Zum letzten Mal überprüfte ich, ob genügend Champagner kühl gestellt war. Dann ließ ich meinen Blick über das Buffet schweifen. Kaviar, Lachsbrötchen, Sushi, kleine, süß gefüllte Croissants und unterschiedliche Salate gehörten zu den Köstlichkeiten, mit denen unsere Gäste und Mandanten heute verwöhnt wurden.
"Bitte achten Sie darauf, die Gläser nicht zu voll einzuschenken", wies ich den jungen Mann an, der von der Cateringfirma damit beauftragt worden war, die Gäste mit dem Blubberzeug zu versorgen. Dann sah ich auf meine Armbanduhr. Ein Geschenk an mich selbst, zur Feier des heutigen Tages. Noch eine Viertelstunde, dann würde die alljährliche Sommerfeier der Steuerberaterkanzlei Baumann & Baumann, in der ich als Steuerberaterin arbeitete, beginnen. Normalerweise hatte ich nichts mit der Organisation zu tun, das erledigte unsere Büroleiterin. Heute aber musste alles perfekt sein.
"Nervös?", fragte Hans Baumann, einer der Gründer und mein Mentor. Der Mann, der mich nach meinem Studium eingestellt und dafür gesorgt hatte, dass ich zur jüngsten Partnerin der Kanzlei werden würde. Die frohe Botschaft sollte in etwa einer Stunde verkündet werden. Allein bei dem Gedanken daran beschleunigte sich mein Herzschlag.
"Ein wenig", gab ich zu und zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht, von dem ich hoffte, dass es Selbstsicherheit ausstrahlte. "Vielen Dank für Ihre Unterstützung. Ohne Sie hätte ich es nie so weit gebracht."
"Das war doch selbstverständlich. Junge Talente muss man fördern. Ich habe selten jemanden gesehen, der ein so grundlegendes Verständnis für Steuerrecht mitbringt."
"Danke, das bedeutet mir sehr viel."
"Ich würde Sie nicht loben, wenn es nicht gerechtfertigt wäre." Er tätschelte meine Schulter, dann rückte er seine Krawatte zurecht. "Die ersten Gäste werden jeden Moment kommen. It’s show time." Gemeinsam betraten wir den Vorraum, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Wie auf Kommando schwebten die ersten Klänge einer Geige durch die Luft. Leider kam die Musik von einer CD. Das klassische Quartett, das eigentlich auftreten sollte, hatte in letzter Minute abgesagt. Ich drehte mich suchend um. Ben, mein Bruder, hatte versprochen, für Ersatz zu sorgen. Die Musiker hätten längst hier sein sollen.
"Entschuldigen Sie mich einen Augenblick", murmelte ich, dann eilte ich im Stechschritt den Gang zu meinem Büro entlang. Ich würde Ben umbringen, ihn vierteilen, enterben und …
Mein Handy klingelte. "Schwesterherz, sie sind in fünf Minuten da. Zack hat mich gerade angerufen, sie stehen im Stau", sagte Ben, bevor ich auch nur ein Wort herausbekam.
"Bist du sicher? Ganz sicher?"
"Ja, Hand aufs Herz. Sie wissen alle, wie wichtig dieser Tag für dich ist."
"Okay." Ich atmete einmal tief durch. Alles wird gut, sagte ich zu mir und beendete das Gespräch. Ich hatte es noch nicht ganz zum Empfang geschafft, als ich erneut angerufen wurde, dieses Mal von Frau Schleich, der Büroleiterin.
"Frau Marquardt, hier stehen vier ... Individuen, die sagen, sie seien für die Musik verantwortlich?" Frau Schleichs Stimme klang seltsam gepresst. Kein Wunder. Die Organisation der Kanzleifeier war jedes Jahr ein Event, das ihr den letzten Nerv raubte, wie sie nicht müde wurde zu erwähnen.
"Ja, natürlich! Ich bin so froh, zeigen Sie ihnen doch bitte, wo die Bühne ist, Frau Schleich."
"Soll ich das wirklich, also, sind Sie sicher?"
"Frau Schleich, ich kann jetzt hier nicht weg. Bitte, es dauert nur ein paar Minuten. Die ersten Gäste kommen und Herr Baumann will mich unbedingt den wichtigen Mandanten persönlich vorstellen. Sie wissen ja, was dieser Tag für mich bedeutet."
"Natürlich, Frau Marquardt. Ich wollte nur sichergehen."
Ich verdrehte die Augen. Die Schleich konnte manchmal ganz schön nervend sein mit ihrer ewigen Litanei, wie überlastet sie sei, wie viel Verantwortung auf ihren Schultern laste und wie stressig die Organisation einer einzigen Feier war.
"Kein Problem." Ich beendete das Gespräch. Irgendwie färbte ihre Nervosität auf mich ab. Schnell betrat ich die Damentoilette, checkte mein Make-up, bürstete mir zum x-ten Mal die Haare und versuchte einen selbstsicheren und sympathischen Ausdruck in mein Lächeln zu legen. Alles, was der Spiegel mir zeigte, war ein von dunkelblonden Haaren umrahmtes Gesicht, das seltsame Grimassen zog. Mit einem Seufzen ließ ich es bleiben. Ich würde mein Bestes geben und meine Mimik einfach das tun lassen, was sie schon seit achtundzwanzig Jahren tat: Mit Bambis großen braunen Augen die Gäste ansehen und hoffen, sie würden dahinter den messerscharfen Verstand entdecken, den ich zumindest in Steuerfragen angeblich hatte.
Noch immer schwebten die Klänge klassischer Musik vom Band. Der Empfangsraum dagegen war mittlerweile mit Gästen gefüllt, die sich, jeder mit einem Glas Champagner in der Hand, mit gedämpfter Stimme unterhielten.
"Frau Marquardt, da sind Sie ja", begrüßte mich Hans Baumann, als sähe er mich heute zum ersten Mal. "Hier ist unsere neue Hoffnung", sagte er zu den beiden Herren in dunklen Anzügen gewandt, die an seiner Seite standen. "Mit Frau Marquardt konnten wir eines der brillantesten Hirne für unsere Firma gewinnen."
Ich schüttelte den beiden die Hand. Als brillantes Gehirn bezeichnet zu werden war etwas seltsam, aber ich lächelte darüber hinweg.
"Freut mich sehr", säuselte ich. "Ich hoffe ..." Der Rest meiner Hoffnung ging in einem ohrenbetäubenden Gitarrenriff unter.
"Yo, Leute. Wir sind hier, um ein bisschen Schwung in den langweiligen Laden zu bringen!" Ich drehte mich um. Der Typ – das musste Zack, der Sänger der Band, sein – riss seine Faust in die Höhe. Er klang begeistert. Das Gefühl beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Die übrigen Gäste, mich eingeschlossen, starrten ihn mit offenem Mund an. Das Champagnerglas, das ich eben noch in festem Griff hielt, rutschte mir durch die Finger und zersprang klirrend auf dem Fußboden. Das war nicht weiter schlimm, es hörte ohnehin niemand. Dazu war AC/DCs "Highway to Hell" viel zu laut.
Ohne auf die Scherben zu achten schob ich mich durch die Menge. Der Gitarrenspieler gab alles, um das berühmte Intro zu spielen. Er war nicht der Einzige, der noch etwas loswerden wollte, bevor der Gesang begann.
"Den Song widmen wir der einzigartigen, genialen, klugen Julia Marquardt. Julia, du hast nicht nur einen geilen Arsch, sondern auch einen glasklaren Verstand! Du rockst, Baby!"
Der Schlagzeuger setzte ein, gerade als mein Kopf eine Temperatur erreichte, die ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch haben musste. Die Tatsache, dass mich sämtliche Mitarbeiter und Kollegen der Kanzlei anstarrten, als hätten sie mich noch nie gesehen, war nicht hilfreich. Doch das war jetzt auch schon egal. Ich hatte nur noch ein Ziel: Diese Band zu stoppen, egal wie.
Der Sänger schnappte sich das Mikrofon. Lange, zottelige Haare fielen ihm ins Gesicht, als er mit seiner Reibeisenstimme loslegte.
"Hör sofort damit auf!", brüllte ich ihn an, als ich endlich vor dem leicht erhöhten Podium stand.
Keine Chance. Zack war gerade dabei, mit voller Inbrunst den Refrain zu singen. "Highway to Hell". Genau dort befand ich mich. Sehr viel schneller konnte man nicht auf dem Highway zur fristlosen Kündigung sein.
"Hör auf!", versuchte ich es noch einmal in der kurzen Gesangspause nach dem Refrain. Zack grinste mich an, streckte seine Hand aus und zog mich mit einem scharfen Ruck auf die Bühne. Ich stolperte in ihn hinein. Er nutzte die Gelegenheit um mir einen Kuss voll auf den Mund zu geben. Anders als ich verpasste er danach nicht einmal seinen Einsatz. Während er mit der Strophe weitermachte, stand ich verwirrt da und wusste nicht, was ich tun sollte. Ihm eine scheuern? Kichern und erröten? Oder einfach von dieser verdammten Bühne verschwinden und so tun, als würde ich jeden Tag von Rockmusikern geküsst werden? Es dauerte eine Weile, bis ich diese geniale Idee umsetzte und ein paar zögerliche Schritte von der Band weg schaffte. Noch immer etwas benommen schaute ich mich um. Die Gäste waren begeistert. So zumindest interpretierte ich die vorsichtigen, schwankenden Bewegungen zum Takt der Musik. Irgendwie schaffte ich es zurück an Hans Baumanns Seite.
"Ich wusste nicht, dass Sie es in sich haben!" Er hob sein Glas und prostete mir zu. Seine Reaktion war fast noch ein größerer Schock als der Kuss. Obwohl ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, wollte es mir nicht gelingen. Zack lieferte da oben eine geniale Show, unsere Mandanten genossen das Spektakel. Die Band war ein voller Erfolg, auch wenn man sich nicht weiter von klassischer Musik entfernen konnte als mit Bens Freunden. Ben! Mein Kopf klärte sich. Ich würde meinen Bruder umbringen. Bevor ich das tun konnte, musste ich diesen Nachmittag überstehen, also kleisterte ich mir ein Lächeln ins Gesicht und betete, die Party möge bald vorüber sein. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit erhörte Gott mein Gebet. Blöderweise nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.
"Highway to Hell", kam zu einem Ende, das mit jubelndem Applaus und Pfiffen begrüßt wurde. Dann ging Hans Baumann mit langen Schritten auf die Bühne zu und ließ sich von Zack das Mikrofon geben. Als hätten sie es miteinander abgesprochen, trat Zack zur Seite, der Trommler gab einen kurzen Trommelwirbel, Hans Baumann räusperte sich und sprach mit sonorer Stimme ins Mikrofon: "Mit großem Stolz heiße ich Sie, verehrte Damen und Herren, heute Nachmittag zu unserem traditionellen Sommerfest willkommen."
Ich schloss die Augen, nahm einen tiefen Atemzug und versuchte mein Herz zu ignorieren, das mit einem gefühlten Puls von fünfhundert in meiner Brust wummerte. Hoffentlich kommt er gleich zur Sache, betete ich. Hoffentlich hält er jetzt nicht einen seiner stundenlangen Monologe, bei denen jeder einschläft. Das überstehe ich nicht. Wenn mein Herz noch etwas schneller schlägt, können die hier gleich den neuen Defibrillator testen. Den hatten wir für ältere Mandanten angeschafft, die nicht immer mit den Nachrichten umgehen konnten, die vom Finanzamt kamen.
"Heute habe ich eine frohe Neuigkeit zu verkünden. Unsere geschätzte Mitarbeiterin Julia Marquardt ist eine der brillantesten Steuerberaterinnen unserer Zunft." Er legte eine Pause ein. Mach weiter, bat ich ihn in Gedanken, richtete mich auf und nahm die Schultern zurück. Alles, worauf ich so lange hingearbeitet hatte, lag in greifbarer Nähe.
"Lassen Sie uns durch, Steuerfahndung!", wurde Hans Baumann unterbrochen.
Männer, die eindeutig nicht zu den geladenen Gästen gehörten, was man schon allein an ihren Kaufhausanzügen sah, drängelten sich durch die Menge. Begleitet von einem verängstigten Flüstern.
Steuerfahndung! Der Voldemort aller Steuerberater.