Arno Behrend

Schuldig in 16 Fällen

 

 

AndroSF 39


Arno Behrend

SCHULDIG IN 16 FÄLLEN

 

AndroSF 39

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© dieser Ausgabe: August 2014

    Arno Behrend & p.machinery Michael Haitel

 

Titelbild & Illustrationen: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Michael Haitel

Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

 

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

 

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 007 8


Arno Behrend

Schuldig in 16 Fällen


Gehirnwäsche

… sondern für das Leben lernen wir!

 

Dr. Paul Hochfeld verließ die Kabinenbahn und schritt auf den Eingang des Amtes für Schul- und Ausbildungsüberwachung zu. In der Glastür spiegelte sich sein Gesicht mit dem hohen Haaransatz und dem schütteren dunklen Bart, was ihm jeden Morgen der erste Grund für sein ständiges Missvergnügen war. Nein, schön fand er sich wirklich nicht. Im Innern des Gebäudes saßen die Mütter mit ihren unvergleichlichen Schützlingen auf den Bänken, die im Korridor bereitstanden. Es war Hochfelds Aufgabe, diese Frauen zu beruhigen, und er hasste es.

In seinem Büro war die Verbindungstür offen. Kurt Becker, sein Nachbar von der Sportabteilung, stand halb im Raum und hielt einen Ausdruck in der Hand.

»Morgen, Paulchen!«, posaunte er. »Schon gelesen, was Tannington zu seinen achtunddreißig Prozent gesagt hat?«

Hochfeld, der außer seiner Mutter niemandem gestattete, ihn »Paulchen« zu nennen, brummte nur. Für ihn waren Politiker Wichtigtuer, die vortäuschten, Probleme zu lösen.

»Also, da fragt ihn doch dieser Schmierfink von der Cablepost, wie er seine Gesundheitspolitik rechtfertigen könne. Und er sagt: ›In einer Zeit wie dieser, wo jeder Nachkomme eines gesunden Landsmannes gebraucht werde, müssten die UV-Erkrankten schon sehen, wie sie sich ohne den Staat ihrer Haut wehren.‹« Becker wieherte laut. »Verstehen Sie? ›Ihrer Haut wehren!‹ Wo die doch gar keine mehr haben! Der Mann ist einfach großartig.«

Immer noch wiehernd, zog er sich langsam in sein Büro zurück. Griesgrämig bemerkte Hochfeld, dass sein Kollege wieder mit dem Induktormodell in seinem Büro herumgespielt hatte. Er brachte das Abspielgerät und die Haube in ihre richtige Position zurück und schaltete Elice ein.

»Guten Morgen, Dr. Hochfeld!«, flötete sie.

Wieder brachte er nur ein Brummen zustande.

»Als Erstes möchte Sie heute Frau Martha Seibert sprechen. Ihr Sohn hat Probleme mit der neuralen Anpassung.«

So oder so ähnlich ließ sich das immer ausdrücken, wenn eine Mutter sich aus uralten Ängsten heraus einbildete, die Jacoby-Methode schade ihren Kindern und deshalb den Kinderpsychologischen Dienst mit ihren haltlosen Befürchtungen in Anspruch nahm. Hochfeld rechnete, wie so oft, die Tage bis zu seinem Urlaub nach, dann sagte er: »Soll herein kommen.«

Frau Seibert war eine recht große Frau. Sie hatte volles brünettes Haar. Sie redete nicht unwillkürlich auf Hochfeld ein, sie fixierte ihn nicht mit vorwurfsvollen Blicken, sie hatte nur eine ganz geringe Spur von Aufgeregtheit an sich. Das machte ihn stutzig. Es dauerte einen langen Augenblick, bis er ihr die Hand gab und den Stuhl vor seinem Schreibtisch anbot. Der Junge an ihrer Seite mochte zehn oder elf Jahre alt sein und nahm auf dem anderen Stuhl Platz. Die Haare waren die der Mutter. Auf seiner blassen Haut fanden sich ei-nige rote Flecken, deren Anblick in Hochfeld sofort jenen Krampf im Kehlkopf verursachte, den er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Es konnte auch Akne sein, dachte er, sich innerlich beruhigend und äußerlich straffend.

»Was kann ich für Sie tun?« Der Satz hörte sich, wie immer, lahm an, ohne echte Hilfsbereitschaft.

»Mein Sohn träumt seit einiger Zeit schlecht. Immer wieder wacht er nachts auf und schreit aus Leibeskräften. Seitdem das so ist, hat er große Widerstände, sich den Induktor aufzusetzen.«

Also doch ein Routinefall – Hochfeld gewann seine Sicherheit zurück.

»Sehen Sie, Frau …«

»Seibert«, ergänzte sie.

»Frau Seibert, oft wird der Induktor von der Öffentlichkeit für Veränderungen in der Psyche von Kindern verantwortlich gemacht. Dabei wird übersehen, dass die Magnetfelder, mit deren Hilfe die Hirntätigkeit beeinflusst wird, gebündelt durch die beiden Hälften der Großhirnrinde hindurchgeführt werden, ohne diese zu beeinträchtigen. Sie wirken nur auf das Langzeitgedächtnis im kognitiven Bereich ein. Sämtliche Impulse, die zu Irrungen und Wirrungen der Psyche führen können, rühren daher von anderen Einflüssen her, als von denen des Induktors.«

Hochfeld räusperte sich. Der Blick von Frau Seibert hatte etwas Gekränktes an sich. Jetzt würde der übliche Widerstand kommen.

»Wissen Sie, wir haben sonst schon alles versucht. Auch unser Hauspsychologe konnte ihm nicht helfen. Kann es nicht sein, dass der Inhalt von einem der Lernprogramme meinem Sohn diese Albträume verursacht?«

»Das ist sogar ganz ausgeschlossen. Wie Sie wissen, arbeitet der Induktor nur außerhalb der Tiefschlafsequenzen. Der Inhalt, seien es nun die Schlachten des Dschingis Khan oder die Schrecken der Geometrie, wird ausschließlich in abstrakter Form vermittelt, sodass keine Schwierigkeiten mit bildhaften Informationen entstehen können, die das Kind psychisch noch nicht verarbeiten könnte. Das ganze Lernprogramm basiert auf jahrelangen pädagogischen Studien, was ja gerade der Vorteil gegenüber den archaischen Methoden der Wissensvermittlung ist.«

Frau Seibert sah immer noch nicht sehr überzeugt aus.

»Könnten Sie sich nicht vielleicht trotzdem die Programme ansehen, die er zur Zeit benutzt? Es könnte doch sein, dass etwas damit nicht in Ordnung ist.«

Hochfeld ergab sich in sein Schicksal. Er hätte auch gegen den leeren Stuhl anreden können. Frau Seibert legte die Speicher auf den Tisch. Es war die für das Alter des Kindes übliche Unterrichtsreihe.

»Wie ist sein Vorname?«, seufzte er.

»Christoph«, erklärte sie erfreut, ganz offensichtlich unbeeindruckt von Hochfelds resigniertem Tonfall.

»Geht der Drache jetzt bald wieder weg?«

Hochfeld, der gerade die Speicher beiseitelegen und sich wieder zurücklehnen wollte, hielt inne. Die Worte des Jungen waren sehr leise.

»Welcher Drache?«

»Na, der, der mich nachts immer auffressen will.« Er starrte den Erwachsenen aus großen, Hilfe suchenden Augen an.

»Klar, mein Junge, der geht bald weg.«

Der Junge lächelte nicht, aber er war zufrieden. Es war die Mutter, die sehr freundlich blickte. Hochfeld wusste, wie sie ihn ansehen würde, wenn sie merkte, dass er sein Versprechen nicht halten konnte. Und er wusste, dass er ein Idiot war.

 

Er brauchte ganze drei Tage, ehe er sich dazu entschließen konnte, das Labor mit einer Überprüfung der Programme des kleinen Seiberts zu befassen. Er ging also in den grauen Nordflügel des Gebäudes, in dem er nicht länger der Herr über das Ausbildungssystem der Stadt war, als der er besorgten und ratsuchenden Eltern stets erschien, sondern völlig von den Erkenntnissen der Neuroeletroniker abhing. Er verwickelte Kaldewey von der Programmabteilung in ein belangloses Gespräch über einige seiner anderen Fälle und meinte dann nebenbei: »Übrigens habe ich hier noch einige Speicher, die nicht in Ordnung sein sollen. Vielleicht schauen Sie mal rein, wenn Sie Zeit haben.«

Er redete Unsinn und wusste es. Eine Analyse auf korrekte Programmierung war ein Haufen Arbeit, der sich nicht mit der linken Hand erledigen ließ.

Das Gesicht des Technikers zeigte gelindes Erstaunen. Er strich das lange braune Haar zurück und verzog leicht den Mund, um den sich die ersten Falten bildeten. Er nahm Hochfeld den einen der winzigen grauen Quader aus der Hand, schob ihn in den Port seines Terminals und ließ sich die Steuerungsmatrix auf dem Schirm anzeigen. Hochfeld sah, wie Kaldewey mit seinen grauen Augen über die endlosen Reihen von Befehlen strich. Er selbst hätte wohl sagen können, was ein einzelner Befehl bedeutete, diesen oder jenen Zusammenhang herstellen können, aber in die Tiefe der Programmstruktur hatte er noch nie zu blicken vermocht, sehr zu seinem Ärger.

»Sieht alles ganz normal aus.« Kaldewey schreckte ihn aus seinen eigensinnigen Gedanken auf. »Aber wer kann das auf einen Blick schon sicher sagen. Ich brauche die Speicher länger hier, um festzustellen, ob auch nur einer dieser Befehle etwas an der Gesamtstruktur ändert, ein versteckter Mangel, wenn Sie so wollen.«

Seine Augen wanderten vom Monitor wieder zu Hochfeld. Ein unausgesprochenes »Das-weißt-du-doch-selber-ganz-genau« lag in ihnen.

»Sie können die Speicher haben, solange es nötig ist«, versicherte Hochfeld, ohne eine Spur von Herablassung vermeiden zu können.

Kaldewey nickte abwesend, dann wies er mit dem Kopf zu einem der kleinen Schirme, wo die Nachrichten aufliefen. »Tannington verlangt Vizepräsidentschaft«, stand dort.

»Was halten Sie davon?«, wollte Kaldewey wissen. »Bloß weil er der Erste ist, der mit einer dritten Partei einen großen Anteil am Repräsentantenhaus holt, soll Buchanan für ihn seinen Vize schassen. Und das gerade jetzt, wo er den Vorsitz in der Nordatlantik-Exekutive übernommen hat. Dieser Tannington weiß wirklich, was er will.«

Jetzt war es nur höflich, irgendetwas zu erwidern.

»Jedenfalls vertritt er sehr rigoros eine sehr eigenwillige Politik«, antwortete Hochfeld. Er dachte sofort selbst, dass sich das zu blasiert anhörte.

»Denken Sie wirklich so?« Kaldewey war ehrlich überrascht. »Das sollten Sie sich noch einmal überlegen. Glauben Sie mir, dieser Mann ist die Zukunft. Und wenn er es irgendwann schafft, Nordatlantik-Vorsitzender zu werden, wird sich auch bei uns einiges ändern.«

 

Auch an diesem Abend nutzte Hochfeld für den Heimweg die Dienste der Kabinenbahn. Bei jedem Halt musterte er die Schilder, auf denen der Name der Haltestelle zu lesen war. Bei einer, das wusste er, stand ein Wohnhaus, dessen Adresse ihm aus seinen Arbeitsdateien bekannt war. Er hatte keinen Grund, dort auszusteigen, drei Stationen von seinem Zuhause entfernt. Er tat es trotzdem. Das Haus war einer der vernachlässigten Sozialwohnblocks. Hochfeld fand das verbogene Türschild mit der Aufschrift »Seibert« und fragte sich abermals, was er hier sollte. Dann sah er den Jungen um die Hausecke huschen, einen Ball in den Händen. Er blickte Hochfeld mit seinen großen Augen an und drückte auf den Klingelknopf. Aus der Sprechanlage drang ein Schnarren, das nur er identifizieren konnte.

»Mama, der Mann ist da, der den Drachen wegmacht.«

Der Türöffner summte, und der Junge flitzte ins Haus. Hochfeld folgte ihm zögerlich, fand sich damit ab, keine Wahl mehr zu haben. Sie wohnten im achten Stockwerk. Die Mutter hörte verstört den schnellen Worten des Jungen zu, als er den Treppenabsatz erreichte. Ein »Ich-hab-dir-doch-gesagt-du-sollst-nicht-solange-in-der-Sonne-bleiben« konnte sie gerade noch zwischen die schnellen Worte schieben. Nun galt es, zu lächeln.

»Guten Abend, ich komme hier immer auf dem Heimweg vorbei und dachte mir, ich könnte Sie über den Stand der Dinge informieren.«

Eine Spur von Unglauben lag in ihrem Ausdruck. Ihre Sicherheit aber blieb.

»Ach so!«, gab sie knapp zurück. Mit einer Geste bat sie ihn herein. Der Junge war in eines der Zimmer verschwunden. Eine Garderobe aus blankem Aluminium, ein Standard-PC älterer Bauart, Sitzmöbel mit Kunstlederüberzug zeugten von mühsam abbezahltem Wohlstand. Auf einem schmalen Esstisch waren Kleidungsstücke ausgebreitet. Die kleineren davon waren in ihrem Innern mit einem weißen Stoff gefüttert, wie Hochfeld mit einem Blick erkennen konnte.

»Entschuldigen Sie die Unordnung.«

Er wehrte die Floskel mit der Hand ab, während er versuchte, den Krampf im Kehlkopf abzuwehren, der sich so stark festgesetzt hatte, wie lange nicht mehr. Seine unfreiwillige Gastgeberin starrte ihn schon irritiert an, als er den Induktor auf einem Beistelltisch entdeckte und sich noch rechtzeitig fassen konnte. Er ging hinüber und nahm die Verkleidung ab, mit der das Innere der Haube ausgeschlagen war.

»Christoph will den Apparat nicht mehr in seinem Zimmer haben, seitdem er diese Albträume hat«, erläuterte Frau Seibert.

Hochfeld hatte jetzt die variablen Feldspulen vor sich und begann, sie auf Unregelmäßigkeiten abzutasten.

»Schläft er besser, seitdem er keine Lektionen mehr erhält?«

»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte sie. »Die Albträume kommen nicht mehr so oft, aber sie sind noch da.«

»Hier dran kann ich jedenfalls keine Störungen erkennen.« Hochfeld montierte die Verkleidung wieder und richtete sich auf.

»Haben Sie denn nun etwas heraus gefunden?«, fragte sie mit leichter Ungeduld.

Er erinnerte sich seiner vorgeschobenen Worte beim Eintreten. »Nur so viel, dass die Programme keinerlei oberflächliche Defekte aufweisen. Wir müssen sie genauer untersuchen, und das wird einige Tage in Anspruch nehmen.«

»Ich verstehe.« Sie setzte sich auf das kleinere Sofa. Ihre Miene drückte alles andere als Verstehen aus, und ihre Stimme begann zu kippen, als sie weiter sprach.

»Wissen Sie, es wäre nur schön, wenn der Junge ein bisschen mehr Freude in seinem Leben haben könnte. Er hat es so schon nicht einfach.« Sie strich sich ihre dichten Haare aus der Stirn, merkte, dass sie keine übliche Konversation mehr betrieb und lächelte – erstmals mit einer Spur Unsicherheit.

Hochfeld dachte sofort an seine Ex-Frau und an ihren Schmerz, an dem er nichts ändern konnte. Der Gedanke war zu qualvoll, um ihn nicht wegzuschieben. Er nickte verständnisvoll. Mit einigen hohlen Worten mogelte er sich aus dem Netz, das die Offenheit seiner Gastgeberin um ihn schlingen wollte. Als er die Wohnung wieder verließ, sagte er sich, dass es so einfach gewesen wäre, mehr für diese Frau zu tun, die einfache Hoffnungen hatte und Sorgen, die einfach zu verstehen waren. Er konnte sicherlich mehr tun, als zu versichern, dass der bürokratische Apparat seine selbstzufriedenen Rituale abhielt. Er konnte gewiss mehr tun als die Politiker, die Phrasen droschen oder sich neuerdings darauf verlegten, populäre Drohungen auszustoßen. Er kannte sich aus mit weiß gefütterten Kleidungsstücken für schwächlich wirkende Kinder, die ermahnt werden mussten, nicht zu lange in der Sonne zu bleiben. Aber war es wirklich diese Frau, der er helfen wollte?, fragte Hochfeld sich, während er versuchte seinen Kehlkopf durch Schlucken zu entkrampfen und das Brennen in den Augen durch Blinzeln zu löschen. War es nicht doch so, dass er Hilfe brauchte, einen Menschen, mit dem er den Schmerz teilen konnte, den er jeden Tag verdrängte, seitdem seine Tochter an Hautkrebs gestorben war?

 

Als er am nächsten Morgen sein Büro betrat, saß Becker an seinem Schreibtisch. Hochfelds Büro schien ihm immer mehr zu gefallen.

»Morgen, Paulchen! Haben Sie’s schon gelesen?« Lässig schwenkte er den Monitor zu ihm herum. Der dicken Textzeile auf dem Schirm konnte er entnehmen, dass Tannington nun tatsächlich zum Vizepräsidenten ernannt werden sollte.

»Ein großer Tag für uns – für uns alle, auch hier in Deutschland.«

»Am größten immer für jene, die wissen, dass sie mit all ihren Lügen ihr Ziel erreicht haben.« Hochfeld bedauerte seine Worte sofort. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit jemandem eine politische Diskussion zu beginnen, der ihn »Paulchen« nannte.

»Sie haben einfach eine zu negative Lebenseinstellung«, beschied Becker ihm aufgeräumt. Er erhob sich, kam auf ihn zu und ließ einen seiner schweren Sportlerarme auf seine Schultern sinken.

»Glauben Sie mir, es ist äußerst ungesund, in allem nur das Schlechte zu sehen. Ach!« Mit einer übertriebenen Geste fasste Becker sich an die Stirn. »Fast hätte ich es vergessen. Kaldewey hat etwas für Sie. Er hat eben angerufen.«

Hochfeld stellte seine Tasche auf den Tisch und ließ den Kollegen in seinem Büro allein.

 

Das Labor war diesmal von hektischer Betriebsamkeit erfüllt. Kaldewey und seine zwei Assistenten bewegten sich zwischen den Terminals hin und her und tauschten hastige Hinweise aus. Hochfeld musste erst auf sich aufmerksam machen.

»Hi, Paul! Ich glaub’, ich habe was für Sie! Es handelt sich wahrscheinlich um eine Manipulation auf einer der tieferen Ebenen, wie sie mir noch nicht untergekommen ist.«

Hochfeld brachte es fertig, die vertrauliche Anrede zu ignorieren. Kaldewey berichtete von einem kriminellen Eingriff, als wäre es eine neue sportliche Höchstleistung. Das störte ihn viel mehr.

»Die haben es geschafft, in eine der Steuerungsroutinen einen nicht zugelassenen Lehrinhalt einzuschleusen, ohne dass diese Routine in ihrem Umfang vergrößert wird oder ihre Funktion einbüßt«, fuhr der Techniker begeistert fort, »gewissermaßen eine gelungene Quadratur des Kreises. Wir vermuten, dass ein Zusammenwirken mit einem manipulierten Induktor erforderlich ist, um den Inhalt einzuspeisen.«

»Können Sie den Text irgendwie sichtbar machen?«

»Da arbeiten wir schon den ganzen Morgen dran. Wenn alles klargeht, kommen Sie gerade rechtzeitig.« Er gab einem seiner Assistenten ein Zeichen.

»Wir haben versucht, die Veränderung der Induktorspulen nachzuempfinden, aber bis jetzt ist im Rezipientenmodell nur totales Kuddelmuddel angekommen. Eben hat mich Wolter auf die Idee gebracht, dass es weniger an der Position der Spulen, als an der Lage ihrer Wicklungen liegen könnte. Das wäre schwer zu kontrollieren.«

Der Assistent nickte Kaldewey zu. Der Induktor befand sich über dem Gehirnmodell. Der Neuroelektroniker drückte die Enter-Taste seines Terminals. Der Bildschirm flackerte einige Augenblicke lang. Hochfeld wollte schon ungeduldig werden, als Worte auf dem Schirm erschienen, Worte, die ihn schockierten, die er nicht wahr haben wollte, die an allem rüttelten, wofür er ein Leben lang gearbeitet hatte.

»Da sehen Sie es«, triumphierte Kaldewey. »Wer immer das gemacht hat, muss ein ganz ausgekochter Hund sein.«

Doch die Miene des Technikers verfinsterte sich wieder, als die wohlgeordneten Zeilen einem weißen Rauschen Platz machten und Wolter am Terminal in hilfloses Tastendrücken verfiel.

»Verflucht, er hat eine Sicherung eingebaut. Auf dem Speicher sind jetzt keine Beweise mehr, aber vielleicht können wir …« Erst, als er sich umdrehte, bemerkte Kaldewey, dass sein Gesprächspartner aus dem Raum gestürzt war, in einer Eile, die so gar nicht zu ihm passte.

 

Der Verkehr war sein Feind. Ausnahmsweise hatte er ein Elektrotaxi bestiegen und sogar auf manuelle Steuerung umgestellt, aber die Bordelektronik ließ keine Manöver zu, bei denen die Reifen gequietscht hätten. Also musste Hochfeld sich damit zufriedengeben, den Wagen durch die Kolonnen der anderen Fahrzeuge hindurch zu steuern, immer dem geringsten Widerstand folgend und die Hupsignale der anderen ignorierend. Das Radio, das man nicht abstellen konnte, schrie ihm die letzten Einzelheiten über den Autounfall von Präsident Buchanan und dessen Überlebenschancen ins Ohr. Es schienen Stunden vergangen zu sein, ehe er das Haus erreichte. Gruppen aufgeregter Menschen hasteten über die Bürgersteige, manche von ihnen mit Transparenten, die sie noch nicht entfaltet hatten. Die Haustür stand offen. Er nahm drei Stufen auf einmal, als er in das richtige Stockwerk hastete. Die Wohnungstür war aufgebrochen. Auf dem Boden der Diele lagen die Scherben einer umgestürzten Vase. In den Zimmern war niemand. Einer plötzlichen Idee folgend, fragte sich Hochfeld, welche Spielereien der PC seinem Benutzer bot. Er startete verschiedene Programme, bis er eine Außenansicht des Hauseingangs auf den Kleinbildschirm bekam. Er versuchte es mit den Pfeiltasten. Der Blickwinkel änderte sich. Er ging verschiedene Funktionen im Menu durch. Nacheinander erschienen die Bilder verschiedener Überwachungskameras. Eine war auf die große Terrasse gerichtet, die in Höhe des vierten Stockwerks nach Süden auf die Fußgängerzone blickte. Zuerst war da nur ein Stückchen roter Stoff am unteren Bildrand, dann fand Hochfeld die Knöpfe, mit denen die Kamera zu bewegen war. An der Brüstung stand ein Mann, den er nur von hinten sehen konnte, und der eine Pistole auf Frau Seibert und ihren Sohn richtete. Hochfeld schaltete ab und holte tief Luft. Jetzt müsste man die Polizei rufen. Allerdings war nicht sicher, ob dadurch nicht alles noch schlimmer würde. Es wurde ein langer Gang von wenigen Augenblicken. Der Fremde und seine beiden Geiseln sahen wieder über die Brüstung, als er die Terrasse betrat. Becker bemerkte ihn jedoch schließlich und begrüßte Hochfeld mit einem brüderlichen Lächeln.

»Na, was halten Sie von uns?« Mit großer Geste deutete der Sportexperte des Ausbildungsamtes auf die ungeordneten Marschkolonnen, die sich durch die Fußgängerzone bewegten und die dennoch irgendwie militärisch streng wirkten. Auf den Transparenten stand: »Macht Tannington zum Weltpräsidenten«, »Für eine gesunde Welt«, »Schluss mit der Ozonlüge«, »Unser Land den Starken«.

Nur ein Drittel der Demonstranten waren Erwachsene, die Mehrheit bestand aus Kindern, Mädchen und Jungen von acht bis fünfzehn Jahren, die stur und grimmig geradeaus schauten.

Anklagend wandte Hochfeld sich an Becker, der den Lauf der Waffe noch immer auf den verschreckten Christoph gerichtet hatte und die fassungslose Frau Seibert am Oberarm festhielt.

»Sie haben die Manipulationen vorgenommen!«

Becker lachte. »Zu viel der Ehre, Paulchen. Wir sind eine große Bewegung. Sie sollten nicht unterschätzen, wie günstig es ist, wenn man auf Kameraden in Fabriken und Behörden auf der ganzen Welt zurückgreifen kann.«

»Kaldewey hat die Speicher überprüft und die Manipulation gefunden.« Hochfeld presste die Worte hervor. Sein angsterfülltes Hirn funktionierte in Zeitlupe. »Sie haben keine Chance«, fügte er hinzu, unsicher, ob der Strohhalm halten würde, nach dem er griff.

Becker lachte noch lauter, während er die Pistole härter an die Schläfe des Jungen drückte. »Sie sind wirklich herrlich, wissen Sie? Sobald irgendjemand das Unterprogramm zu lesen versucht, löscht es sich selbsttätig. Das ist nicht nur bei den Speichern von diesem Hosenscheißer hier so, sondern bei allen. Ich dachte, Sie hätten das eben selbst gesehen und begriffen, dass man uns nicht aufhalten kann. Glauben Sie mir, wir haben unsere Spezialisten für sowas. Nur zu dumm, dass einige von den Kleinen auf die Botschaft mit Albträumen reagieren.« Mit einer bedauernden Geste strich Becker dem Jungen mit dem Pistolenlauf die Haare aus der Stirn.

»Der Kinderpsychologische Dienst wird sie alle finden«, hakte Hochfeld ein, »und die Manipulation beweisen.« Er witterte eine schwache Chance und versuchte die Verzweiflung aus seiner Stimme zu bannen. »Mit einer Hypnosetherapie lassen sich die Eingriffe zweifelsfrei nachweisen. Und dann sind Sie dran, dagegen kommen Sie nicht an! Sie können auch gleich aufgeben!«

»Der Psychodienst ist unterbezahlt und -besetzt.« Becker zuckte mit den Schultern, ganz so, als ob er ein altes Argument zum wiederholten Male gebrauchen müsse. »Die meisten von denen gehören schon lange zu uns oder haben innerlich gekündigt. Eigentlich sollte das also kein Problem sein, besonders nicht in unserem Bezirk, Paulchen. Unsere Psychologen waren einer Meinung, dass Sie seit Ihrer Scheidung in totale Lethargie verfallen sind, und damit zu der zweiten Sorte gehören. Als ausgerechnet Sie als einziger Sachbearbeiter in der ganzen Stadt eine Überprüfung im Labor beantragt hatten, war das schon eine faustdicke Überraschung für uns. Wenn Sie nicht plötzlich so neugierig geworden wären, müsste ich jetzt vielleicht keinen von Ihnen dreien beseitigen.«

Martha Seibert entfuhr ein Kreischen, das irgendwo zwischen Entsetzen und Zorn einzuordnen war. Hochfeld spürte, wie die Angst begann, sich in seinem ganzen Körper auszubreiten. »Sie Idiot!«, schrie er. »Sie haben in den Hirnen der Kinder herumgepfuscht, für die Sie Verantwortung tragen, und glauben noch, Sie hätten etwas damit erreicht. Keines von ihnen würde von alleine auf Sie hören!« Er merkte kaum, wie er immer mehr in Rage geriet, je heftiger sein Puls durch die Adern zuckte. »Was ist, wenn sie erwachsen werden und sich fragen, ob das alles gut ist, was Sie ihnen da eingeimpft haben? Wollen Sie sie dann auch alle erschießen?«

»Aber, Paulchen, Sie verkennen die Lage! Bis irgend so ein lascher Pädagoge wie Sie denen da Flausen in den Kopf setzen kann, sitzen wir fest im Sattel. Die werden schon begreifen, dass es in dieser Zeit am besten ist, auf die Starken zu vertrauen und selber stark zu sein.« Sein Blick wanderte über die Brüstung, zu den chaotischen Marschkolonnen, die sich, einer heimlichen Ordnung folgend, unbeirrbar vorwärts bewegten. Er weidete sich daran.

Für den winzigen Teil eines Augenblicks dachte Hochfeld daran, auf ihn loszugehen. Der Moment verging, und Becker setzte wieder dieses selbstsichere Lächeln auf.

»Uns kann man nicht aufhalten. Wir werden diese kranke Welt heilen.« In seinen Augen glomm kurz ein fanatischer Funke. Dann sah er wieder auf Christoph. »Und ein bisschen Verschnitt wird es natürlich geben. Um einen einzelnen Quälgeist ist es ja nicht so schade.«

»Ja, und zwar, weil Ihre Leute doch nicht überall sind, nicht wahr?«, rief Hochfeld, einer plötzlichen Erleuchtung folgend. »Sie haben es mit Ihrer großartigen Organisation nicht einmal fertiggebracht, die Daten aus der Gesundheitsverwaltung zu beschaffen, mit denen man die Hautkranken von der Manipulation hätte ausnehmen können.« Beckers Miene verfinsterte sich in misstrauischer Verwirrung.

»Ja, schauen Sie nur genau auf die Ausschläge im Gesicht, Sie Genie«, triumphierte Hochfeld in einem halbirren Ton. »Der Junge ist hautkrank, und viele von denen, die da unten für die Herrschaft der Gesunden ihre Fähnchen schwenken, sind es auch. Wirklich hervorragend von Ihren Leuten geplant, Kurt! Oder darf ich Sie vielleicht Kurtchen nennen?«

Aus der Verwirrung wurde Zorn. Die Hand mit der Waffe zuckte nach vorne. Martha Seibert nutzte den Augenblick und stieß zwei Finger ihrer freien Hand in die Augen ihres Peinigers. Becker schrie auf. Ein Schuss fiel und ging an Hochfeld vorbei. Becker griff nach dem Jungen, den seine Mutter mit beiden Armen umschlang. Dann richtete er seine Waffe wieder auf ihr ursprüngliches Ziel. Hochfeld nahm seine ganze Kraft zusammen, stürzte die zwei Schritte vorwärts und warf sich mit ausgestreckten Armen gegen seinen massigen Gegner. Beckers Gesicht verzog sich in Überraschung, als er über die Brüstung fiel. Sein Schrei mischte sich mit dem Rufen der Massen, ehe er auf dem Boden aufschlug. Martha Seibert hielt ihren Sohn vom Abgrund zurück, während Hochfeld auf den zerschmetterten Körper starrte, der unter ihnen auf dem Bürgersteig lag. Niemand sonst kümmerte sich um ihn. Alle starrten auf das Schauspiel, das auf den Straßen vonstattenging.

»Ist der Drache jetzt tot?«, wollte Christoph wissen.

»Ganz bestimmt«, versicherte seine Mutter hastig.

In der Ferne ertönte eine Polizeisirene. Wie automatisch begann Hochfeld, Mutter und Sohn die Haustreppen entlang zu führen. Hektisch überlegte er, was zu tun sei, und wehrte gleichzeitig die aufgeregten Fragen seiner Begleiterin ab. Später, dachte er, später würde er ihr sagen, was sie wissen wollte und noch vieles mehr, wenn ihnen nur die Zeit dazu blieb. Am Hauseingang angelangt, mieden sie die Nähe des Toten, der jetzt von Neugierigen umstanden war. Dann begann die Menge, die vor ihnen marschierte, einen Schlachtruf zu skandieren. »Nieder mit den Kranken, die Zukunft gehört uns! Nieder mit den Kranken, die Zukunft gehört uns!«

Das Gesicht des Jungen verhärtete sich. Er ließ seine Mutter stehen, ordnete sich in die Marschierenden ein und schrie mit. »Nieder mit den Kranken, die Zukunft gehört uns!«

Dreimal rief er es, bevor Hochfeld ihn packte, die verstörte Mutter an die Hand nahm und mit ihnen davon rannte, immer weiter rannte, weiter und weiter.