zwar war Yvonne nicht oder noch nicht verheiratet. Aber ich war’s. Im Übrigen spielte eine solche Unterscheidung für Jesus selber gar keine Rolle. Denn diese Evangelienstelle ist einfach falsch, oder sagen wir, ungeschickt und irreführend übersetzt. Die genaue Übersetzung des griechischen Originals lautet nämlich so: ... hat sie in seinem Herzen schon verführt, oder noch genauer: ... gevögelt (auch wenn dieser Ausdruck einem Bibeltext vielleicht nicht gerade angemessen erscheint). Jedenfalls steht fest, dass Jesus die Männerwelt insgesamt meint, nicht nur die Ehemänner, und begehrliche Blicke auch nicht nur auf verheiratete Frauen.

Andererseits, wie hätte ich meine begehrlichen Blicke und meine begehrlichen Gefühle verhindern können? Das sagt er nämlich nicht. Ich konnte es jedenfalls nicht. Und ich bezweifle, ob es andere, sozusagen „moralischere“ Männer verhindern könnten. Das ist ja keine Sache des Willens, sondern liegt einfach in der männlichen Natur begründet. Wenn also Jesus solche Äußerungen tut, dann weiß er offensichtlich nicht, wovon er spricht. Wenn eine Frau besonders attraktiv, sprich, anziehend ist, so kann ein Mann ja gar nicht anders als sie „begehrlich ansehen“ – ob verboten oder nicht, ist eigentlich auch schon egal. Das hat sein Herr Papa oder Mutter Natur so eingerichtet.

Mit Liebe hat das natürlich nichts zu tun. Aber es ist gewiss eine Vorstufe zu ihr. Auf jeden Fall war es bei mir die Vorstufe zur Liebe. Denn seit wir gemeinsam ein Hotelzimmer bewohnt hatten, trug ich Yvonnes Bild unablässig in meinem Herzen herum. Und je länger ich es in mir herumtrug, umso heftiger begehrte ich sie – und jetzt kann ich ruhig schon behaupten: umso heftiger verliebte ich mich in sie, oder sagen wir, in ihr Bild. Ebenso heftig fühlte ich mich an die Arie des Tamino in Mozarts Zauberflöte erinnert:

Dies Bildnis ist bezaubernd schön,

Wie noch kein Auge je gesehn.

Ich fühl es, wie dies Götterbild

Mein Herz mit neuer Regung füllt.

Und so weiter.

Aber ach! Sie gehört ja schon dem Seppi. Yvonnes Bild muss ich mir wohl aus dem Herzen reißen. Und im Übrigen habe ich daheim ja eine Ehefrau, der ich ewige Treue geschworen habe. Und in die ich immer noch verliebt bin. Schließlich ist in einem menschlichen Herzen sowieso nur Platz für eine einzige Liebe. Oder etwa nicht?

 

3

Was damals der Seppi hatte und ich nicht, ist mir heute schon klar. Erstens war er schon deutlich älter als ich. Und vor allem hatte er seine Jugend nicht wie ich im Internat einer Klosterschule verbracht, aus der die Mädchen verbannt waren. Sie galten ja als gefährliche Wesen, die uns Knaben vom rechten Weg in die ewige Seligkeit abzubringen vermochten. Überdies hatten wir gelernt und verinnerlicht, dass man Frauen niemals bedrängen darf, und dass vor allem junge, unverheiratete Frauen nichts sehnlicher wünschen, als ebenso jungfräulich zu bleiben, wie es (angeblich) die Jungfrau Maria war. Wobei uns natürlich nie erklärt wurde, worin der Unterschied zwischen jungfräulich und nicht jungfräulich besteht.

Erst als wir nach der Matura gleichsam ins kalte Wasser geworfen wurden, kamen wir allmählich mit dem wahren Leben in Berührung und lernten diesen Unterschied und überhaupt den Unterschied zwischen Männlein und Weiblein kennen. Die Folge war, dass gar mancher meiner Mitschüler überstürzt „heiraten musste“. Was konkret damit gemeint ist, ist heute, glaube ich, gar nicht mehr allgemein bekannt. Es bedeutet, dass sie ein Mädchen kennen und vielleicht sogar lieben lernten und dieses sofort schwanger wurde. Schließlich waren beide noch vollkommen unaufgeklärt.

Nun, vollkommen unaufgeklärt war ich natürlich genauso. Trotzdem blieb mir das „Heiraten-Müssen“ erspart, nicht, weil ich menschenscheu gewesen wäre oder keine Mädchen kennengelernt hätte. Schließlich studierte ich an der Grazer Universität Anglistik und Romanistik und hatte aus purem Interesse zusätzlich Vorlesungen aus Kunstgeschichte belegt. Und in diesen Studienrichtungen waren schon zu jener Zeit die Mädchen in der Überzahl. Allerdings studierten viele von ihnen nicht unbedingt aus Interesse am Fach oder am Lehrberuf, sondern „um einen Akademiker kennenzulernen“. So hat es mir einmal eine Kommilitonin ganz offenherzig, und ohne vor Scham zu erröten, erzählt.

Ins kalte Wasser geworfen zu werden bedeutete für mich, dass ich mich in den zwei von mir hauptsächlich frequentierten Universitätsinstituten zu meiner Überraschung plötzlich ganzen Kohorten von jungen, attraktiven Frauen gegenübersah. Und dass ich zu meiner noch größeren Überraschung für viele von ihnen gar nicht uninteressant zu sein schien. Eine solche Situation hätte ein anderer, der nicht in einem klösterlichen Internat aufgewachsen ist, vielleicht schamlos ausgenutzt und die Mädchen der Reihe nach flachgelegt. Und falls eine von ihnen schwanger geworden wäre, hätte er sie entweder sitzenlassen oder geheiratet, je nachdem. Ich hingegen beschränkte mich darauf, mit ihnen zu plaudern, zu flirten, bei Gelegenheit zu tanzen – und sie, mag sein, zu enttäuschen. Bis eine von ihnen, nein, zwei von ihnen selbst die Initiative ergriffen.

Gelegenheit dazu bot eine Weihnachtsfeier des anglistischen Institutes im Festsaal eines Grazer Gymnasiums an einem Freitagabend, als ich schon im dritten Semester stand. Da hatte ich als ehemaliger Chorknabe die Ehre, mit einer Gruppe ausgewählter Sänger eine barocke Weihnachtskantate, die wir einstudiert hatten, vor versammeltem Kollegium zu dirigieren, und wurde dafür eifrig beklatscht. Beklatscht und verwöhnt. Und womit wurde ich verwöhnt? Antwort: Mit Wein. Vor allem zwei Mädchen schenkten mir unablässig nach. Und da ich die Macht des Alkohols noch gar nicht kannte, leerte ich unablässig mein Glas.

Die Folgen lernte ich damals kennen. Als die Feier zu Ende ging, konnte ich nicht mehr gerade stehen, nur noch torkeln. Nun erkannten die zwei Mädchen, die mir unablässig nachgeschenkt hatten, was sie damit angerichtet hatten, und fühlten sich offenbar verpflichtet, mich zu stützen, die eine links, die andere rechts, und mich so ins Bett zu bringen, um zu verhindern, dass ich in der Gosse lande oder gar unter die Räder komme. Und erst, als wir das Bett erreicht hatten, erkannte ich in meinem Dusel, dass das nicht mein eigenes im Studentenheim war, in dem ich damals wohnte. Aber solche Lappalien sind uns in einem solchen Zustand relativ gleichgültig, nicht wahr?

Ja, aber die zwei Damen ließen mich jetzt nicht etwa schlafen. Mehr noch, sie fingen an, mir zu schmeicheln, mich zu küssen, mich zu betatschen, mich zu entkleiden. Und sobald ich entkleidet und ins Bett gesteckt war, entkleideten sie sich selbst, legten sich zu mir ins Bett und machten sich, die eine zu meiner Linken, die andere zu meiner Rechten, über mich her, vor allem über meinen Schwanz, den Freudenspender, von dem sie sich offensichtlich Freuden spenden lassen wollten. Und was geschah? Antwort: Nichts. Gar nichts geschah. Mein Schwänzlein weigerte sich hartnäckig, sich in einen funktionierenden und verwendbaren Schwanz zu verwandeln. Dies wunderte mich selbst am meisten. Von meinen eigenen heimlichen Bemühungen her wusste ich ja, dass nichts leichter und obendrein nichts angenehmer war als besagte Verwandlung meines Schwänzleins in einen Springbrunnen. Und jetzt bemühten sich zwei leibhaftige Frauen um ihn, und das war weder besonders angenehm noch auch nur von dem geringsten Erfolg gekrönt.

Nun, jetzt wussten hoffentlich auch die zwei Hübschen, was passiert, wenn man einem Mann zu viel Alkohol einflößt. Sie hatten wohl gedacht, Alkohol enthemmt (was ja bis zu einem gewissen Grad stimmt) und entfesselt die sogenannte Manneskraft. Und von dieser Ansicht ist, wie der Ergebnis zeigte, das genaue Gegenteil richtig. Immerhin waren sie so nett, irgendwann ihre erfolglosen Bemühungen einzustellen und mich einfach schlafen zu lassen. Als ich am Morgen danach aufwachte, lag nur noch eine von ihnen, die Margot, neben mir. Sie war schon wach, enthielt sich aber aller weiteren Bemühungen um mein Schwänzlein. Vermutlich merkte sie rechtzeitig, dass in meinem Kopf jetzt böse Foltergeister wüteten. Aber vielleicht hatte sie von mir auch einfach die Nase voll. Denn ihre ersten Worte waren nicht „Guten Morgen, Liebster“ oder so, sondern: „Na, du Versager? Eine schöne Enttäuschung, die du uns da bereitet hast. Jetzt schau, dass du fort kommst!“

„Euch?“, erwiderte ich, ohne auf diese Beleidigung einzugehen. „Wo ist denn die Silvia?“

„Gleich heimgegangen, nachdem sie begriffen hat, dass mit dir nichts los ist.“

Darauf erwiderte ich nichts mehr, sondern quälte mich stöhnend aus dem Bett, suchte meine Kleider zusammen und knurrte einen Abschiedsgruß. Und Margot verabschiedete mich mit den Worten: „Es ist doch zu blöd. Weil, eigentlich hättest du uns gut gefallen. Ewig schad.“

Und das klang wieder einigermaßen versöhnlich.

Die Silvia sah ich erst wieder am Montag im Institut. Sie schien ihre Enttäuschung mittlerweile überwunden zu haben. Denn sie empfing mich ausgesprochen freundlich und nahm mir allem Anschein nach nichts übel. Sie beteuerte auch immer wieder ihre Unschuld.

„Gell, dich zuerst betrunken zu machen und dann in Margots Wohnung und in Margots Bett zu verschleppen, das war wirklich nicht meine Idee. Weißt du, die Margot hat sich davon irgendein tolles Abenteuer versprochen. Und nachdem ich mit ihr befreundet bin ... Aber mitgemacht hab ich eigentlich nur, weil du mir irgendwie gefällst, weißt du.“

Und nun sagte ich den Satz, der alles entscheiden sollte. Ich sagte, nicht ohne dabei vor Aufregung zu stottern: „Du mir aber auch. Viel besser als die Margot. Immer schon.“

Damit war unsere Freundschaft besiegelt. Und obwohl wir beide noch studierten, beschlossen wir nach angemessener Zeit zu heiraten. Genaugenommen waren es Silvias Eltern, die das beschlossen, offenbar aus Angst, ihr liebes Töchterlein könnte in schlechten Ruf geraten. Zuerst beschlossen sie unsere Verlobung und „vertrauten“ darauf, dass Silvias Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit bewahrt wird. Und bald danach beschlossen sie unsere Hochzeit. Aber ins Bett, um zu vögeln, hüpften wir vor der Hochzeit tatsächlich nicht mehr. Vorehelichen Sex gab es bei uns keinen. So hatte ich‘s gelernt und verinnerlicht. Silvia nicht. Sie war, wie sich in der Hochzeitsnacht herausstellte, längst keine Jungfrau mehr. Aber jene Eskapade nach der Weihnachtsfeier hat sie stets bedauert. Schuld daran, beteuerte sie, war die Margot. Und Gott Bacchus, der das Hirn betäubt und den Willen schwächt.

Ganz nebenbei: Wir feierten „natürlich“ zwei Hochzeiten, zuerst die standesamtliche und drei Wochen später die kirchliche. (Warum so spät, weiß ich nicht, habe ich nie erfahren. Es war wieder einmal der Beschluss von Silvias Eltern.) Und die offizielle „Entjungferung“, sprich, Hochzeitsnacht, durfte „natürlich“ erst nach der kirchlichen Hochzeit stattfinden.

Und siehe da, zwei Jahre waren erst seit unserer Hochzeit vergangen, da habe ich „in meinem Herzen“ schon Ehebruch mit Yvonne begangen.

 

4

Meinen Vorsatz, mir Yvonnes Bild aus dem Herzen zu reißen, setzte ich irgendwann in die Tat um, falls man da überhaupt von einer Tat sprechen kann. Kurz und gut, ich versuchte es. Aber der Versuch misslang auf grandiose Weise – soll heißen, er bewirkte eher das Gegenteil, speziell als ich wieder einmal auf einer Busreise den Seppi als Chauffeur hatte. Das geschah während der Osterferien des nächsten Jahres (1985), als er mich mit einer neuen Reisegruppe nach Sizilien und wieder zurück chauffierte. Da fragte ich ihn gleich bei der ersten Gelegenheit, ob er noch mit der Yvonne zusammen ist. Er lachte schallend, schüttelte den Kopf und sagte: „Ich bitte dich, Peter, wie kommst du nur auf eine solche absurde Idee?“

„Wieso absurd?“, sagte ich, einigermaßen befremdet.

Und er sagte: „Du, die Fahrt nach Padua und Verona ist meines Wissens schon lang vorbei.“

„Ja, und?“

„Glaubst du, ich bin blöd? Nach der Reise ist Schluss. Wie immer. Ich werd mir doch keinen Harem heranzüchten.“

Wie gesagt, eine solche Kaltblütigkeit fand ich irgendwie befremdend. Zugleich kam ich freilich nicht umhin, sie zu bewundern. Schließlich lernt man auf diese Weise viele Frauen kennen und erwirbt sich so bestimmt eine gewisse Menschenkenntnis. Und tatsächlich konnte ich auf dieser Reise beobachten, wie sich der Seppi neuerlich ein Betthäschen anlachte.

Yvonne nahm zu meinem Bedauern, zu meiner Erleichterung, an ihr nicht teil. (Und auch sonst keine Dame, deren Anblick mein „Begehren“ erregt hätte.) Aber Seppis leichtfertige Äußerung hatte ungeahnte Folgen. Ich wusste jetzt, dass ich mir Yvonnes Bild nicht unbedingt aus dem Herzen reißen musste. Sie „gehörte“ ja dem Seppi gar nicht. Es könnte folglich durchaus sein, dass sie wieder eine Reise mit mir macht. Oder dass wir uns einmal in Graz selbst in die Arme laufen.

Und siehe da, als ich im Sommer desselben Jahres die Unterlagen für eine Reise nach England und Irland übernahm, spürte ich eine plötzliche Stichflamme in meinem Inneren, als ich auf der Teilnehmerliste den Namen Yvonne Maurer las, und wurde sofort zwischen Begehren und ehelicher Treue hin und her gerissen. Zugleich erinnerte ich mich an das bekannte Sprichwort Dem Mutigen hilft das Glück. Noch einprägsamer klingt es im Lateinischen: Fortem fortuna ádiuvat. Sinngemäß dasselbe schreibt Ovid in der Liebeskunst: Wer wagt, dem helfen Glück und Venus. Dies war ganz offensichtlich Seppis Geheimnis in Padua. Ebenso wie die schon erwähnte Behauptung Ovids, dass alle Frauen zu erobern sind.

Ja, solchen Träumen gab ich mich hin, während ich die Teilnehmerliste studierte. Und die Enttäuschung folgte auf dem Fuß. Denn als Nächstes nahm ich die Zimmerliste zur Hand und erwartete natürlich, dass Yvonne wieder ein Einzelzimmer gebucht hatte. Aber nein, sie hatte ein Doppelzimmer gebucht. Und vor allem, sie war in dem Doppelzimmer mit einem männlichen Wesen namens Ernst (und noch was) zusammen. (Den Familiennamen dieses Ungeheuers habe ich vergessen.) Und ich war neugierig, was der Seppi zu diesem Schlamassel sagen wird. Falls er wieder mein Chauffeur sein wird.

Nein, wie sich bei der Abfahrt in Graz herausstellte, war der Seppi doch nicht mein Chauffeur, was ich irgendwie bedauerte. Und wirklich, Yvonne kam nicht wie zuletzt mit Mütterlein daher, sondern mit einem strammen Burschen, der sich als das verdammte Ungeheuer erwies, indem er wie sie mit Gepäck angerückt kam und mit ihr zusammen einstieg.

Ja, was war da zu machen? Nichts. Nichts war da zu machen. Ich gab mir die größte Mühe, mich mit dem offenbar Unvermeidlichen abzufinden, und sagte mir ständig vor: Zum Kuckuck, du hast ja eh eine Frau daheim, und mehr als eine Liebe geht eh nicht in das Herz eines Menschen hinein, und so brauchst du dich wenigstens nicht in die Kategorie Ehebrecher einreihen zu lassen. Nur fiel mir bei diesem zuletzt genannten Argument ein, dass ich ja laut Jesus ohnedies schon zu dieser Kategorie gehöre, weil ich sie stets „begehrlich“ angesehen hatte – und jetzt, ehrlich gesagt, noch „begehrlicher“ ansah. Überdies war sie, fand ich, unterdessen reifer und damit noch hübscher, noch attraktiver, noch bezaubernder geworden. Und: Sie machte es mir ausgesprochen schwer, mich mit dem Unvermeidlichen abzufinden. Das Lächeln, das Erröten, mit dem sie mich begrüßte, das Lächeln, das sie mir von da an jedes Mal schenkte, wenn sie mit mir sprach, das Erröten, mit dem sich ihre Wangen jedes Mal färbten, wenn wir uns, etwa im Hotel, unverhofft begegneten, ganz egal, ob allein oder in Begleitung ihres Ungeheuers – ich war von Tag zu Tag stärker fasziniert von ihrem Liebreiz. Und wünschte das Ungeheuer von Tag zu Tag heftiger zum Teufel oder wenigstens dorthin, wo der Pfeffer wächst.

Mit ihrem Ungeheuer war sie nämlich keineswegs ständig beisammen, wie man das von jungen Paaren eigentlich annehmen möchte. Besonders während der Führungen hielt sie sich stets tapfer an meiner Seite – um nur ja keine meiner Weisheiten zu überhören? Oder aus irgendwelchen anderen Gründen? Faktum ist, dass ihr Ernst bei weitem nicht diesen Ehrgeiz versprühte und meistens, sichtlich gelangweilt, irgendwo hinten nachzappelte. Und dass sie mich, sooft sich eine Gelegenheit bot, mit Lobeshymnen über meine Darbietungen überhäufte. Und – ich glaubte zu träumen – dass sie mich gegen Ende der Reise fragte, wohin die nächste Reise gehen solle. Sie meinte natürlich: Meine Reise. Und meinte vielleicht sogar, dass sie da eventuell wieder mitfahren könnte.

„O ja“, erwiderte ich, freudig erregt. „Das weiß ich schon. Nach Thailand.“

„Nach Thailand?“, wiederholte sie voller Enthusiasmus. „Wann denn?“

„In den Weihnachtsferien.“

„Jö, phantastisch. Da bin ich gleich dabei. Wenn ich darf. Darf ich?“

Und dazu ließ sie ein helles Lachen erklingen, das wohl zeigen sollte, dass die Frage scherzhaft gemeint war.

„Oh, das muss ich mir aber noch gut überlegen“, sagte ich, natürlich ebenfalls im Scherz, und fügte, ernsthafter werdend, hinzu: „Liebes Fräulein Maurer, darüber würde ich mich echt freuen. So aufmerksame und interessierte und obendrein fröhliche und charmante Reisegäste sind für jeden Reiseleiter ein Glück und eine Freude. Sie werden’s schon bemerkt haben, es gibt auch andere.“

Meine Freude war in der Tat gewaltig. Aber sie war getrübt. Denn: Was nützt mein ganzer Mut, wenn sie ein männliches Ungeheuer mit sich herumschleppt?