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… met of zonder identiteit,
op de knieë van mijn hart,
voor Judith

Florian Coulmas

Ich, wir und die Anderen

Das Zeitalter der Identität

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Orell Füssli Verlag, www.ofv.ch
© 2020 Orell Füssli Sicherheitsdruck AG, Zürich
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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf andern Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

Umschlaggestaltung: Barbara Thommen, Zürich

ISBN 978-3-280-05718-6

eISBN 978-3-280-09093-0

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte biblio-grafische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

Musik wird oft nicht schön gefunden,
Weil sie stets mit Geräusch verbunden.
Wilhelm Busch

Grenzpfähle steckst du,
um ein Gebiet zu messen.
Doch dass du sie nur steckst,
das sollst du nicht vergessen.
Der grade Gegensatz setzt gerad
die Wahrheit schief,
Weil stets in Wahrheit
eins ins andre sich verlief.
Friedrich Rückert

Inhalt

Intrada

1. Misterioso

2. Imbroglio – verwickelt

3. Appassionato

4. Cacofonia dolorosa

5. Marziale pomposo

6. Vigoroso – immer in Bewegung

7. Diminuendo – rückläufig

Fine pensioroso – bedenklicher Ausklang

Intrada

Dur oder Moll

Ich bin jetzt!

Ich bin hier!

Ich bin Ich!

Das allein ist meine Schuld!

So lautet der Refrain des 2006 von dem Musikerduo Rosenstolz veröffentlichten Liedes »Ich bin ich«, das in der deutschsprachigen Welt sehr erfolgreich war. Der Titel gab einer Stimmung, einem Lebensgefühl Ausdruck, mit dem sich junge Menschen identifizieren konnten. Die etwas älteren konnten in ihnen eine Antwort auf die in ihrer Jugend, 1976, von der ikonischen Pop-Band The Who gestellte Frage »Who Are You?« erkennen – ebenfalls der Titel eines Liedes:

Who are you?

Who, who, who, who?

Who are you?

Who, who, who, who?

Who are you?

Who, who, who, who?

Who are you?

Who, who, who, who?

Natürlich war es nicht ein Geistesblitz, der den Songschreibern 2006 endlich die tautologische Antwort eingab. Vielmehr deuten die beiden Titel darauf hin, dass die von The Who gestellte Frage nach dem Ich die Menschen eine Generation später immer noch umtrieb. Sie beschäftigt uns auch heute, vielleicht mehr denn je, aber es wäre voreilig, sie als eine ewige Frage betrachten zu wollen.

Zwar ist das Streben nach Selbsterkenntnis seit der griechischen Antike ein Eckpfeiler westlichen Denkens, und immer wieder haben Philosophen sich damit beschäftigt, um eine tragfähige Erkenntnistheorie zu entwickeln, die erklärt, wie der Mensch wissen kann. Das hat jedoch in der Regel die meisten nicht weiter beunruhigt, geschweige denn dazu veranlasst, entschuldigend darauf hinzuweisen, dass sie eben sie (selbst) seien: »Das allein ist meine Schuld!«. Ohne einem Popsong zu viel Bedeutung beizumessen, können wir dennoch festhalten, dass dieser Vers ein Motiv der Thematik intoniert, mit der wir uns hier beschäftigen. Niemand ist schuld daran, so zu sein, wie er oder sie ist. Im Gegenteil, zum »Sich-selbst-sein« darf man nicht nur, sondern soll man sich bekennen, ohne Schuld oder Scham. Auf den folgenden Seiten wird sich zeigen, dass nur die westliche Moderne den geistigen Rahmen bietet, der eine solche Idee sinnvoll erscheinen lässt und dass die Ausfüllung dieses Rahmens bis in die Populärkultur gesickert ist. Um die konkrete Realisierung dieser Idee wird gerungen. Es geht um Identität, darum, was darunter zu verstehen ist und was sie für unser Leben bedeuten soll. Die Musik hilft uns dabei.

Wer feierte auf Demonstrationen in Wien im Mai 2019 den zwanzig Jahre alten Hit »We are going to Ibiza« der niederländischen Vengaboys? Wer liebt Anna Netrebko? Wer geht durch die Straßen mit aufgesetzten Kopfhörern, aus denen Gangsta Rap tönt? Was für eine Musik schlägt uns entgegen, wenn wir ein griechisches Restaurant betreten? Wie hoch war das Durchschnittsalter des Publikums beim letzten Konzert der Rolling Stones? Wer kann sich für Blasmusik begeistern? Und wer lässt freiwillig XYZ-Musik über sich ergehen? Hier mögen die geneigten Leserinnen und Leser für »XYZ« die von ihnen geschmähte Musikrichtung einsetzen. Ohne große Recherchen anzustellen, können wir diese und ähnliche Fragen beantworten, denn Musikgenres sind mit Gruppen, Subkulturen und Epochen verbunden, von denen wir bestimmte Vorstellungen haben. Wer Hip-Hop hört, trägt keinen geschniegelten Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Niemand verbietet es ihm, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich.

Sage mir, was du hörst, und ich sage dir, wer oder was du bist. Musik lässt uns an Charaktereigenschaften, Alterskohorten, Lebensstile, soziale Schichten, ethnische Gruppen und Nationen denken. Warum das so ist, soll uns weiter nicht beschäftigen, aber wir kommen darauf zurück und benutzen dieses Thema in diesem Buch als Leitmotiv. Denn wie keine andere Kunst appelliert Musik an unser Gefühl mehr als an unseren Verstand, und damit steht sie, wie sich auf den folgenden Seiten zeigen wird, Identität sehr nahe.

1. Misterioso

Auftakt für alle – geheimnisvoll

Von wessen Identität reden wir? Das ist gar nicht so leicht zu sagen, denn Identität ist überall; die Identität

der Geflüchteten, Europas, der Nato, des erwählten Volkes, neuer Stämme, der Gruppe, deiner Zellen, von Glutamatrezeptoren, der verdächtigen Substanz, des Asylbewerbers, von Cottbus, der Rechtsordnung, der SPD, unserer Wurzeln, des Stadtzentrums, der Landschaft, der Katalanen, der ungarischen Verfassung, von Leonardo da Vincis Mutter, des Überlebenden, Graubündens, von Molière, der westlichen Zivilisation, der Zhiqing, …

Die Liste ließe sich beliebig verlängern und mit einer zweiten, ebenfalls offenen Liste von Attributen ergänzen, die verdeutlichen, um was für eine Identität es sich handelt:

etwa eine additive, grundlegende, kollektive, kulturelle, dissoziative, fiktive, sprachliche, multiple, neuronale, moralische, digitale, politische, genetische, sexuelle, religiöse, soziale, nationale, rassische, ethnische, berufliche, territoriale, ererbte, verlorene, vorgetäuschte, wahre, …

Auch diese Liste ist unvollständig. Wer im Internet nach irgendetwas ohne Identität sucht, hat einen schweren Stand. Das ist zwar insofern nicht überraschend, als jedes Ding und jede Person trivialerweise mit sich selbst identisch ist; überraschend ist aber, dass das der Rede wert sein sollte. Im Zeitalter des Konsumismus kauft man für den Winter nicht Mantel und Schuhe, sondern solche der Marke XY. Alles kommt auf die Wiedererkennbarkeit des Produkts an, auf seine Identität. Und da praktisch alles Handelsware und alles eine Marke sein kann, gibt es nichts mehr ohne Identität. Die beherrschende Stellung des Marktes in hochentwickelten Gesellschaften erklärt einen Aspekt der Allgegenwart der Identität. Andere kommen hinzu.

Seine Identität kann man suchen, finden, verlieren, ändern oder neu erfinden. Man kann sie mit Gleichgesinnten hochhalten und feiern. Sie kann einem unterstellt, zugewiesen, eintätowiert oder gestohlen werden – aber kaum gestohlen bleiben. Denn was ist man schon ohne Identität? Wo jeder seine Haut zum Markte trägt (und darauf achten muss, welche Farbe sie hat); wo City Branding und Nation Branding an der Tagesordnung sind; wo das Menü im Restaurant ein Wegweiser zur kulinarischen Identität ist; wo der Haar-Stylist verkündet, dass »wie Sie mit Ihrem Haar umgehen, nichts Triviales, da Teil Ihrer Identität ist«; wo bei Sportveranstaltungen die Identität nicht der Sportler, sondern der Zuschauer auf dem Spiel steht; da kommt keiner an Identität vorbei.

Manche, die sich für persönliche oder politische Zwecke auf Identität berufen, kümmert es dabei wenig, ob es um die Identität eines Individuums, einer Gruppe, einer Nation, eines Kontinents oder einer Religionsgemeinschaft geht. Identität ist zu einem proteischen Begriff geworden, der für vieles herhalten muss, auf individueller und auf kollektiver Ebene. Im Folgenden sollen seine meist-thematisierten Seiten erörtert und dabei der ideologische Hintergrund ausgeleuchtet werden, vor dem Identität zu einem Fixpunkt unserer Zeit geworden ist. Ausgehend vom Individuum betrachten wir nacheinander verschiedene seiner Eigenschaften, die es mit anderen teilt. Geschlecht, Rasse, Nation, Kultur, Klasse und Sprache sind diejenigen, die in der Moderne am prägnantesten mit Identität assoziiert sind und für Identität in Anspruch genommen werden.

2. Imbroglio – verwickelt

Mein innerstes Selbst: Tektonik für Teenager

Auf der Schwelle zur Moderne steht prototypisch der junge Werther. Überschreiten kann er sie nicht. Der tragische Held von Goethes spektakulär erfolgreichem Briefroman lebt bis zum selbst herbeigeführten Ende neben einer unglücklichen Liebe die Krämpfe und Verwicklungen eines bürgerlichen Intellektuellen, der sich nicht in die feudalistische Hierarchie eingliedern kann und daran scheitert, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, an dem er mit sich selbst im Einklang ist. Diesen Platz nannte nicht Goethe, aber nennen wir heute »persönliche Identität«. Und die Irrungen und Wirrungen, an denen der junge Werther leidet, können wir anachronistisch »Identitätskrise« nennen, eine nicht bewältigte Identitätskrise.

Zweihundert Jahre nach Werther war »Identitätskrise« in aller Munde. In den 1950er und 60er Jahren hatte der Psychoanalytiker Erik Erikson den Begriff bekannt gemacht; in den 70ern war er zum Gemeingut geworden. Wie Goethe mit dem ersten bürgerlichen Roman hatte der Schüler Sigmund Freuds mit seiner Seelenheilkunde für Heranwachsende den Finger am Puls der Zeit und brachte auf den Begriff, was viele seiner Zeitgenossen mehr oder weniger vage empfanden und erlebten. Sich selbst zu finden, war nicht einfach in einer Gesellschaft, die das nicht nur erlaubt, sondern jedem einzelnen zur Aufgabe macht. Freud hatte das Fundament gelegt, indem er die Person bzw. das neugeborene menschliche Wesen, das eine solche werden soll, in drei Teile zerlegte: das allein seinen Trieben gehorchende Es, das gesellschaftliche Werte und Normen beinhaltende Über-Ich und das zwischen beiden eingeklemmt sich formende Ich. Erikson zeigte, dass in diesem Prozess der Ausformung der Persönlichkeit, auch Ich-Identität genannt, einiges schiefgehen kann, worunter insbesondere Heranwachsende leiden. (Dass die Menschen in ihrer Umgebung darunter u. U. auch leiden, ist weniger von Belang.)

Eine Krise ist nach Erikson nicht ein kritischer Punkt am Rande des Abgrunds, sondern, etwas weniger dramatisch, eine notwendige Entwicklungsphase auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Ein Wendepunkt, an dem man vor oder zurück, nach links oder nach rechts gehen muss, um dem eigenen Leben eine Bestimmung, eine Richtung zu geben. Denn die ist nicht per se gegeben, so will es jedenfalls der Geist der Aufklärung, dem zufolge die Menschen – leicht modifiziert mit Jean-Jacques Rousseau sprechend – zwar überall in Ketten liegen, aber immerhin frei geboren sind. Daraus ergibt sich ein Anspruch, den es für viele Menschen in vormoderner Zeit nicht gab. Denn wenn der Adel erblich ist, der Sohn des Leibeigenen Leibeigener bleibt, der Sohn des Tischlers Tischler, und die Tochter standesgemäß verheiratet wird, braucht man sich nicht viele Gedanken darüber zu machen, wer man ist oder was man werden will. Identitätskrisen erübrigen sich.

Anders in unserer heutigen Gesellschaft, die eine Gesellschaft der Qual der Wahl ist. Gewiss empfindet nicht jeder diese Wahl als Qual. Nicht gebunden zu sein, sondern frei entscheiden zu können, sich Beruf, Wohnort, Lebenspartner und vieles andere selbst aussuchen zu können, empfinden viele als großes Glück, das ihre Vorfahren nicht hatten. Dennoch lässt sich kaum leugnen, dass es anstrengend sein kann, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Auswählen, Entscheidungen treffen, selbst bestimmen, was geschieht, das sind die charakteristischen Kennzeichen der egalitären und freien Gesellschaft, wie sie der westlichen Welt seit der Französischen Revolution vorschwebt. In ihrem Zentrum steht das autonome Individuum, das weiß, was es tut, es zumindest wissen soll und somit selbstverantwortlich ist.

Die meisten Menschen, die nicht zum Psychiater gehen, erreichen dieses Ziel. Oder, besser gesagt, umgekehrt: All diejenigen, die ihre Pubertät ohne bleibende Schäden hinter sich lassen, gehen nicht zum Psychiater. Ihre Identitätskrise beschränkt sich darauf, zwar ab und zu über die eigenen Füße zu stolpern, aber das wirft sie nicht so aus der Bahn, dass sie psychologischen Beistands bedürften, um sich wieder zurechtzufinden.

Zurechtfinden müssen sie sich allerdings immer, und dazu gehört, dass sie sich finden müssen. Ein bisschen Breakdance, Tecktonik, The Floss mögen dabei hilfreich sein, insbesondere in Gesellschaft derer, die gleiche Vorlieben haben. Der Anspruch ist nicht nur, zu entscheiden, was sie sein wollen, sondern herauszufinden, was sie sind. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass das möglich ist. Einerseits erschaffen wir uns, was wir andererseits nur können, indem wir unser »wahres Selbst« finden, das irgendwo in unserem tiefsten Innersten steckt, unverwechselbar und unveränderlich. Das ist Identität in der individualistischen Gesellschaft – zumindest für die, die daran glauben.