California’s next Magician

California’s next Magician

Band 1

Isabel Kritzer

Drachenmond Verlag

Für Bettina,

weil du mich stets gelehrt hast,

dass Emanzipation etwas Gutes und wichtig

für uns Frauen ist.

Und dass es sich lohnt, für seine Träume zu kämpfen,

ganz gleich, wer an einen glaubt.


Und für Elke,

weil du an mich glaubst.

Dieses Buch habe ich für dich geschrieben.

Inhalt

Vorwort

Playlist

Die vier Gilden des Kaiserreiches Eterny

1. Das Mädchen im Käfig aus Leuchtdioden

2. Meine Bestimmung durch die Assems

3. Ein verführerisches Angebot

4. Das Leuchten der Ayuden

5. Der Nanobot weist dir denn Weg

6. Die wahre Natur lässt sich nicht verleugnen

7. Von Rovennas Memoiren und Lis Fähigkeiten

8. Bittere Erkenntnisse und ein süßer Kuss

9. Über Illusionen und davon, sie zu bekämpfen

10. Dem Ziel so nah und doch so weit entfernt

11. Nichts ist, wie es zu sein scheint

12. Das Geräusch von brechendem Porzellan

13. Aus der Asche erhoben

14. Für andere Ohren bestimmt

15. Ein Fläschchen voller Magie

16. Tanz mit Worten

17. Ein Rätsel für mich

18. Vom Hai erwischt

19. Der Fluch der Schwäche

20. Svens Geschichte

21. Zeit, die Flügel zu entfalten

22. Die Pixie in mir

23. Um Haaresbreite

24. Topkandidatin des Volkes

25. Weil er mir etwas bedeutete

26. Ich bin offiziell von Verrückten umgeben

27. Die Abordnung des chinesischen Kaisers

28. Die vierte Aufgabe

29. Ein Zucken in der Hand

30. Misteriouss

31. Das große Geheimnis, das eigentlich ein ganz kleines war

32. Im Herzen verbrüdert

33. Ivan der Schreckliche

34. In Finsternis gehüllt

35. Die Zeremonie zur Regentschaft

Schlusswort

Danksagung

Vorwort

Herzlich willkommen im Kaiserreich Eterny – in einer Welt voller Magie und Möglichkeiten!


Hier erwartet dich eine Geschichte der besonderen Art. Sei live dabei und begleite Josephine auf ihrem Weg. Damit bist du näher dran als all die Kameras, die Tag und Nacht, jede Minute und Sekunde, den Kandidaten mit ihrer Linse folgen.


Blättere schnell weiter und verliere dein Herz – aber pass auf, dass du es an den Richtigen verlierst, denn in Eterny ist nichts so, wie es scheint.


Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen!


Sonja von dreamsbooksandfantasy.de

Playlist

Airplanes (feat. Hayley Williams of Paramore) – B.o.B.

Irreplaceable – Beyoncé

I Want It That Way – Backstreet Boys

Mr. Brightside – The Killers

How You Remind Me – Nickelback

Titanium (feat. Sia) – David Guetta

Since U Been Gone – Kelly Clarkson

Sex On Fire – Kings of Leon

Dilemma (feat. Nelly) – Kelly Rowland

No Air (feat. Chris Brown) – Jordin Sparks

Crazy – Gnarls Barkley

Say My Name – Destiny’s Child

Gangsta’s Paradise (feat L.V.) – Coolio

Where Is the Love? – The Black Eyed Peas

Family Affair – Mary J. Blige

Numb – Linking Park

Secrets – OneRepublic

She Will Be Loved – Maroon 5

Apologize (feat. OneRepublic) – Timbaland

Lose Yourself – Eminem

Die vier Gilden des Kaiserreiches Eterny

Die Cuiny sind Gestaltwandler. Ihre Stärke bemisst sich an ihrem Wappentier. In dieses können sie sich verwandeln. Ist es magisch, sind sie äußerst stark. Ihre Gildenfarbe ist Grün.


Die Mensay sind Empathen und Heiler. Sie stammen von den Medizinmännern ab. Ihre Gildenfarbe ist Weiß.


Die Veritas sind Wahrheitsfinder und Illusionisten. Je nach Grad ihrer Kraft sind ihre Illusionen optisch, akustisch und sogar haptisch. Für sie steht die Farbe Gelb.


Die Gulets beherrschen die Magie der Elemente. Sie tragen die Farbe Blau und sind eine reine Männergilde.

Das Mädchen im Käfig aus Leuchtdioden

Meine Hände zitterten besorgniserregend. Das taten sie immer, wenn ich aufgeregt war. Und da ich auf einer Bühne stand, hatte mein Körper anscheinend einfach so – ohne mein Wissen – den inneren Ausnahmezustand ausgerufen. Unwirsch klemmte ich sie mir über Kreuz unter die Achseln, an denen mich daraufhin der Cordstoff meines rosafarbenen Kostüms zwickte. Nein, ich steckte nicht in einem Kostüm à la Ferkel aus Pooh der Bär, auch wenn ich eine Vorliebe für Kinderfilme aus der alten Zeit hatte, sondern in einem richtigen. Mit Blazer, sittsamem knielangen Rock und weißen, auf Hochglanz gewienerten Absatzschuhen, die vorher bei jedem Schritt die Treppen zu Bühne hinauf fürchterlich geklackt hatten.

Zur Krönung des Ganzen hieß ich Josephine Streisand. Nicht und absolut auch sicher über gar keine Ecke mit Barbara Streisand verwandt, denn ich bevorzugte Metal. Heavy Metal. Das ganz laute Zeug, das einen durch ordentliche Vibration der Boxen auch etwas im Bauch und in den Gliedern spüren ließ. Das nicht nur an den Nerven zehrte wie Barbaras sanftes Stimmchen, das meine Mutter, zu meinem absoluten Unverständnis, so gern aus der Konserve erklingen ließ.

Außerdem bevorzugte ich normalerweise Smokey Eyes, statt meiner heute nur dezent geschminkten blauen Augen, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich auch eine charakteristische Anzahl von Metallringen in den Ohren und vielleicht auch einen in der Nase. Möglicherweise hätte ich mir zudem die seidigen blonden Strähnen, die mir bis zur Hüfte fielen, schwarz gefärbt – für ein stimmiges Gesamtbild. Es ging aber nicht nach mir.

Dementsprechend stand ich brav im Licht der grellen Scheinwerfer und harrte im stummen Elend dieser lächerlichen Möchtegernbarbiepuppen-Aufmachung aus. Allein die ganzen Gedanken an Klamotten verursachten mir bereits Ermüdungserscheinungen. Aber leider verboten sich auch die meisten anderen möglichen Überlegungen, wie zum Beispiel die über meine unmittelbare Zukunft, denn diese sah nicht gerade rosig aus.

Das fand zumindest ich. Meine Mutter war da anderer Meinung. Deshalb stand ich hier auf dem weißen Marmor und ließ mich mit vierundzwanzig Fremden neben mir von mehr als fünfzigtausend Zuschauern auf dem weitläufigen Platz davor begaffen.

Hinter mir fuhr gerade nach einem fröhlichen Tusch ein überlebensgroßer Flatscreen zur Seite und enthüllte vermutlich den rötlichen Haarschopf von einem der größten Magicians unserer Zeit. So interpretierte ich jedenfalls die plötzlich sabbernden Münder der meisten weiblichen Wesen im Publikum.

Jaaa. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als dass ER gleich zu uns sprechen würde. Absolut nichts. Gar nichts. Neeeiiin.

Sein Ruf als Bad Boy eilte ihm voraus. Und obwohl ich mir einzureden versuchte, dass mich das nicht beeindruckte, jagte mir seine plötzliche Präsenz nun doch elektrisierende Schauer über den unteren Rücken. Dabei hatte ich ihn noch nicht einmal gesehen. Er stand nur irgendwo hinter mir auf derselben Bühne.

Sullivan Tenakulis. Kardinal der Blauen Garde seiner göttlichen Heiligkeit, des Kaisers von Eterny. Mitglied der Gilde der Gulet. Sexiest Man Alive, wenn man dem Tekre Magazin Glauben schenkte. Vierundzwanzig Jahre alt oder eher jung. Schwarm fast aller Mädchen und Frauen des Kaiserreiches.

»Nicht mein Typ«, hatte ich neulich zu Yasemine gesagt, die unter uns wohnte. Wieder einmal hatte sie von ihm zu schwärmen begonnen. Dieses Mal allerdings, während ich im Wäscheraum einfach nur in Ruhe Höschen auf die Leine hatte hängen wollen.

Was war falsch an ein bisschen Privatsphäre, wenn man gerade in der eigenen Unterwäsche herumwühlt? Genau. Nichts.

Und deshalb war doch wohl auch ein bisschen flunkern hinsichtlich meiner Abneigung gegen Sullivan erlaubt, oder? Schließlich sang schon jedes andere weibliche Wesen wahre Loblieder des Balzgesangs auf Mister Ich-bin-zu-gut-für-euch-Alle. Denn eine Beziehung war er bisher – zumindest offiziell – nicht eingegangen. Möge er eines Tages einsam mit sieben Katzen enden.

Oder war das zu harmlos? Denn das wäre vermutlich immer noch besser als die Art und Weise, wie ich enden würde. Bald – sehr bald. Ohne Katzen. Bei irgendeiner der kommenden Aufgaben, wegen denen ich hier auf dieser Bühne stand.

Und genau das war der Grund für meine heutige Biestigkeit; für Verhaltenszüge, die ich bisher nie an mir hatte feststellen können und die jetzt einfach so aus mir herausbrachen. Wie unangenehm.

Ich schluckte. Blinzelte.

Leider sah auch Yasemine die Dinge anders als ich. Nicht dass sie sich deshalb mit meiner Mutter grün gewesen wäre.

Yasemine arbeitete in einem Schönheitssalon, hatte purpur­farbenes Haar, blinkende Zähne und rostrote Krallen, mit denen sie sicher keine Behandlungen durchführte. Oder doch? Ich hatte sie nie gefragt. Und war auch noch nie in einem Schönheitssalon gewesen. Was wusste ich also? Jedenfalls war sie das perfekte Aushängeschild für alles, was in California gemeinhin als ›Der letzte Schrei!‹ bezeichnet wurde. Und zum Schreien waren ihre Wandlungen manchmal wirklich. Das ging von ›zum Schreien komisch‹ bei etwaigen bonbonrosa Haarverwirrungen bis zu ›zum laut Schreien und Davonlaufen‹, wenn sie wieder einmal mit Botox und anderen Mitteln hantiert hatte. Aber das war ihre Entscheidung, denn immerhin machte sie das zu einer absolut individuellen Persönlichkeit.

Ich war nur die uneheliche Kleine der Vorstandsvorsitzenden von Tekre Industries. Das Mädchen im Käfig aus Leuchtdioden, aus Nanocams und Hightechkram, der mich herzlich wenig interessierte. Das wundersame Kind ohne Gabe. Und damit scheinbar die größte Enttäuschung im Leben meiner ehrgeizigen Mutter – bis jetzt.

Nun war ich immer noch eine unter Millionen von Einwohnern Californias und doch eine der fünfundzwanzig mit einem silbernen Brief, die deshalb heute hier auf dem Marmor standen.

Wie magisch angezogen lenkte ich meinen Blick direkt auf ihn.

Sullivan der Großartige. Hust.

Er war inzwischen zum vorderen Rand der Bühne geschritten und stand nun knapp vor der Abgrenzung zum Publikum, die durch Robobots und schwebende Drohnen gesichert wurde. Fast geräusch­los sorgte die Technik für eine umfassende systemgesteuerte Über­wachung der jubelnden Masse an Menschen. Immer und überall aufgezeichnet zu werden gehörte zum Alltag in California. Es war völlig normal. Wir kannten es nicht anders.

Sullivan wirkte dementsprechend ungerührt. Selbstsicher und anscheinend völlig im Einklang mit sich – im firmamentblauen Anzug mit weißem Einstecktuch und silbernen Schuhen. Er war solche Auftritte eindeutig gewohnt.

In meine Betrachtung mischte sich unfreiwillig Bewunderung, fast schon eine irritierende Hingezogenheit zu ihm. Ohne es zu wollen, ploppten in meinem Inneren verwirrend positive Gefühle auf – andererseits schien sich meine Aversion gegen ihn im selben Maß zu verstärken. Einzig und allein deshalb, weil er verkörperte, was ich hasste. Momentan hasste: Magicians. Weil sie mir mein geruhsames Leben genommen hatten. Einfach so. Weil sie es konnten. Durch diesen vermaledeiten Brief, den ich weder erwünscht noch erhofft hatte. Nicht wie einige der Fremden neben mir auf dieser Bühne.

Ich seufzte tonlos. Betrachtete Sullivans Kleidung intensiver.

Mal im Ernst. Wer zog als Mann schon silberne Schuhe an? Eigentlich fehlten ihm nur noch eine rote aufgesteckte Nase und ein paar weiße Knöpfe am Revers, dann wäre das futuristische Clownoutfit perfekt. Okay, das war gehässig. Und er war so weit davon entfernt, lächerlich auszusehen, dass nicht einmal ich meine zweifelhaften Versuche, ihn vor mir selbst schlecht zu machen, ernst nehmen konnte.

Mir stockte der Atem, als er seinen Kopf nun so drehte, dass ich sein Profil wahrnehmen konnte. Er hatte eine ganz besondere Ausstrahlung. Eine, die alles und jeden in seiner unmittelbaren Umgebung in den Bann zog.

Ja, er war mehr als attraktiv, gestand ich mir in einem plötzlichen Anfall von Tatsachenbezug ein. Als er nun zur Menge gedreht die Hand hob, legte sich schlagartig Stille über diese, als hätte er ihnen allen zeitgleich die Stimmen gestohlen. Vielleicht konnte er das sogar. Ich wusste es nicht. Hatte nur wie all die anderen die Gerüchte gehört, die sich um sein Machtpotenzial rankten.

Ich löste meinen Blick von ihm, ließ ihn schweifen.

Das Publikum drängte sich bis an die Ränder des großen Platzes, auf dem die Bühne errichtet worden war. Stand an den Ecken sogar in die abzweigenden Gassen und schmalen Gänge, die die Häuser voneinander trennten. Glas und Chrom blitzten zwischen all den ordent­lichen dunklen Anzügen der Männer und den rosafarbenen oder roten Röcken und Blusen der Frauen hervor.

»Saludo sapiens!«, grüßte Sullivan, nachdem sich der Geräuschpegel gesenkt hatte, mit einer weiteren eleganten Bewegung seiner Hand. Er verwendete damit unsere traditionelle Begrüßung seit dem Aufstand. »Saludo California!« Er setzte eine Pause und nickte leicht mit dem Kopf.

Applaus brandete auf.

Während ich wie alle anderen klatschte, schon allein, um nicht aufzufallen, beobachtete ich die Menge genauer.

Sullivans weißes Einstecktuch und die silbernen Schuhe waren eine Provokation, zu der sonst keiner den Mut hatte. Es fand sich nicht ein anderer Mann vor mir, der etwas Weißes, Silbernes oder weiblich Farbenfrohes trug, und nicht eine Frau, die sich öffentlich in etwas Tristem wie den für Männer oft maßgeschneiderten blauen, schwarzen oder grauen Stoffen zeigte. Das war nicht nur eine der obersten Regeln des Kaiserreiches Eterny, sondern auch unseres Magicians: Leonardo Sinessa. Der Magician und Regent des Landes innerhalb Eternys, in dem wir lebten: California.

Entweder trug man die den Geschlechtern zugesprochenen Farben oder eben eine Gewandung in den Gildenfarben – wenn man rechtmäßig als Magician oder Magicia zu einer der vier großen Gilden des Kaiserreiches gehörte. Die meisten magisch Begabten tummelten sich allerdings in Washington, der Hauptstadt von Eterny, nahe dem kaiserlichen Palast. Dort sah man häufiger Gilden­farben. In Tekre, der Hauptstadt Californias, lag der Sachverhalt ein bisschen anders.

Ebenso hatten Männer und Frauen den ihnen angedachten Tätigkeiten nachzugehen, proklamierte Sinessa in seinem erschlagenden vierhundert Seiten umfassenden Regelwerk, das wir gefühlt bei der Geburt auswendig zu können hatten. Wenn von den selbst gemachten Gesetzen des ›sinessischen Freistaates‹, wie die Untergrundpresse Sinessas Regentschaft inzwischen recht unverblümt ironisierte, abgewichen wurde, mussten entsprechende Strafsteuern gezahlt werden.

Eigentlich gehörte California nur als ein Land von fünfundzwanzig zum Kaiserreich Eterny und allein der Kaiser erließ die Gesetze. Doch das schien Sinessa manchmal zu vergessen. Genau wie einige historische Entwicklungen. Zum Beispiel die Emanzipation. Zum Glück trieb er nicht ganz so oft Strafsteuern ein. Sie waren unsichtbare Keulen, die eher abschreckten als zuschlugen.

Träge blinzelte ich.

»Es ist mir eine Ehre, heute hier stehen zu dürfen, um der Eingangszeremonie beizuwohnen«, fuhr Sullivan vorne fort. Doch obwohl seine Stimme eine besondere Wirkung auf meinen Magen ausübte, in dem es verdächtig zu flattern begann, schweiften meine Gedanken zurück zu Sinessas Ränken.

Man sollte meinen, Jähzorn sei Fünfjährigen vorbehalten, bei ihm nahm dieser mit fünfzig jedoch ungeahnte Formen an. Tödliche Formen, um genau zu sein. Meine Mutter gehörte zu dem bei unserem Regenten in Ungnade gefallenen Kreis an Personen. Ungleich so mächtigen Personen, dass er sich entschieden hatte, sie gewähren zu lassen, statt an ihnen ein Exempel zu statuieren. Was seinen Unmut im Einzelnen erregte, war nicht immer vorhersehbar. Bei meiner Mutter war es die offensichtliche Tatsache, dass sie in einem Bereich arbeitete, den er für Frauen unschicklich hielt. Sie hatte Informatik studiert und saß dem Vorstand des von ihrem verstorbenen Vater gegründeten Unternehmens Tekre Industries vor. Einem Unternehmen, dessen Gewinne die Steuereinnahmen ganz Californias um ein Zehnfaches überstiegen.

Vielleicht war Sinessa einfach das zuwider.

Von Überwachungsgeräten, Spionageabwehr bis zu Installationen wie der LED-Wand in meinem Rücken, deren eingebaute Laut­sprecher gerade einen neuerlichen Trompetenstoß erklingen ließen, stellte Tekre Industries alles her. Man könnte meinen, wir hätten Geld wie Heu. Doch dem war nicht so. Frauen bekamen in California grundsätzlich nur den Mindestlohn. Und der war nicht berauschend. Aber so wollte es das Gesetz – wohl um die holde Weiblichkeit an Haus und Herd zu binden. Die Entlohnung meine Mutter bildete da keine Ausnahme. Sie arbeitete aus purer Überzeugung. Deshalb, mit einzig ihrem Gehalt als Einkommen, wohnten wir in einem der großen gläsernen Türme, in der Wohnung direkt über Yasemine. Hatten gewohnt, korrigierte ich mich sogleich. Denn nun wohnte erst einmal nur noch meine Mutter dort.

In meinem Rücken prickelte es wieder. Sachte scharrte der Bildschirm hinter mir auf dem Boden. Irgendetwas entlockte der Menge ein Raunen und beendete endlich die Selbstinszenierung von Mr Unberührbar vor mir.

»… also lassen wir uns überraschen, wer uns im Laufe der nächsten Tage und Wochen begeistern wird«, schloss Sullivan selbstsicher und drehte sich ein bisschen zur Seite. Ein schiefes Lächeln zierte seine Mundwinkel. Es ließ ihn fast verschmitzt wirken. Dann jedoch trat die Ernsthaftigkeit erneut in seine Züge und er bewegte sich in die Mitte der Bühne. Dort winkte er noch einmal von Applaus begleitet der Menge zu, bevor er sich an den Rand, rechts von mir, stellte.

Inzwischen fühlten sich meine Finger leicht schwitzig an und ich überlegte, ob die Schweißränder, die sich sicher unter meinen Armen gebildet hatten, bald durch den Cordstoff zu sehen sein würden. Hoffent­lich nicht! Unter dem Licht der unzähligen Scheinwerfer wurde es immer wärmer. Ich wünschte, die hellen Strahler wären nicht da.

Unwirsch klemmte ich meine Hände fester unter die Achseln. Wie ich dabei auf das Publikum wirkte, war mir egal. Zumindest fast. Ich würde sowieso verlieren und keiner ihrer Lieblinge werden. Wusste nicht einmal genau, was ich hier eigentlich sollte. Doch ich hatte bereits Widerspruch eingelegt und war sang- und klanglos abgewiesen worden. Verdammt sollte der ›sinessische Freistaates‹ sein!

Loafer klackerten über den Marmorboden – oder waren es Mokassins? Eine Frage für den imaginären Quizmaster in meinem Kopf, der eigentlich noch immer damit beschäftigt war, herauszufinden, wie jemand im Jahr 2086 so verstaubte Ansichten über Männer und Frauen hegen konnte wie Sinessa. Das kam gleich nach: Wer merkte sich schon so etwas Unnötiges wie: Welche Männerschuhe haben einen Absatz?

Nervös nuckelte ich an meiner Unterlippe, bis ich mir dessen bewusst wurde und es unterließ – schließlich wurde hier alles gefilmt und live übertragen. Am liebsten wäre ich zu Hause, mit einem Buch auf meinem winzigen grauen Sofa, statt auf dieser Bühne. Jetzt in meiner verbotenen dunkelblauen Jogginghose und dem schwarzen Tanktop dort zu sitzen wäre toll. Ich liebte jede abgewetzte Stelle des Möbelstückes und jede ausgewaschene Fluse der Kleidung.

Tonlos seufzte ich und verdrängte das schöne Bild vor meinem inneren Auge. Von hier aus gab es kein Zurück. Ich musste mich damit abfinden. Während ich das Thema Emanzipation beiseiteschob, weil auch Abertausend weitere Gedanken darüber nichts bringen würden, und noch rätselte, was denn nun des Modegottes Lösung war, rückte Leonardo Sinessa höchstselbst schräg vor mir in mein Blickfeld.

Ruhig und von einem starken hellgelben Kraftfeld wie eine Rüstung umgeben, durchschritt er die Breite der Bühne. Der dicke Hals, um den ein schwarzer Kragen lag, und die unnatürliche Rötung seines kahlen Kopfes ließen ihn in meinen Augen weder Sympathie- noch Attraktivitätspunkte sammeln.

Der Mann blieb ein Monster.

Ein kaltes, ichbezogenes Monster mit einem Mount-Everest-­großen Frauenproblem. Nichtsdestotrotz war er unser Regent. Rechtmäßig und auf die vorgeschriebene Amtszeit von fünfundzwanzig Jahren gewählt.

Vom Volk!

Ich fragte mich ehrlich, wie er diese Wahl manipuliert hatte. Ob der Tag heute ihn wohl daran erinnerte, wie für ihn damals alles begann? Wie er dort gestanden hatte, wo ich heute stand?

Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete ich seine nächsten Gesten und die Mimik, als er stoppte.

Mit einer ausladenden Geste hob er die Hände, winkelte die Ellenbogen an und ließ die Illusion von leuchtendem Feuer seine in feinen anthrazitfarbenen Ärmeln steckenden Unterarme emporzüngeln.

Immer heller erstrahlten seine Hände, bis sich eine Kugel als Leuchtfeuer in die Luft über seinem Kopf erhob und ihm einen skurrilen Heiligenschein verlieh. Dort blieb sie in der Schwebe, während er die Hände wieder senkte, schnell zu seiner Kehle führte und dann ein breites Lächeln aufsetzte, bevor er zu sprechen begann.

»Dieser Tag …«, seine Stimme trug die Worte, durch seine Gabe verstärkt, weit hinaus, über die Köpfe der Menge, »… ist immer wieder etwas Besonderes.« Er stieß einen dramatischen Seufzer aus. »Zusätzlich haben wir heute einen besonderen Gast!« Er schmückte die Worte mit einem falschen Lächeln, während er mit seinem rechten Zeigefinger auf Sullivan deutete. Der Finger ruckte hin und her.

Auf mich wirkte es ein bisschen, als befehle er einem Tier, ein Kunststück zu vollführen. Als könne er sich nicht entscheiden, ob er ihn nun zu sich rufen wollte oder nicht. Was ich in Anbetracht von Sullivans Position nicht als ratsam erachtete. Aber vielleicht bescherte das California endlich das Glück, dass Sinessa sich eine Rüge des kaiserlichen Gesandten einhandelte, die seine Egozentrik kurzzeitig ausbremste.

Vielleicht war das aber auch nur Wunschdenken meinerseits, denn Sullivan blieb ungerührt genau dort, wo er war. Einzig seine Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln, das schlussendlich bis zu mir strahlte – von der entgegengesetzten Ecke der Bühne.

Enttäuschung breitete sich in mir aus, doch gleich darauf zog ein undefinierbarer Ausdruck über Sullivans Gesicht. Irritation? Abscheu? Schneller, als ich diesen enträtseln konnte, war er wieder verschwunden. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, Mr Unberührbar bereute seinen Besuch bei uns bereits.

Tja, California war kein Staat für Freigeister. Hier gab es mehr Gesetze als anderenorts – und mehr Reichtum. Das eine ging Hand in Hand mit dem anderen. Vielleicht war der Wohlstand auch nur der Grund dafür, dass die Menschen all die Einschnitte in ihre Privatsphäre und Entscheidungsfreiheit ertrugen. Tekre Industries beherrschte den kompletten Nachrichtendienst des Kaiserreiches, eine Aufgabe, die vielen Menschen Arbeit gab.

Meine Mutter verkörperte den Fortschritt, die stumme technische Revolution. Eine neue Art der Evolution. Und ich war mir sicher: Obwohl sie gerade arbeitete, hatte sie mich im Blick – durch irgendeine der Kameras, die auf mich gerichtet waren. Dank ihr fühlte ich mich selten allein, obwohl es nur noch uns beide gab und selbst Yasemine nicht gekommen war, weil sie arbeiten musste.

»Einige von Ihnen standen sicher wie ich vor fünfundzwanzig Jahren schon hier und wohnten der Anfangszeremonie damals bei – manche haben vielleicht sogar die allererste Zeremonie vor knapp fünfzig Jahren mit eigenen Augen verfolgt«, riss mich in dem Moment Sinessas Stimme aus meinen Gedanken. »Andere sind noch nicht so alt und erleben das zum ersten Mal.«

Kurz kam es mir so vor, als streifte mich sein Blick. Aber das konnte nicht sein, oder? Wusste er, dass ich erst einundzwanzig war? Gerade erwachsen geworden, nach unserem Gesetz. Dass mein Leben wohl endete, bevor es richtig begann. Aber dafür müsste er mich kennen. Fast hätte ich vor Nervosität die Hände unter meinen Achseln hervorge­zogen. Dann straffte ich mich unwillkürlich und reckte das Kinn nach oben. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.

Der silberne Brief war ein schlechter Witz.

Mein Leben würde keiner werden.

Ich würde um jede weitere Sekunde kämpfen. Vermutlich würden es nur Sekunden werden. Ich besaß keine große magische Gabe, trotzdem würde ich nicht aufgeben!

Das war die Wahrheit. Die, die mir einen kalten Schauer über die zarte Haut an meinem Rücken jagte. Die, die ich bisher nicht einmal wirklich zu denken gewagt hatte, weil sie mich noch mehr zittern ließ, obwohl ich meine Unsicherheit und die Nervosität doch beständig zu unterdrücken versuchte.

»Was denken Sie alle? Was fühlen Sie in diesem Augenblick? Ich wüsste es wirklich gern.« Sinessa hatte sich uns ganz zugewandt. Den unglücklichen oder glücklichen Kandidaten – das Mienenspiel eines jeden war unterschiedlich und mir völlig fremd. Das Flüstern des Regenten hingegen so sanft wie ein Streicheln.

Stille trat ein.

Er lächelte gefährlich. »Nun, wir werden es im Laufe der nächsten Tage herausfinden, nicht wahr? Denn wir werden gemeinsam ihn – oder vielleicht gar eine sie …« Er schnaubte abwertend. »… finden.«

Ein fröhlicher Werbejingle hallte über den Platz und setzte sich unangenehm in meinen Ohren fest. Jeder hier kannte ihn. Jeder wusste, welche Worte als Nächstes folgen würden, noch bevor Californias amtierender Magician sie verkündete. Zu oft hatten wir alle sie in den letzten Wochen und Monaten gehört. Und schon sprach Sinessa sie aus: »Nämlich: California’s next Magician!«

Trotzdem ging ein neuerliches Raunen durch die Menge. Die machtvolle Stimmung des Moments trug die Menschen mit sich fort, begeisterte sie für das Kommende.

Unwillkürlich krampfte ich meine Finger zusammen und ging meine Optionen noch einmal in Blitzgeschwindigkeit im Kopf durch. Es war ernüchternd. Als der silberne Brief mit meinem Namen darauf seinen Weg in unsere Drohnenbox gefunden hatte, war mein Schicksal eigentlich so gut wie besiegelt gewesen.

Ich konnte mir den erneuten stummen Seufzer, der meinen Brustkorb senkte, nicht verkneifen. Das hier würde kein faires Spiel werden. Keine faire Wahl. Dafür brannte die Kugel über Sinessas Kopf zu hell und machthungrig. Dafür war er viel zu verschlagen und viel zu sehr an die Privilegien und Befugnisse, die er als mächtigster Magician und amtierender Regent Californias innehatte, gewöhnt. Und das war nicht nur meine persönliche Vermutung. Denn es hieß, dass Sinessa nicht einmal vorhatte, seinen Posten zu räumen.

Das hier war eine Show für die Menge. Eine Show für den Kaiser, mit fünfundzwanzig ledigen Magicians. Denn es hieß weiter, dass Sinessa diesen ganzen Zirkus nur aufführen ließ, weil er musste. Weil der Kaiser den Kardinal der Blauen Garde geschickt hatte, um das Verfahren der Neuwahlen in California als verlängerter Arm seiner göttlichen Heiligkeit zu überwachen.

Ich hoffte, dass wenigstens Sullivan seiner Verantwortung gerecht werden würde. Dass er nicht nur gut aussah, sondern tatsächlich auch ein verdammt guter Magician war. Dass die Gerüchte stimmten und mehr in ihm steckte, als es den Anschein hatte. Sonst würde ich mit größter Wahrscheinlichkeit nicht einmal den morgigen Tag überleben.