(K)ein Millionär für einen Tag

(K)ein Millionär für einen Tag

Paris Sanders

Inhalt

Prolog

Julia

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Anmerkungen

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Prolog

Pascal

Als Gott über mein Schicksal nachdachte, hatte er einen schlechten Tag erwischt. Einen, an dem er beschloss, dem Idioten da unten auf der Erde mal so richtig zu zeigen, was das Wort "Schicksalsschlag" für eine Bedeutung hatte.

Er war gründlich. Als er mit mir fertig war, lag ich am Boden. Mein Körper war intakt, meine Seele ein einziger Scherbenhaufen.

Er hatte mir das Schicksal mit einem Holzhammer um die Ohren gehauen. So lange, bis ich nichts mehr spürte. Keinen Schmerz. Keine Freude. Kein Verlangen. Keine Liebe.

Nichts.

Statt eines Herzens trug ich ein schwarzes Loch in meiner Brust. Statt einer Seele fegte ein dunkler Wind durch mein Sein. Nur ein Engel konnte mich jetzt noch retten.

Julia

1

Zum letzten Mal überprüfte ich, ob genügend Champagner kühl gestellt war. Dann ließ ich meinen Blick über das Buffet schweifen. Kaviar, Lachsbrötchen, Sushi, kleine, süß gefüllte Croissants und unterschiedliche Salate gehörten zu den Köstlichkeiten, mit denen unsere Gäste und Mandanten heute verwöhnt wurden.

"Bitte achten Sie darauf, die Gläser nicht zu voll einzuschenken", wies ich den jungen Mann an, der von der Cateringfirma damit beauftragt worden war, die Gäste mit dem Blubberzeug zu versorgen. Dann sah ich auf meine Armbanduhr. Ein Geschenk an mich selbst, zur Feier des heutigen Tages. Noch eine Viertelstunde, dann würde die alljährliche Sommerfeier der Steuerberaterkanzlei Baumann & Baumann, in der ich als Steuerberaterin arbeitete, beginnen. Normalerweise hatte ich nichts mit der Organisation zu tun, das erledigte unsere Büroleiterin. Heute aber musste alles perfekt sein.

"Nervös?", fragte Hans Baumann, einer der Gründer und mein Mentor. Der Mann, der mich nach meinem Studium eingestellt und dafür gesorgt hatte, dass ich zur jüngsten Partnerin der Kanzlei werden würde. Die frohe Botschaft sollte in etwa einer Stunde verkündet werden. Allein bei dem Gedanken daran beschleunigte sich mein Herzschlag.

"Ein wenig", gab ich zu und zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht, von dem ich hoffte, dass es Selbstsicherheit ausstrahlte. "Vielen Dank für Ihre Unterstützung. Ohne Sie hätte ich es nie so weit gebracht."

"Das war doch selbstverständlich. Junge Talente muss man fördern. Ich habe selten jemanden gesehen, der ein so grundlegendes Verständnis für Steuerrecht mitbringt."

"Danke, das bedeutet mir sehr viel."

"Ich würde Sie nicht loben, wenn es nicht gerechtfertigt wäre." Er tätschelte meine Schulter, dann rückte er seine Krawatte zurecht. "Die ersten Gäste werden jeden Moment kommen. It’s show time." Gemeinsam betraten wir den Vorraum, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Wie auf Kommando schwebten die ersten Klänge einer Geige durch die Luft. Leider kam die Musik von einer CD. Das klassische Quartett, das eigentlich auftreten sollte, hatte in letzter Minute abgesagt. Ich drehte mich suchend um. Ben, mein Bruder, hatte versprochen, für Ersatz zu sorgen. Die Musiker hätten längst hier sein sollen.

"Entschuldigen Sie mich einen Augenblick", murmelte ich, dann eilte ich im Stechschritt den Gang zu meinem Büro entlang. Ich würde Ben umbringen, ihn vierteilen, enterben und …

Mein Handy klingelte. "Schwesterherz, sie sind in fünf Minuten da. Zack hat mich gerade angerufen, sie stehen im Stau", sagte Ben, bevor ich auch nur ein Wort herausbekam.

"Bist du sicher? Ganz sicher?"

"Ja, Hand aufs Herz. Sie wissen alle, wie wichtig dieser Tag für dich ist."

"Okay." Ich atmete einmal tief durch. Alles wird gut, sagte ich zu mir und beendete das Gespräch. Ich hatte es noch nicht ganz zum Empfang geschafft, als ich erneut angerufen wurde, dieses Mal von Frau Schleich, der Büroleiterin.

"Frau Marquardt, hier stehen vier ... Individuen, die sagen, sie seien für die Musik verantwortlich?" Frau Schleichs Stimme klang seltsam gepresst. Kein Wunder. Die Organisation der Kanzleifeier war jedes Jahr ein Event, das ihr den letzten Nerv raubte, wie sie nicht müde wurde zu erwähnen.

"Ja, natürlich! Ich bin so froh, zeigen Sie ihnen doch bitte, wo die Bühne ist, Frau Schleich."

"Soll ich das wirklich, also, sind Sie sicher?"

"Frau Schleich, ich kann jetzt hier nicht weg. Bitte, es dauert nur ein paar Minuten. Die ersten Gäste kommen und Herr Baumann will mich unbedingt den wichtigen Mandanten persönlich vorstellen. Sie wissen ja, was dieser Tag für mich bedeutet."

"Natürlich, Frau Marquardt. Ich wollte nur sichergehen."

Ich verdrehte die Augen. Die Schleich konnte manchmal ganz schön nervend sein mit ihrer ewigen Litanei, wie überlastet sie sei, wie viel Verantwortung auf ihren Schultern laste und wie stressig die Organisation einer einzigen Feier war.

"Kein Problem." Ich beendete das Gespräch. Irgendwie färbte ihre Nervosität auf mich ab. Schnell betrat ich die Damentoilette, checkte mein Make-up, bürstete mir zum x-ten Mal die Haare und versuchte einen selbstsicheren und sympathischen Ausdruck in mein Lächeln zu legen. Alles, was der Spiegel mir zeigte, war ein von dunkelblonden Haaren umrahmtes Gesicht, das seltsame Grimassen zog. Mit einem Seufzen ließ ich es bleiben. Ich würde mein Bestes geben und meine Mimik einfach das tun lassen, was sie schon seit achtundzwanzig Jahren tat: Mit Bambis großen braunen Augen die Gäste ansehen und hoffen, sie würden dahinter den messerscharfen Verstand entdecken, den ich zumindest in Steuerfragen angeblich hatte.


Noch immer schwebten die Klänge klassischer Musik vom Band. Der Empfangsraum dagegen war mittlerweile mit Gästen gefüllt, die sich, jeder mit einem Glas Champagner in der Hand, mit gedämpfter Stimme unterhielten.

"Frau Marquardt, da sind Sie ja", begrüßte mich Hans Baumann, als sähe er mich heute zum ersten Mal. "Hier ist unsere neue Hoffnung", sagte er zu den beiden Herren in dunklen Anzügen gewandt, die an seiner Seite standen. "Mit Frau Marquardt konnten wir eines der brillantesten Hirne für unsere Firma gewinnen."

Ich schüttelte den beiden die Hand. Als brillantes Gehirn bezeichnet zu werden war etwas seltsam, aber ich lächelte darüber hinweg.

"Freut mich sehr", säuselte ich. "Ich hoffe ..." Der Rest meiner Hoffnung ging in einem ohrenbetäubenden Gitarrenriff unter.

"Yo, Leute. Wir sind hier, um ein bisschen Schwung in den langweiligen Laden zu bringen!" Ich drehte mich um. Der Typ – das musste Zack, der Sänger der Band, sein – riss seine Faust in die Höhe. Er klang begeistert. Das Gefühl beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Die übrigen Gäste, mich eingeschlossen, starrten ihn mit offenem Mund an. Das Champagnerglas, das ich eben noch in festem Griff hielt, rutschte mir durch die Finger und zersprang klirrend auf dem Fußboden. Das war nicht weiter schlimm, es hörte ohnehin niemand. Dazu war AC/DCs "Highway to Hell" viel zu laut.

Ohne auf die Scherben zu achten schob ich mich durch die Menge. Der Gitarrenspieler gab alles, um das berühmte Intro zu spielen. Er war nicht der Einzige, der noch etwas loswerden wollte, bevor der Gesang begann.

"Den Song widmen wir der einzigartigen, genialen, klugen Julia Marquardt. Julia, du hast nicht nur einen geilen Arsch, sondern auch einen glasklaren Verstand! Du rockst, Baby!"

Der Schlagzeuger setzte ein, gerade als mein Kopf eine Temperatur erreichte, die ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch haben musste. Die Tatsache, dass mich sämtliche Mitarbeiter und Kollegen der Kanzlei anstarrten, als hätten sie mich noch nie gesehen, war nicht hilfreich. Doch das war jetzt auch schon egal. Ich hatte nur noch ein Ziel: Diese Band zu stoppen, egal wie.

Der Sänger schnappte sich das Mikrofon. Lange, zottelige Haare fielen ihm ins Gesicht, als er mit seiner Reibeisenstimme loslegte.

"Hör sofort damit auf!", brüllte ich ihn an, als ich endlich vor dem leicht erhöhten Podium stand.

Keine Chance. Zack war gerade dabei, mit voller Inbrunst den Refrain zu singen. "Highway to Hell". Genau dort befand ich mich. Sehr viel schneller konnte man nicht auf dem Highway zur fristlosen Kündigung sein.

"Hör auf!", versuchte ich es noch einmal in der kurzen Gesangspause nach dem Refrain. Zack grinste mich an, streckte seine Hand aus und zog mich mit einem scharfen Ruck auf die Bühne. Ich stolperte in ihn hinein. Er nutzte die Gelegenheit um mir einen Kuss voll auf den Mund zu geben. Anders als ich verpasste er danach nicht einmal seinen Einsatz. Während er mit der Strophe weitermachte, stand ich verwirrt da und wusste nicht, was ich tun sollte. Ihm eine scheuern? Kichern und erröten? Oder einfach von dieser verdammten Bühne verschwinden und so tun, als würde ich jeden Tag von Rockmusikern geküsst werden? Es dauerte eine Weile, bis ich diese geniale Idee umsetzte und ein paar zögerliche Schritte von der Band weg schaffte. Noch immer etwas benommen schaute ich mich um. Die Gäste waren begeistert. So zumindest interpretierte ich die vorsichtigen, schwankenden Bewegungen zum Takt der Musik. Irgendwie schaffte ich es zurück an Hans Baumanns Seite.

"Ich wusste nicht, dass Sie es in sich haben!" Er hob sein Glas und prostete mir zu. Seine Reaktion war fast noch ein größerer Schock als der Kuss. Obwohl ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, wollte es mir nicht gelingen. Zack lieferte da oben eine geniale Show, unsere Mandanten genossen das Spektakel. Die Band war ein voller Erfolg, auch wenn man sich nicht weiter von klassischer Musik entfernen konnte als mit Bens Freunden. Ben! Mein Kopf klärte sich. Ich würde meinen Bruder umbringen. Bevor ich das tun konnte, musste ich diesen Nachmittag überstehen, also kleisterte ich mir ein Lächeln ins Gesicht und betete, die Party möge bald vorüber sein. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit erhörte Gott mein Gebet. Blöderweise nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.


"Highway to Hell", kam zu einem Ende, das mit jubelndem Applaus und Pfiffen begrüßt wurde. Dann ging Hans Baumann mit langen Schritten auf die Bühne zu und ließ sich von Zack das Mikrofon geben. Als hätten sie es miteinander abgesprochen, trat Zack zur Seite, der Trommler gab einen kurzen Trommelwirbel, Hans Baumann räusperte sich und sprach mit sonorer Stimme ins Mikrofon: "Mit großem Stolz heiße ich Sie, verehrte Damen und Herren, heute Nachmittag zu unserem traditionellen Sommerfest willkommen."

Ich schloss die Augen, nahm einen tiefen Atemzug und versuchte mein Herz zu ignorieren, das mit einem gefühlten Puls von fünfhundert in meiner Brust wummerte. Hoffentlich kommt er gleich zur Sache, betete ich. Hoffentlich hält er jetzt nicht einen seiner stundenlangen Monologe, bei denen jeder einschläft. Das überstehe ich nicht. Wenn mein Herz noch etwas schneller schlägt, können die hier gleich den neuen Defibrillator testen. Den hatten wir für ältere Mandanten angeschafft, die nicht immer mit den Nachrichten umgehen konnten, die vom Finanzamt kamen.

"Heute habe ich eine frohe Neuigkeit zu verkünden. Unsere geschätzte Mitarbeiterin Julia Marquardt ist eine der brillantesten Steuerberaterinnen unserer Zunft." Er legte eine Pause ein. Mach weiter, bat ich ihn in Gedanken, richtete mich auf und nahm die Schultern zurück. Alles, worauf ich so lange hingearbeitet hatte, lag in greifbarer Nähe.

"Lassen Sie uns durch, Steuerfahndung!", wurde Hans Baumann unterbrochen.

Männer, die eindeutig nicht zu den geladenen Gästen gehörten, was man schon allein an ihren Kaufhausanzügen sah, drängelten sich durch die Menge. Begleitet von einem verängstigten Flüstern.

Steuerfahndung! Der Voldemort aller Steuerberater.

2

"Ich bringe dich um!" Ben hatte die Haustür noch nicht richtig geöffnet, als ich mich auch schon durchquetschte und auf ihn stürzte. "Du Vollidiot hast meine Beförderung vermasselt. Ich sollte zur Partnerin werden. Und was machst du? Schickst deine idiotischen Freunde, die nichts Besseres zu tun haben, als Heavy Metal zu spielen, obwohl ich dir ausdrücklich gesagt habe, dass wir ein Klassik-Quartett brauchen. Klassik! Keine Halbirren, die mich abknutschen und allen verkünden, was für einen geilen Arsch ich habe. Klassik, Ben!"

"Du verstehst überhaupt keinen Spaß mehr", stellte Ben fest, als ich abbrechen musste, um Luft zu holen. Zumindest versuchte ich es. Der Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, war zu groß, um runtergeschluckt zu werden. Tränen traten mir in die Augen. Ohne es zu wollen, sackte ich gegen Bens Brust und heulte los.

"Oh, nein. Julia, so schlimm war es bestimmt nicht. Zack sagte, dein Chef war richtig cool. Zumindest bis zu dem Augenblick, als die Steuerfahndung kam." Bens Stimme wurde leiser. Mit einer Hand streichelte er mir unbeholfen übers Haar, während ich sein T-Shirt komplett durchnässte.

"Sie haben mich verhört", schluchzte ich. "Als sei ich eine Kriminelle. Und der Baumann hat auch noch behauptet, ich sei an allem schuld. Das wäre nie passiert, wenn du ein Klassik-Quartett geschickt hättest. Niiiieeeeee."

"Na, na." Ben klopfte mir auf den Rücken. "Ich glaube wirklich nicht, dass es was mit der Musik zu tun hatte."

"Doch. Es hatte alles damit zu tun. Zack hat 'Highway to Hell' gesungen und genauso war es auch. Ich war schneller in der Hölle als jemals eine Steuerberaterin vor mir. Man hat mir vorgeworfen, unserem Mandanten bei der Steuerhinterziehung zu helfen. Ich komme ins Gefängnis. Niemand wird mehr mit mir reden. Ich kriege nie wieder einen Job."

"Ich rede doch noch mit dir", flüsterte Ben in mein Ohr. "Außerdem ist es nicht so schlimm. Du hast keine Steuern hinterzogen und du hast auch niemandem geholfen, das zu tun. Ich kenne dich."

"Alle anderen glauben, ich hätte es getan."

"Dafür gibt es bestimmt keine Beweise. Wie auch, wenn du es nicht getan hast." Ben nahm meine Hand und führte mich durch den Flur in die Küche. Dort drückte er mich auf einen Stuhl. "Was du jetzt brauchst ist ein Whisky oder ein Joint. Das beruhigt die Nerven."

"Whisky", hickste ich. "Du weißt doch, ich bin gegen Drogen."

"Ein Joint ist ja keine Droge, eher Medizin", murmelte Ben und wühlte in einem Schrank, bis er ein Glas zu Tage förderte, das man mit viel gutem Willen als sauber bezeichnen konnte. Dann zauberte er eine Flasche Johnnie Walker hervor und schenkte mir großzügig ein.

Ich nahm einen tiefen Schluck. Eine brennende Spur zog meine Kehle hinab und landete in meinem Magen. Kurz darauf breitete sich ein wohlig warmes Gefühl aus. Noch einmal setzte ich das Glas an. Das Zeug war gut!

"Julia, das mit der Band tut mir leid, ehrlich. Ich dachte, ich tue dir einen Gefallen. Die sind immer so langweilig und steif in dieser Kanzlei und du bist zu jung, um dich da lebendig begraben zu lassen. Die sollen wissen, dass du Feuer unterm Arsch hast. Außerdem hatte ich das mit dem Baumann abgesprochen. Ich wollte dich ja nicht reinreiten, sondern etwas tun, worüber du dich freuen würdest", sagte Ben mit ehrlicher Reue in der Stimme. Was selten geschah, denn mein Bruder lebte nach der Devise: Je mehr Chaos, desto mehr Spaß.

"Der Baumann wusste, dass eine Heavy-Metal-Band kommen würde?"

"Klar, er fand die Idee cool, sagte, das sei mal was anderes."

"Oh."

"Der ist gar nicht so übel, dein Chef."

"Ja, nur hat er mich in einen Fall von Steuerhinterziehung mit reingezogen und zwar absichtlich." Anders als sonst bewirkte der Alkohol, dass ich wieder klar denken konnte. Jetzt bemerkte ich ein Detail, das ich in dem Aufruhr der vergangenen Stunden übersehen hatte. Klaus Henrich, der Mandant, der angeblich mit meinem Wissen Steuern hinterzogen hatte, war bereits seit Jahren bei unserer Kanzlei. Als Hans Baumann mich vor ein paar Wochen mit ins Team genommen hatte, das Henrich betreute, war ich vor Freude fast geplatzt. Endlich hatte ich es geschafft. Jetzt, rückblickend, erkannte ich die Taktik, die dahintersteckte. Baumann hatte den Braten gerochen und sich gedacht, besser eine junge, unerfahrene Steuerberaterin wird in diesen Schlamassel reingezogen als er.

"Soll ich ein paar Typen vorbeischicken, die den Baumann vermöbeln?" Ben sah aus, als sei er bereit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

"Was? Nein! Spinnst du? Ich komme da schon raus." Hoffte ich zumindest.

"Hey, Baby. Coole Nummer heut Nachmittag", sagte eine vertraute Stimme in meinem Rücken. Zack. Der Sänger kam in die Küche. Ohne T-Shirt, nur mit einer Jeans bekleidet, die tief auf seinen Hüften saß. Seine Haare waren nass, als hätte er gerade geduscht. Zack war der neue Mitbewohner in Bens WG. Hätte ich meinen Bruder früher besucht, wäre ich für Zacks Auftritt gewappnet gewesen. Niemand, der ihn einmal gesehen hatte, würde denken, er sei Teil eines Klassik-Orchesters. Nein, der Sänger erfüllte sämtliche Klischees, die man in einer Heavy-Metal-Band brauchte. Tattoos, lange Haare, ein Hang zu Alkohol und Drogen, wie der Griff nach der Johnnie-Walker-Flasche bewies. Vielleicht sollte ich es als Front-Frau versuchen, das mit dem Whiskey hatte ich jetzt schon drauf.

"Lass die Finger von meiner Schwester." Bens Stimme klang tiefer als sonst, der warnende Unterton war nicht zu überhören.

"Ich kann auf mich selbst aufpassen", warf ich ein. Keiner der beiden Männer achtete auf mich.

"Konnte ja niemand ahnen, was für eine geile Tussi so ne Steuerberaterin sein kann", nuschelte Zack.

"Lass sie in Ruhe." Ben baute sich vor Zack auf. "Wenn ich noch einmal höre, dass du sie küsst, kriegst du ein Problem. Kapiert?"

"Hey, Mann. Du bist ja total uncool." Zack öffnete den Kühlschrank, holte sich eine Flasche Cola raus und schüttete etwas davon in seinen Whiskey. Dann zwinkerte er mir zu, sagte zu Ben: "Chill, Mann", und verschwand mit seinem Drink ins Wohnzimmer.

"Vielleicht möchte ich geküsst werden", sagte ich.

"Nicht von dem", erwiderte Ben. "Der hat jede Nacht eine Andere."


Nach dem Whisky war ich zu betrunken, um nach Hause zu fahren. Großherzig wie Ben nun einmal war, überließ er mir das Bett in seinem WG-Zimmer. Er schlief auf der Couch. Als ich am nächsten Morgen mit verwuschelten Haaren und roten Augen in die Küche torkelte, hatte er schon einen Kanne Tee gemacht. Manchmal war es gut, einen Bruder zu haben.

"Was hast du vor? Gehst du ins Büro?", fragte er und drückte mir eine Tasse in die Hand.

"Soll das ein Witz sein? Ich werde beschuldigt, einem Mandanten bei der Steuerhinterziehung geholfen zu haben. Man hat mir freundlicherweise die fristlose Kündigung in die Hand gedrückt. Ich bekomme sogar eine Abfindung, nur damit ich keinen Stunk mache und gerichtlich gegen den Laden vorgehe."

"Dann war das gestern ja ein richtig toller Tag für dich."

"Kann man wohl sagen." Tränen stiegen mir in die Augen, als ich daran dachte, wie ich gestern Morgen um diese Zeit durch meine Wohnung getänzelt war. Voller Vorfreude auf das Sommerfest und meine Beförderung zur Partnerin. Stattdessen konnte ich mich jetzt auf Gespräche mit der Steuerfahndung freuen und darauf, mir einen neuen Job zu suchen. Ärgerlich wischte ich die Tränen weg. Weinen brachte mich nicht weiter.

"Ich muss heute Nachmittag noch zur Oberfinanzdirektion, die wollen mit mir reden", sagte ich und versuchte das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. Ich hatte nichts Falsches getan, trotzdem fühlte ich mich wie eine Verbrecherin.

Ohne etwas zu sagen stand Ben auf und holte die Johnnie-Walker-Flasche.

"Bist du verrückt? Ich kann da nicht mit einer Fahne auftauchen." Ich hielt meine Hand schützend über meine Tasse.

"Der ist nicht für dich, sondern für mich." Ben kippte Whiskey in seine Tasse und füllte dann mit Tee auf. "Wer hat schon eine Schwester, die die Men in Black aufmischen darf?" Er prostete mir zu.

"Das ist kein blöder Film mit Aliens."

"Es ist das, was du draus machst."

3

"Ich betreue diesen Mandanten erst seit einem Monat", sagte ich zu dem Typen, der mir gegenübersaß und mit gerunzelter Stirn auf ein Dokument starrte.

"Das entspricht nicht meinen Informationen." Er blickte auf. Der Blick aus seinen grauen Augen hart.

"Dann sind ihre Informationen falsch." Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Was tat ich hier eigentlich? Ich hatte nichts verbrochen. In den letzten vier Wochen hatte ich vor allem eines nicht getan: Meinem Mandanten geholfen, Steuern zu hinterziehen. Wie alle anderen war ich auch nicht begeistert, einen Teil meines Gehalts an den Staat abzuführen, aber so waren nun einmal die Regeln. Wenn ich eines nicht leiden konnte, dann waren es Menschen, die diese Regeln missachteten. Die dachten, sie würden für alle anderen, nur nicht für sie selbst gelten.

"Ihr Arbeitgeber hat mir eine Aufstellung gegeben. Aus dieser geht hervor, dass Sie seit über einem Jahr das Konto betreuen." Er lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln in seinem Sessel zurück. Wahrscheinlich freute er sich, weil er mich bei einer angeblichen Lüge ertappt hatte. Idiot! Ich wusste nicht mehr wie er hieß. Als die Beamten der Steuerfahndung mich zu diesem Gespräch eingeladen hatten, war ich zu aufgeregt gewesen, um klar denken zu können. Mittlerweile fühlte sich das Ganze nicht mehr wie ein Gespräch, sondern wie ein Verhör an. Bis vor wenigen Sekunden hatte ich noch gedacht, ich würde keinen Anwalt brauchen. Jetzt war klar, dass ich mich geirrt hatte. Hans Baumann hatte mich zum Sündenbock in diesem Drama erkoren. Das konnte meine gesamte Karriere zerstören, nein, das würde meine Karriere zerstören.

"Beweisen Sie es", hörte ich mich sagen. Ich erwiderte den harten Blick. "Wenn Hans Baumann behauptet, ich hätte so lange mit diesem Mandanten zusammengearbeitet, dann lügt er. Auf meinem Computer müssten sich in diesem Fall entsprechende Dateien finden, im Schriftverkehr entsprechende Unterlagen. Briefe, die ich geschrieben und unterzeichnet habe. Sie werden nichts entdecken." Ich lehnte mich nach vorne. "Weil ich Herrn Henrichs erst seit vier Wochen betreue."

"Das behaupten Sie."

"Genau. Und solange Sie keine Beweise haben, die Ihre Behauptung unterstützen, schlage ich vor, Sie suchen nach dem wahren Schuldigen." Ich stand auf. Hoffentlich merkte er nicht, dass meine Knie zitterten. "Wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben, dann gehe ich jetzt."

Der Typ winkte ab. "Kein Problem. Wir melden uns."

Genau das befürchtete ich. So schnell würden die nicht lockerlassen. Ich straffte die Schultern und verließ mit hoch erhobenem Haupt die Räume der Oberfinanzdirektion. Versuchte nach außen hin Selbstbewusstsein zu projizieren. Ein Versuch, der mir wahrscheinlich nicht einmal an meinem besten Tag gelungen wäre, und heute war definitiv kein solcher. Nein, dieser Tag hatte "Absolutes" als Vornamen und "Desaster" als Nachnamen.

Meine Schritte beschleunigten sich. Nur raus hier, solange ich noch Luft bekam. Die Absätze meiner Schuhe klackten laut auf dem Steinboden. Noch drei Meter, noch zwei. Dann war ich durch die Tür und auf der anderen Seite. Im Freien.

Ich atmete tief ein. Die erwartete Erleichterung blieb aus. Hier draußen war es wie in einer Waschküche, die Luft so schwer, dass sie greifbar wirkte. Am Horizont türmten sich dunkle Wolken auf.

Ich schloss meinen Wagen auf, stieg ein und schnallte mich an. Dann ließ ich meinen Kopf auf das Lenkrad sinken und versuchte mich unter Kontrolle zu bringen. Meine Hände zitterten, das mit dem Atmen wollte immer noch nicht so recht klappen und mein Herz schlug so schnell, als hätte ich einen Sprint hinter mir. So konnte ich nicht losfahren, ich wäre eine Gefahr für den Straßenverkehr gewesen. Ich holte mein Handy aus der Tasche und tippte hektisch darauf herum. Aus irgendeinem Grund schaffte ich es nicht, die richtigen Buchstaben in meiner Kontakte-Liste zu treffen.

"Verdammt. Verdammt. Verdammt." Tränen schossen mir in die Augen. Ich wollte nur noch weg von hier. Nach einer halben Ewigkeit schaffte ich es endlich, den Taxidienst aufzurufen. Eine Viertelstunde später schob sich ein schwarzes Fahrzeug neben meinen Wagen. Auf dem Dach das Taxizeichen. Gott sei Dank. Ich stieg aus, schloss mein Auto ab und ließ mich auf den Rücksitz meines Retters fallen.

"In die Holzhausenstraße, bitte."

"Geht klar." Der Fahrer warf mir einen prüfenden Blick im Rückspiegel zu, dann fuhr er los. Wieder stiegen mir Tränen in die Augen, der Kloß in meinem Hals wurde immer größer.

"Ja, ja, so ein Besuch beim Finanzamt kann einen ganz schön fertig machen", bemerkte der Fahrer, der meinen erfolglosen Kampf wohl mitbekommen hatte.

"Sie haben ja keine Ahnung", murmelte ich.

"Schätzchen, jeder hat schon mal geweint nach einem Besuch bei denen." Er machte eine Kopfbewegung zu dem Gebäude hinter uns.


Zu Hause angekommen, feuerte ich meine Schuhe in eine Ecke, ließ die Handtasche auf den Boden fallen und wankte ins Bett. Dort tat ich das, was ich schon seit Stunden tun wollte. Ich zog mir die Decke über den Kopf und heulte los. Das Verhör bei der Steuerfahndung hatte mir den Rest gegeben. Die Anschuldigungen, die zu Unrecht gegen mich erhoben wurden, lasteten wie ein Stein auf meiner Brust. Es war so ungerecht! Ich hatte nichts getan.

Dann auch noch der Vertrauensbruch von Hans Baumann. Der Mann hatte mich stets gefördert. Mehr als einmal betont, wie froh er sei, mich in seiner Kanzlei, in seinem Team zu haben. Und ich Idiot glaubte ihm. War glücklich, einen Arbeitsplatz zu haben, an dem meine Fähigkeiten geschätzt wurden.

"So ein mieses Schwein!", sagte ich laut in das Zimmer hinein. Der Typ hatte mich bei den Behörden angeschwärzt, um seine Haut zu retten. Jetzt fielen mir Details der letzten Wochen ein. Die Fragen, die ich Hans Baumann stellen wollte, weil mir einige Dinge seltsam vorkamen. Immer wiegelte er ab, sagte, er würde sich darum kümmern.

"Nach der Sommerfeier legen Sie los, Frau Marquardt. Bis dahin machen Sie sich einfach mit dem Konto vertraut, schauen sich die letzten Jahre an. Überlegen Sie, ob es Möglichkeiten gibt, Steuern zu sparen. Natürlich legale Möglichkeiten." Dabei zwinkerte er mir zu. Im Nachhinein war ich mir nicht mehr sicher, ob das Zwinkern nicht eher bedeuten sollte, dass das Wort "legal" nicht ganz ernst gemeint war.


Im Bett war es zwar schön kuschelig, aber meine Gedanken kreisten nur noch um ein Thema. Dabei wurden meine Ideen immer seltsamer. Vielleicht wurde ich ja doch verhaftet. Vielleicht hatte Hans Baumann Beweise gefälscht, um mich zu belasten.

Eine weitere Erinnerung regte sich. Hans Baumann, der mir Dokumente zur Unterschrift vorlegen ließ. Als ich ihn darauf hinwies, dass ich diesen Mandanten nicht betreute, behauptete er, es läge eine Verwechslung vor. Damals hatte ich den Eindruck, ihn verärgert zu haben. Ich hatte nur nicht erkennen können warum. Der Mandant, um den es ging, war kein anderer als Henrichs gewesen. Wenig später war ich Teil des Teams, das ihn betreute.

Das flaue Gefühl in meinem Magen wurde schlimmer. Hans Baumann war es nie um meine Kompetenz gegangen. Nein, er brauchte jemanden, den er vorschieben konnte, falls etwas schiefging. So wie jetzt.

Von wegen "brillantes Hirn". Wahrscheinlich hielt er mich nicht für begabt, sondern ganz einfach für dumm genug, um auf seine Machenschaften hereinzufallen.

Ich stand auf. Was ich jetzt brauchte, war eine Ablenkung. Ich tapste in die Küche, kramte die Speisekarte des Lieferdienstes hervor und bestellte mir eine große Pizza mit Salami, Pilzen, Schinken, Artischocken und viel Käse. Dann holte ich eine Flasche Rotwein hervor, bewaffnete mich mit einem Weinglas und trottete zurück ins Schlafzimmer. Alkohol und eine fetttriefende Pizza, danach vielleicht noch eine riesige Tafel Schokolade als Nachtisch. Wenn es einen Tag gab, an dem ich es verdient hatte, zu sündigen, dann heute.


Mein Kopf dröhnte, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Die Rotwein-Pizza-Therapie hatte die erhofften Resultate gebracht und das Gedankenkarussel in meinem Kopf beendet. Blöderweise wurde es durch Kopfschmerzen ersetzt. Das laute Klingeln an meiner Haustür, das die Stille wie ein scharfes Messer durchschnitt, machte die Sache nicht besser.

"Was ist denn los?", murrte ich, warf mir einen Bademantel über und schlurfte zur Tür. Ein Blick durch den Spion zeigte meinen Bruder.

"Was willst du hier?" Ich trat einen Schritt zur Seite, um ihn hereinzulassen.

"Das ist eine Begrüßung." Ben schüttelte den Kopf und ging an mir vorbei Richtung Küche. Dass er der beste Bruder der Welt war, bewies er, indem er ungefragt eine Tasse hervorholte, Wasser zum Kochen brachte und mir einen Tee machte. Ich saß in der Zwischenzeit am Tisch und hypnotisierte die Sets.

"Hier, trink das." Er schob das dampfende Getränk unter meine Nase. Dann nahm er es wieder zurück. "Augenblick." Ben holte einen Flachmann aus seiner Gesäßtasche und goss einen großzügigen Schluck in meinen Tee. Dann setzte er sich zu mir.

"Wie geht’s?", fragte er vorsichtig.

"Prima." Statt der Tischplatte hypnotisierte ich jetzt den Wasserdampf, der vor mir aufstieg. Er roch nach Schnaps. Viel Schnaps. Das verhieß nichts Gutes.

Ben räusperte sich. "Wie sieht es aus? Bist du für nicht sooo gute Neuigkeiten gewappnet?"

"Was meinst du damit? Ich glaube nicht, dass es für mich noch Neuigkeiten gibt, die schlechter sind als die der letzten Tage." Ich schaute auf. Ben sah mich mit einem besorgten Blick an.

"Es ist so ..."

"Kannst du zum Punkt kommen? Möglichst schnell?"

Ohne zu antworten, legte er die Tageszeitung vor mich hin. Auf der verdammten Titelseite, ganz oben, wo es jeder sehen konnte, prangte mein Foto. Zusammen mit der Überschrift: "Frankfurter Steuerberaterin und Sexhäschen?".