Impressum

Rudi Benzien

Berlin, hier bin ich

 

ISBN 978-3-96521-165-0 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1979 im Verlag Neues Leben, Berlin

 

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Personen und Handlung sind frei erfunden. Entstehende Ähnlichkeiten sind nicht beabsichtigt.

Ganz schön sauer werde ich

Ganz schön sauer werde ich, wenn ich den Spruch höre: О diese Jugend von heute, wir früher waren aus anderem Holz, und überhaupt hatten wir es schwerer, denen wird doch Zucker in den Arsch geblasen.

 

Es war Sommer.

Ich hatte meinen letzten Urlaub bei der Fahne, einen verdammt kurzen Haarschnitt und die Zivilerlaubnis in der Tasche.

Trotzdem war meine Stimmung mehr als mies, denn in meiner Brieftasche steckte seit vierzehn Tagen hinter einem gewissen Foto ein ziemlich zerknitterter Brief. Von Katrin. Und ich hatte gedacht, sie sei die Frau fürs Leben.

„Lieber Detti,

ich habe lange überlegt, ob ich Dir schreibe oder ob ich es Dir sage, wenn Du kommst.

Es war alles ein Irrtum, das mit uns! Ich habe einen anderen kennengelernt, es ist die große Liebe, wenn Du weißt, was das ist.

Mit uns ist es aus, Detti. Sei mir nicht böse.

Katrin“

Erst hatte ich das für einen Witz gehalten. Aber es war keiner!

Nun bin ich keiner von denen, die deshalb gleich ins Wasser gehen, aber geschafft war ich doch. Als ich damals vom Ausgang zurück in die Kaserne lief, mussten mir zwei Kumpel kräftig unter die Arme greifen, damit ich senkrecht an der Wache vorbeikam. Nicht der Brief störte mein Gleichgewicht, jedenfalls nicht direkt, sondern zehn doppelte Weizendoppelkorn.

Und nun war ich zu Hause: Urlaub ohne Braut, ein tristes Wochenende lag vor mir. Ich hatte mir alles ganz anders vorgestellt.

Abends ging ich in den Klub. Da saßen meine alten Freunde, rissen die alten Witze, lästerten über meinen gepflegten Haarschnitt und zogen mich mit Katrin auf.

Zum Glück steckte Mario, mein alter Freund Mario, seinen Kopf durch die Tür. Er sah mich, stürzte auf mich zu und brach vor lauter Wiedersehensfreude fast in Tränen aus.

Lange blieben wir nicht.

„Ich hab ’ne irre Platte ergattert, Cat Stevens, wenn du willst, gehen wir zu mir, was Feuchtes müsste sich auch noch finden lassen“, schlug er vor.

Ich hatte nichts dagegen.

Die Platte war nicht übel, im Kühlschrank von Marios Mutter fand sich tatsächlich eine angebrochene Flasche Rotwein, einer von der sauren Sorte. Wir redeten wie die alten Männer von früher, von den Heldentaten der letzten Schuljahre, von den Leiden unserer gemeinsamen Lehrzeit, doch so richtig in Stimmung kamen wir nicht. Das kann an diesem Cat Stevens gelegen haben, aber auch an dem sauren Rotwein, der sehr schnell alle war.

„Und was machst du am Sonnabend und Sonntag?“, fragte Mario.

Da konnte ich nur mit den Schultern zucken.

„Mensch, ich hab eine Idee. Meine Freundin in Iltenberg hat eine eigene Wohnung, da können wir hinfahren. Wird unheimlich was los sein am Wochenende in Iltenberg, Tausendjahrfeier, Beatgruppen von der schärfsten Art, Buden, Bockwurst, Rummel. Da brausen wir morgen hin.“

Was sollte ich dabei, wenn Mario zu seiner Freundin fuhr?

„Junge, mach dir mal keine Sorgen, für dich wird sich auch was finden, also sei kein Frosch und komm mit“, sagte Mario entschieden.

Am nächsten Mittag sattelte er sein Moped, und bald schlichen wir in Richtung Iltenberg. Mehr als fünfunddreißig Kilometer in der Stunde machte das Ding mit zwei Mann nicht.

Ja, da knatterten wir, ohne es zu ahnen, in eine Sache hinein, von der manche Leute noch eine ganze Weile reden würden und die für mich nicht ohne Folgen bleiben sollte. Aber immer schön der Reihe nach.

Wir schienen in eine Art Völkerwanderung geraten zu sein. Je mehr wir uns Iltenberg näherten, desto dichter wurde der Strom der Mopeds und Motorräder. Tramperkumpel lagen mit ihren Kutten und Marschgepäck im Straßengraben und warteten auf mildtätige Autofahrer, die sie nach Iltenberg mitnehmen würden.

Mario drehte sich zu mir um und brüllte: „Mein lieber Mann, das wird ein großes Ding, mächtig gewaltig …“

Das wurde es dann ja auch, aber anders, als wir uns beide das dachten.

Als wir in Iltenberg einritten, waren die Straßen schon ganz schön dicht bevölkert. Wir parkten unser Klappermoped hinter einem Müllcontainer und besichtigten das Festgelände.

Im Park hatten sie ein paar Freilichtbühnen aufgebaut, davor auf der Wiese lagerten jede Menge Wochenendhippies aus allen Gegenden unseres Landes. Auf den Bühnen war es noch still. An den Bockwurst- und Getränkebuden herrschte gewaltiges Gedränge. Es tat sich also noch so gut wie nichts.

„Das wird schon noch“, tröstete mich Mario, „wenn die Bands ihren Betrieb aufnehmen. Jetzt gehen wir erst mal zu Fipsy, sie wohnt gleich neben dem Markt.“

„Willst du nicht lieber allein hingehen, ist vielleicht besser?“

„Quatsch, du kommst mit.“

Am Markt haben sie da einen hübschen alten Brunnen. Als wir daran vorbeikamen, war gerade irgendetwas im Gange. Wir drängelten uns durch die Menge, um sehen zu können, was da lief.

Auf dem Brunnenrand standen etwa zwölf von der Sorte mit den hautengen abgewetzten Jeans und den Parkakutten, in denen man wohnen kann. Bei genauerem Hinsehen bemerkten wir, dass sie den Brunnen für eine öffentliche Bedürfnisanstalt hielten und kollektiv ins Wasser schifften. Mütter zogen ihre Kinder weg, Männer im Sonntagsstaat schimpften über diese Sauerei.

Ich schämte mich für diese Idioten auf dem Brunnenrand. Diese Kerle hätte man aus dem Verkehr ziehen müssen. Aber von unseren Ordnungshütern keine Spur. Wir traten den Rückzug an. Oder hätten wir uns da einmischen sollen?

Fipsy war zu Hause. Sie öffnete die Tür, fiel Mario um den Hals, und gleich ging eine große Küsserei los. Fipsy hatte mich nämlich noch nicht entdeckt. Nach einer Weile räusperte ich mich laut und unüberhörbar.

Sie ließ von Mario ab und sagte: „Ach, da ist ja noch einer.“

Ob sie dabei rot wurde, konnte ich im dunklen Treppenhaus nicht sehen.

„Das ist ein alter Kumpel von mir, hat gerade Urlaub, Armist, muss mich etwas um ihn kümmern, hat Probleme mit der Liebe und so“, erläuterte Mario im Telegrammstil die Situation.

„Na los, kommt schon rein“, sagte das Mädchen.

Donnerwetter, das hätte ich Mario nicht zugetraut. Diese Fipsy – der Name passte überhaupt kein bisschen zu ihr, und eigentlich hieß sie auch Carmen –, diese Fipsy hätte glatt zum Film gehen können, aber nicht zur DEFA, sondern zum französischen Film, so sah sie aus. Schwarze Haare, lang bis zum Gürtel, Augen braun wie Kastanien, von der Brust will ich gar nicht erst reden – bis zu den Beinen runter stimmte alles. Ob Mario wusste, was er für ein Glückspilz war?

Während sie in der Küche Tee kochte, rief sie: „Dein Freund kann hier schlafen, wenn er nichts Besseres hat, ich stelle die Campingliege in der Küche auf.“

Ich sah mich im Zimmer um.

Jede Menge Bücher in einem Regal, das über die ganze Wand ging, vom Fußboden bis an die Decke. Dazwischen bunte Gläser. In der Nähe des Fensters stand eine Schneiderpuppe, an der Wand gegenüber dem Regal hingen lauter Blätter mit Modezeichnungen. Wenn sie die selber gemacht hat, dann musste sie ganz schön Ahnung von solchen Sachen haben.

Aber das Schärfste war etwas ganz anderes: Auf einem Wandbord hinter einer selbst gebauten Sitz- und Kuschelecke stand ein Stereogerät mit vier Stereokopfhörern, hinter jedem Sitz einer. Das schmiss mich um. Die Platten, die ich sah, jagten mir allerdings einen Schreck ein. Bach, Beethoven, Tschaikowski, Mozart – das war nicht die Musik, die mich vom Sitz reißen konnte.

Bevor ich mit meiner geheimen Besichtigung zu Ende war und während Mario in einem Bildband über irgendeinen Maler interessiert blätterte, kam Carmen mit dem Tee.

Plötzlich durchfuhr mich der Gedanke: Wenn sie jetzt eine Kerze anzündet und uns Bach vorspielt, ist sie eine Ziege.

Blödsinniger Gedanke! Warum sollte sie am helllichten Tag eine Kerze anzünden?

Wir schlürften den Tee ohne Kerze, ohne Bach. Aber trotzdem, irgendwie hatte ich Minderwertigkeitskomplexe. Das kam von den vielen Büchern und Bach und Beethoven und Mozart.

Dabei, ganz unbelesen bin ich auch nicht. „Wie der Stahl gehärtet wurde“, „Der Schimmelreiter“, „Fachkunde für Maschinenschlosser“. Pflichtliteratur. Na und? Gelesen ist gelesen. Außerdem habe ich mal, als ich die Grippe hatte, ein irres Buch gelesen, „Die Herren des Strandes“ hieß es, Junge, das war mir an die Nieren gegangen.

Ich sah mich im Bücherregal um. Unauffällig, versteht sich, aber „Die Herren des Strandes“ entdeckte ich nicht. Aha, dachte ich mir, da wirst du gleich mal vorführen, dass Detlef Kallinger ein Mann ist, der auch was von Literatur versteht.

Ich schlürfte einen mächtigen Schluck Tee und sagte dann: „Sie haben ja eine ganze Menge Bücher, alle Achtung. Aber haben Sie schon mal ,Die Herren des Strandes‘ gelesen? Das ist ein Buch, sage ich Ihnen, das muss man gelesen haben.“

Mario sah mich von der Seite komisch an und zeigte mir versteckt einen Vogel.

Das Mädchen Carmen tat interessiert.

Tja, meine Liebe, dachte ich, da staunst du, was für ein exzellenter Literaturkenner ich bin.

Aber dieses Hochgefühl dauerte nur wenige Sekunden.

„Da lieben Sie wohl Jorge Amado?“, fragte sie mich.

Nanu, Amado, wer soll denn das sein? Sicherheitshalber sagte ich: „Das kann man wohl sagen, dass ich den über alle Maßen gern mag.“

Sie darauf: „Was haben Sie denn noch von ihm gelesen?“

Junge, jetzt saß ich in der Tinte. Jetzt hätte ich am liebsten angefangen von Links- und Rechtsgewinden zu reden, von Schnittgeschwindigkeitsberechnungen und Metallhärteverfahren. Davon verstehe ich nämlich wirklich was. Aber ich wollte nicht unfair sein, denn davon würde sie kein Wort begreifen.

Sie lächelte mich freundlich oder vielleicht auch hinterhältig an und wartete auf meine Antwort.

Da kam mir Mario zu Hilfe. „Ist ja schön, dass ihr so hochgeistige Gespräche führt, aber was haltet ihr davon, wenn wir uns unters Volk mischen? Die nächste Tausendjahrfeier findet erst in tausend Jahren statt. Inzwischen werden auch die Gruppen spielen …“

Ich war gerettet. Fürs Erste.

Wir gingen.

Die Brunnenpinkler waren verschwunden. Auf dem Festgelände herrschte wildes Getümmel, aber auf den Bühnen standen nur die Verstärkeranlagen der Gruppen. Mario blätterte im Festprogramm.

„Die müssten alle schon seit einer Stunde spielen“, sagte er und hielt seine Armbanduhr ans Ohr.

Plötzlich wurde es beklemmend still. Alle Blicke richteten sich nach oben. Da musste etwas Sensationelles geschehen.

Einer von diesen Parkatypen kletterte wie ein Affe einen Gittermast hoch. Von dort war zu einem anderen Mast ein Seil gespannt. Am nächsten Tag sollte hier eine Hochseilartistengruppe auftreten. Der Knabe musste verrückt sein oder voll Schnaps oder beides zusammen.

Ein paar Polizisten standen am Fuß des Mastes. Unschlüssig sahen sie nach oben. Was sollten sie tun?

Der Verrückte kletterte tatsächlich bis zur Mastspitze, schrie etwas, was sich wie „Wilmaaa!“ anhörte, und begann wieder abzusteigen. Unten gab es ein Gedränge und Geschiebe, in dem es dem Kletterer gelang, zu entwischen. Was seine Kumpel, die in Scharen auf der Wiese lagen, mit wüstem Gejohle feierten.

„Diese Stimmung hier gefällt mir kein bisschen“, sagte Carmen, „wenn ihr wollt, verschwinden wir. Bei mir zu Hause können wir Platten hören, und ein paar Freunde trommle ich auch noch zusammen …“

Ich befürchtete, dass dann vielleicht das Literaturgespräch weitergehen könnte. Das wollte ich hinausschieben.

„Ein bisschen können wir uns ja noch umsehen“, sagte ich, „irgendeine Gruppe muss doch jeden Moment zu spielen anfangen.“

Mario enthielt sich der Stimme.

Ich hätte auf Carmen hören sollen. Das konnte ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Und hinterher ist es immer leichter, schlau zu sein.

Also wir blieben und wanderten in Richtung der Bratwurstbuden durch die Menge, die immer noch erwartungsvoll auf der Festwiese lagerte.

Erst dachte ich, ich spinne, aber mein Auge sah richtig: Da lagen mitten im Getümmel zwei unter einer Decke und bewegten sich in einem Rhythmus, zu dem keine Musik spielte.

Die Leute, die mit ihren Kindern unterwegs waren, machten ihrem Ärger laut Luft. Obwohl es vielleicht nur die zwei waren, die sich hier derart betätigten, dass sogar ich rot wurde, hörte man solche Sprüche: „Das ist also die Jugend von heute.“ – „Früher hat es so etwas nicht gegeben.“ – „O diese Jugend! Man müsste sie alle …“

Ehrlich, solche Sprüche regen mich nun auch wieder auf. Die auf dem Brunnenrand, der verrückte Mastbesteiger und die zwei auf der Wiese das ist doch nicht DIE JUGEND. Die meisten verhielten sich ordentlich, wollten Musik hören, die übrigens immer noch nicht spielte. Ich glaube, fast alle waren solche wie Mario, Carmen und ich.

Als ich das so dachte, ahnte ich noch nicht, dass es bald zu einem Stimmungsumschwung kommen sollte, was aber meine Meinung kein bisschen geändert hat.

Carmen tat, als hätte sie das auf der Wiese gar nicht gesehen. „Na, wer spendiert Bratwürste?“

Ich ging sofort darauf ein. „Natürlich ich, für jeden einen halben Meter, wenn’s sein muss.“

„Lass das mal lieber“, sagte Mario großspurig, „du mit deinem mageren Soldatensold …“

An der Bratwurstbude stand eine lange Schlange. Vor uns in der Reihe wartete ein Opa mit seinem Enkelkind. Als der Opa dran war, seine zwei Würste vor ihm auf einem Pappteller lagen und er umständlich in seinem Portemonnaie wühlte, kamen drei von diesen Wiesen- und Brunnenrandhippies, griffen sich, schwupp, die beiden Würste und fraßen sie schmatzend.

Der Opa geriet aus der Fassung. „Bodenlose Frechheit“, schimpfte er, „wo gibt es denn so was, wenn ich jünger wäre, ich würde euch …“

„Riskier nicht so ’ne große Lippe, Alter, buch das ab unter Solidarität, kannst dir dafür drei Pluspunkte anschreiben“, höhnte der eine.

Da schlug meine Stunde – oder besser, mir platzte der Kragen. Ich trat einen Schritt vor. „Hört mal, das ist Scheiße, was ihr da macht …“

„Atze, der Kumpel bittet um eine Zahnbehandlung“, sagte da einer von den dreien. Und ehe ich recht reagieren konnte, riss mich einer an der Schulter herum, und ich kriegte eine Faust ins Gesicht.

Der Hieb war nicht von Pappe. Da wusste ich, mit Diskutieren war hier nichts zu machen. Ich schlug zurück, Magengrube plus Kinnhaken. Das Großmaul lag im zertretenen Gras vor der Bude. Aber da waren noch zwei. Mario und ich teilten sie uns. Als wir kurz vor dem Sieg standen, packte mich plötzlich jemand mit unheimlich geübtem Griff am Arm und riss ihn mir auf den Rücken, dass ich die Engel singen hörte.

Bevor ich recht begriff, was eigentlich los war, landete ich ziemlich unsanft auf dem harten Boden eines Polizeiautos. Auf die gleiche Weise kamen Mario und die drei Radaubrüder angeflogen.

Ich sah, wie Carmen auf einen der Polizisten einredete. Was sie sagte, konnte ich nicht hören. Was der Polizist sagte, hörte sich so an: „Das können Sie nachher alles auf der Wache erzählen.“

Drei Polizisten sprangen auf den Wagen, und ab ging die Post. Ich dachte, das ist das Ende des Urlaubs des braven Soldaten Detlef Kallinger.

Mario, der neben mir saß, sagte zuversichtlich: „Was kann uns schon passieren, schließlich …“

„Sie haben den Mund zu halten, nachher, wenn Sie gefragt werden, sind Sie dran, verstanden“, sagte barsch einer der Polizisten.

Wir verzichteten auf weiteren Wortwechsel.

Auf der Wache wurden wir in einen großen Raum geführt. Etwa zwanzig von der Sorte, die dem Opa die Bratwurst weggenommen hatten, waren schon versammelt.

Mann, wo waren wir da hingeraten? Mir war recht mies zumute, das gebe ich nachträglich gern zu.

Mario sagte, wohl um mich zu ermuntern und sich selbst Mut zu machen: „Was soll uns schon passieren, wir haben doch mit dem ganzen Hokuspokus nichts zu tun.“

Überzeugend klang das nicht. Mir zog der Spruch durch die Gehirnwindungen: mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.

Die drei, mit denen wir im Gefecht gestanden hatten, saßen in der äußersten Ecke des Raumes und warfen uns scheele Blicke zu. Sonst geschah erst mal eine Weile nichts, aber dann geschah ein kleines Wunder: Ein junger Polizist, der mit auf dem Wagen gesessen hatte, kam auf uns zu. „Ihr zwei habt mehr Glück als Verstand“, sagte er, „los, kommt mit.“

Wir gingen durch einen langen Flur und wurden in ein Zimmer gebracht, das durch einen Tresen geteilt war.

Und da kam erst die eigentliche Überraschung! Am Tresen stand der Opa von der Bratwurstbude und schimpfte wie ein Rohrspatz. „So was ist mir mein Lebtag nicht passiert, Herr Wachtmeister, ich stehe also mit dem Kind, was mein Enkel ist, will die Wurst bezahlen, und was soll ich Ihnen sagen …“

In diesem Augenblick nahm er uns wahr und wies auf uns. „Ja, das sind sie, das sind sie!“

So recht wussten wir in diesem Moment nicht, ob das nun was Positives war oder nicht.

„Das sind also diejenigen, die Ihnen die Wurst weggenommen haben?“, fragte der Polizist hinter dem Tresen.

„Nicht doch, Herr Wachtmeister, das sind die beiden, die sich eingemischt haben und von diesen Gammlern verprügelt wurden.“

Eigentlich wollte ich protestieren, schließlich hatten wir’s ihnen auch ganz schön gegeben, aber aus taktischen Gründen schwieg ich.

„Aha“, sagte der Polizist, „wollen Sie gegen die drei anderen Anzeige erstatten, Bürger?“

„Nicht doch, Herr Wachtmeister, ich bin gekommen, damit Sie wissen, dass Sie diese beiden gleich wieder freilassen müssen, weil die mir doch beigestanden haben.“

Der Polizist nahm die Personalien des Opas auf, und bevor der Alte den Raum verließ, drückte er jedem von uns die Hand. „Ein Glück, dass es auch solche wie euch gibt!“ „Nun zu Ihnen“, sagte der Polizist und blätterte in unseren Ausweisen, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. „Sie sind also Armeeangehöriger, und Sie glauben, Sie hätten sich richtig verhalten?“

Damit war ich gemeint. Durch den Auftritt des Opas hatte ich wieder Oberwasser gewonnen.

„Ich denke schon“, sagte ich, „wir wollten keine Prügelei. Aber wenn einer einem in die Schnauze haut, muss man ja wohl nicht stillhalten.“

„Sie hätten sich an die Sicherheitsorgane wenden können, Prügel sind keine Argumente.“

Ach, du ahnungsloser Mensch, dachte ich bei mir, wenn du schon die Faust im Gesicht hast, da hol mal einen Sicherheitsorganmenschen. Aber ich sagte nichts. Das schien er für Reue und Einsicht und alles so was zu nehmen.

„Nun ja“, sagte er. „Sie haben Glück gehabt, dass der Bürger für Sie ausgesagt hat. Lassen Sie sich das eine Lehre sein. Um eine Meldung an Ihre Einheit werden wir allerdings nicht herumkommen. Und in Ihrem Fall“, sagte er zu Mario, „werden wir Ihren Betrieb in Kenntnis setzen.“

Das juckte uns wenig, schließlich war unser Gewissen engelrein. Der Polizist schrieb allerhand auf einen Zettel, gab uns die Ausweise zurück, und wir durften gehen.

Auf der Treppe sagte ich zu Mario: „Verdammt, das hätte ins Auge gehen können, wenn der Opa nicht gekommen wäre.“

„Hätte ins Auge gehen können, ist gut, solltest mal in den nächsten Spiegel sehen. Auf deinem linken Auge blüht ein Veilchen, so groß wie eine holländische Tulpe.“

Als ich mein Auge und die nähere Umgebung befühlte, tat es ganz schön weh.

Vor der Tür wartete Carmen auf uns. Mir schien, sie hielt uns für Helden. Besonders mich, nahm ich an.

Zum Festpark gingen wir nicht mehr.

Ich kenne allerhand Sachen

Ich kenne allerhand Sachen, die nicht in Ordnung sind. Ich wüsste auch, wie man sie besser machen könnte. Aber auf mich hört ja keiner!

Am liebsten wär ich nach Hause gefahren, aber Carmen hatte ein Programm.

Mario und ich bekamen den Auftrag, ein paar Flaschen Rotwein zu besorgen.

„Und ich trommle inzwischen ein paar Leute zusammen. Passt schön auf, Jungs, dass ihr nicht wieder verhauen werdet“, sagte Carmen, und weg war sie.

Wir hätten zu den Buden im Park gehen können, um den Wein zu kaufen, aber wir hatten keine rechte Lust, diese Richtung einzuschlagen. Also begaben wir uns in ein Lokal von der feineren Sorte und bestellten uns jeder eine Flasche Pilsener Urquell. Eine äußerst alberne Serviererin empfahl es uns mit den Worten: „Das gibt es immer nur, wenn Tausendjahrfeier ist.“

Bei der einen Flasche blieb es nicht. Als wir gingen, jeder mit drei Flaschen Rotwein im Arm, war es schon ziemlich spät.

Carmen empfing uns mit vorwurfsvollem Blick. „Ihr habt euch ganz schön Zeit gelassen. Die anderen sind längst da und sitzen auf dem Trockenen.“

Sie nahm uns die Flaschen ab und schob uns ins Zimmer. Da saßen zwei Mädchen und ein Knabe, der doch wahrhaftig ein FDJ-Hemd anhatte.

Mario kannte sie alle. „Das sind Bodo und Manja, und das ist Kerstin“, stellte er sie mir vor.

Ich reichte allen die Hand und ließ mich in einen Sessel fallen. Die Lage war übersichtlich. Dieser Blauhemd-Bodo und diese Manja gehörten zusammen, diese Kerstin war solo, ich war es auch …

Carmen nahm sechs bunte Gläser aus dem Bücherregal, Mario goss ein.

„Prost“, sagte dieser Bodo.

Die richtige Stimmung war das aber nicht.

Du müsstest jetzt mal was Schlaues oder was ungeheuer Witziges sagen, dachte ich bei mir. Aber da fiel mir dieses peinliche Literaturgespräch von vorhin ein, und ich blieb ganz ruhig.

Ich sah mir, so unauffällig es ging, diese Kerstin an: Sommersprossen auf der Nase, kurz geschnittenes Haar, schlank und braun. Wären da nicht in Höhe des dritten Knopfes von oben unter ihrer Bluse zwei ansehnliche Wölbungen gewesen, hätte man sie glatt für einen Jungen halten können.

Ich wünschte mir, dass sie irgendwas sagen sollte. Ob mir ein Mädchen gefällt oder nicht, weiß ich nämlich erst immer, wenn ich sie reden gehört habe. Man kann sich da manchmal sehr täuschen, wenn man nur nach dem Aussehen geht. Aber sie tat mir den Gefallen nicht. Dass ihr aufgefallen war, wie ich sie gemustert hatte, merkte ich daran, dass sie ihre Bluse um zwei Knöpfe schloss. Ziege, dachte ich.

„Wie wär’s, wenn wir uns ein bisschen Musik anhören?“, fragte Carmen.

Wenn jetzt Bach oder Beethoven auf mich losgelassen werden, dachte ich, dann gehst du kaputt. Aber immerhin wär mir das lieber als die Fortsetzung unseres Literaturgesprächs von vorhin.

„Ich kann euch eine Sensation bieten“, sagte Carmen und wühlte in ihren Platten.

Bodo schien sich für mein blaues Auge zu interessieren. Jedenfalls sah er öfter zu mir her. Das machte mich etwas nervös.

Carmen legte eine Plattenhülle auf den Tisch, die schwarze Scheibe auf den Plattenspieler.

„Irre, irre“, sagte Mario, „Pink Floyd! Wo hast du denn die her?“

„Unheimlich illegal, geheim“, sagte Carmen mit Verschwörermiene.

Manja und Kerstin verdrehten vor Begeisterung die Augen. Bodo blieb kalt, schien kein Pink-Floyd-Fan zu sein. Ehrlich, ich bin auch keiner. Ist mir alles zu lang, ist für mich fast so was Ähnliches wie Oper. Ich stehe mehr auf Smokie, Cat Stevens und so was.

„Ihr müsst euch dichter zusammensetzen, die Schnüre von Kopfhörern sind nämlich nicht so lang“, kommandierte Carmen und zog noch zwei Paar Kopfhörer hinter dem Plattenspieler vor.

Dann ging’s los.

Junge, war das ein komischer Anblick. Zu sechst hockten wir gedrängt, wie Hühner auf der Stange, in der Sitzecke. Zufällig saß Kerstin neben mir, so dicht, dass kein Blatt Papier zwischen uns gepasst hätte.

Carmen brüllte, damit wir sie überhaupt durch die Gummipuffer der Kopfhörer hören konnten: „Ich spiele euch nur einen Titel vor. ,Echos‘ heißt er und dauert dreiundzwanzig Minuten und sechzehn Sekunden.“

Dreiundzwanzig Minuten und sechzehn Sekunden, das ist es, weshalb ich kein Pink-Floyd-Fan bin. Alles, was länger ist als fünf Minuten, ist Oper, sage ich mir.

Durch den Stoff meiner Hose spürte ich Kerstin, warm und weich. Da fiel mir Katrin ein und ihr Abschiedsbrief, den ich immer noch mit mir herumschleppte. Mir wurde ziemlich mies. Was hätte das für ein Wochenende werden können! Jetzt saß ich da mit einem blauen Auge und musste mir Pink Floyd anhören.

Langsam drehte ich meinen Kopf zur Seite, um die anderen zu beobachten.

Bodo hatte die Augen geschlossen, er schien zu schlafen. Die anderen hatten ihre Augen auch geschlossen, aber aus Verzückung. Ich war der Einzige, der die Sache mit offenen Augen durchstand. Die Verzückten wackelten rhythmisch mit dem Kopf und bewegten wippend ihre Füße.

Das musst du auch mal versuchen, dachte ich mir, einfach die Augen zuklappen. Wenn man nur die anderen beobachtet, kann man sich vielleicht nicht richtig auf die Musik konzentrieren. Mir fiel ein, dass uns unser Musiklehrer mal „Die Moldau“ vorgespielt hatte. Da hatte ich mir richtig vorstellen können, wie erst ein kleiner Bach durch die Wiesen plätschert, wie lustige Bauern bei einer Folklorefete am Flussufer tanzen und wie die schon ausgewachsene Moldau ruhig durch Prag fließt.

Aber bei Pink Floyd klappte es erst mal nicht, obwohl ich die Augen krampfhaft zukniff. Ab und zu schmulte ich nach den anderen. Die waren high. Sogar Bodo wiegte jetzt seinen Kopf hin und her, und mit der einen Hand massierte er rhythmisch Manjas Oberschenkel. Mario hatte seinen Arm um Carmens Schulter gelegt.

Diese Kerstin aber saß neben mir wie ein Stock.

Also machte ich wieder Konzentrationsversuche.

Da schnappte es plötzlich bei mir. Die Musik, die direkt über die Kopfhörermuscheln in mein Gehirn drang, wurde zu einem Bild: Ich in der Wüste, ich gehe durch den Sand, unheimlich lange schon, die Füße brennen, der Sand scheuert mir die Hacken wund, der Schweiß läuft mir in die Augen, die Kehle ist trocken, Aasgeier kreisen über meinem Kopf, die Zunge liegt mir wie Blei im Mund, Schakale umschleichen mich, warten darauf, dass ich endlich umfalle, da hält mir eine verschleierte Schöne ein Glas Bier hin, ich nähere mich ihrer Hand, Rettung, will sie fassen, ich spüre sie schon richtig …

Kerstin zog ihre Hand weg, nicht ruckartig, mehr sanft, aber sie zog sie weg. Ich spürte ihr Knie.

Das war die Wirklichkeit.

Jetzt konnte ich mir nichts mehr zu dieser Musik vorstellen. Aber Hut ab vor dieser Gruppe. Damals in der Schule hatte uns unser Musiklehrer vorher gesagt, was wir uns an den verschiedenen Stellen der Moldaumusik vorstellen sollten, aber bei diesem Pink Floyd hatte es von ganz allein funktioniert. Das war schon was!

Nach meiner Rumtasterei auf Kerstins Knie wagte ich eine Weile nicht, mein rechtes Auge aufzumachen. Wenn sie dann nämlich auch die Augen offen gehabt hätte, wäre es mir peinlich gewesen. Als etwas Zeit vergangen war, riskierte ich doch einen Blick. Kerstin saß da, als wäre nichts gewesen.

Ich angelte mir mein Weinglas vom Tisch. Da war der Titel auch schon zu Ende, und Carmen sammelte die Kopfhörer ein. Es war noch nicht mal zehn.

„Wenn ihr Lust habt, lege ich was zum Tanzen auf“, sagte Carmen.

Aber es kam anders.

Bodo, den ich für einen Schweiger hielt, zeigte auf mein blaues Auge. „Sieht ziemlich frisch aus, dein Veilchen. Ist das von heute?“

Das konnte eine Chance sein für mich, einen auf Helden zu machen. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob Mario dabei mitzog. Also sagte ich erst mal: „Kleines Malheur, kann jedem passieren. Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung mit ein paar Hilfshippies, die einem alten Mann die Bratwurst weggefressen haben.“

Da stieg Bodo gleich ungeheuer ein. „Das kann ich dir sagen, diese Kerle, die in Massen zu unserer Tausendjahrfeier eingefallen sind wie die Heuschrecken, machen uns ganz schön zu schaffen. Die Einheimischen rennen der VP die Bude ein und fordern, dass die Polizei eingreifen soll. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich spätestens heute früh die Stadt dichtgemacht, keine Maus hätte ich mehr reingelassen.“

Nanu, dachte ich, was sind denn das für Töne, der will die Stadt dichtmachen. Dann hätte Mario nicht mal zu seiner Carmen kommen können.

„Hör mal, du bist vielleicht ein komischer Heiliger“, sagte ich, „das ist die einzige Großfete an diesem Wochenende in diesem Land. Da kommen die besten Gruppen, die es weit und breit gibt. Ist doch klar, dass die Massen strömen.“

„Und wir in der Kreisleitung kriegen an diesem Wochenende graue Haare. Ein paar Tausend liegen heute Nacht bei uns in der Stadt rum. Was meinst du, was da alles losgeht? Der Tag hat uns schon gereicht.“

Wir von der Kreisleitung – also musste Bodo dort arbeiten. Und so war es auch.

„Aber ihr musstet doch damit rechnen, dass so viele Leute angetrampt kommen. Darauf hättet ihr vorbereitet sein können“, sagte ich.

„Du bist ein ganz Schlauer, hätten wir vielleicht eine Zeltstadt aufbauen sollen?“

„Warum nicht? Und die Armee hätte mit zehn Feldküchen anrücken müssen und …“ Weiter kam ich nicht.

„Wir haben Tausendjahrfeier und kein Popfestival.“

Da kam mir ein Gedanke, und ich wunderte mich, dass er mir nicht schon viel früher gekommen war. So gut fand ich ihn. Ich wollte ihn aber nicht so einfach rauslassen, ich wollte ihn langsam anlaufen lassen. Ich fing so an: „Was meinst du wohl, weshalb so viel Volk von überallher angeritten ist?“

Na, was würde er antworten auf diese verdammt schlaue Frage?

„Weshalb schon, sie wissen nichts mit ihrer Freizeit anzufangen.“

„Fast richtig“, sagte ich gönnerhaft, „aber eben nur fast. Der wirkliche Grund ist, dass überall, von wo sie herkommen, an diesem Wochenende nichts los ist.“

„Und was können wir in Iltenberg dafür?“, fragte Bodo.

Diese Frage war unfair. Ich musste wieder in Vorhand kommen. „Was ist denn bei euch los, wenn nicht gerade Tausendjahrfeier ist?“

Ich ließ meinen Blick in die Runde schweifen, und es sah so aus, als wären alle von meinen Ausführungen außerordentlich beeindruckt. Kerstin nickte mir sogar aufmunternd zu. Da beschloss ich, einen Zahn zuzulegen.

Aber erst mal war Bodo am Ball. „Und du hast die Lösung in der Tasche? Du weißt, was wir tun müssen, um solche Randalierfeten zu verhindern und alle Bedürfnisse unserer Jugendlichen im Freizeitbereich zu befriedigen?“

Mein lieber Mann, das hörte sich vielleicht verdammt nach Papier an, wie er das so sagte, von wegen Bedürfnisse unserer Jugendlichen und Freizeitbereich und so. Ich musste Zeit gewinnen, diese Art verwirrte mich etwas. Also sagte ich: „Ich wüsste schon, wie man das machen könnte. Bloß, auf mich hört ja keiner.“

„Ein bisschen unkonkret, was du da redest, aber genauer wirst du es wohl nicht wissen“, sagte er und dachte bestimmt, dass er damit gewonnen hatte.

„Du wirst staunen, ich weiß es wirklich.“

„Na, dann schieß los, du Schlauberger, ich höre.“

Ich musste was Schlaues sagen, sonst hätte ich als Großmaul dagestanden.

„Ich denke mir das so“, fing ich bescheiden an, „im Sommer müsste an jedem Wochenende oder vielleicht an jedem zweiten oder von mir aus nur an jedem vierten an verschiedenen Stellen was Großes los sein. In Suhl, in Rostock und Dresden oder irgendwo, wo schöne Landschaft ist. Ein paar Gruppen müssten spielen, Zelte müssten da sein, für Verpflegung müsste gesorgt sein, Singegruppen könnten auftreten, Chilenen und Afrikaner, die bei uns studieren, könnten Stände zum Diskutieren und Informieren aufmachen. Und über allem müsste die Fahne der FDJ wehen.“

So, das war gesagt. Ich staunte über mich selbst, denn es war mir fast alles in diesem Augenblick eingefallen.

Da bekam ich Schützenhilfe aus einer Richtung, aus der ich sie nicht erwartet hatte. Von Kerstin. „Das hört sich nicht schlecht an. Wenn an mehreren Orten was los ist, müssen nicht alle wie an diesem Wochenende nach Iltenberg pilgern.“

Jetzt kam ich erst richtig in Fahrt. „Da könnte die FDJ sogar zehn oder fünfzehn Mark Eintritt nehmen.“

Ich hatte das Gefühl, dass auch Bodo beeindruckt war, aber er ließ es sich nicht anmerken.

„Und wer soll das alles organisieren?“, fragte er.

„Na, die FDJ.“

„Wir sind doch keine Konzert- und Gastspieldirektion“, wehrte Bodo ab.

„Wir können ja abstimmen“, sagte Carmen, „wer für Detlefs Vorschlag ist, den bitte ich um sein Handzeichen … Außerdem bin ich dafür, dass wir endlich ein bisschen tanzen. Jemand dagegen?“

Es war keiner dagegen. Ehe ich mich’s versah, tanzten Mario und Carmen und Manja und Bodo. Was blieb mir übrig?

Ich forderte Kerstin auf, aber ich hatte das bestimmte Gefühl, dass sie nicht scharf darauf war. Jedenfalls tanzten die anderen eng und innig, während wir uns wie zwei Kanthölzer bewegten. Manchmal konnte ich Marios Gesicht sehen. Über Carmens Schulter gab er mir mit Augenzwinkern und Grimassen zu verstehen, dass ich mich bei Kerstin mehr ins Zeug legen sollte. Da sie mir aber kein bisschen entgegenkam, ging ich nicht schärfer ran. Diesen Kerstin-Typ kenne ich nämlich. Solche hauen einem glatt eine runter, wenn man ihnen näher kommt, als sie es wollen. Und mein Bedarf an Tätlichkeiten war für diesen Tag reichlich gedeckt.

Was sah ich da? Sogar Bodo machte mir Zeichen über Manjas Schulter, ich sollte meine vornehme Zurückhaltung aufgeben. Aber ich ließ mich nicht anstacheln. Nicht so! Da musste mir schon Kerstin einen halben Schritt entgegenkommen.

Da war erst mal Pause.

Die Mädchen versammelten sich um die Schneiderpuppe und redeten über Modekram. Wir Männer machten uns über eine kleine Flasche Wodka her.

Nach dem zweiten Glas sagte Bodo: „Was du vorhin gesagt hast, war gar nicht verkehrt. Bloß, das ist alles leichter gesagt als getan. Prost.“

Da wurde er mir fast sympathisch.

„In der FDJ bist du doch?“, fragte er dann.

„Komische Frage, ich bin fast FDJ-Veteran.“

„Funktionen?“, fragte er weiter.

„Jetzt keine. Früher, in der zehnten Klasse, war ich Präsident unserer FDJ-Gruppe, während der Lehrzeit Mitglied der GOL.“

„Nicht schlecht, hört sich nicht schlecht an“, sagte er anerkennend und goss mir noch einen Wodka ein.

„Willst du vielleicht noch wissen, ob ich die Masern und Windpocken hatte?“ Diese Fragerei fing an, mir auf die Nerven zu gehen.

„Wenn ich das richtig sehe, kommst du im Herbst von der Fahne zurück und gehst wieder in deinen alten Betrieb?“

„Ja, wohin denn sonst. Aber kannst du mir mal verraten, was deine Fragerei für einen Sinn hat?“

„Ich glaube, wir werden miteinander zu tun kriegen.“

Über diesen geheimnisvollen Satz konnte ich nicht mehr nachdenken, denn die Tanzerei ging wieder los. Ich hätte gern mal mit Carmen getanzt, aber Mario zeigte auf Kerstin, und damit war alles gesagt.

Diesmal allerdings machte ich nicht diesen Distanzgriff: Ellenbogen an meinen Hüften, Hände an ihren Hüften. Junge, dachte ich mir, verlieren kannst du nichts, nur gewinnen. Ich griff ganz um sie herum, dass sich meine Hände fast hinter ihrem Rücken trafen. Da legte sie ihre Arme um meinen Hals. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Nach ein paar Schritten fühlte ich mich wie ein Soldat im Ausgang. Wenn einer weiß, was die schnelle Variante ist, dann weiß er auch, was ich meine. Und so prüde, wie ich erst dachte, war Kerstin nicht.

Nach einer Weile zog Kerstin ihr Kinn von meiner Schulter zurück, sah mich voll an und sagte: „Was du vorhin alles so gesagt hast, finde ich echt gut. Ich glaube nämlich auch, wenn überall etwas los wäre, würde es diese Rammeleien nicht geben.“

Na gut, dachte ich, aber darüber will ich jetzt nicht reden. Ich sagte schnell einen bedeutend hohlen Satz auf: „Ja, wir müssen uns viel mehr um die Führung der Jugendlichen im Freizeitbereich kümmern.“

Und was sagte diese Kerstin dazu? Schlicht und einfach: „Idiot.“ Und sie legte ihr Kinn wieder auf meine Schulter.

Das verleitete mich zu einem Irrtum, wie ich später vor ihrer Haustür bemerkte. Als ich einen Knopf an ihrer Bluse öffnen wollte, gab sie eine lange Erklärung ab, die ich hier nicht wiederholen will. Jedenfalls, das hat mich beeindruckt, was sie sagte. Von einem Soldaten war die Rede, der ihr Freund sei und dem sie treu bleiben wolle. Da zog ich in Gedanken meinen Hut vor dieser Kerstin, sagte sehr brav Auf Wiedersehen und dachte, die ist aus einem anderen Holz als meine Exbraut Katrin, deren Abschiedsbrief noch immer in meiner Brieftasche knisterte.

Ich trabte zurück zu Carmens Wohnung, wo in der Küche das Campingbett auf mich wartete.

Als ich die Treppe hochstieg, kamen mir Bodo und Manja entgegen.

„Bist ja schnell zurück. Außer Spesen nichts gewesen, was?“, sagte in lästerndem Ton Bodo.

„Weshalb du dir sauer dein Geld bei der FDJ verdienst, ist mir schleierhaft. Mit deinem Talent könntest du einer der weltbesten Clowns sein“, konterte ich.

„Werde darüber nachdenken“, sagte er lachend, „aber eins verspreche ich dir, wenn du wieder in deinem Betrieb bist, werde ich auf dich zukommen. Also, mach’s gut, Alter.“

Ich hielt das für einfach so hingesagt.

Es gibt Versammlungen, die nicht aufregend sind

Es gibt Versammlungen, die nicht aufregend sind, eher das Gegenteil. Aber wenn sich auf einer Aktivtagung, wo von Effektivität die Rede ist, ein Mädchenknie gegen das eigene drängt, dann ist das echt effektiv, und von Aktivität will ich gar nicht erst reden …

Schuld an allem ist dieser Bodo. Ich sage das ohne Vorwurf gegen ihn, denn wie es nun gekommen ist, das geht mir nicht gegen den Strich.

Ich war kaum eine Woche von der Armee zurück, hatte gerade die ersten Schwielen an den Händen, da wurde ich kurz nach der Mittagspause zu unserem FDJ-Sekretär gerufen. Nanu, denke ich, was kann der von mir wollen? Beitragstreu bist du, den Zirkel Junger Sozialisten hast du auch nicht geschwänzt, weil noch gar keiner stattgefunden hat. Also wischte ich mir die Hände an den Hosen ab und ging über den Hof zum Verwaltungsgebäude. Das letzte Mal war ich da, als mich unser Direktor mit einem warmen Händedruck, ein paar guten Worten und einem Schnaps zur Fahne verabschiedet hatte.

Als ich vor der Tür stand, an der ein großes FDJ-Abzeichen angenagelt war, überlegte ich, ob ich anklopfen sollte oder nicht. Ich ging rein, ohne anzuklopfen. Bei der FDJ, da klopft man nicht, da geht man einfach rein. Beim Direktor ist das etwas anderes, schon weil im Vorzimmer die schöne Vera sitzt, die vielleicht unangenehm überrascht sein könnte, wenn man sie gerade beim Bemalen der Lippen oder der Fingernägel oder beim Toupieren ihrer blonden Haare anträfe. Da muss man ihr schon die Chance geben, sich zwischen Anklopfen und Hereinrufen so in Positur zu setzen, dass es aussieht, als hätte sie gerade unheimlich gearbeitet. Das ist bei der FDJ anders.

Siegbert saß an seinem Schreibtisch und beschrieb Papier. Als er mich sah, sprang er auf, kam auf mich zu und ließ seine Hand auf meine Schulter krachen,

„Na, das ist gut, dass du wieder da bist“, rief er jubelnd und drückte mich auf einen Stuhl.

Dieser Empfang machte mich stutzig, denn so viel hatten wir beide vor meiner Armeezeit nicht miteinander zu tun. Ich hatte bei ihm lediglich nach mindestens dreimaliger Aufforderung die Monatsberichte über die Arbeit unserer FDJ- Gruppe abgeliefert. Das war noch während der Lehre. Danach war ich eigentlich eine Karteileiche. Ich beschloss also, vorsichtig zu sein.

„Na, erzähl mal, wie’s bei der Fahne war.“

„Wie soll’s gewesen sein, mal so, mal so“, sagte ich und hielt das für diplomatisch.

„Scheint dir jedenfalls nicht schlecht bekommen zu sein, bist fetter geworden.“

Das hörte ich nicht so gern. Gut, acht Pfund hatte ich zugenommen, aber von fetter geworden konnte nicht die Rede sein. Und außerdem: Um mir das zu sagen, hatte er mich kaum zu sich gerufen.

Ich klopfte auf den Busch. „Wenn weiter nichts ist, will ich mal wieder gehen.“

„Nicht so eilig, Detti!“ Er drückte mich wieder auf den Stuhl.

„Und was ist?“ Jetzt wollte ich es genau wissen.

„Einfach gesagt, ich will dich wieder aktivieren. Nach der Facharbeiterprüfung bist du ja auf Tauchstation gegangen. Und nun, wo du wieder da bist …“

„Und wie soll dein Aktivieren aussehen?“

„Mal ’ne ganz andere Frage, Detti: Kennst du den Arbeiterjugendsekretär von der Kreisleitung?“

„Woher soll ich den kennen?“, fragte ich zurück.

„Immerhin, der Bodo kennt dich.“

Als ich den Namen Bodo hörte, da dämmerte es bei mir. Der Abend in Iltenberg fiel mir ein. „Und was hat das mit meiner Aktivierung zu tun?“

„Jede Menge! Schließlich war es sein Vorschlag, er scheint große Stücke von dir zu halten“, sagte Siegbert bedeutungsvoll.

„Was für ein Vorschlag?“

Jetzt musste er die Katze aus dem Sack lassen.

Und er ließ sie raus. „Wir brauchen in unserer Grundorganisation einen ehrenamtlichen stellvertretenden FDJ-Sekretär. Bodo hat dich für diese Funktion vorgeschlagen. Was sagst du dazu?“

Siegbert blickte mich erwartungsvoll an.

Was sollte ich sagen? Vielleicht, dass ich mich eigentlich um die Aktivierung meines Liebeslebens kümmern wollte, dass ich mich erst mal wieder in meine Arbeit reinfinden musste, dass ich die Freuden des Zivillebens …

Siegbert unterbrach meine Gedanken. „Zwingen kann dich keiner. Aber überleg es dir wenigstens. Dass du gleich loslegst und ja sagst, das habe ich nicht erwartet. Jedenfalls brauchen wir dich dringend.“

Ich hatte das dringende Bedürfnis, die FDJ-Stube zu verlassen. Auf keinen Fall wollte ich jetzt ja sagen, aber zu einem knallharten Nein fehlte mir der Mut.

Bevor ich richtig zum Nachdenken gekommen war, nämlich schon am nächsten Tag, tauchte Siegbert gleich früh nach Schichtbeginn bei mir in der Werkstatt auf.

„Gestern hab ich noch was vergessen. Heute um sechzehn Uhr ist bei der Kreisleitung eine Aktivtagung. Die schöne Vera wird hingehen, ich natürlich, und du solltest auch mitkommen“, teilte er mir so ganz nebenbei mit.

„Du aktivierst mich etwas zu schnell. Im Prinzip hab ich ja nichts gegen Aktivtagungen, nur möchte ich erst mal auf einem ganz anderen Gebiet aktiv werden.“

Damit kam ich bei Siegbert schlecht an. „Deinen Nachholbedarf akzeptiere ich ja, aber das kannst du doch nicht zu deinem Hauptlebensinhalt machen.“

Was wusste Siegbert schon von meinem Hauptlebensinhalt?

Für diesen Abend hatte ich zum Beispiel schon was Wichtiges vor. Nichts mit Frauen, das nicht, leider! Ein Familienabend sollte steigen. Bis dahin hatte ich nämlich meine Heimkehr in den Schoß der Familie noch nicht richtig gefeiert. Mein Vater hatte schon eine Flasche Sekt in den Kühlschrank gestellt, ich wollte noch eine dazustellen, und meine Mutter wollte den Abend mit ihrem Spezialschaschlik krönen. Aber würde Siegbert mir das als triftigen Grund für eine Ablehnung zu seiner Fete abnehmen?

Ich fragte deshalb: „Wie lange wird diese Sache dauern?“

„Zwei, höchstens drei Stunden.“

„Na gut, ich komme.“ Ich gab mich geschlagen.

„Das ist doch ein Wort, Detti, um drei Viertel vier treffen wir uns am Werktor. Bis dann.“ Und weg war er.

Mir schmeckte das zwar nicht, aber unsere Familienfete würde trotzdem steigen können. Und auf die freute ich mich. Ich bin nämlich so ein altmodischer Typ, der mit seinen Eltern noch richtig reden kann. Was sicher nicht nur mein Verdienst ist, sondern auch das meiner Eltern. Bei den meisten meiner Freunde ist es „in“, dass man seine alten Herrschaften für intolerant, für spießig und für nicht von dieser Welt hält. Manchmal könnte ich richtig Minderwertigkeitskomplexe kriegen, weil ich zu diesem Thema nichts beisteuern kann, wenn die Rede davon ist.

Aber bevor ich darüber ins Grübeln kam, tauchte wutschnaubend ein Meister aus der Rührwerkabteilung auf. Er hielt mir eine zerknautschte Welle unter die Nase. „Hier, sieh dir diese Scheiße an, das ist die vierte in dieser Woche, die im Eimer ist. Drei Maschinen stehen schon, bloß weil ihr keine Wellen beschaffen könnt.“

Was hatte ich damit zu tun? Ich ging wortlos zum Ersatzteilregal. Aber die Stelle, wo sonst die Wellen lagen, war eine gleichmäßig verstaubte Fläche, auf der lange schon keine Welle mehr gelegen hatte.

Der Meister knallte die ausgefranste Welle auf den Tisch. „Lasst euch mal was einfallen, ihr Ochsen, so ’ne Welle ist doch nicht die Welt. Oder meint ihr, wir wollen einen neuen Weltrekord für superhohe Stillstandszeiten aufstellen?“ Peng, die Türe war zu.

Ich besah mir die Welle. Es war wirklich nicht die Welt: vorne ein Gewindeansatz, dann ein Ansatz mit eingefräster Nut für die Passfeder und am anderen Ende wieder eine Nut.

Als ich beim Überlegen war, kam Wankel-Paul, der Brigadier unserer Reparaturbrigade. Eigentlich heißt er Paul Kramer. Den Namen Wankel-Paul hat er, weil er behauptet, den Wankelmotor im Kopf erfunden zu haben, als der Wankel noch gar nicht daran gedacht hätte. Jetzt sagte er: „Ach, schon wieder so ’ne Mistwelle, ich werd' noch mal verrückt. Die Dinger sind wie die Eintagsfliegen.“

„Vielleicht sollten wir sie selber drehen, das muss sich doch machen lassen“, schlug ich vor.

„Du machst mir Spaß. Wenn wir alle Ersatzteile selber herstellen wollten, könnten wir einen eigenen Betriebsteil dafür gründen.“

Ich wickelte die Welle in einen Lappen und steckte sie in meine Umhängetasche.

Nachmittags, auf der Aktivtagung, passierte es dann: Ich sah Bodo, er mich.

Bevor es losging, kam er an meinen Platz. „Was habe ich dir gesagt, wir sehen uns wieder.“

Na und, dachte ich, soll das eine Sensation sein.

„Hast du nach der Tagung noch ein bisschen Zeit, auf ein Bier?“

„Kein Stück“, sagte ich, „ich bin für heute Abend ausgebucht.“

„Na, dann eben ein andermal“, sagte er und schritt zum Präsidium. Ich saß zwischen der schönen Vera und Siegbert. Bevor ich noch richtig mitbekam, wovon eigentlich die Rede war, merkte ich, wie etwas gegen mein Knie drückte. Es war das Knie der schönen Vera. Erst dachte ich, es sei zufällig, was ja vorkommen kann. Aber dafür war zu viel sanfter Druck dahinter. Bodo redete seine Rede, in der in jedem siebten oder achten Satz die Vokabeln Intensivierung und Effektivität vorkamen.

Dabei lag Veras Oberschenkel an meinem. Auf dem weißen Blatt Papier vor mir machte ich jedes Mal einen Strich, wenn mir die Worte Intensivierung und Effektivität ins Ohr kamen. Zwischendurch übte ich unter dem Tisch Gegendruck aus. Als ich den neunundvierzigsten Strich gezogen hatte, rollte unser Druckspiel schon in sehr geregelten rhythmischen Bahnen. Ich drückte gegen ihr Knie, sie gab langsam nach; ließ ich mit meinem Druck nach, drückte sie zurück. Ich bekam das sichere Gefühl, dass diese Aktivtagung für mich vielleicht ein voller Erfolg werden könnte. Dass mir ab und zu die zerschrotete Welle einfiel, die in meiner Tasche steckte, störte mich. Schnell versuchte ich, die Gedanken an dieses Ding zu verscheuchen, was mir mit Veras Hilfe glänzend gelang.