Barbara Beuys

Asta Nielsen

Filmgenie und neue Frau

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

1. Kapitel


LOTTE ODER DER DUFT NACH SÜSSEM PARFÜM

Geburt in Kopenhagen: Hoffnungslose Armut – Kindheit in Malmö: Glückliche Jahre – Drama im Dachgeschoss

1881-1890

Der erste Geburtstag, an den sie sich erinnern konnte, war ihr dritter. Die Mutter weckte sie mit einem Kuss, und der Vater überraschte sie mit einer großen Stoffpuppe, die er selbst genäht hatte. Die Nachbarin kam mit einem Pflaumenkuchen, auf dem ein Brief mit einem handgeschriebenen Geburtstagsgedicht lag. Danach wurden ihr Kaffee und Kuchen ans Bett serviert, die Mutter setzte sich auf ihren Wunsch zu ihr und sang Astas Lieblingslied.

Das war am 11. September 1884. Asta Nielsen, die 1881 in Kopenhagen geboren wurde, lebte mit ihren Eltern und der viereinhalb Jahre älteren Schwester Johanne im schwedischen Malmö. Weil der arbeitslose Vater durch seinen Schwager dort Arbeit in einer Dampffabrik gefunden hatte, war die dänische Familie am 10. November 1883 mit dem Schiff von Kopenhagen über den Öresund nach Schweden in ein neues Leben gefahren. (Seit dem Jahr 2000 können Autos und Eisenbahnen dank einer Brücke den Weg übers Meer nehmen.)

Über die Situation der Familie zum Zeitpunkt ihrer Geburt schreibt Asta Nielsen in ihren Erinnerungen Den tiende museDie zehnte Muse – gut sechzig Jahre später: »In einer total hoffnungslosen Zeit voller Armut und Krankheit kam ich auf die Welt. Mein Vater war so krank und entkräftet, dass er sich nur fortbewegen konnte, wenn er sich an den Wänden abstützte. Er hatte nicht einmal die Kraft, das Neugeborene in seine Arme zu nehmen.« Die Mutter, bei der Geburt siebenunddreißig Jahre alt, hatte bis zuletzt in der Waschküche gearbeitet, um wenigstens die Hebamme bezahlen zu können. Alles, was man entbehren konnte, war ins Pfandhaus gewandert. Die Speisekammer war leer, es gab kein Brennholz für den Kachelofen.

Mit der Überfahrt nach Malmö zwei Jahre später wendete sich das Blatt zum Besseren. Die feste Arbeitsstelle brachte regelmäßig Geld ins Haus, auch wenn es anfangs eine bescheidene Summe war. Und im ersten Stock eines Hinterhauses in zwei kleinen Zimmern zu wohnen, war für eine Arbeiterfamilie nichts Besonderes. Asta, die Jüngste, kannte die harte Zeit ihrer ersten beiden Lebensjahre nur vom Hörensagen. Das Familienleben, das ihre Erinnerung an die Kindheit prägte, an die sieben Jahre in Malmö, war nicht von Entbehrungen geprägt, im Gegenteil. Sie glaube, wird sie in ihrer Autobiografie schreiben, »in Malmö verbrachten meine Eltern ihre glücklichste Zeit«.

Die Eltern: Der Vater, Jens Christian Nielsen, 1847 im nördlichen Jütland geboren, hatte kaum Erinnerungen an die eigenen, früh verstorbenen Eltern. Er besuchte keine Schule, arbeitete auf einem Bauernhof, bis er 1868 zum Militär eingezogen wurde. Er machte in der Armee als Offizier Karriere, wohl nicht zuletzt, weil er sich das Schreiben und Lesen selbst beibrachte, und wurde nach Kopenhagen versetzt.

Dort traf er bei einem Offiziersball die vier Jahre ältere Ida Frederikke Petersen, die mit Eltern und neun Geschwistern in der Hauptstadt lebte. Deren Vater war stolz auf den exotischen Titel eines »Wasseraufspürers«: Wenn ein Brand in den Städten ausbrach, war er es, der mit Erfahrung und Geschick die Stelle ausfindig machte, wo die Feuerwehr schnellstens an die größtmögliche Menge Wasser kam.

1872 wurde Jens Nielsen aus der Armee entlassen. Doch die Rückkehr in die jütländische Heimat, wo sein Bruder ihm eine Arbeit in einer Brauerei verschaffte, währte nur kurz. Am 3. Januar 1875 heirateten im lutherischen Dom zu Kopenhagen – der Frue Kirke, Frauen-Kirche – Ida Petersen und Jens Nielsen.

Ihr erstes Kind mussten die Eltern 1876 gleich nach der Geburt zu Grabe tragen. Am 13. Juni 1877 kam ihre Tochter Laura Johanne Marie auf die Welt, vier Jahre später die jüngste, ebenfalls im fünften Stock unterm Dach im Gammel Kongevej 9. Sie wurde vierzehn Tage nach der Geburt am 25. September 1881 in der Sankt Mathaeus Kirke auf den Namen Asta Sofie Amalie getauft; das neuneckige Taufbecken aus weißem Marmor steht dort heute noch rechts vom Altar.

Die ein Jahr zuvor eingeweihte neoromanische Backsteinkirche lag wie die Wohnung der Familie Nielsen im Arbeiterdistrikt Vesterbro. Heute geht man nur wenige Minuten vom Geburtshaus zur zentralen S-Bahn-Station Vesterbro. Die Erinnerungsplakette über der Eingangstür vom Gammel Kongevej 9, die an »ASTA NIELSEN, DÄNEMARKS ERSTEN STUMMFILMSTAR« erinnert, ist allerdings mit den Jahren verblichen und verdunkelt und hängt so hoch, dass sie niemandem auffallen kann, der vorübergeht.

Auf einem Foto von 1886 schauen die Eltern und ihre zwei Töchter Asta und Johanne uns selbstbewusst entgegen: Der Vater steht schräg nach links geneigt, schlank, dunkle Haare, große dunkle Augen in einem schmalen, weichen Gesicht, wo der auffällig breite Schnurrbart einen gewissen Gegenakzent setzt; die Mutter eher füllig, helles Haar, kantige Backenknochen, schmale Augen, aufrecht sitzend, ganz und gar nicht anlehnungsbedürftig; die deutlich kleinere Asta hält ihre Hand und steht ebenso kerzengerade wie die ältere Johanne.

Während die Handwerkerbrüder der Mutter vom Bauboom dieser Zeit, Kopenhagens Gründerjahren, profitierten, gelang es Astas Vater nicht, eine feste Arbeit zu bekommen. In der Familie dominierte ein trauriges Ereignis, wenn die Eltern ihren Töchtern von den ersten Ehejahren in Kopenhagen erzählten. Als Jens Nielsen das Bauprojekt eines Schwagers besichtigte, kam das Gerüst aus dem Lot. Er stürzte in die Tiefe, konnte aber durch ein gewagtes Manöver einen Lehrling, der mit ihm auf dem Gerüst gestanden hatte, retten. Seine Gesundheit allerdings war durch diese Kraftanstrengung so zerrüttet, dass er sein ganzes weiteres Leben lange und schwere Krankheitszeiten durchleiden musste. Es war seine Frau, die durch Putzen, Waschen und andere Hausarbeiten für die Nachbarschaft die Familie über Wasser hielt.

Vor diesem dunklen Hintergrund empfand Asta die Gegenwart in Malmö umso heller. Was die Kindheit Asta Nielsens vom November 1883 bis zum Juli 1890 prägte, war nicht nur der ausreichende materielle Besitz der Familie. Sie erlebte verschiedene Welten, offene Horizonte ebenso wie rigorose familieninterne Strukturen. Sie wuchs in zwei Sprachen auf und lernte, sich in allem, so verschieden und widersprüchlich es war, zurechtzufinden.

Die erste Malmöer Wohnung, in einem Hinterhaus in der Mårtansgatan, blieb mit einem Erlebnis verbunden, das sich vom Vergnügen blitzartig in einen Alptraum verwandelte. Eines Tages kletterte die kleine Asta mühsam die steile Treppe vom ersten Stock hinunter in den Hof. Mühsam, weil sie in einer Hand eine große Brotschnitte mit braunem Zucker hielt, die ihr die Mutter geschmiert hatte. Asta machte es sich unten gemütlich, ohne zu bedenken, dass auf dem Innenhof ein Hahn mit seinen Hühnern sein Revier hatte. Kaum hatte sie in das köstliche Brot gebissen, »kommt der Hahn mit den gelben Augen, hebt den Kamm senkrecht, gackert mit der Hühnerschar, rauscht auf mich zu wie der Führer eines Regimentes von Soldaten. Der ganze Hühnerharem stürzte sich auf mich. Er stolzierte siegesgewiss zwischen den gierigen Frauenzimmern.«

Asta ist wie gelähmt, unfähig, die Angreifer abzuwehren oder zu fliehen: »Erst als auch der letzte Krümel und die Hühner wieder weg waren, bekam ich Kraft und Mut zu heulen. Und damit hörte ich nicht auf, bis die Mutter die Treppe herunterrauschte, mich aufhob – für eine Tracht Prügel, deren Intensität nichts zu wünschen übrig ließ.« So trostbedürftig das kleine Mädchen war, die Reaktion der Mutter kam nicht überraschend.

Wie ihre Schwester Johanne hatte Asta oft genug erfahren, dass ihre Mutter nicht nur die »losen Hände« der Großmutter als Erziehungsmethode übernommen hatte, sondern ihre Töchter außer mit Ohrfeigen gnadenlos mit einer Reitpeitsche traktierte. Für Vergehen, die vor allem die äußerliche Ordnung betrafen: Wenn Asta sich mit der feinen Kleidung, die die Mädchen an Sonntagen und im Alltag tragen mussten, »im Rinnstein wälzte«, und Johanne, mit der Aufsicht betraut, die jüngere Schwester nicht schnell genug davon abhalten konnte.

Das Drama im Hinterhof hatte die Mutter verärgert, weil es sie bei der Arbeit störte. Wie so oft saß sie im Flur vor der Wohnung und flickte Mehlsäcke, um die monatlichen Einkünfte zu vergrößern. Die Vermietung eines Zimmers der kleinen Wohnung brachte weiteres Geld in die Haushaltskasse. Ob sie die Säcke flickte oder sich um die Wäsche des Untermieters kümmerte, immer hatte die Mutter ein schwungvolles Lied auf den Lippen, ihr Repertoire war unerschöpflich. Meist war sie gut gelaunt, in trauriger Stimmung tröstete sie sich mit wehmütigem Gesang. An dämmrigen Winternachmittagen, bevor der Vater von der Arbeit nach Hause kam, wenn das Feuer im Ofen knisterte, verzauberte sie Johanne und Asta mit Gedichten und tragischen Liebesliedern. Sie sang, wenn sie am frühen Sonntagmorgen die Küche wienerte und schrubbte, dass es nur so glänzte, und sie mit frisch gestärkter Schürze stolz ihre Familie zum Frühstück empfing.

Das war die Mutter, die Asta liebte. Vor der anderen, brutal und ohne Mitgefühl, fürchtete sie sich. Und doch war es dieselbe Frau, die diese Widersprüche in ihrem Inneren trug.

Im Herbst 1885 zog Familie Nielsen in die Ostindiefararegatan 40, erneut ein Hinterhaus. Es wurde eine Zwischenstation, nicht nur, weil die Kakerlaken unerträglich waren. Der Vater war zum Lagerverwalter befördert worden. Das Lager befand sich in der Innenstadt, und die Familie konnte sich dort ein Jahr später endlich eine bessere Wohnung leisten. Sie wohnte zuerst in der Nummer 16 der Store Humlegatan (heute nur noch Humlegatan), wenig später zog man auf die gegenüberliegende Seite in die Nummer 11. Das war ein kleines gemütliches gelbes Haus mit drei Zimmern, eins davon zur Straßenseite – ein nie gekannter Luxus, den die Eltern sich und den Kindern gönnten.

Kein Zimmer wurde untervermietet, die Mutter musste nicht mehr Säcke flicken oder putzen gehen, und trotzdem war genug Geld da, um eine neue Wohnzimmereinrichtung anzuschaffen. Es dominierten »weinrote Ripsbezüge« und der neue Spiegel, der das Wohnzimmer vom Boden bis zur Decke zierte, hatte eine Ablage, auf der sich allerlei Nippes versammelte: »Mutter strahlte vor Stolz und Glück über ihr schickes Heim …« In der Humlegatan öffnete sich für Asta eine neue faszinierende Welt, denn dort machte sie Bekanntschaft mit einem »Fräulein Charlotte Carlson, die mir sehr viel bedeuten sollte«.

Es begann damit, dass die beiden Schwestern für »Lotte«, so wollte sie genannt werden, die früher im gelben Haus gewohnt hatte und nun dank eines »Onkels« in einer größeren Wohnung in derselben Straße lebte, kleine Botengänge besorgten. Bald zierten Johannes Häkeldeckchen Lottes elegante Stube, und diese ließ sich mit der Bezahlung nicht lumpen. Ihr Liebling aber war Asta, die beim Umzug in die Humlegatan fünf Jahre alt war und Lotte nur zu gern besuchte: »Mich überkam ein wahres Wohlgefühl in ihren Zimmern, die nach süßem Parfüm, Punsch und Tabak dufteten. Die Möbel waren mit schwerem Plüsch bezogen und hatten schwere Fransen. … Und in allen diesen Herrlichkeiten lag sie in einem breiten, niedrigen Bett, strahlend schön … ich fand sie göttlich …« Die Zigarette ging Lotte nie aus, und immer stand auf dem türkischen Tischchen eine silberne, mit kleinen Makronen gefüllte Schale.

Als Asta eines Tages wieder einmal Häkeldeckchen ihrer Schwester bei Lotte abliefern wollte, hörte sie schon außerhalb des Schlafzimmers Gesang und Gitarrenmusik. Wie üblich lag Lotte mit Zigarette im Bett, »und sie hörte einer älteren schmuddeligen Frau zu, die auf dem Sofa saß und aus vollem Hals zur eigenen Gitarrenbegleitung sang«. Es war Mathilda, Lottes Freundin, die, kaum war ihr musikalischer Auftritt beendet, sich eine Prise Schnupftabak genehmigte. Als Asta sich höflich mit Knicks entfernen wollte, rief Mathilda: »Nein, nein, mein Kind, geh nicht, nun machen wir es uns gemütlich. Nicht wahr, Lotte?«

Die Haushaltshilfe setzte Kaffee auf, Asta wurde beauftragt, Kuchen zu holen, und bald saßen alle vergnügt um einen runden Tisch, auf dem auch noch Punsch und andere Alkoholika standen, während Lotte die Szene – und den Kuchen – vom Bett aus genoss: »Mathilda erlaubte mir, von dem süßen Punsch zu kosten … Plötzlich sank ich vom Stuhl, still und selig … Lotte sprang aus dem Bett, legte mich hinein, kühlte mein Gesicht mit kaltem Wasser und wie durch einen Nebel hörte ich ihr Flehen, meiner Mutter nichts davon zu sagen.« Mathilda, die Asta zurück nach Hause brachte, gelang es, dass dort keinerlei Argwohn aufkam.

In Asta Nielsens Erinnerungen wird Lottes Idyll aus der Sicht des Kindes beschrieben. Ein langes Leben später hat sie in ihrer Erzählung Eine Rose ist eine Rose ist – nicht immer – eine Rose auf ihre Kindheit zurückgeblickt (Asta Nielsen, Ein Tag im Paradies). Da durfte »Lotte« nicht fehlen, »die ich heiß liebte … Ob man sie in der üblichen Lesart eine Dame nennen kann, ist ziemlich zweifelhaft, viele würden sicher das Wort in Anführungszeichen setzen.« Astas Eltern wussten sicherlich über die schillernde Existenz von Lotte und Mathilda Bescheid.

Dass sich in Malmös Store Humlegatan die meisten Prostituierten niedergelassen hatten, war ein offenes Geheimnis in der Stadt. Die Husaren der nahen Kaserne gehörten zu den beständigen Besuchern und auch sonst waren es bessere Herren, die hier einkehrten. Im Buch über das Verschwundene Malmö heißt es: »Die Mädchen waren freundlich … auf der Straße viele Champagnerkorken …« Die Polizei hatte 1874 ein »Verzeichnis über sich prostituierende Frauen« eingerichtet, Lotte und Mathilda sind dort ebenfalls eingetragen: »Augusta Charlotta Carlsson, geboren 1864, unverheiratet, als Näherin ausgebildet, 1,61 groß, blonde kurzgeschnittene Haare, blaue Augen; Mathilda Carolina Stenström, geboren 1839, verheiratet, hochgewachsen, schwarze Haare, blaue Augen.«

Es ist bemerkenswert, dass Jens und Ida Nielsen die enge Freundschaft ihrer Töchter, vor allem Astas, mit Lotte wohlwollend begleiteten. Und sosehr die Mutter auf eine wohlanständige Außendarstellung bedacht war, die sich in feiner und sauberer Kleidung der Kinder manifestierte, war auch Mathilda nach dem ersten Kennenlernen willkommen: »Ein Geburtstag ohne Mathilda war in Zukunft undenkbar.« Es offenbart eine offene, tolerante Weltsicht, wenn die Eltern keine Angst vor möglichem Getuschel der Nachbarn hatten, denen die engen Kontakte der Nielsen-Töchter mit den beiden Edel-Prostituierten nicht verborgen bleiben konnten. Offensichtlich sahen die Eltern keinen moralischen Grund, der kleinen Asta die Freude an der geliebten Lotte und ihrem parfümierten Schlafzimmer-Leben zu nehmen.

Kein Vergnügen aber war für die beiden Schwestern vergleichbar mit einem Besuch bei den Verwandten der Mutter, genauer: bei den zwei ungefähr gleichaltrigen Kusinen in Kopenhagen. Es begann schon mit der Schifffahrt über den Öresund: »Wir vier liebten uns mit einer Inbrunst, die man Kindern nicht zutrauen sollte. Sie hießen Anna und Olga. Und wenn wir auf dem Weg zu ihnen an Deck des Schiffes standen, kniffen meine Schwester und ich uns gegenseitig in die Arme, um auch ganz sicher zu sein, dass unser Glück nicht ein flüchtiger Traum war.«

Ein paar Tage lang bestand das Leben der vier Unzertrennlichen aus Versteckenspielen, Pfefferminzbonbons, Zuckerkringeln und stundenlangem Erzählen, was ihr Leben bewegte. Viel zu schnell war das Glück vorbei, ging es zurück nach Malmö: »Wir weinten laut, wenn wir über den Landungssteg aufs Schiff kletterten und die Kusinen zurücklassen mussten, die unten am Kai in ihre Taschentücher heulten. Sie winkten und schickten Handküsse, als ginge es um eine Reise nach Amerika …« Asta fiel auf, dass die Mutter, die sonst den Ton angab, auf dem Schiff auffallend still war – sie konzentrierte sich darauf, nicht seekrank zu werden.

Im Herbst 1887 wurde Asta eingeschult. Sie war ehrgeizig. Die schwedische Sprache machte ihr keine Schwierigkeiten. Bald hatte sie ihren festen Platz in der ersten Reihe, wo die Besten saßen. Zu Hause achtete die Mutter strikt darauf, dass nur Dänisch gesprochen wurde. Kaum waren die beiden Töchter unter sich, sprachen sie Schwedisch; ein Protest gegen das rigorose Regiment der Mutter, der ihre geschwisterliche Gemeinschaft noch weiter stärkte.

Ende November kam der Brief eines Rechtsanwaltes, der die Familie in Aufregung versetzte. Der ältere Bruder des Vaters war im Alter von sechsundvierzig Jahren gestorben. Er hatte in der jütländischen Bierbrauerei C. ‌F. Børsch nach dem Tod des Besitzers mit dessen Witwe die Geschäfte geführt. Während Astas Vater sich auf den Weg nach Jütland machte, um als einziger Erbe den Nachlass zu übernehmen, kannte die Fantasie seiner Frau und seiner Töchter keine Grenzen. Zwar hatten sie den Schwager und Onkel niemals gesehen, aber wer so hoch gestiegen war, musste ein riesiges Vermögen erworben haben. Ein neues Leben war nur noch eine Reiselänge entfernt.

Das Gesicht des Vaters bei seiner Rückkehr sagte alles. Wie Seifenblasen zerplatzten die hochtrabenden Hoffnungen. Die Haushälterin des Verstorbenen hatte offenbar klug vorgesorgt. An Geld war nichts mehr vorhanden. Um nicht mit leeren Händen zurückzukommen, packte der Alleinerbe wahllos etliche Bücher in ein übrig gebliebenes Stehpult aus Mahagoniholz und adressierte es nach Malmö. Obwohl es für das kleine Zimmer im gelben Haus an der Humlegatan viel zu groß war, bekam es dort einen Platz, ein Teil der Bücher landete auf dem Dachboden.

Das Auswendiglernen für die Schule fiel Asta schwer. Aber sie wollte den Platz in der ersten Reihe nicht verlieren und memorierte den geforderten Stoff immer wieder mit lauter Stimme zu Hause, bis er im Gedächtnis blieb. Doch es gab viele Tage, an denen Johanne, die seit der Geburt eine schwächliche Konstitution hatte, krank war und Ruhe brauchte.

Die Mutter war einverstanden, als Asta die Idee hatte, ihre Schularbeiten auf dem Dachboden zu machen, lautes Auswendiglernen inbegriffen. Es blieb nicht dabei, »der Plunder um mich herum, begann mich zu interessieren«. Zuerst kamen die bunten Lappen in einem Wäschepuff an die Reihe, mit denen Asta sich schmückte und vor einem kleinen Spiegel Grimassen machte. Dann begann sie, in den Büchern des Onkels zu blättern: »Jetzt öffnete sich mir eine ganz neue Welt. Eine große, reich illustrierte Ausgabe von ›1001 Nacht‹ fiel mir als Erstes in die Hände.« Nach dem Vorbild der Illustrationen schmückte sich die Sechsjährige, verrenkte Arme und Beine oder »saß stundenlang vor dem Spiegel … ganz versunken in den Anblick meiner eigenen Schönheit«. Ihre Neugier auf die Schätze des Onkels war geweckt.

Als sie ein ungebundenes Buch durchblätterte, auf dem »Henrik Ibsen« stand und darunter »Brand«, war sie enttäuscht, nichts über Feuersbrünste zu entdecken. Doch dann las Asta von einer gewissen Agnes, die verzweifelt vor einer Kommode kniete, in der Kleider ihres toten Kindes lagen: »Irgendetwas daran muss mich ergriffen haben, denn ich las weiter und blieb hinterher noch eine Weile sitzen.« Sie legte das Buch nicht zu den übrigen, sondern an einen besonderen Platz. Viel später erst wird sie erfahren, dass sie das Drama Brand des umstrittenen norwegischen Theaterschriftstellers in der Hand hatte.

Als Asta wenige Tage später wieder auf den Dachboden ging, las sie die Szene noch einmal und erinnerte sich plötzlich an eine Nacht, als sie der Vater an Johannes Krankenbett holte, wo schon ihre weinende Mutter stand: »Da musste ich selber weinen, wahrscheinlich am meisten über meine Schwester, die im Zimmer unter mir krank lag. Ich bat Gott inständig, sie nicht vor mir sterben zu lassen, legte das Buch zurück und vergaß es für eine Weile«. Es war nicht nur Johanne, die während der Zeit in Malmö auf den Tod erkrankte.

Dass die ältere, schwächliche Schwester immer wieder ärztliche Hilfe brauchte, war Asta gewohnt, auch wenn es ihre Gefühle stets aufs Neue aufwühlte. Völlig unerwartet kam die schwere Krankheit der ständig aktiven Mutter, die immer ausgesehen hatte wie das pralle Leben. Jetzt lag sie schwer atmend mit hohem Fieber im Bett. Der Arzt sprach von Lungenentzündung und gab ihr keine Überlebenschance. Die glückliche Zeit in Malmö schien ein jähes Ende zu nehmen. Der Vater war verzweifelt, Asta und Johanne gingen sechs Wochen nur auf Zehenspitzen durch das Haus. Doch dann hatte die Kranke es überstanden. Erst während dieser Krankheit wurde Asta bewusst, wie »unendlich tief« sie ihre Mutter liebte.

Dass beides, Strenge und Mitgefühl, zu deren Persönlichkeit gehörten, erlebte Asta verstärkt, als die Familie sich 1889 vergrößerte und ein Pflegekind aufgenommen wurde. Hugo war noch kein Jahr alt, als seine Mutter, eine Gouvernante, sich von ihm trennen musste; der Vater war unbekannt. Alle liebten Hugo, besonders Asta. »Ich hielt ihn für das schönste Kind auf der Welt«, schrieb die Sechsundachtzigjährige im April 1967 ihrer Freundin, der Malerin Kirsten Kjær: »Und wenn Mutter mit ihm auf dem Arm umherging, küsste ich ihn immer auf den süßen kleinen Po.« Hugo blieb nicht lange, es fanden sich Adoptiveltern, die gut für ihn sorgten.

Asta und Johanne besuchten die »Sonntagsschule«, die Schwedens lutherische Kirche am Sonntag für Kinder anbot. Von Kirchgängen der Eltern ist in Astas Erinnerungen keine Rede, aber selbstverständlich wurden die Kinder konfirmiert. Die ältere Johanne war im April 1890 an der Reihe. Sie war sehr religiös und erzählte der jüngeren Schwester mit großem Ernst von der Vorbereitung durch den Priester, von Gott und den Wegen Christi. Asta konnte das gut nachempfinden: »Jedes Jahr durchlebte ich – ganz heimlich – in der Zeit vor Ostern wie in einer religiösen Ekstase in Gedanken die Leiden Christi. … Wir nickten uns verständnisvoll zu, und ein glückliches Zusammengehörigkeitsgefühl erfüllte unsere Kinderherzen.«

Zur Konfirmation an einem gewöhnlichen Werktag begleitete Asta ihre Schwester in die Kirche zu den übrigen Konfirmandinnen, »für mich war sie die schönste von allen«. Mit der Straßenbahn fuhren sie zurück in die Humlegatan, und Johanne bekam vom Vater eine kleine goldene Uhr mit eingelegten roten Emaille-Mohnblüten auf der Rückseite. Dazu ein paar Kronen, von denen sie Zuckerkringel kauften und die Nachbarkinder an dem süßen Vergnügen teilnehmen ließen.

Nur einen Monat später, im April 1890, organisierte der Vater einen Pferdewagen und ein paar Helfer für den nächsten Umzug. Alles war so penibel gepackt, dass schon am Abend des Tages die Dinge in der neuen Wohnung an ihrem vorgesehenen Platz standen und die Mutter das Essen pünktlich auf den Tisch brachte. Die neue Wohnung in der Södra Förstadtsgatan lag in einem Vorort von Malmö. Das geliebte gelbe Haus hatte die Familie aufgeben müssen, weil Schwamm und Feuchtigkeit überhandnahmen. Wieder musste Asta die Schule wechseln.

Die Sehnsucht nach der Humlegatan war nicht zuletzt die Sehnsucht nach Lotte und Mathilda. Asta war inzwischen acht Jahre alt und tat, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte: Statt in der Schule erschien sie eines Tages vor Mathildas Wohnung. Mathilda war erschrocken, aber lebenspraktisch und Menschenkennerin. Sie ahnte, dass Lotte das eigentliche Ziel war, und wenig später stand sie mit Asta vor deren Tür.

Erstmals war Lotte, die wie immer im Bett lag, nicht allein, und Asta sah den vielgerühmten »Onkel«, der in langen weißen Unterhosen vor der Waschkommode stand. Sein düsterer Blick traf die beiden Hereintretenden, und Mathilda, die wusste, was hier gespielt wurde, flötete: »Wir gehen gleich wieder. Asta wollte der lieben Lotte nur guten Tag sagen.« Die reichte Asta einen kleinen Plüschaffen, und Mathilda verschwand schnell mit ihrem Zögling rückwärts aus der Wohnung.

Zurück nach Hause? Nein, eine so frühe Rückkehr würde Astas Mutter misstrauisch machen, und wieder fand Mathilda eine Lösung. Sie kannte eine Familie, die sich in diesen Stunden um ihren verstorbenen Jungen versammelte, der zu Hause im offenen Sarg aufgebahrt war. Dieser Brauch führte in Malmö die Trauernden mit Freunden und jedem, der eintreten wollte, zu einem ausgiebigen Leichenschmaus zusammen.

Die Szene an sich war Asta wohlbekannt. Sobald sich in der Schule herumsprach, dass in der Nähe eine Leiche aufgebahrt war, machten sich Kindergruppen lauthals auf den Weg, gingen dann auf Zehenspitzen in das Trauerhaus und stellten sich stumm vor den offenen Sarg. Auf Asta hatten diese makabren Besuche bisher nicht den geringsten Eindruck gemacht: »Ich betrachtete die Toten so kalt und gefühllos, als wären es herausgeputzte Wachsfiguren.« Doch diesmal reagierte sie anders.

Der kleine tote Junge lag in einem schwarzen Sarg, auf dessen vier Ecken versilberte Engelsköpfe mit Flügeln wachten. Auf zwei großen silbernen Kandelabern brannten Kerzen zwischen hohen grünen Pflanzen. Kaffeeduft zog durch die Räume, die Schalen waren mit Kuchen und Pralinen gefüllt. Die Mutter des toten Kindes schenkte selbst den Kaffee ein. Astas Stimmung schwankte zwischen Weinen und Wohlbefinden. Diese Leiche rührte ihr Herz. Es war erst wenige Monate her, dass Asta sich mit dem kleinen Hugo amüsiert hatte. Nur mit allergrößter Mühe gelang es ihr, der Mutter niemals von diesem Besuch zu erzählen. Denn ihre Gedanken kreisten immerzu um dieses Ereignis, und das Gesicht des kleinen Toten verfolgte sie eine lange Zeit.

In der neuen Wohnung konnte Asta sich nicht auf einen Dachboden zurückziehen. Aber die Bücher des verstorbenen Onkels, darunter auch Ibsens Brand, hatten einen Platz in der Wohnstube gefunden. Im Zusammenhang mit ihren bedrückenden Gedanken empfand sie die Erinnerung an dieses Buch wie eine Befreiung. Sie griff nach dem Band, las die vertraute Szene, wo Agnes auf die Kleider ihres toten Sohnes schaut, und fühlte sich der verzweifelten Mutter verbunden: »Jetzt wusste ich, in welch eisige Einsamkeit der Kleine entrückt war, als er sterbend die Mutter verließ. Jetzt ahnte ich die hoffnungslose Trauer von Agnes beim Verlust ihres kleinen Schatzes.«

War sie allein oder fühlte sich unbeobachtet, kniete die neunjährige Asta sich vor Mutters Kommode und brach in Gedanken an die familiären Erinnerungsstücke, die dort verwahrt wurden, in Tränen aus. Für ihre Trauer griff sie nicht auf die Worte des Dichters zurück. Es war ein diffuses Weinen und Klagen, von ihren Gefühlen ausgelöst. So hat es die erwachsene Asta Nielsen in ihren Erinnerungen beschrieben.

Im Juni 1890 kam der Vater mit einer Nachricht nach Hause, die alles veränderte: Seiner Arbeit würde buchstäblich der Boden entzogen werden. Der Staat wollte den Grund, auf dem die Dampfmühle stand, aufkaufen. Allen, die in der Dampfmühle Arbeit hatten, wurde gekündigt. Für den Dänen Jens Nielsen, der im schwedischen Malmö Gastarbeiter war, gab es keine neue Arbeit.

Schnell war gepackt. Schon Anfang Juli befand sich Asta mit Johanne und den Eltern auf dem Schiff, das über den Öresund in Richtung Kopenhagen fuhr. Den beiden Schwestern schien es ein wunderbarer Tausch: Hatten sie doch die märchenhaften Kopenhagen-Tage mit den Kusinen Anna und Olga tief im Gedächtnis und waren überzeugt, diese festliche, stets viel zu kurze Zeit würde nun in einen dauerhaften Zustand übergehen. Selige Aussichten.