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Heinz G. Konsalik

Manöver im Herbst

Roman

hockebooks

ALLEN DEUTSCHEN,

DIE AUS ZWEI WELTKRIEGEN,

ZWEI GELDENTWERTUNGEN,

ZWEI TOTALEN ZUSAMMENBRÜCHEN UND ÜBER 50 MILLIONEN KRIEGSTOTEN NOCH NICHTS GELERNT HABEN,

MIT BEKLEMMUNG GEWIDMET

H. G. KONSALIK

Der Roman hat nichts gemeinsam mit lebenden oder namensgleichen Personen … sollte der eine oder andere aber sagen: »Den kenne ich!« oder »So war es!«, so mag es wirklich diesen oder jenen gegeben haben … was ja nicht nur in Deutschland, sondern überall möglich ist.

Obwohl dies hier der Roman eines »guten Deutschen« ist …

I

Auf dem Marktplatz von Trottowitz standen ein Trommler und ein Bläser.

Sie standen da in strammer Haltung. Kreuz hohl, Brust raus, Gesäß nach außen gedrückt, und trommelten und bliesen in den frühen Morgen.

Um das Dorf Trottowitz herum lagen die Felder und Wiesen, Wälder und sanften Senken der niederschlesischen Landschaft. Frühnebel stieg von ihnen auf, wallend wie im Zugwind wehende Tüllgardinen. An den Blättern der Bäume, an den Halmen der Gräser klebte wie farbloser Honig die Feuchtigkeit der Nacht. Irgendwo in den Nebeln schwamm die Sonne, fahlgelb, ein Klecks nur. Aber man sah ihre Wärme. Die Erde dampfte.

Noch bevor der helle Klang des Hornes und das schnarrende, rhythmische Hämmern der Trommel über die schlafenden Bauernhäuser geisterten, stand Heinrich Emanuel Schütze bereits angezogen, in vollem Dienstanzug, am Fenster seines Quartiers. Nebenan, im Flur, hörte er das Filzpantoffelschlürfen des alten Glaukers. Der Bauer ließ seinen Hund heraus … das war die erste Arbeit. Mit ihr begann der Tag.

Heinrich Emanuel Schütze zog seine silberne Uhr aus der Tasche und verglich die Zeit mit dem ersten Ton des Wecksignals. Die Uhr war ein Geschenk seines Vaters zum Einjährigen gewesen. Gleichzeitig mit der Annahme seines Antrages, als Einjährig-Freiwilliger im stolzen Heere Seiner Majestät zu dienen, hatte er sie überreicht bekommen. Es war ihm damals, als sei er damit erst ein Mann geworden: Soldat und eine Uhr. Das sind Begriffe, deren innige Verschmelzung mehr als eine Notwendigkeit bedeuten. Für Heinrich Emanuel Schütze waren sie zum Inhalt seines Lebens geworden.

Zwei Minuten zu spät, stellte er stirnrunzelnd fest. Zwar würde es der Hauptmann nicht merken, denn er kam erst nach der Kaffeeausgabe; der Leutnant des ersten Zuges hatte ein Liebchen und würde zehn Minuten vor dem Hauptmann kommen; der Kompaniespieß schlief wie ein Bär, weil er jeden Abend besoffen war … nur er, der Fähnrich Heinrich Emanuel Schütze, hatte es gemerkt und war nicht gewillt, diese zwei Minuten Verspätung im Tageslauf eines Soldaten still zu dulden.

Er setzte seinen Helm auf, auf dessen feldgrauem Überzug die rote Zahl 10 stand, straffte seinen Uniformrock mit den roten Ärmelpatten und den gelben Schulterstücken, schnallte seinen Säbel um und verließ mit langen, kräftigen Schritten das Bauernhaus. Vor der Tür grüßte er knapp, aber freundlich den Bauern Glauker, wich dem ihn anspringenden Hund aus und verjagte ihn mit einem militärisch-knappen »Tschtsch!«, wandte sich dann der Straße zum Dorfplatz zu und beobachtete aus den Augenwinkeln, ob sich hinter den Fenstern der anderen Quartiere etwas rührte als Reaktion auf das Wecksignal.

Der Bläser und der Trommler hatten ihre Pflicht erfüllt. Sie wollten gerade nebeneinander abmarschieren, als ihnen Fähnrich Schütze mit der Uhr in der Hand in den Weg trat. Die beiden morgendlichen Musikanten blieben stehen, starrten auf die Uhr, dann auf Schützes glattes, jugendliches, aber irgendwie ausdrucksloses Gesicht und fielen ohne Kommando in ein steifes Strammstehen, als Schütze sie ansprach.

»Zwei Minuten drüber!«, sagte er laut. Es war nicht seine Art, zu schnauzen wie ein Unteroffizier oder zu brüllen wie ein Vizefeldwebel. Er war gut zu seinen Leuten – das hatte er auch immer an Vater und Mutter geschrieben – er war streng, aber gerecht. Er verletzte nicht die Würde des Einzelnen – er gab ihnen nur Beispiele der eigenen Unzulänglichkeit.

Der Bläser blinzelte mit den Augen. »Herr Fähnrich …«, sagte er stockend.

»Zwei Minuten.« Heinrich Emanuel schüttelte den Kopf. »Wer auf dem Schlachtfeld zwei Minuten zu spät kommt, kann einen Sieg verpassen. Ist das klar?«

»Jawoll, Herr Fähnrich. Aber –«

»Und was ist ein Manöver?«

»Eine Probe für den Ernstfall, Herr Fähnrich. Aber –«

»An zwei Minuten kann das Schicksal einer Armee hängen.«

»Ich habe mit Herrn Leutnant die Uhr verglichen.«

Heinrich Emanuel Schütze horchte auf. Der Leutnant war sein Vorgesetzter. Noch war er es. Nach dem Manöver würde auch Schütze ein Leutnant sein. Hauptmann Stroy hatte es durchblicken lassen. Das Manöver sollte seine militärische Reifeprüfung werden.

»Wann?«, fragte Schütze.

»Gestern Abend, Herr Fähnrich.«

»Dann geht meine nachts über zwei Minuten vor.« Heinrich Emanuel sah auf seine große silberne Einjährigen-Uhr. Sie hatte sich nie geirrt. Aber wenn die Uhr des Leutnants – noch sein Vorgesetzter – zwei Minuten nachging, so war die Uhr des Leutnants maßgebend. Es gab da keinen Widerspruch. Der Untergebene irrt immer. Nach dem Manöver, wenn man selbst Leutnant war, würde man mit Leutnant Petermann die Uhren abstimmen. Vielleicht einigte man sich auf eine Differenz von einer Minute.

Aus den Quartieren kamen die Soldaten. Die Kaffeeholer trabten mit großen Blechkannen zur Gemeindescheune, wo die Feldküche installiert war. Die ersten Bäuerinnen und Mägde gingen zu den Ställen, das Vieh zu versorgen. Einige Zurufe, die die Kaffeeholer den Mädchen zuwarfen, erregten das Missfallen Schützes. Durch den aufreißenden Nebel kam Leutnant Petermann ins Dorf geritten. Er hatte den feldgrauen Überzug seiner Pickelhaube abgenommen. Die ersten, durch den milchigen Himmel brechenden Sonnenstrahlen verfingen sich in dem goldenen Adler, der die Stirnseite krönte. Heinrich Emanuel Schütze biss die Zähne aufeinander.

Er sieht aus wie ein Offizier des Gardes du Corps, dachte er. Er ist ein Angeber. Außerdem ist er mit einer Bürgerlichen verheiratet, mit einer Gemüsehändlerstochter. Die Leute haben zwar Geld, aber keine Rasse. Wie anders war da Amelia v. Perritz, zweite Tochter des Freiherrn v. Perritz auf Perritzau. Er hatte sie bei einer Außenübung des Grenadierregiments König Friedrich Wilhelm II. Nr. 10 kennengelernt, damals, in der Umgebung von Schweidnitz, wo er in Garnison lag. Beim kleinen Manöverball wurde er ihr vorgestellt, hatte mit Amelia getanzt, sie viermal heimlich getroffen und einmal auf die Stirn geküsst. Drei Wochen hatte er damals damit verbracht, sein aufgeregtes Inneres zu besänftigen, mit Vater und Mutter in Breslau über seine geheimsten Pläne zu korrespondieren, seine Aufstiegsaussichten auszurechnen und schließlich an Amelia v. Perritz einen langen Brief zu schreiben, der mit »Gnädigste, bewundernswerteste, ersehnte Freundin« begann und mit »immer Ihr untertänigster, kühner und nach Antwort durstender H. E. Schütze« endete.

Nun fanden die Kaisermanöver 1913, die großen Herbstprüfungen der deutschen Armee, in Schlesien statt. Es war ein Glücksumstand, dass das 1. Schlesische Regiment Nr. 10 in und um Trottowitz lag, vier Kilometer vom Gut der Perritz entfernt. Es war für Heinrich Emanuel ein besonderer Ansporn: Unter den Augen Amelias würde er zum Leutnant werden und damit den Wert erreichen, um ihre Hand anzuhalten.

Leutnant Petermann ritt vorbei. Er wollte zur Schreibstube. Schütze grüßte stramm. Petermann straffte die Zügel und ließ das Pferd vor Heinrich Emanuel tänzeln.

»Wissen Sie schon das Neueste, Schütze?«, fragte er, ein wenig hochmütig, wie es Schütze vorkam.

»Nein, Herr Leutnant.«

»Vom Kommandeur ist der Befehl gekommen, dass Sie mit unserer 2. Kompanie einen Angriff auf die Füsiliere der blauen Gruppe führen sollen. Oberst v. Fehrenberg und Hauptmann Stroy werden selbst als Schiedsrichter dabei sein. Ich gratuliere, Schütze. Ein Angriff unter den Augen Seiner Majestät –«

»Gehorsamsten Dank, Herr Leutnant.« Petermann winkte noch einmal und ritt weiter. Er ließ Heinrich Emanuel in unbeschreiblicher Stimmung zurück.

Während in den Quartieren bereits gesungen wurde, der Kaffee ausgeteilt war und die ersten Viehherden durch das Dorf auf die Weiden getrieben wurden, saß Schütze in seinem Zimmer und studierte noch einmal im »Exerzierreglement für die Infanterie« das Kapitel »Angriff mit blanker Waffe« und »Erstürmung einer feindlichen Stellung«. Er las so lange, bis der Hornruf »Sammeln« ertönte. Mit knurrendem Magen, ohne Kaffee, bleich, rannte Schütze auf den Dorfplatz, wo die 2. Kompanie sich aufstellte. Leutnant Petermann stand mit dem Spieß in der Haustür der Schreibstube. Ein Vizefeldwebel ließ die Kompanie antreten und sich ausrichten. Der Nebel über den Feldern und Wäldern war von der Sonne aufgesaugt worden … strahlend fiel das Blau des Himmels über die Landschaft. Die Dorfjugend umstand den Marktplatz, Mägde und Frauen sahen aus den Ställen oder den Stubenfenstern, die Bauern, längst gedient, gaben laute Ratschläge, wie man sich beim Manöver drücken könnte, wenn man »erschossen« spielte.

Um 8 Uhr ritt Hauptmann Stroy in Trottowitz ein. Leutnant Petermann meldete die angetretene Kompanie. Einige Mädchen klatschten in die Hände, weil das »Augen gerade aus!« klappte, als zöge man an der Strippe eines Hampelmannes.

»Unsere Kompanie hat die Ehre«, sagte Hauptmann Stroy mit heller Stimme, »heute Seiner Majestät, dem Kaiser, gegenüberzuliegen. Wir werden einen Sturmangriff auf die Gruppe Blau, die Seine Majestät befehligt, unternehmen. Majestät wird mit seinen Truppen dann einen Gegenstoß unternehmen. Wir kämpfen also unter den Augen des Kaisers, Leute! Wir haben die Ehre, heute zu zeigen –«

Heinrich Emanuel Schütze hörte nicht mehr, was Hauptmann Stroy weiter erzählte. Von Süden her, von Gut Perritzau, kam ein leichter Jagdwagen die Straße nach Trottowitz herauf. Zwei Damen saßen in ihm … ihre großen weißen, mit Blumen garnierten Hüte und ihre weißen Spitzenkleider leuchteten weithin. Der Mann auf dem Kutschbock, in einem grünen Jagdanzug, mit langem, schwarzem Bart, ließ die Peitschenschnur über die beiden braunen, glänzenden Pferdekörper schnellen, ohne sie zu berühren.

Die Familie v. Perritz … Amelia mit Vater und Mutter. Sie kamen, um ein wenig Manöverluft zu atmen. Sie fuhren ins Dorf, gerade, als Hauptmann Stroy mit heller Stimme rief:

»Herr Fähnrich Schütze …!«

Heinrich Emanuel trat vor. Er hörte, wie der Wagen seitlich der angetretenen Kompanie hielt, er vernahm das Schnauben der Pferde, er spürte den Blick Amelias im Nacken, er fühlte sich von den Augen des Freiherrn v. Perritz durchlöchert.

»Sie übernehmen ab sofort auf Wunsch des Kommandeurs die Kompanie!«, hörte er Hauptmann Stroy sagen. »Im Manövergebiet werden Sie Ihre Befehle bekommen! Bitte, übernehmen Sie die Kompanie!«

Heinrich Emanuel grüßte. Er sah, wie Hauptmann Stroy vom Pferd sprang, die Zügel seinem Burschen zuwarf und auf die Damen Perritz zuging. Er küsste ihnen die Hand, er hielt die Hand von Amelia länger fest, als es üblich war …

»Kompanie herhören!«, brüllte Heinrich Emanuel. Zum ersten Mal in seinem Leben brüllte er. Schau hierher, Amelia, dachte er dabei. Ich führe die 2. Kompanie. Und ich werde im Manöver siegen … ich werde die Blauen erobern und den Gegenstoß abfangen, ich werde unter den Augen Seiner Majestät beweisen, wer ich bin. Und ich werde nach dem Manöver zu deinem Vater kommen und –

»In einer halben Stunde steht die Kompanie feldmarschmäßig wieder angetreten hier!«, brüllte er. »In die Quartiere – weggetreten!«

Während die 150 Grenadiere auseinanderspritzten, um zu packen und die Waffen zu fassen, stand er allein auf dem sich leerenden Marktplatz, dort, wo er hingestellt worden war, um zu kommandieren. Er stand in der Sonne, bleich, frierend, die linke Hand um den Säbelknauf gekrallt. Freiherr v. Perritz sprach mit Hauptmann Stroy und Leutnant Petermann. Frau v. Perritz lachte einmal laut. Amelia war von den breiten Schultern Stroys verdeckt, aber ab und zu stellte sie sich auf die Zehenspitzen und blickte zu Heinrich Emanuel hinüber. Er nahm es wahr, fühlte sich auf einmal glücklich und ging, wie eine aufgezogene Puppe, mit durchgedrücktem Rücken in sein Quartier.

»Seine Majestät wird selbst den Angriff befehligen, sagt man«, berichtete Freiherr v. Perritz. »Und König August von Sachsen und König Konstantin von Griechenland werden auf dem Feldherrnhügel stehen und die Schlacht beobachten. Vierunddreißig ausländische Attachés sind zugegen … Seine Majestät will die Schlagkraft der deutschen Armeen demonstrieren. Es scheint so, als ob es stinkt, meine Herren.«

»Aber, aber …«, sagte Hauptmann Stroy. »Wer in der Welt könnte unseren Soldaten widerstehen? Das weiß doch jeder.«

»Frankreich erhöht sein stehendes Heer von 545 000 Mann auf 690 000! Russland hat seine Friedensstärke von 1 800 000 auf – staunen Sie, meine Herren – 2 300 000 Mann erhöht. Ich habe es in der ›Vossischen Zeitung‹ gelesen.«

»Es sind bloße Zahlen, Herr Baron.« Hauptmann Stroy sah dem weggehenden Schütze nach. »Wir haben jetzt 25 Armeekorps mit zusammen 785 000 Mann. So viel hat das Deutsche Reich noch nie unter den Waffen gehabt. Warten Sie den Ausgang des Manövers ab, Herr Baron … man wird sich im Ausland hüten, irgendwelche Träume zu Ende zu träumen, wenn man dieses Manöver gesehen und richtig verstanden hat. Verlassen wir uns auf den Weitblick Seiner Majestät.«

Vor den Quartieren sammelten sich die feldmarschmäßig ausgerüsteten Soldaten. Die Zugführer kontrollierten noch einmal die Uniformen und Waffen, bevor sie zum Antrittsplatz marschieren ließen. Die Damen v. Perritz stiegen wieder in den Jagdwagen. Man wollte hinaus ins Manövergelände fahren. General v. Linsingen, der Kommandeur des Zweiten Armeekorps, hatte Baron v. Perritz eingeladen, die Schlacht von seinem Befehlsstand aus zu beobachten.

Fähnrich Heinrich Emanuel Schütze saß, seine silberne Uhr in der Hand, an der Tür seines Quartierzimmers. Noch zehn Minuten … noch sieben Minuten … noch fünf … Durch das geöffnete Fenster hörte er die Kompanie antreten, sich ausrichten, dreimal Stillstehen üben.

Schütze erhob sich. An der Tür dachte er noch rechtzeitig daran, dass seine Uhr zwei Minuten Differenz zur Uhr des Leutnants aufwies. Er wartete sie ab und trat Punkt 8 Uhr 45 aus dem Haus, ging schnellen Schrittes zum Marktplatz und ließ sich die Kompanie melden.

Die Familie v. Perritz war weggefahren. Hauptmann Stroy ritt aus dem Dorf … er trug bereits die Streifen des Schiedsrichters. Von Leutnant Petermann war nichts zu sehen. Fähnrich Schütze war allein mit seiner Kompanie.

»Herhören!«, sagte er laut. »Wir haben eine große Aufgabe vor uns. Denkt daran, was wir gelernt haben: Im Verein mit der Artillerie kämpft die Infanterie durch ihr Feuer den Gegner nieder. Sie allein bricht seinen letzten Widerstand. Sie trägt die Hauptlast des Kampfes und bringt die größten Opfer. Dafür winkt ihr aber auch der höchste Ruhm.«

Die 150 Grenadiere blinzelten mit den Augen Zustimmung. Fähnrich Schütze kannte wie kein anderer das Exerzierreglement auswendig. Er war ein schneidiger Hund.

Zehn Minuten später marschierte die 2. Kompanie singend aus Trottowitz hinaus.

Die Sonne spiegelte sich in ihren gelben Achselklappen, die roten Bänder um den Helmen sahen aus wie 150 durchgeblutete Verbände. In den Türen standen die Mädchen und winkten.

»Luise, Luise, wisch ab dein Gesicht,

eine jede Kugel, die trifft ja nicht …«,

sangen die Grenadiere. Unter ihren Stiefeln quoll der erste Staub auf. Die Morgenfeuchtigkeit war aufgesogen … es würde ein heißer Tag werden.

Fähnrich Schütze marschierte an der Spitze. Als Kompanieführer steht mir eigentlich ein Pferd zu, dachte er. Aber was macht’s? Ob zu Pferde oder zu Fuß … es ging in die Schlacht. Es ging dem Sieg entgegen.

»Noch ein Lied!«, kommandierte Heinrich Emanuel.

Zehn Kilometer weiter stand Kaiser Wilhelm II. auf einem Hügel und überblickte mit einem Scherenfernrohr das Manöverfeld. König Konstantin von Griechenland unterhielt sich leise mit Kriegsminister v. Falkenhayn. Der Chef des Generalstabs, Generaloberst Helmuth v. Moltke, erklärte dem König von Sachsen, Friedrich August III., die strategische Lage des Tages.

»Isch sähe nischts«, sagte die sächsische Majestät. »Aber ‘n scheener Tag ist’s …«

Unten, in der Senke, stellte sich – mit blauen Bändern um den Helmen – das Königin-Augusta-Garde-Grenadierregiment Nr. 4 aus Berlin auf.

Der Gegner Heinrich Emanuel Schützes.

Um 11 Uhr begann die Schlacht.

Kaiser Wilhelm II. stand, den Aufmarschplan in der Hand, vor dem Scherenfernrohr und beobachtete den Angriff der roten Truppen. Seitlich von ihm, in einer offenen Kalesche, saß Kaiserin Auguste Viktoria mit zwei Prinzessinnen v. Pleß. Sie tranken Kaffee.

Die ersten Salven der Artillerie zitterten durch die Luft. Am Horizont ritten Kürassiere eine Attacke. Vier Doppeldecker der 1912 neu geschaffenen Fliegergruppe kreisten über dem Manöverfeld. Von den noch in Ruhe liegenden Truppen wurden sie jubelnd begrüßt. Wie unschlagbar Deutschland ist, dachte jeder. Flieger in der Luft, diese Artillerie, der Schneid der Kavallerie und unsere Königin, die Infanterie … wer wagt es, uns anzugreifen?

Irgendwoher schallte hundertstimmiges »Hurra!« durch die Sonnenglut. Ulanen und Husaren drangen in eine Fußartilleriestellung ein. Die roten Truppen wankten …

Auf dem Feldherrnhügel sah Kaiser Wilhelm II. stolz auf die von ihm geführten blauen Truppenverbände. Die Schlacht verlief, wie der Generalstab und er geplant hatten. Hunderte Kuriere waren unterwegs, die Truppen zu bewegen. Ruhig, sachlich gab der Kaiser seine Befehle. Der König von Sachsen und der König von Griechenland standen hinter ihm.

»Een scheenes Bild«, sagte Friedrich August. »Nur zu viel knallen dud’s!«

Einen Kilometer weiter, noch unbemerkt von den Scherenfernrohren der Majestäten, marschierte Heinrich Emanuel Schütze heran.

Um elf Uhr dreiundzwanzig Minuten sollte er mit seiner 2. Kompanie in die Schlacht eingreifen …

Schon beim Einrücken in die vorbereitete Stellung, die Hauptmann Stroy als Schiedsrichter anwies, bemerkte Fähnrich Schütze, dass zu beiden Seiten der »roten Stellung« die Lage nicht sehr günstig stand. An den Flanken wurde geschossen, starkes Artilleriefeuer erfüllte den sonnigen Tag, über einen Hügel sah er durch sein Fernglas eine Eskadron Kürassiere im vollen Galopp eine »rote« Infanteriestellung nehmen. Es war offensichtlich, dass die Gruppe Blau mit größeren Chancen kämpfte und den Sieg an sich riss.

Oberst v. Fehrenberg ritt mit drei anderen Offizieren im Kriegsgetümmel herum und winkte den Truppen zu, die als »aufgerieben«, »gefallen« oder »überrollt« aus der Manöverschlacht gezogen wurden und sich irgendwo in Senken oder an Waldrändern zur Ruhe niederließen. Drei Angriffslinien wurden von rasendem Maschinengewehrfeuer empfangen und sofort für »tot« erklärt.

Für Schütze blieb keine lange Zeit der Überlegung übrig. Schon sah er, wie ihm gegenüber die Wellen des Königin-Augusta-Garde-Grenadierregiments Nr. 4 auf ihn zu brandeten. Ihre weißen Achselklappen, die weißen Ärmelpatten leuchteten in der Sonne … der Hornist vor den Linien schmetterte, Trommeln wirbelten … Die Hauptleute und Leutnante rannten ihren Truppen mit hoch erhobenem, blankem Degen voraus und brüllten »Hurra! Hurra!«, Fahnen wehten, Rauchwölkchen quirlten auf … es war ein kraftvolles, kriegerisches Bild deutschen Angriffsgeistes und heldenmütiger Todesverachtung.

Heinrich Emanuel Schütze war ein wenig verwirrt. Er war ganz allein auf sich gestellt. Er hatte keine Instruktionen, es war keiner da, der befahl und für ihn dachte. Aber er war in einen Krieg hineingestellt worden, der zwar nur gespielt war, aber als Ernstfall betrachtet werden wollte. Und seine Majestät stand irgendwo auf einem Hügel und beobachtete, wie sich ein junger Fähnrich im Ernstfall benehmen würde, wenn er von feindlichen Truppen in drei Wellen angegriffen wurde.

Die 2. Kompanie lag in Schützenlinie am Rande eines Waldes und starrte auf die angreifenden Gardegrenadiere. Zwei Feldwebel lagen neben Heinrich Emanuel und sahen ihn nachdenklich an.

»Die überrollen uns – und der Krieg ist für uns aus«, sagte einer von ihnen.

»Sie werden nicht näher kommen!« Schütze überblickte seine Kompanie. Ein Gedanke kam ihm, ganz plötzlich, wie ein Blitz, der durch die Hirnwindungen raste. »Bilden Sie Gruppen!«, schrie er den Unterführern zu. »Jede Stube eine Gruppe … und dann vorwärts marsch-marsch in Sprüngen. Abstand pro Gruppe zehn Meter! Tief gestaffelt! Und konzentriertes Feuer auf den Gegner. Durchsagen!«

Durch die wartende 2. Kompanie lief ein Raunen. Am Ende der Schützenlinie hob ein Vizefeldwebel den Arm. Durch, sollte es heißen. Befehl verstanden.

Fähnrich Schütze wartete noch ein paar Sekunden. Die Gardegrenadiere aus Berlin stürmten heran, ihre Offiziere schwangen siegessicher die Säbel, Hornist und Trommler jubelten … In diesem Augenblick hob Heinrich Emanuel den Arm. Aus dem Waldrand sprangen, auseinanderspritzend und Feuerinseln auf dem Feld bildend, die schlesischen Grenadiere und empfingen die verblüfften Berliner mit einem rasenden Feuer.

Die Offiziere vor den Linien erstarrten. Hornist und Trommler verstummten. Die Angriffswellen blieben stehen und sahen zu den »roten« Gegnern, die entgegen aller Tradition in kleinen Gruppen, wie flüchtende Hasen, hin und her sprangen, sich hinwarfen, schossen, vorwärts rannten, im Zickzack auf sie zukamen und wieder, liegend, kaum sichtbar, das Feuer eröffneten.

Generalleutnant v. Surrenkamp, der einen Kilometer hinter den Gardegrenadieren aus Berlin die Schlacht beobachtete, umklammerte sein Scherenfernrohr und winkte eine Ordonnanz heran.

»Welcher Idiot liegt da drüben?«, brüllte er. »Haben wir Manöver oder spielen wir Blindekuh? Reiten Sie sofort ‘rüber und machen Sie den Weg frei für die Angriffswellen!«

Oberst v. Fehrenberg und Hauptmann Stroy, die als Schiedsrichter durchs Gelände ritten, kamen im gestreckten Galopp über das Feld gerast, als Fähnrich Schütze seine Kompanie mit aufgepflanzten Bajonetten zum Gegenstoß ansetze und in die Linien der Berliner Grenadiere hineinstieß.

Die Verwirrung war ungeheuerlich. Von allen Seiten liefen die Offiziere zusammen und brüllten auf Schütze ein, der schweißtriefend, aber im Bewusstsein seines Rechts inmitten schreiender und gestikulierender Uniformen stand.

»Sie Pflaume!«, schrie Oberst v. Fehrenberg und drängte sich mit seinem keuchenden Pferd durch die Menge. »Wer hat Ihnen befohlen, hier solche Idiotie zu machen? Sie melden sich nach dem Manöver bei mir! Vor den Augen des Kaisers eine solche Blamage! Was haben Sie sich dabei gedacht?«

»Ich hatte den Befehl, zu siegen, Herr Oberst!«, sagte Schütze laut.

»Sie?! Sie sollten siegen?! Ihnen steht Seine Majestät gegenüber! Wenn Majestät einen Angriff seiner Truppen befiehlt, hat kein Idiot gegen ihn zu siegen! Wissen Sie das nicht?«

»Es wurde angenommen, dass hier ein Ernstfall …«

»Halten Sie den Mund! Die Kompanie übernimmt Leutnant Petermann! Sie sind tot!« Oberst v. Fehrenberg wandte sich an die Offiziere der Berliner Gardegrenadiere. »Wenn Majestät noch nichts gemerkt hat, lassen Sie bitte weiter angreifen. Wenn Sie den Wald erreicht haben, werde ich Herrn Generalmajor v. Puttwitz Ihren Sieg melden.«

Er rückte seine Schiedsrichterbinde zurecht, sah noch einmal vernichtend auf den strammstehenden Fähnrich Schütze und ritt dann schnell aus der Kampflinie.

Das Manöver ging weiter. Die 2. Kompanie wurde an den Waldrand zurückgezogen, die Berliner Grenadiere eroberten die Stellung, auf allen Seiten tönte das siegreiche Hurra der blauen Truppen.

Im Rücken des Siegers saß Fähnrich Schütze allein auf einem Baumstumpf. Er hatte den Helm abgenommen, den Uniformkragen aufgeknöpft und wischte sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß vom Kopf und aus dem Nacken.

Er verstand nicht mehr, was um ihn herum geschah. Hauptmann Stroy, der einmal nahe an ihm vorbeiritt, übersah ihn, als sei er ein Haufen Pferdemist. Selbst Leutnant Petermann, der nach dem Überrollen seiner Kompanie Zeit genug hatte, als »Toter« Freunde in den Nachbareinheiten zu besuchen, machte einen Bogen um die einsame Gestalt auf dem Baumstumpf.

Was habe ich getan, grübelte Heinrich Emanuel Schütze. Ich habe gesiegt … das ist die ganze Schuld. Ich habe meine Kompanie nicht mehr in Schützenlinie ins Feuer geschickt, sondern in Gruppen. Das spart Verluste, jeder musste es doch einsehen. So wie die Gardegrenadiere aus Berlin angriffen, hatten schon die Soldaten des Großen Kurfürsten gestürmt, die Armeen Friedrich des Großen, die Truppen von 1866 und 1870/71 … in Linie, eng aufgeschlossen, vorweg Hornist und Trommler, dann Offiziere mit den Fahnenträgern. Welche Ziele gaben sie ab. Man brauchte ja gar nicht mehr zu zielen … man konnte hinschießen, wohin man wollte … in dem Wall der anstürmenden Leiber fand man immer ein Ziel. So durfte man stürmen, als man noch für jedes Laden des Gewehrs fünf Minuten brauchte … mit Pulverhorn, Kugel, Kugelstoßer und zu spannendem Hahn. Aber heute, bei den schnell feuernden Gewehren?

Fähnrich Schütze erhob sich und setzte seinen Helm wieder auf. Sein rundes Gesicht war irgendwie starr, trotzig und kampfbereit. So begegnete er Leutnant Petermann, der von einem Besuch zurückkam.

»Na, Sie Kaiserschreck?!«, lachte Petermann und winkte. »Wenn die Manöverkritik kommt, stopfen Sie sich Watte in die Ohren. Ich möchte nicht erleben, was Ihnen bevorsteht.«

»Ich werde eine Denkschrift verfassen!«, rief Schütze dem wegreitenden Leutnant nach. Seine Stimme überschlug sich vor Erregung. »Eine Denkschrift über moderne Kriegsführung.«

Das helle Lachen Petermanns flatterte zu ihm herüber. Er biss die Zähne aufeinander, rückte seinen Helm gerade und ging weiter, dem Waldrand zu, wo die 2. Kompanie als »gesamt tot« im Schatten lag und am Morgen in Trottowitz gefasste Butterbrote aß.

»Ich bin im Recht«, sagte Schütze vor sich hin. Bei jedem Schritt … zwanzig-, dreißigmal … »Ich bin im Recht.«

Hauptmann Stroy kam ihm vom Waldrand entgegen. Neben ihm gingen zwei Damen in langen, weißen Spitzenkleidern und mit riesigen garnierten Hüten auf den schmalen Köpfen. Um Heinrich Emanuels Augen flimmerte es, das Blut rauschte in seinen Schläfen. Er taumelte fast. Warum muss Amelia gerade jetzt hier sein, dachte er und kam sich hundserbärmlich vor. Und ihre Mutter auch. »Sie sind tot!«, hatte ihn Oberst v. Fehrenberg angebrüllt. Das hatte er abgeschüttelt wie Wasser vom Wachstuch. Aber was jetzt kommen musste, war ein wirklicher Tod. Vor den Augen und Ohren Amelias würde sich Hauptmann Stroy nicht zurückhalten, seinen kleinen, lächerlichen Fähnrich in den Boden zu stampfen.

»Schütze! Kommen Sie mal her!«, schrie Hauptmann Stroy mit seiner hellen Stimme. »Und ein bisschen flotter, wenn ich bitten darf …!«

Heinrich Emanuel nahm seinen Säbel in die Hand und rannte über das Schlachtfeld auf seinen Hauptmann zu. Sein Helm schwankte etwas, er stolperte sogar über eine verlorene Feldflasche, er sah von Weitem aus wie ein hüpfender Frosch. Er wusste, wie lächerlich er jetzt wirkte, und er wusste, warum ihn Hauptmann Stroy so laufen ließ.

»Ich bin tot«, dachte Schütze während er keuchend rannte. »Ich bin wirklich tot … aber ich habe recht. Sind alle, die recht haben, immer in der Nähe des Todes …?«

Auf dem Feldherrnhügel beobachteten die kaiserlich-königlichen Gäste den Fortgang der großen Schlacht. Kaiserin Auguste Viktoria hatte sich selbst an ein Scherenfernrohr gestellt und ließ sich von Generaloberst v. Moltke die Lage und den unaufhaltsamen Siegeslauf der kaiserlichen Truppen erklären. Ab und zu sah sie zu Wilhelm II. hinüber, der König Friedrich August von Sachsen, dem österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und König Konstantin von Griechenland auf einer Karte, die zwei Leibkürassiere ausgebreitet hielten, die Bewegungen der Truppen zeigte und dazu taktische Erläuterungen gab. Vor allem das Eingreifen der neuen Fliegertruppe war eine militärische Sensation. Die »scheenen Vöchel«, wie König Friedrich August sie nannte, gingen im Tiefflug herunter mit vernichtendem Maschinengewehrfeuer und zermürbten die Moral der Truppen. Selbst die bisher gut versteckte und nur mit Direktbeschuss zu vernichtende schwere Artillerie wurde von ihnen attackiert und ausgeschaltet. Eine neue, schreckliche Waffe war geboren … und die Welt sah zu, wie unbesiegbar Deutschland geworden war.

In diesem Hochgefühl kriegerischer Kraft bemerkte der zur persönlichen Verfügung Seiner Majestät auf dem Feldherrnhügel stehende General v. Scholl die verhängnisvolle Entwicklung auf dem linken Flügel. Der Angriff der Königin-Augusta-Grenadiere stockte … die Wellen standen plötzlich … und vor diesen Wellen hüpften Gruppen der gegnerischen Infanterie durch das gewellte Gelände und beschossen ganz klar die siegenden kaiserlichen Verbände.

Über das Gesicht General v. Schölls lief ein schnelles, nervöses Zucken. Sein gepflegter Schnurrbart fing die Schweißtröpfchen auf, die plötzlich unter seinem Helm hervor über das dicke Gesicht liefen. Er schielte zu Kaiser Wilhelm II. hinüber und bemerkte mit Erschrecken, dass der Kaiser sein Scherenfernrohr gegen den linken Flügel drehte.

Es war zu spät, die Majestät abzulenken und auf die Mitte hinzuweisen, wo Ulanen eine herrliche Attacke ritten. Auf dem rechten Flügel gingen die »roten« Truppen fluchtartig zurück. General v. Scholl verließ eilig sein Scherenfernrohr und eilte auf Kaiser Wilhelm II. zu.

Der Kaiser sah ruhig auf den Flecken, den der kleine Fähnrich Schütze durch einen einzigen Gedanken in das große Manövergemälde gemalt hatte. Einen Flecken, den noch niemand bemerkte, weil er im Gesamtbild unbedeutend war, der aber peinlich werden würde, wenn der linke Flügel in völlige Verwirrung geraten sollte.

»Majestät, ich werde sofort den Schuldigen feststellen und zur Rechenschaft ziehen lassen«, sagte General v. Scholl mit empört zitternder Stimme. »Ich versichere Eurer Majestät, dass dieser Vorfall –«

Kaiser Wilhelm II. winkte ab. Er sah noch einmal auf die steckengebliebenen Angriffswellen der Gardegrenadiere und schwenkte die Okulare des Fernrohrs hinüber zum siegreichen rechten Flügel.

Seine Stimme war ruhig, klar und hell wie immer, nur in seinen kleinen Augen lagen Bosheit und beleidigender Stolz.

»Bitte mir den Betreffenden vorzustellen.«

»Sofort, Majestät.«

»Nach der Manöverkritik. Welche Truppe?«

»Wird sofort festgestellt, Majestät.«

»Die Kommandeure auch zu mir!« Der Kaiser wartete nicht mehr die bejahende Antwort des Generals v. Scholl ab. Er wandte sich ab, ging hinüber zu König Friedrich August von Sachsen und fasste ihn am Ärmel des Uniformmantels.

»Lieber Vetter«, sagte er, »was halten Sie von den neuen Kruppschen Geschützen?«

Der König von Sachsen nickte begeistert.

»Se bumsen laut«, sagte er fröhlich.

»Das hättest du nicht tun dürfen. Bestimmt nicht. Mama ist ganz entsetzt, und Papa nennt dich einen Hohlkopf.«

Amelia v. Perritz sagte es mit einer gedämpften, aber umso eindringlicheren Stimme. Sie saßen hinter einem hohen und dichten Haselnussstrauch, hielten sich an den Händen, als seien sie müde vom Reigentänzen und waren in einer dumpfen, fast schon verzweifelten Stimmung.

Das Manöver ging weiter. Die »Toten« hatten Ruhe, lagen im Schatten herum, spielten Skat, kochten Tee, inspizierten die Feldküchen oder lasen in Zeitungen, die von Hand zu Hand gingen.

Jahrhundertfeiern in ganz Deutschland. Der Sieg der Koalition 1813 über Napoleon war noch immer eine preußische Glorie. In Breslau sollte die Jahrhunderthalle in Anwesenheit des Kaisers eröffnet werden. Aber Wilhelm II. hatte abgesagt. Weil ein Feststück von Gerhart Hauptmann gespielt werden sollte. »Dieser Hauptmann«, soll Majestät gesagt haben, »und ich? Unter einem Dach? Verzichte.«

In Österreich sprach man von einer neuen Krise mit Serbien.

Die ersten Bilder vom Privatleben Viktoria Luises waren erschienen. Im Mai 1913 hatte sie Ernst August Herzog von Braunschweig und Lüneburg, Prinz von Großbritannien und Hannover geheiratet. Sie schien glücklich zu sein. Sie lächelte auf allen Bildern. Und mit ihr lächelte das ganze deutsche Volk.

In Paris herrschte als neuer Präsident Poincaré. Er liebte die Deutschen nicht und vergaß ihnen 1871 nicht.

Es waren wirklich interessante Zeitungen, zum Teil voll Sorge. Auch das laufende Manöver wurde erwähnt. »Eine Warnung an die Welt«, schrieb ein Korrespondent. »Die deutsche Wehr ist ehern.«

»Ich habe nur mein Recht vertreten«, sagte Heinrich Emanuel Schütze und zupfte den feldgrauen Überzug seines Helmes gerade. »Ich hatte den Auftrag –«

»Papa war entsetzt.« Über dem schmalen, fast noch kindlichen Gesicht Amelia v. Perritz’ lag ein Schatten von Melancholie und Trauer. »›Wie kann man Majestät so düpieren!‹, sagte er. ›Der Fähnrich kann sich nach einem Zivilanzug umsehen.‹« Sie nahm die schlaffe Hand Schützes und legte sie in ihren Schoß. »Du solltest sie alle um Verzeihung bitten, Heinrich.«

»Um Verzeihung bitten? Kind – welche militärischen Begriffe hast du.« Schütze setzte seinen Helm auf. Gleich darauf nahm er ihn wieder ab und legte ihn ins Gras. Er wusste kaum noch, was er tat. »Ich hatte mir alles so schön gedacht, Amelia. Nach dem Manöver sollte ich Leutnant werden … ich wäre dann zu deinem Vater gegangen und hätte gesagt –«

Sie legte ihm die schmale Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf. »Nicht davon sprechen, Heinrich. Warum wollen wir es uns so schwer machen –«

»Schwer machen? Was?« Er starrte sie bleich an.

»Das –«

»Was … das …?«

»Papa wird dich gar nicht anhören. Mama … für die bist du Luft. Sie denkt an Hauptmann Stroy und hat ihn zu einem privaten Manöverball auf unser Gut eingeladen. ›Ihr müsst euch näherkommen, Kinder‹, hat sie vorhin gesagt.«

»Stroy sieht aus wie ein Nussknacker«, sagte Schütze bitter. »Aber er ist Hauptmann.« Er fasste beide Hände Amelias und zog sie an seine Brust. »Einmal werde auch ich Hauptmann sein. Einmal wird man auch zu mir sagen: Es ist uns eine Ehre, Sie bei uns zu sehen. Einmal werde auch ich aus dieser widerlichen Anonymität heraussteigen und jemand sein, zu dem man aufblickt. Ich liebe dich, Amelia, und ich liebe die Uniform und ich weiß, was es heißt, ein deutscher Offizier zu sein … Aber wenn ich im Recht bin, dann …« Er nickte, als sie etwas sagen wollte und drückte ihre kalten Handflächen gegen seine zitternden Lippen. »Willst du, dass wir uns nie mehr sehen?«

Amelia v. Perritz schüttelte den Kopf. Aber ihre Augen sagten etwas anderes, als ihr Kopf andeutete.

»Was wird nach dem Manöver sein, Heinrich? Du kommst zurück nach Schweidnitz. Wie sollen wir uns sehen? Immer ist Mama dabei …«

»Ich werde dir schreiben. Postlagernd.«

»Wenn Papa deine Briefe findet, steckt er mich in ein Internat.«

»Dann werde ich dich dort mit der Waffe in der Hand herausholen.«

»Warum phantasieren wir?« Sie legte den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. »Lass uns die wenigen Minuten träumen. Gleich wird Mama mit dem Wagen zurück sein. Sie holen für die Offiziere Wein. Dann werden wir uns nicht mehr sehen … lange, lange Zeit nicht mehr …«

»Aber … du wirst nie aufhören, mich zu lieben?«, fragte er stockend.

»Nie – aber es ist so aussichtslos, Heinrich …«

»Vielleicht ist der Kaiser überzeugt, wenn ich ihm meine Denkschrift gebe.«

»Die Denkschrift. Lass es doch sein. Sie werden dich auslachen. Ein Fähnrich sagt den Generalfeldmarschällen, wie man angreifen soll. Sie werfen dich einfach hinaus.« Sie legte den Arm um seine Schulter. Es war eine zärtliche Bewegung, ein Ausdruck der Verbundenheit, der ihn ergriff und ratlos machte. »Ich will aber nicht, dass man dich auslacht. Ich weiß, wie lieb und gut du bist … Du darfst nur nicht immer recht haben wollen, du darfst nicht immer denken, die Welt dreht sich so, wie du sie siehst. Sie ist anders, ganz anders … Auch ich weiß nicht, wie sie ist … Wir dürfen in ihr leben, ist das nicht genug? Und wenn wir uns in ihr lieben dürfen, wird sie ein Paradies sein …«

»Sie ist ein Paradies«, sagte Heinrich Emanuel fast feierlich. Dann nahm er den schmalen Kopf Amelias zwischen seine Hände und küsste sie lange, vorsichtig, als sei sie zerbrechlich, und mit geschlossenen Augen, um seine schreckliche Umgebung nicht bei diesem Kusse zu sehen.

»Schönen guten Tag!«, sagte über ihnen eine Stimme. Sie fuhren wie zwei ertappte Diebe auseinander und starrten den dichten Haselnussbusch hinauf. Über den oberen Zweigen glotzten zwei Pferdeaugen auf sie herab. Darüber schwebte, scharf gezeichnet gegen den blauen Herbsthimmel, das Gesicht Leutnant Petermanns.

»Der Kaiser will Sie sprechen, Fähnrich«, sagte er schnarrend. Und dann – gehässig, langgezogen: »Melden Sie sich bei Herrn Hauptmann, wenn Sie Ihren – ehem – zweiten Manöversieg genug gefeiert haben.«

Das Gesicht Petermanns verschwand, der Pferdekopf raschelte durch die Zweige zurück. In leichtem Trab entfernte sich der Reiter.

Heinrich Emanuel Schütze umklammerte seinen Helm und riss an dem feldgrauen Überzug. »Ein Schwein ist er! Ein richtiges Schwein!«, stöhnte er. »Wenn ich auch Leutnant wäre, würde ich ihn fordern. Auf Säbel! Ich würde –«

»Geh erst zum Kaiser.« Amelia v. Perritz erhob sich, strich ihr Spitzenkleid gerade und zupfte einige Grashalme aus den geklöppelten Mustern. »Bitte ihn um Gnade, Heinrich –«

»Ich werde –«

»Bitte ihn …«

»Wenn ich recht habe –«

»Denk nur daran, dass wir uns lieben. Dass ich dich liebe.«

Er nickte, setzte seinen Helm auf das blonde Haar, schob das Koppelschloss gerade, rückte den Schlepper an die Seite und ging hoch erhobenen Hauptes um den Haselnussstrauch herum.

Leutnant Petermann und Hauptmann Stroy standen in einiger Entfernung zusammen. Es war, als hätten sie ihn erwartet. Ob Petermann es ihm gesagt hat, das mit Amelia und mir?, dachte Schütze.

Mit schnellen Schritten ging er auf sie zu. Drei Schritte vor ihnen blieb er stehen, grüßte und sagte mit heller Stimme, als kommandiere er und nicht die anderen:

»Fähnrich Schütze bereit zur Verfügung Seiner Majestät!«

»Auch noch frech werden«, sagte Hauptmann Stroy. In seiner Stimme lag Verachtung, ja fast Ekel. »Kommen Sie mit … an Ihrer Stelle würde ich mir ehrenvoll eine Kugel durch den Kopf schießen.«

»Zu Befehl!« Heinrich Emanuel Schütze sah seinen Hauptmann mit starrem Blick an. »Aber ich habe für das Manöver nur Platzpatronen bei mir –«

Die Kaiserin Auguste Viktoria war schon abgefahren. Mit ihr die Prinzessinnen v. Pleß, die Leiblakaien, die Hofdamen, die Prinzessinnen von Sachsen.

Die Manöverkritik der unteren Stäbe war abgeschlossen. Sie war für die Gruppe Rot saumäßig. Generalleutnant v. Surrenkamp nahm die allerhöchste Kritik mit unbewegtem Gesicht entgegen. Die Generalmajore und Obersten wussten bereits, was sie an ihre Offiziere weitergeben würden und wie lange das Ausgehverbot, die Urlaubssperre und das Strafexerzieren dauern würden.

Umringt von Kriegsminister v. Falkenhayn, Generaloberst v. Moltke, General v. Scholl, den sächsischen und griechischen Majestäten und dem eleganten Erzherzog Franz Ferdinand wurde von Oberst v. Fehrenberg der kleine Fähnrich Schütze auf den Feldherrnhügel geführt. Sein rundes Gesicht war gerötet. Während der Oberst ritt, hatte er an der Seite des Pferdes mitlaufen müssen. »Sie haben doch solchen Schneid, nicht wahr?«, hatte der Oberst gebrüllt, als Schütze keuchend und außer Atem einmal stehenblieb und sich den in Bächen über sein Gesicht ergießenden Schweiß abwischen wollte. »Zu schlapp, um zu laufen … aber den Kaiser besiegen wollte er, der Knabe!«

Mit zitternden Beinen stand Heinrich Emanuel vor Kaiser Wilhelm II. Zum ersten Mal sah er den Kaiser aus der Nähe. Der blanke Helm blendete ihn. Das hellgraue, ins Blaue schimmernde Tuch des langen Mantels, der bis zur Erde reichte, flimmerte vor seinen Augen. Und aus diesem Wirrwarr von Tuch und Helmglanz schälte sich ein kleines Gesicht mit stechenden Augen und einem nach oben gezwirbelten Schnurrbart, ein schmaler Mund und eine helle Stimme, die über ihn hinwegglitt wie seine Kopfhaut schabendes Eis.

»Der Fähnrich Schütze, Majestät!«, meldete Oberst v. Fehrenberg. General v. Scholl betrachtete den mittelgroßen Soldaten mit dem schweißaufgeweichten Kindergesicht, den zitternden Knien und der mühsam gestrafften Haltung. Ein größenwahnsinniges Würstchen, dachte er und musste fast lächeln. Man sollte ihn der Heerespsychiatrie überweisen. Vielleicht war er ein Beispiel verminderter Zurechnungsfähigkeit. Das wäre immerhin ein Argument, das auch Majestät verstehen und akzeptieren könnte.

Der Kaiser sah auf den Fähnrich herab wie eine Bergkuppe auf einen dörflichen Misthaufen. Er ließ sich Zeit, ihn anzusprechen. Er musterte seinen »Gegner« eindringlich, erst mit den Augen des Soldaten, dann mit dem Blick des Monarchen, schließlich mit dem Blinzeln des Menschen.

»Sie also sind es«, sagte Wilhelm II.

»Jawohl, Majestät!«, keuchte Heinrich Emanuel Schütze.

»Sie wollten mich besiegen?«

»Nein, Majestät.«

»Aber Sie haben doch …«

»Jawohl, Majestät!«

»Ja oder Nein?«

»Ich … ich sah eine kleine Möglichkeit, Majestät …«

»Warum lösten Sie Ihre Schützenlinie auf?«

»Um den angreifenden Truppen weniger Ziele zu bieten und sie in Verwirrung zu bringen, Majestät …«

Oberst v. Fehrenberg sah hilfesuchend auf General v. Scholl. Ein Irrer, sagte sein Blick. Unzweifelhaft ein Irrer. Er wagt es, dem Kaiser Taktik beizubringen.

Wilhelm II. legte sein Kinn eng an den Uniformkragen. Mit einem Seitenblick auf den verzweifelten v. Scholl und den konsternierten v. Falkenhayn hob er die Hand und legte sie auf seinen Degenknauf.

»Das ist gegen das Exerzierreglement.«

»Jawohl, Majestät!«

»Was haben Sie sich dabei gedacht?«

»Dass es Krieg sei, Majestät. Und in einem Krieg ist der Erfolg allein ausschlaggebend. Auf die Mittel kommt es nicht so sehr an …«

»Danke.«

Der Kaiser drehte sich herum, ließ Heinrich Emanuel Schütze stehen und begann eine Unterhaltung mit dem König von Sachsen. General v. Scholl winkte, als sollte Ungeziefer beseitigt werden.

»Kommen Sie, Sie Idiot«, schnaufte Oberst v. Fehrenberg leise. »Das war das Letzte, was Sie sich geleistet haben. Ich werde Sie in eine Irrenanstalt bringen lassen.«

Mehr rutschend als gehend verließ Heinrich Emanuel den Feldherrnhügel. Unten, auf dem Feld, sah er noch einmal zurück auf den Kaiser. Er sprach mit dem Erzherzog und lachte. Die Könige und Generale um ihn herum lachten mit. Ihre Uniformen blitzten in der Abendsonne. Es war ein schönes Bild, so wie es die Hofmaler riesengroß an die Saalwände malten.

»Worauf warten Sie noch?«, brüllte Hauptmann Stroy, der unterhalb des Hügels Schütze in Empfang nahm. »An den Tag sollen Sie noch denken, wenn Sie schon Urgroßvater sind! Drei Wochen Ausgehverbot für die ganze Division! Es wird ein Wunder sein, wenn man Sie nicht lyncht!«

Für die Nacht gab es als Abschluss des Manövers ein Biwak auf freiem Feld. Hunderte von Lagerfeuern loderten über das Manövergelände … der Wind, der von Süden kam, nahm den Geruch von hunderten Feldküchen mit und wehte ihn über Schlesien. Nudelsuppe … Erbsensuppe … Goulasch …

Unter Zeltplanen schliefen die Regimenter. Erkundungstrupps schwärmten in die nahen Dörfer und suchten Mädchen. Vor allem die Berliner. »Ohne Puppe im Arm is det keen Pennen«, sagten sie.

Etwas abseits von der 2. Kompanie, wie ein Aussätziger, lag Heinrich Emanuel Schütze. Er hatte eine Zeltplane über seinen Kopf gedeckt und schrieb im Licht einer Kerze einen kurzen Brief. Das Papier hatte er auf den Deckel seines Kochgeschirrs gelegt. Es bekam einige Fettflecke … doch wen kümmerte das noch?

»Leb wohl«, schrieb er, »Du hattest recht, Amelia. Es wäre dumm, an eine Zukunft zu denken. Ich werde nach dem Manöver sicherlich aus der Armee entlassen werden und dann zurück nach Breslau gehen. Zu meinen Eltern. Was ich dann tun werde, ich weiß es noch nicht. Aber wiedersehen werden wir uns nie mehr. Darum leb wohl. Ich werde nie aufhören, dich zu lieben.

Heinrich Emanuel.«

Eine Woche später, in der Kaserne in Schweidnitz, wurde der Fähnrich Heinrich Emanuel Schütze auf allerhöchsten Befehl zum Leutnant befördert. Vom Kompaniechef bis zum General wunderte sich jeder über das Wohlwollen Seiner Majestät.

Als Leutnant Petermann die Nachricht brachte und sie Schütze unter Bruch des Amtsgeheimnisses mitteilte, brach Heinrich Emanuel in Tränen aus und weinte wie ein kleines Kind.

»Sie bekommen auch noch drei Wochen Urlaub«, sagte Hauptmann Stroy, als er Schütze die Ernennung zum Leutnant bekanntgab. »Sofort nach Überreichung des Patentes durch Seine Exzellenz können Sie fahren. Sie fahren zu Ihren Eltern nach Breslau?«

»Jawohl, Herr Hauptmann.«

Stroy streckte ihm die Hand entgegen. Aber man sah ihm an, dass er es widerwillig tat.

»Ich gratuliere, Herr Leutnant!«

»Verbindlichsten Dank, Herr Hauptmann.«

Leutnant Schütze verbeugte sich knapp, korrekt, zackig. Am Abend des gleichen Tages, an dem er sein Leutnantspatent erhielt, fuhr er mit dem letzten Zug nach Trottowitz, nicht nach Breslau.

Eine Kutsche des Freiherrn v. Perritz erwartete ihn am Bahnhof.

II

In eine Ecke der Kutsche gedrückt, ließ sich Schütze durch die nachtstillen Felder zum Gut fahren. Er sah im schwachen Schein der an den Seiten der Kutsche hin und her pendelnden Petroleumlampen die starren, phosphoreszierenden Augen streunender Hunde, ein Reh, das noch schnell vor dem Gefährt über den Weg wechselte, eine Wildsau, die schnaufend eine Strecke vor den Pferden her rannte und dann in das Unterholz des Perritzschen Waldes einbrach.

Heinrich Emanuel lehnte sich zurück. Er hatte das Gefühl, zu seiner eigenen Hinrichtung zu fahren. Als er Amelia gleich nach dem Bekanntwerden seiner Beförderung eine Depesche schichte, hatte sie ihm zurücktelegrafiert: »Komm zu uns. Papa weiß von nichts. Ich werde versuchen, mit ihm über dich zu sprechen …«

Ob sie es getan hatte, was Freiherr v. Perritz gesagt hatte, was er auf dem Gut vorfinden würde, das alles wusste Schütze nicht. Er tappte ins Unbekannte hinein, unvorbereitet, als einzigen Ausweis seiner Qualifikation sein noch nach frischer Tinte riechendes Leutnantspatent in der Tasche.

Zwischen den Bäumen einer Allee aus Ulmen und Pappeln tauchten die ersten Lichter aus der Dunkelheit. Der Weg wurde besser … das Holpern wich einem sanften Gleiten der Räder über festgestampften Kies. Der Kutscher auf dem Bock drehte sich herum.

»Soll ich abschirren, oder fahren Herr Fähnrich –«

»Leutnant«, verbesserte Schütze sanft. Der Kutscher sah auf die Rangabzeichen. Heinrich Emanuel trug noch seine Fähnrichsuniform.

»Oh, gerade geworden? Ich gratuliere, Herr Leutnant. Fahren Herr Leutnant zurück nach Trottowitz?«

»Ich … ich weiß nicht … Lassen Sie die Pferde mal angeschirrt.«

Die Kutsche bog in die Auffahrt des Gutes ein. Das Herrenhaus leuchtete schwach mit wenigen erhellten Fenstern. Der überdachte Eingang wurde von einigen großen Säulen getragen. Eine Freitreppe führte zu ihm empor. In der Dunkelheit wirkte das Haus wie ein riesiger Palast. Der Anblick drückte Heinrich Emanuel völlig nieder. Auch wenn er das Haus schon kannte und bereits dreimal auf den Stufen der Eingangstreppe gestanden und sich von Frau v. Perritz mit einem angedeuteten Handkuss verabschiedet hatte … jetzt kam ihm das Gut wie eine uneinnehmbare Burg vor, wie ein Sagenschloss, in dem ein wilder Drache die schöne Prinzessin bewacht. Er selbst aber kam sich durchaus nicht wie ein Siegfried vor, eher wie ein Verzauberter, der blindlings in sein Verderben rennt.

Die Hufe der Pferde klapperten über die gepflasterte Auffahrt. Die Tür des säulengetragenen Eingangs öffnete sich. Ein alter Diener trat heraus. Er trug ein flackerndes Windlicht in der Hand, hob es hoch und leuchtete auf die Stufen, vor denen die Kutsche ruckartig hielt.

»Brrr!«, rief der Kutscher. Es war der einzige Laut, der die Nacht unterbrach. Nicht einmal ein Hund bellte.

Heinrich Emanuel Schütze kletterte aus dem Gefährt. Er ergriff seinen Blumenstrauß, knöpfte seinen Uniformmantel bis zum letzten Knopf zu, kontrollierte noch einmal den Sitz seiner Mütze und kam dem alten Diener langsam entgegen.

»Die Frau Baronin wartet«, sagte der Lakai. »Bitte –«

»Und der Herr Baron?«

Der Diener sah Schütze distinguiert an. »Ich weiß nicht, ob es im Plan des Herrn Barons liegt, Sie zu empfangen …«