Cover

Christine Larbig
Ursina Kellerhals
Jens Meissner
Patricia Wolf
Ute Klotz

Briefe an den Chef

Was Führungskräfte oft nicht wissen, aber wissen sollten

Alle in diesem Buch enthaltenen Informationen wurden nach bestem Wissen zusammengestellt und mit Sorgfalt geprüft und getestet. Dennoch sind Fehler nicht ganz auszuschließen. Aus diesem Grund sind die im vorliegenden Buch enthaltenen Informationen mit keiner Verpflichtung oder Garantie irgendeiner Art verbunden. Autor und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und werden keine daraus folgende oder sonstige Haftung übernehmen, die auf irgendeine Weise aus der Benutzung dieser Informationen – oder Teilen davon – entsteht.

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Print-ISBN: 978-3-446-45940-3
E-Book-ISBN: 978-3-446-46192-5
ePub-ISBN: 978-3-446-46242-7

Für alle Chefinnen und Chefs,
Nicht-Chefinnen und Nicht-Chefs,
Möchte-Gern-Chefinnen und Möchte-Gern-Chefs und
alle anderen, die wissen möchten,
warum Emotionen unsere wahren Führungskräfte sind.

Wir widmen dieses Buch Simone,
Visionärin und CreaLab-Gründerin.
Wir hätten dieses Buch gerne
gemeinsam mit dir geschrieben.

VORWORT

Unsere Gesellschaft und mit ihr unsere Wirtschaft befinden sich im Umbruch. Wir stehen vor komplexen Herausforderungen, die nach einem anderen Blickwinkel auf unser Zusammenleben verlangen. Nicht nur die ganz großen Themen wie Klimawandel, Überbevölkerung, Massenartensterben, Wertewandel oder das globale Müllproblem benötigen ein Umdenken in unserer Gesellschaft. Auch die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, das, was unser Handeln oder auch Nicht-Handeln bestimmt, erfordern mehr Aufmerksamkeit. Wir benötigen neue Antworten auf wichtige Fragen, die nicht unbedingt mit mehr Wachstum zu tun haben.

Führungskräfte sind in den Zeiten des raschen Wandels mehr denn je auf das verantwortungsvolle Handeln und Mitdenken ihrer Mitarbeitenden angewiesen. Die zunehmenden komplexen Zusammenhänge auf der Welt lassen die Einsatzmöglichkeiten von ›pseudo-rationalen‹ Modellen und Techniken – wie SWOT & Co. – aus der Managementliteratur schrumpfen. Im Trend sind Kreativität, abstraktes Denken und Mut, Neues auszuprobieren. Empathie wird zur neuen Superwaffe, um Menschen zu erreichen und für komplexe Aufgaben zu begeistern. Der Rest an Aufgaben kann getrost der neuen digitalen Welt und ›Big Data Analytics‹ überlassen werden.

In den Vordergrund rücken unsere Wahrnehmung und Emotionen. Emotionen beeinflussen unser Verhalten und lenken unsere Aufmerksamkeit. Nicht Fakten, sondern Wut, Furcht, Ekel, Freude, Traurigkeit, Überraschung, Angst, Liebe, Verachtung, Vertrauen, Stolz, Scham oder Neid treiben uns zum Handeln an. Es sind Emotionen, die es uns ermöglichen, in komplexen Situationen und sozialen Zusammenhängen mit ausreichender Geschwindigkeit zu entscheiden. Und je positiver wir unser Arbeitsumfeld wahrnehmen, desto besser entscheiden wir, desto leistungsfähiger sind wir!

Der oder die Vorgesetzte bedeutet für den Mitarbeitenden alles. Quasi das gesamte Universum der Zusammenarbeit spiegelt sich in dieser Beziehung wider – im Positiven oder Negativen. Die Bandbreite der Möglichkeiten davon, was am Arbeitsplatz gilt und was nicht, welche denkbaren Zukunftsszenarien, Vorbehalte, Entscheidungsprämissen usw. es gibt, wird zwar in der gesamten Organisation entschieden, konkretisiert sich aber in dieser Beziehung. Was auf dieser Ebene nicht geklärt werden kann, wird ebenso wenig im Gesamtsystem der Organisation geklärt werden können. Weder die Umsetzung der sogenannten Führungskultur noch das Verständnis oder die Gestaltung von Wandel noch die Voraussetzungen und Konsequenzen der ›neuen‹ Wirtschaft und der digitalisierten, mobilen, flexiblen Arbeitswelt sind möglich.

Das Zukunftslabor CreaLab hat mit Beteiligung von Crowdwerk (crowdwerk.net) im Rahmen einer Crowdwriting-Aktion öffentlich dazu aufgefordert, der Chefin oder dem Chef einen Brief zu schreiben. In diesem Buch sind nun dreißig dieser Briefe veröffentlicht: Autorinnen und Autoren beschreiben anekdotisch ihre Gedanken und Emotionen zu der Beziehung zu ihrer Chefin oder ihrem Chef – der heikelsten Beziehung in einer Organisation.

Der Brief spielt in diesem Buch also eine besondere Rolle. In einem Brief ist immer Platz für Zwischentöne. Ein Brief an die Chefin oder an den Chef ist auch eine besondere Momentaufnahme. Was ragt aus einer Beziehungsgeschichte heraus, was ist erwähnenswert und wie wird es dargestellt?

Die Briefe beleuchten, was die Beteiligten im Arbeitskontext wahrnehmen. Bewusst oder unbewusst, dies ist die Basis für die hier beschriebenen Beziehungsgeschichten, wie sie sich entwickeln und zu welchen Resonanzen – auch in Form von Gedanken und eigenen Assoziationen – sie führen. Nur so können sie reflektiert in den Kontext der Führungs- und Organisationswelt einfließen und etwas bewirken.

Emotionen sind komplex und allgegenwärtig. Sie beeinflussen unsere Entscheidungen und unser Handeln. Dieses Werk zeigt dieses Zusammenspiel und weist den Weg zu einem emotionalen Wir in einer Organisation mit Führungskräften, die sich ihrer zentralen und emotionsbestimmenden Rolle bewusst sind.

Christine, Ursina, Jens, Patricia und Ute

Zukunftslabor CreaLab, das interdisziplinäre Kreativnetzwerk der Hochschule Luzern

Dank

Die dreißig Briefe stammen von Autorinnen und Autoren, die nicht mit Namen genannt werden möchten, um jegliche Rückschlüsse auf ihre Person zu vermeiden. Die meisten stehen noch mitten im Arbeitsprozess. Ihre Texte sollen nicht ›falsch verstanden‹ werden. Nichtsdestotrotz haben sie es gewagt, ihre Wahrnehmung zu interpretieren und ihre Geschichte aufzuschreiben und zur Verfügung zu stellen. Unser größter Dank gilt unseren Autorinnen und Autoren.

Danken möchten wir auch unseren vier Studierenden der Hochschule Luzern Wirtschaft, Frau S. Eisele, E. Künzler, S. Peter und Herrn F. Nussbaumer, die uns geholfen haben, die ersten Briefe inhaltsanalytisch im Hinblick auf die beschriebenen Beziehungen zu untersuchen. Last, but not least, herzlichen Dank an alle Crealabbies, Nico, Lukas und Elian, die uns den Webauftritt zum Buchprojekt gestalteten, und Fruzsina, unserer Illustratorin, die nochmals eine andere Perspektive auf die Briefe einbrachte.

Inhalt

Titelei

Impressum

Inhalt

VORWORT

1 Zwischen den Zeilen

1.1 Crowdwriting-Aktion: Am Unbewussten kratzen

1.2 Emotional intelligente Organisationen schaffen

1.3 Der Brief als Mittel der Reflexion

2 Licht und Schatten oder die Emotionslandschaft

2.1 Emotion-Codes oder was aus der Emotionslandschaft hervorsticht

2.2 Der Ton macht die Musik

2.3 Zentrale Themen der Beziehungsqualität

3 Emotionen – der einzig ›wahre‹ Boss

3.1 Allgegenwärtig und komplex

3.2 Schwer zu kontrollieren

3.3 Kategorisieren, erklären, einordnen

3.4 Kaum eingrenzbar

4 Was unser Handeln beeinflusst

4.1 Charakter, Persönlichkeit

4.2 Intelligenz

4.3 Rationalität, Vernunft, Verstand

4.4 Macht

4.5 Handlungen

4.6 Kommunikation

4.7 Stress, Angst, Unsicherheit

4.8 Kreativität

4.9 Glück, Dankbarkeit

5 Das emotionale WIR in einer Organisation

5.1 Erfassen des emotionalen WIR in der Organisation

5.2 Emotional führen

Literatur

Glossar

Die Autoren des Buches

Zukunftslabor CreaLab der Hochschule Luzern

1 Zwischen den Zeilen
1.1 Crowdwriting-Aktion: Am Unbewussten kratzen

Dieses ›Werk‹ entstand zwischen 2016 und 2018 im Rahmen einer Crowdwriting-Aktion des Zukunftslabors CreaLab der Hochschule Luzern (blog.hslu.ch/crealab), das öffentlich dazu aufrief, Briefe zu schreiben und einzureichen. Daran beteiligt war auch das Crowdwerk (crowdwerk.net), eine langjährige Partnerin des Zukunftslabors CreaLab mit rund 500 innovativ denkenden Menschen.

In unserer Versuchsanlage beschreiben die ›Probandinnen und Probanden‹ beispielhaft ihre Assoziationen, Gedanken und Emotionen zur dyadischen Beziehung zwischen mitarbeitender und vorgesetzter Person, und zwar ›übersetzt‹ in ein fiktives Briefformat. Die vom Projektteam notwendige Überzeugungsarbeit für eine Teilnahme lässt darauf schließen, dass der Informationsgehalt teils autobiografisch sein dürfte und/oder auf jeden Fall äußerst persönlich zu werten ist.

Als Beiträge des Crowd-Reflection-Projekts sind die Texte demnach weder literarische Werke noch handelt es sich um ›harte‹ Datensätze, die nach Methoden der klassischen Sozialwissenschaft erhoben werden. Vielmehr sind es gesammelte Assoziationen, Gedanken und Emotionen der Teilnehmenden, die durch ihre Briefe aufzeigen, was (teils unbewusst) wahrgenommen und was als wichtig erachtet wird. Dieser kreativqualitative Ansatz ermöglicht es, sensible Themen auszuleuchten. Und kaum eine Beziehung ist so sensibel, wie die zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden.

Diese Geschichten der Briefautorinnen und -autoren zeigen, wie uns Emotionen in unserem Arbeitsleben beeinflussen. Sie zeigen, was wirklich bewegt, welche Emotionen Mitarbeitende (und eine Führungskraft) umtreibt, wie Führungskräfte gesehen werden. Emotionen sind nicht einfach weg, wenn man sterile Umgebungen schafft, klare Arbeitsanweisungen formuliert oder Fehler sanktioniert. Emotionen wirken immer und bei jedem – auch bei Vorgesetzten. Dabei gilt die recht einfache Formel: Je positiver unsere Emotionen, desto leistungsfähiger und kreativer sind wir. Desto eher sind wir bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten, über den Tellerrand hinauszusehen, mit Unsicherheiten versiert umzugehen.

Die Gallup-Studie von 2018 besagt, dass sich lediglich 15 % der Mitarbeitenden in Deutschland an den Arbeitgeber emotional gebunden fühlen. Verantwortlich dafür sind in erster Linie Führungskräfte. Das Schaffen agiler Strukturen mit flacheren Hierarchien und eine damit einhergehende Veränderung der Führungsrolle erhöhen die Bindung (Wolter, 2018).

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»Führungskräfte müssen sich bewusst sein, dass sie diejenigen sind, die durch ihr Verhalten einen erheblichen Einfluss auf die Unternehmenskultur haben. Denn emotionale Bindung wird im unmittelbaren Arbeitsumfeld erzeugt.«

Marco Nink, Regional Lead Research & Analytics EMEA bei Gallup (zitiert nach Wolter, 2018)

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1.2 Emotional intelligente Organisationen schaffen

Menschen streben nach Glück und nach einem sinnerfüllten Arbeitsleben. Eine Organisation, die dieses Streben in ihrem Führungsverständnis berücksichtigt, positioniert sich als attraktiver Arbeitgeber: Die Bindung der vorhandenen Belegschaft steigt und vor allem wird die Organisation auch für die begehrten High Potentials interessant. Eine zukunftsfähige Organisation braucht empathische Führungspersönlichkeiten, die vertrauen können, die Verantwortung abgeben und gleichzeitig unterstützen.

Bei einer emotional intelligenten Führung handeln Führungskräfte so, dass Mitarbeitende zu Höchstleistungen motiviert werden. Das Sprichwort »Wie man in den Wald hineinruft, so hallt es zurück« kann hier als Leitlinie dienen: Werden Mitarbeiter wertgeschätzt und gehen Führungskräfte mit gutem Beispiel voran, kommt es zu einer positiven Aufwärtsspirale. Eine zentrale Aufgabe der Führungskraft ist hierbei, die tragende Rolle der Emotionen ins Bewusstsein zu bringen, zu reflektieren und in eine gewinnbringende Richtung zu lenken.

Die Briefe weisen darauf hin, dass wir in unseren Organisationen oftmals noch weit von diesem Ideal entfernt sind und diesbezüglich enormer Handlungsdruck in den Unternehmen besteht. Führungskräfte sind im Regelfall noch sehr in hierarchischen Strukturen verankert und bauen auf ihre Machtposition.

Es gilt, Zukunftskräfte zu mobilisieren.1 Mit Zukunftskräften sind die Kreativität oder kreative Intelligenz und die damit verbundenen Emotionen gemeint. Es braucht Expertenwissen, Vorstellungsvermögen, eine risikobereite Persönlichkeit, intrinsische Motivation und eine kreative Umwelt (Sternberg, 1988, 2003; Sternberg und Lubart 1991, 1992).

Mit Stellenbeschreibungen, Feedback-Vorlagen oder anderen formalisierten Personalmanagement-Instrumenten sind die kreativen Menschen schwer zu identifizieren. Die heutigen Instrumente bilden die implizite, kreative Kraft im Unternehmen ungenau oder gar nicht ab.

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Probieren Sie aus!

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Es muss nicht immer gleich der große Wurf sein. Das Einrichten des eigenen Arbeitsplatzes trägt beispielsweise dazu bei, Ängste und Stress zu reduzieren. Jede Organisation hat die Möglichkeit, in einem Raum Möbel und Materialien zu deponieren, die hervorgeholt werden könnten, um einen (leeren) Projektraum für Projektarbeiten einzurichten. Das Einrichten des Raums aktiviert das Gehirn, bevor mit der mentalen Arbeit begonnen wird, und fördert die Kreativität der Zusammenarbeit.

Wenn ein Unternehmen sich von alten Gewohnheiten, Problemen oder negativen Gefühlen verabschieden will, empfiehlt es sich, neben den Ideenkasten einen Mülleimer hinzustellen. Getrennt wird dabei das ›Gemeckere‹ von neuen Ideen. Wobei der Ideenkasten in Frage zu stellen ist, wenn darin alte Parkzettel oder Zugtickets entsorgt werden. Genauso können Lego und andere Bastelmaterialien in Meetingräumen deponiert werden. Beobachten Sie einfach mal, was passiert, wenn Sie dies tun. Vielleicht lassen einige Sitzungsteilnehmende davon ab, ihre Mails zu beantworten, und bauen stattdessen einen Prototyp für die Lösung zum diskutierten Problem.

Einige Unternehmen wollen dem WIR näherkommen und schaffen hierzu Großraumbüros, die Kreativitäts- und Kommunikationskiller Nummer 1 (Schwär, 2018), sowie Einzelbüros der Chefs (Beul, 2018) ab. Letztere galten zusammen mit dem Tragen von Krawatten als typische Machtsymbole. Geht eine Organisation diesen Weg, ist es wichtig zu bedenken, wie Macht nun weiterhin die Strukturen vorgeben kann (siehe Kapitel 4.4), damit Mitarbeitende entlastet werden und Sicherheit verspüren. Unsicherheiten, wer nun was entscheidet, wann man die Chefin oder den Chef etwas fragen darf oder Ähnliches kann zu unnötigem Stress führen. Solche physischen Veränderungen sind im Gesamtkontext zu betrachten. Zudem braucht es bei einer Auflösung der physischen Strukturen Räume für ruhiges, stilles Arbeiten. Das gilt sowohl für Mitarbeitende als auch für Vorgesetzte. Permanente Unterbrechungen und Multitasking sind für alle Stressoren.

Wer auf Kreativität seiner Mitarbeitenden setzt, um die Zukunft mitzugestalten, ist gut beraten, Freiräume fürs Reflektieren zu schaffen. In Zeiten, in denen vermeintlich alles schneller gehen muss, bleibt dies und auch das Priorisieren von Handlungen vielmals auf der Strecke. Innovation ist ein Lernprozess und es braucht mentale Kapazitäten, um komplexe Zusammenhänge zu erfassen und in Beziehung zu setzen. Zeitdruck bringt allenfalls gleiche Rezepte wie immer hervor. Es ist wichtig, sich die Zeit für die Zukunft zu nehmen. Die Entscheidungen für morgen werden heute gefällt.

Anhand der beschriebenen Fälle in den Briefen wird aufgezeigt, welche Emotionen uns bei der Arbeit begleiten und wie komplex die Emotionen sind, die uns schlussendlich in unserem Entscheiden und Handeln beeinflussen.

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Sich den Emotionen im Arbeitsleben zu stellen, verhilft Organisationen zu ›wirklichem Wachstum‹.

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Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass nun alle wild herumschreien und die Wände gelb anmalen dürfen und es in der Kantine statt drei nun zweiundvierzig verschiedene Pasta-Saucen gibt.

(Viele) Organisationen sind ein System der Macht, das auf Gehorsam aufbaut. Wir werden das Wirtschaftssystem, das von Wettbewerb und quantitativem Wachstum geprägt ist, nicht so schnell ändern. Aber wir können anfangen, einiges Neues auszuprobieren, um unserem emotionalen Erbe und unserer emotionalen Zukunft gerechter zu werden.

1.3 Der Brief als Mittel der Reflexion

Briefe sind eine schriftliche Kommunikationsform, in der die Situation des Briefeschreibenden – die Person, die eine Botschaft sendet – sowohl zeitlich wie auch geografisch von derjenigen des Briefadressaten – die Person, die diese Botschaft empfängt oder empfangen soll – getrennt ist. Einst war der Brief die einzige Kommunikationsform, die über Distanz möglich war. Heute sind Briefe selten geworden. Neben den verschiedenen Möglichkeiten, auch mündlich über geografische Distanz zu kommunizieren, gibt es diverse alternative schriftliche Kanäle, welche eine nahezu gleichzeitige Übermittlungsdauer haben. Vermehrt werden auch viele wichtige, offizielle Mitteilungen elektronisch versandt. Im Briefkasten finden wir entweder hochoffizielle Mitteilungen oder Werbeflyer, die jedoch rasch aussortiert sind. Im privaten Bereich hat der Brief aufgrund seiner Seltenheit an ›emotionalem‹ Wert gewonnen.

Der Brief ist außerdem eine Erzählform. So finden sich z. B. schon in der Bibel die Episteln oder Apostelbriefe. In der Literatur des 18. Jahrhunderts kommt es zu einem wahrhaften Boom des sogenannten Briefromans. Dieses narrative Format hat seinen Ursprung in der englischen Literatur (Samuel Richardsons Roman »Pamela« aus dem Jahr 1740 löste diesen ›Trend‹ aus) und war in der deutschen Sturm-und-Drang-Zeit äußerst beliebt. Das prominenteste Beispiel ist dabei Goethes »Die Leiden des jungen Werthers« aus dem Jahr 1774. In der anglo-amerikanischen Literatur entwachsen der Epoche der Romantik die sogenannten Gothic Novels (Schauergeschichten), welche insbesondere für die emotionsgeladenen Passagen der Geschichte auf eine ›Berichterstattung‹ im Briefformat zurückgreifen (z. B. Mary Shelleys »Frankenstein«, 1818, oder später Bram Stokers »Dracula«, 1897).

Die Briefform erlaubt es, die Welt durch die Augen des Protagonisten oder eines Augenzeugen zu sehen. Zudem wird die Leserschaft durch das Lesen der Briefe selbst Teil der Geschichte bzw. indirekt Zeugen der Geschehnisse. So werden heute Geschichten auch als E-Mail-Korrespondenzen erzählt. Die Weihnachtsgeschichte kursiert beispielsweise in Form von mehreren WhatsApp-Dialogen in den sozialen Netzwerken.

Der persönliche Briefwechsel zwischen zwei Personen in einer spezifischen Lebensphase kann für die Schreibenden selbst auch tagebuchähnlichen Charakter annehmen, z. B. wenn diese zu einem späteren Zeitpunkt wieder Zugang zum Briefwechsel erhalten. Oder wenn sie gar einen Brief an sich selbst – zu Verarbeitungs- oder Reflexionszwecken – schreiben; Briefe, die niemals abgeschickt werden, aber durch deren Schreiben wir unsere Wahrnehmung reflektieren und in unserer persönlichen Entwicklung ein Stück weiterkommen. Auch bei echten Briefen kann der Akt des Zu-Papier-Bringens für den Schreibenden wichtiger sein als die Tatsache, dass der Brief dann auch gelesen wird. Das Schreiben wird zur Reflexion von Erlebtem, von Wahrnehmungen und eigenen Emotionen.

Die Briefe dieser Sammlung sind Reflexionen. In ihnen werden Gedanken geäußert – explizit oder zwischen den Zeilen – wie sie mit einem klassischen qualitativen Tiefeninterview kaum zu Tage gefördert werden könnten, weil der größte Teil unserer Wahrnehmungen und Emotionen unbewusst abläuft. Einzelne Briefe scheinen sehr autobiografisch zu sein. Andere sind klar Fiktion. Wenn Probandinnen und Probanden sich kreativ betätigen – also zum Beispiel eine mehr oder weniger erfundene Geschichte schreiben –, statt sich ›pseudo-rational‹ zu analysieren und einem unbekannten Gegenüber darüber Auskunft zu geben, wird es möglich, tiefere Einblicke in effektive Befindlichkeiten und Haltungen zu bekommen. Bedenkt man, dass die meisten Organisationen sich mit relativ eindimensionalen Zufriedenheitsbefragungen begnügen (also nicht einmal persönliche Gespräche durch eine Anonymität zusichernde Drittpartei führen lassen), so dürften die Briefe als Methode tiefer greifen. Dies umso mehr, als dass es sich um sehr persönliche, heikle Angelegenheiten handelt, was den echten Informationsfluss ohnehin zusätzlich erschwert. Selbst die hier gewählte Form der ›Datensammlung‹ bedurfte einiges an Überzeugungsarbeit und Zusicherung von Diskretion und Anonymität. Vielleicht auch, weil in den Schreibreflexionen Gefühle zu Tage kamen, von derer Intensität die Autorinnen und Autoren selbst überrascht waren.

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Briefe bringen Unbewusstes ans Tageslicht und geben einen tiefen Einblick in die Emotionslage des Schreibenden.

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Diese Briefe wurden nie abgeschickt, sondern von uns gesammelt. Im Korpus finden sich Texte, die als formelle Briefe, als E-Mails, Notizzettel oder gar als Liebesbriefe daherkommen. Sie richten sich an Vorgesetzte, die mehr oder weniger biografische Züge zu haben scheinen, an die schreibende Person selbst oder an einen eben verspeisten Salat. Als Crowd-Reflection-Projekt stellen die ›Briefe‹ eine sehr spezielle Art der Briefkommunikation dar. Bild 1.1 gibt einen Überblick, wie sich diese Brieftexte einordnen lassen.

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Bild 1.1 Kommunikationsmodell für Brief-Geschichten

Die Autorinnen und Autoren versetzen sich in eine Person, die einen Brief verfasst; nennen wir sie die Erzählerin oder den Erzähler. Der fiktive Brief, den wir als außenstehende Beobachtende ebenfalls lesen können, ist an jemanden gerichtet. Der Empfangende ist ebenfalls von unseren Autorinnen und Autoren ausgedacht. Er oder sie ist – wie der Erzählende – somit ebenfalls eine fiktive Person. Der Grad an autobiografischer Nähe zwischen Autorinnen/Autor und Erzählerin/Erzähler wie auch der Grad an Nähe des Adressaten zu einer oder mehreren real existierenden Personen können unterschiedlich ausfallen. Dies bleibt eine Frage der Interpretation.

Die Erzählerin/der Erzähler und die Adressatin/der Adressat befinden sich in einer fiktiven Situation. Beide Kontexte können, müssen aber nicht, zeitlich und geografisch zusammenfallen. Schließlich handelt es sich hierbei um einen Brief. Der Vollständigkeit halber sei die Situation der Leserschaft – also unsere effektive Lese-Situation – ebenfalls noch erwähnt. Sie ist zeitlich und geografisch eine jeweils andere als die der schreibenden Person.

Beim Interpretieren müssen wir uns also bewusst sein, dass wir keine Transkripte von Tiefeninterviews, sondern Fiktion auswerten. Fiktion, die uns einen tiefen Einblick in die Wahrnehmung unserer Autorinnen und Autoren der heutigen Arbeitswelt gewährt. Inhaltlich geht es bei »Briefe an den Chef« darum, was die Autorinnen und Autoren mit der Beziehung von Mitarbeitenden mit ihren vorgesetzten Personen assoziieren.

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Die Briefschreiber reflektieren in den Geschichten ihrer Briefe das von ihnen Wahrgenommene. Sielassen ihre Figuren die Beziehungen zu Vorgesetzten und ihre Gefühlslage am Arbeitsplatz beschreiben und zeigen uns so auf, welche Gefühle ihnen dabei wichtig sind.

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Ebenso wie ein Brief nur die Kommunikation in eine Richtung darstellt, geht das Crowd-Reflection-Buch nur der Befindlichkeit der Mitarbeitenden nach. Dieser Einseitigkeit sind wir uns bewusst. Umso dankbarer sind wir daher, dass ein Text – ein Brief, den die schreibende Person an sich selbst adressiert – die umgekehrte Perspektive einnimmt, also die Befindlichkeiten einer Vorgesetzten gegenüber ihrem Team thematisiert.

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Den Effekt des »Mitlesens« auf die Spitze getrieben

Wer den Effekt des ›Mitlesens‹ auf die Spitze getrieben erleben möchte, dem sei der 2013 erschienene Roman S von J. J. Abrams und Doug Dorst empfohlen. Das eigentliche gedruckte Buch mit dem Titel »Ship of Theseus« ist aufwendig als ein vielgebrauchtes, abgegriffenes (fiktives) Bibliotheksbuch, inklusive Signatur und Datumsstempel früherer Ausleihen, aufgemacht. Die Erzählung des Buchs ist jedoch nur ein Teil der Geschichte. Wichtiger ist die Rahmenhandlung, die sich nur über handgeschriebene Randnotizen und ins Buch gelegte Zeitungsschnipsel, Postkarten, Notizen und sogar über einen auf eine Serviette skizzierten Lageplan erschließt. Diese schriftlichen Zusätze sind Botschaften, die sich zwei junge Literaturwissenschaftler mittels des Buchs hin- und herschicken. Wer ihre Geschichte lesen will, muss sich den Inhalt aus dem Buch und den beigelegten Schätzen selbst zusammensetzen. Ob die Erzählstränge nacheinander oder gleichzeitig gelesen werden und ob dabei in der Zeit ständig vor- und zurückgesprungen wird, bleibt der Leserschaft überlassen.

Die Leserschaft wird jedoch in diese Geschichte hineingezogen und Teil von ihr. Der Brief als narratives Mittel bewirkt etwas Ähnliches. Trotz der zeitlichen und geografischen Distanz zur Schreibsituation wird das Publikum beim Lesen eines Briefs zum ›Augenzeugen‹ der Beziehung zwischen der schreibenden Person und dem Adressaten.

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Bild 1.2 Der Roman S von J. J. Abrams und Doug Dorst (2013)

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Der Leser als Teil des Crowd-Reflection-Projekts

Die Autorinnen und Autoren der Briefe haben das, was ihnen auf Basis ihrer individuellen Wahrnehmung in diesem Kontext wichtig erscheint, in ihre Geschichten verpackt. Allenfalls sind gewisse Befindlichkeiten auch erst durch den Schreibprozess bewusst geworden oder haben sich zwischen die Zeilen geschlichen. Gemäß der sogenannten Reader-Response-Theorie (Abrams, 1999, S. 269) entsteht die Bedeutung eines jeden Texts jedoch erst, wenn er gelesen wird. Dabei gibt es unterschiedliche Lesarten, denn jeder Mensch bringt individuelle Wahrnehmungen, verschiedenes Vorwissen oder auch unterschiedliche Interessen mit. Es entstehen persönliche Bedeutungsnuancen; Inhalte werden unterschiedlich priorisiert und der Text weckt individuelle, unterschiedliche Assoziationen.

Stellen wir uns die vorliegende Crowd-Reflection als Raum vor, in welchem unsere Gedanken hörbar werden, so ergeben sich daraus wiederum Assoziationen, die von Gedanken anderer ausgelöst werden. Echos ertönen; es beginnt zu klingen und zu singen. Indem wir die Briefe lesen, begeben wir uns in diesen Raum. Nennen wir ihn ›Resonanzraum‹. Wir werden also Teil der Crowd-Reflection und ihrer Echos, die zwischen den Texten und uns entstehen. Erst unser Lesen, unsere Assoziationen und Interpretationen lassen das Crowd-Reflection-Buch etwas bewirken. Briefe, die wenig Kontext geben, öffnen hier den größten Spielraum für unsere eigenen Gedanken. Indem wir aufmerksam werden, welche Inhalte uns ›anspringen‹ und welche Assoziationen und Gefühle sie in uns wecken, bereichern wir das Crowd-Reflection-Projekt mit unserem eigenen, persönlichen Beitrag.

Auf der Suche nach Gold oder methodisches Vorgehen

Diese Sammlung von Geschichten wird anhand eines transdisziplinären Vorgehens, in welchem Ansätze der Sozialforschung mit Methoden der Sprach- und Literaturwissenschaften zum Tragen kommen, ausgewertet und kommentiert. Die zentralen Emotionen und Inhalte – die vor allem zwischen den Zeilen deutlich werden – dieser speziellen ›Datensammlung‹ können so aufgezeigt und ausgewertet werden. In diesem Sinne werden Methoden zweier Disziplinen für eine mehrschichtige Analyse der Texte hinzugezogen.

In einem ersten Schritt werden die Briefe als (kreativ-)sozialwissenschaftlich erhobene Datensätze untersucht. Identifizierbare Emotionen seitens der (fiktiv) schreibenden Person wurden mittels der Software Atlas.ti codiert und induktiv ausgewertet. So kann eine Emotionslandschaft gezeichnet werden, in der ersichtlich wird, welche Gefühlscluster die Probandinnen und Probanden mit der Beziehungsdyade Mitarbeitende-Vorgesetzte assoziieren und beschreiben.

Die beiden nachfolgenden Auswertungsschritte sind methodisch im Bereich der Sprach- und Literaturwissenschaften anzusiedeln. In einer nächsten Auswertung (zweiter Schritt) werden die Briefe als Sprachhandlungen analysiert. Dieser Ansatz orientiert sich an sprachwissenschaftlichen Vorgehensweisen im Bereich der linguistischen Pragmatik. Es geht darum, aufzuzeigen, was die fiktiv Schreibenden mit ihren Texten eigentlich ›tun‹ bzw. beabsichtigen und dies innerhalb der fiktiven Brief-Situation (siehe Modell in Bild 1.1). Ebenfalls interessant ist bei dieser Perspektive die Betrachtung der Tonalität. Inwiefern bleibt ein Text den Regeln (oder dem sogenannten ›Register‹) der formellen Situation der Dyade Mitarbeitende-Vorgesetzte treu? Oder lässt sich ein Grad an persönlicher Nähe oder gar Freundschaft textlich festmachen? Beides kann ein Indikator dafür sein, weshalb eine Gefühlsreaktion wie z. B. Enttäuschung stärker oder schwächer ausfällt. Dies wiederum kann sich dann ebenfalls in der Tonalität (Wortwahl, sprachliche Korrektheit usw.) niederschlagen.

In einem dritten und letzten Schritt werden die Briefe als ›literarische‹ Texte betrachtet und einer Inhaltsanalyse, die spezifischen Themen nachgeht, unterzogen. Der Unterschied zur Inhaltsanalyse der qualitativen Sozialforschung liegt darin, dass die Texte als fiktiv, also als Erzählungen im Briefformat, betrachtet werden. In diesem Schritt wird der Fokus auf Aspekte, welche die Resultate der vorausgehenden Auswertung vertiefen, gelegt. Es geht primär um eine genauere Betrachtung der thematisierten Beziehungsqualitäten.

Die Briefe sind über das Buch hinweg verteilt. Die jeweilige Zuordnung ist thematisch bedingt. Doch die allermeisten Briefe sprechen mehrere Dimensionen an, so dass die Verteilung der Briefe auch hätte erfolgen können.

Mit den Hashtags # wurden den Texten Schlagwörter zugeordnet, die zur Orientierung dienen. Sie sind von uns gewählt und stammen nicht von den Autorinnen und Autoren der Briefe.

Die aus der Analyse identifizierten Emotionen werden in den Kapiteln 2 bis 4 analysiert, unterschiedlich betrachtet, interpretiert, und immer wieder wird ein Bezug zur Arbeitswelt hergestellt. Aus Sicht verschiedener Wissenschaften wird beschrieben, wie sich Emotionen einordnen lassen und welche Erklärungsansätze es dafür gibt. Die Auseinandersetzung in den verschiedenen Wissenschaften könnte nicht konträrer sein und zeigt auch, wie schwer wir uns als Menschen tun, Emotionen zu akzeptieren, obwohl sie biologisch und psychologisch gesehen zum Menschen gehören wie unsere tägliche Nahrung. Abschließend wird diskutiert, wie sich Emotionen in Führungsaufgaben integrieren lassen.


1 Wir würden dies CreaLabben nennen.

2 Licht und Schatten oder die Emotionslandschaft