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Über dieses Buch

Diagnose Systemfehler Sie wollen wissen, was Sie in einer Arztpraxis oder in einem Spital wirklich erwartet?

Vier Top-Mediziner zeigen mit umfangreichen Fallbeispielen schonungslos auf, woran es in unserem Gesundheitssystem krankt.

Die Fakten mögen erschüttern. Doch dieses Buch rechnet nicht nur mit den Lügen im System ab, es bietet vor allem praktikable Lösungen an, um die Beziehung von Arzt und Patient in eine heilsame Zukunft zu führen.

Eines ist sicher: Als aufgeklärter Patient können Sie sich und Ihre Familie schützen und von allen Beteiligten Veränderung einfordern.

Ein Buch, an dem die Gesundheitspolitik der kommenden Jahre nicht mehr vorbeikommen wird.

Aufgezeichnet von Andrea Fehringer & Thomas Köpf

Mitarbeit: Lauren Seywald

Widmung

In Gedenken an Reinhold Hirschheiter.

Er war ein langjähriger Freund und auch Patient des Autors Rudolf Likar.

Bei Reinhold stand das Wohl der Menschen immer an oberster Stelle seiner Verpflichtungen. Besonders die Förderung der Jugend war ihm zu Lebzeiten ein Anliegen.

Dieses Buch hätte Rheinhold sicher gefallen, denn es ist ein Plädoyer für eine bessere, gesündere Zukunft der kommenden Generationen.

INHALT

VORWORT

WAHRHEIT AUF REZEPT

Kapitel eins – DAS KRANKE HAUS

Problem: Überfüllte Spitäler

Problem: Fehl am Platz im Krankenhaus

Problem: Unnötige Krankenhaustransporte

Problem: Ausgelastete Notaufnahmen

Problem: Die 48-Stunden-Woche

Problem: Jungen Ärzten fehlt die Erfahrung

Problem: Der Arzt und sein Richter

Problem: Die Scheuklappen der Dokumentation

Kapitel zwei – DER KRANKE PATIENT

Problem: Das Recht für den Patienten

Problem: Fehlende Zeit für Patienten

Problem: Die neue Arzt-Patienten-Beziehung

Problem: Medizin auf Wunsch. Die Leber aus dem Drucker

Problem: Botox statt Gesundheit

Problem: Der mündige Patient

Problem: Der Faktor Angehörige

Problem: Die liebe Verwandtschaft

Kapitel drei – DIE KRANKE MEDIZIN

Problem: Die Überdiagnose

Problem: Leitlinien vor Logik

Problem: Zwei-Klassen-Medizin

Problem: Gesundheit kostet immer mehr

Problem: Das Streben nach vollkommener Gesundheit

Problem: Die ungesunde Bürokratie

Problem: Kunstfehler erlaubt

Problem: Mission: Designerbaby

Problem: Medizin 4.0 – ein Segen und ein Fluch

Kapitel vier – DAS LEBEN DES ARZTES

Problem: Ungleiches Verhältnis der Ärzte

Problem: Keine Regelung für Praktische Ärzte

Problem: Die jungen Mediziner wollen nicht aufs Land

Problem: Der Landarztberuf wird nicht gefördert

Problem: Zwischen Leben und Ethik

Problem: Der Machbarkeitswahn

Kapitel fünf – DAS SPIEL DER PHARMAINDUSTRIE

Problem: Burn-out – die Modekrankheit

Problem: Die Gefahr von Antibiotika

Problem: Entzündungshemmer

EXKURS FÜR INSIDER

Problem: Alternativmedizin braucht Fachkompetenz

EXKURS FÜR INSIDER

Problem: Das Geschäft mit der Gesundheit

Problem: Die Verlässlichkeit der Messwerte

Problem: Die Manipulation durch Studien

Problem: Der Trick mit den Generika

Kapitel sechs – DER VERNACHLÄSSIGTE ALTE

Problem: Mehr alte Patienten als je zuvor

Problem: Altersdiskriminierung

Problem: Die Behandlung alter Menschen in der Notaufnahme

Problem: Der Missbrauch von Notärzten

Problem: Der Hausarzt und das Pflegeheim

Problem: Die Zusammenarbeit der Disziplinen

Problem: Diagnose: Vereinsamung

Problem: Das Recht der Alten

Problem: Sterben ist keine Option

Nachbehandlung – ETHIK AUF REZEPT

ANHANG

ÖGARI Ethik-Manifest für eine menschlichere Medizin

VORWORT

von Rudolf Likar, Georg Pinter, Ferdinand Waldenberger und Herbert Janig

Wir, die wir schon lange in der Medizin und im Gesundheitswesen tätig sind, sehen in beiden Bereichen Tendenzen, die besorgniserregend sind.

Die aktuelle Situation im Gesundheitswesen mit der demografischen Entwicklung, den Ausbildungsreformen bei den Ärzten und der Pflege, dem Ärzte- und Pflegemangel, den Auswirkungen des Arbeitszeitgesetzes und den finanziellen Restriktionen erfordert einen proaktiven, flexiblen und lösungsorientierten Zugang.

Wir haben den Eindruck, dass sich die Institutionen derzeit gegenseitig behindern und hemmen. Es werden eher Argumente gefunden, warum notwendige Veränderungen nicht durchführbar sind, statt gemeinsam nach Lösungsmodellen zu suchen. Es ist seit Langem überfällig, Standesdünkel über Bord zu werfen und im Sinne aller nach nachhaltigen Lösungen zu suchen. Aus den Fehlern und Entwicklungen der Vergangenheit muss gelernt werden. Dazu bedarf es einer gemeinsamen Vision, die sich nicht ausschließlich an einzelnen medizinischen Spitzenleistungen orientiert, sondern der Gesamtheit der alltäglichen Anforderungen gerecht wird. Der Fokus muss auf ein Miteinander, nicht auf ein Neben- oder Gegeneinander von Medizin und allen Gesundheitsberufen gerichtet sein, um die hohe Expertise dieser Bereiche wirksam werden zu lassen.

Wir wollen auch aufzeigen, dass man nicht mit Scheuklappen durch das medizinische Leben gehen darf. Wir müssen Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften in unser ärztliches Handeln integrieren. Wir dürfen das Wissen aus Philosophie, Soziologie, Psychologie etc. nicht ausschließen. Medizin ist eine Kunst und weit mehr als eine engstirnige Naturwissenschaft.

Im Buch werden anhand von konkreten Beispielen aktuelle Probleme im Gesundheitswesen skizziert, Lösungsmöglichkeiten analysiert und konkrete Lösungsvorschläge aufgezeigt.

Wir wollen mit diesem Buch unsere über viele Jahre gemachten Erfahrungen teilen und zum Nachdenken anregen. Es ist uns ein großes Anliegen, dass Lösungsansätze aufgegriffen werden, sich die Kommunikation im Gesundheitswesen verbessert, wir uns der wechselseitigen Abhängigkeit bewusst werden und Kooperationen schaffen.

Anmerkung: In dem vorliegenden Buch wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit und Übersichtlichkeit auf gegenderte Formulierungen verzichtet. Selbstverständlich ist immer die weibliche und männliche Form gemeint.

WAHRHEIT AUF REZEPT

Es gibt eine todsichere Methode, wie gesunde Menschen in der Sekunde krank werden: Sie müssen nur ein Krankenhaus besuchen oder zum Arzt gehen und Grüß Gott sagen.

Als Ärzte des Vertrauens dürfen wir Ihnen einen guten Rat geben: Gehen Sie nie in ein Krankenhaus, wenn es nicht wirklich notwendig ist. Wer es gesund betritt, geht mit einer Diagnose wieder raus. Jeder bekommt seine Diagnose, jeder. Der Spitzensportler, die Risikomanagerin, der Baggerfahrer, die Biologielehrerin, der Agenturchef, die Hundezüchterin, der Jazzmusiker, die Millionärin, der Verkehrspolizist, der Schriftsteller, die Papuschek-Tante und der faule Willi. Niemand verlässt das Haus ohne Diagnose. Das ist der Fehler im System.

Selten wird ein Arzt sagen: Wissen Sie, Herr Wotruba, das Zwicken da in der Seite, das ist nicht weiter schlimm, gehen S’ heim und trinken Sie ein Glas Rotwein. Der Patient wird eher hören: Nehmen Sie bitte dort drüben Platz, wir rufen Sie auf.

Dann beginnen die Untersuchungen und die zeigen immer irgendetwas Auffälliges. Die Mimik des behandelnden Arztes verfinstert sich dabei um eine Nuance, weiter geht es um das Technische, die Laborwerte, die roten Zahlen in der Körperbilanz. Da zeigt sich das Cholesterin von seiner schlechten Seite oder es schreit der Gamma-GT-Wert auf oder die Triglyceride sind im Argen oder die Schilddrüse scheint unrund zu sein und natürlich ist der Blutdruck leicht erhöht oder sonst etwas außerhalb der Norm. Dysbalancen, satte Blutfette, unübliche Messungsergebnisse nach dem Datenabgleich, verdächtige Schatten, mögliche Zysten, allfällige Polypen, der Ruf nach einer Biopsie. Das bedeutet: mehr, mehr, mehr Möglichkeiten einer Behandlung, Zeichen und Symptome, Dringlichkeiten einer Therapie. Es findet sich ein Morbus Irgendwas.

Früherkennung ist natürlich nicht schlecht.

Am Anfang steht der Verdacht und ihm folgt die Tat. Die Frage nach der ärztlichen Vorgangsweise. Sollen wir noch was verschreiben oder wollen wir nicht doch schon operieren? Kein Assistenzarzt will sich einer rechtlichen Verfolgung aussetzen. Kein Oberarzt will in Verruf geraten, nichts, zu wenig oder – undenkbar – das Falsche gemacht zu haben. Kunstfehler ist so ein hässliches Wort für einen Doktor im weißen Mantel.

Fehler macht man in unseren Sphären nicht. Auf der anderen Seite war da dieser unfassbare Fall eines Mannes, der vor einem Spital zusammengebrochen ist und keiner hat ihm geholfen. Der 63-Jährige lag vor dem Krankenhaus, aber niemand nahm sich seiner an. Niemand hat einen Finger krumm gemacht und geholfen. Der Mann hatte einen Herzinfarkt erlitten. Eine Passantin kam vorbeigeeilt, sah den Notfall und schrie: „Kommen Sie doch, ja sehen Sie nicht, helfen Sie doch, holen Sie einen Arzt, schnell, holen Sie einen Arzt!“

Nein, das ginge nicht, Ärzte dürften dieses Krankenhaus nicht verlassen, die Frau möge die Rettung rufen. Schließlich gab sich dann doch ein Arzt einen Ruck und ging nach draußen, versuchte den bewusstlosen Mann wiederzubeleben; zu der Zeit traf auch schon die Rettung ein. Der Patient wurde in ein anderes Spital gebracht, weil vor Ort keine Notaufnahme vorhanden war. Der Mann starb. Eine Kommission prüfte die Vorwürfe, eine Untersuchung brachte kein Ergebnis, es gab keine Konsequenzen. Nein, hieß es, das war doch kein Fall von unterlassener Hilfeleistung. Was bleibt, ist die Trauer der Familie. Tränen der Fassungslosigkeit.

So krank ist unser Gesundheitssystem.

Das geht so nicht, meine Damen und Herren, liebe Freunde und Kollegen unserer Zunft, es reicht. Genau hier soll dieses Buch aufklären und von Begebenheiten erzählen, die wir Ärzte Tag für Tag auf den Stationen und auch in der Welt da draußen erleben. Der Alltag, der nicht immer sehr viel mit dem Eid zu tun hat, den wir alle geschworen haben. Weil das System nach ganz eigenen Regeln funktioniert und manchmal auch nicht zum Wohle der Menschen.

Wir wissen, wovon wir reden.

Wir reden von immer engeren ökonomischen Vorgaben, von ungeniert versuchten Einflussnahmen, von sinnlosen Therapien, von hierarchischen Eitelkeiten, aber wir reden auch von Patienten, die keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen wollen, weil sie nur ein Medikament verschrieben haben möchten, ein Allheilmittel, das alles löst, und zwar sofort. Wir reden von zu vielen Menschen, die ambulant oder stationär in die Krankenhäuser strömen, tausende Patienten, die beim Hausarzt viel besser aufgehoben wären. Wir reden von einer Ärztedichte, die nicht mehr dicht ist, weil es mehr Fachärzte in den Spitälern gibt als Allgemeinmediziner im niedergelassenen Bereich.

Wahlärzte haben es zudem schlicht besser im System. Sie sind nicht in das beengte Abrechnungssystem der Krankenkassen eingebunden, sondern können ihre Honorare frei festsetzen. Bei gleicher Arbeitszeit können sie dadurch weniger Patienten behandeln und haben dennoch gleich viel oder mehr Einnahmen. Wahlärzte können sich ihre Patienten aussuchen, die Ordinationszeiten selber festlegen und dafür mehr auf Patientenanliegen eingehen. Bedeutet weniger Stress als für einen niedergelassenen Arzt. Der Patient bekommt mehr Zeit für sein Anliegen, muss dafür in die eigene Tasche greifen. Denn er erhält nur einen Bruchteil von der Krankenkasse refundiert. Die Krankenkasse freut’s. Sie bezahlt ein gewisses Honorar, der Rest kommt aus den Taschen der Patienten. Im Gegensatz muss der Kassenvertragsarzt jeden Patienten behandeln, erhält ein festgelegtes Honorar durch die Kasse. Um ein höheres Einkommen zu erzielen, muss er mehr Patienten behandeln. Kein Wunder also, dass sich die Zahl der Wahlärzte in den vergangenen Jahren verdoppelt hat.

Wir reden davon, dass die Kosten für Gesundheitsausgaben ins Unermessliche steigen und für Prävention zu wenig ausgegeben wird, weil das Behandeln lukrativer ist als das Vorbeugen. Wir reden davon, dass die Leistungen an älteren Patienten zunehmen, die Zahl der Pflegebedürftigen und die Pflegeausgaben steigen, aber niemand wirklich bereit ist, das einzukalkulieren. Wir reden davon, dass die Koordination nicht mehr funktioniert, weil wir ein Heer von Egoisten erzogen haben. Wir reden davon, dass sich das alles, so wie es ist, nicht mehr ausgehen wird. Garantiert nicht. Es kann sich nicht ausgehen.

Ziel dieses Buches ist nicht, Panik zu machen, Kollegen zu diffamieren oder über den eigenen Berufsstand herzuziehen, nein. Im Gegenteil. Eine Menge Ärzte sind unserer Meinung, sie kennen das System und deren Fehler genauso wie wir und werden hinter uns stehen. Das Ziel, das wir Ärzte mit diesem Buch verfolgen, ist es, Lösungen auf den Tisch zu legen. Das Schweigen zu brechen. Die Wirklichkeit zu zeigen. Was real, was Sache ist. Warum Pharmafirmen Krankheiten erfinden und danach die Heilmittel verkaufen. Dafür gibt es sogar einen Fachausdruck: Disease Mongering. Ein Konzern X gibt 200 Millionen Dollar für Lobbying und (als redaktionelle Beiträge getarnte) PR-Storys aus, die ein Thema monatelang in diversen Medien weltweit thematisieren, immer wieder. Und am Ende dieser medialen Dauerschleife, wenn sich das Bewusstsein der Menschen dahingehend verändert hat, dass man vielleicht selbst betroffen sein könnte, lanciert dieser Konzern X ein wunderbares Mittel namens Soundso, das – wie man aus den Medien weiß – Heilung verspricht. Voilà. Dass dieses Mittel dem Konzern im nächsten Jahr ein sattes Umsatzplus bringt, freut vor allem die Aktionäre.

Disease Mongering bedeutet, dass man Leiden erfindet, um Medikamente zu vermarkten.

Noch besser funktioniert das mit der Lust. Nachdem Milliarden und Abermilliarden Umsatzgelder mit Potenzmitteln gegen sogenannte erektile Dysfunktion, kurz ED, abgeschöpft worden sind, geht ein gewiefter Pharma-Promoter jetzt her und verkauft eine neue Idee: Weniger Lust auf Sex ist nichts anderes als eine Störung. Und gegen so einen plötzlichen Anflug von Frigidität, Tata!, gibt es ein Medikament: Die Power-Pille soll die Libido wieder ankurbeln, allerdings nicht ohne Nebenwirkungen. Zugelassen wurde das Mittel von der obersten Arzneimittelbehörde in den USA nach jahrelangen Beratungen, Anhörungen und Studien.

Die sexuelle Unlust der Frau ist die neueste Errungenschaft in einer langen Reihe von Krankheiten, die keine sind. Vielleicht wäre manchmal eine Umarmung hilfreicher. Oder eine Flasche Champagner. Oder ein Kuss.

Sogar Schüchternheit wird neuerdings als Krankheit verkauft, als soziale Phobie, und auch gegen die gibt es ein Heilmittel. Antidepressiva! Psychische Krankheiten verlangen nach einer pharmakologischen Intervention, eine Depression wird mit Tabletten geheilt, mother’s little helpers heißt das in den USA. Ein Burn-out ist schnell diagnostiziert. Eine Depression schnell da. Noch schneller ein Pulver eingenommen.

Wenn heute ein Kind unaufmerksam oder ein bisschen flatterig ist, hat es höchstwahrscheinlich ADHS, nicht wahr? Dagegen helfen Präparate.

Therapiekonzepte in der Intensivmedizin sind auch nicht immer das Gelbe vom Ei. Das zeigt sich erst, wenn genug Daten vorhanden sind, um die Wirksamkeit zu hinterfragen.

Beispiel: Obwohl es seit Jahren üblich ist, Delire bei kritisch Kranken auf der Intensivstation mit Neuroleptika zu behandeln, gibt es zu diesem Thema kaum Studien. Eine kürzlich publizierte Studie im New England Journal of Medicine mit 1.789 kritisch kranken Patienten in einer Intensivstation in den Niederlanden zeigt, dass die Gabe von Haloperidol keinen Nutzen bringt. Ähnliche Ergebnisse haben die Forscher für das Mittel Ziprasidon erhoben. Hier zeigt sich, dass über Jahrzehnte Medikamente eingesetzt werden, ohne den Nutzen zu evaluieren oder überhaupt zu hinterfragen. Man nimmt Nebenwirkungen in Kauf, ohne eine Hauptwirkung beim Delir zu haben.

Weiters können zu viel Diagnostik und zu viel Therapie auch schädlich sein. Und so lassen sich durch eine Überdiagnostik zweifellos Diagnosen finden, die sonst nicht gefunden werden. Beispielsweise kann durch ein Lungenröntgen oder einen Ultraschall eine Wasseransammlung unter der Lunge bei einem komplex und schwer erkrankten Menschen gefunden werden. Auf die Diagnose folgt eine Therapie in Form einer Punktion, die eine Blutung oder ein Zusammenfallen der Lunge nach sich ziehen kann. Der vorher nicht symptomatische Patient hat dann plötzlich ein akutes Problem.

Nach wie vor steht der Arzt hoch im Kurs und noch höher im Ansehen, sogar weit über dem Priester. In der heutigen Zeit ist den Menschen die Religion abhandengekommen, der Glaube scheint mit den Schmerzen am Kreuz verloren gegangen. Die Heilsversprechen der Pfarrer halten nicht mehr und die Mediziner sind in den Rang der neuen Prediger aufgestiegen. Der Arzt wird mystifiziert, mythologisiert und der Glaube ist immer noch da. Der Glaube kann Geldberge versetzen.

Dieses Buch soll versuchen, Wahrheit auf Rezept zu liefern.

Wir wollen aufzeigen, wie es tatsächlich zugeht, wenn man mit dem Stethoskop um den Hals bis zu zweiundsiebzig Stunden die Woche kilometerweit im Laufschritt durch Ambulanzen und Operationssäle geht, wenn man Patienten begrüßt und sie sterben sieht, Frauen, Männer, Kinder. Als Arzt stehst du permanent an der Kippe zwischen Leben und Tod. Das gehört dazu. Sonst muss man Weinbauer werden oder Dichter oder beides.

In Österreich haben wir über 2,5 Millionen stationäre Spitalsaufenthalte. Das sind täglich über 6.500 Menschen, die in Spitälern stationär aufgenommen werden. Die nahezu 18 Millionen ambulanten Frequenzen in den Spitälern pro Jahr bedeuten, dass täglich fast 50.000 Menschen in den österreichischen Ambulanzen betreut werden wollen. Jedes Jahr allein 56.000 stationäre und 580.000 Ambulanzfrequenzen im Klinikum Klagenfurt, einem der größten Spitäler in Österreich.

Noch ein bisschen etwas zur Statistik: Zurzeit leben in Österreich rund 8,8 Millionen Menschen, im Jahr 2030 werden es 9,3 Millionen sein. Während die Zahl der bis 19-Jährigen gleich bleibt, wird die Zahl der 65-Jährigen und Älteren von 18,6 auf 23 Prozent ansteigen. Gleichermaßen wird die Lebenserwartung der Frauen von derzeit 83,9 auf 86,3 Jahre steigen und jene der Männer von 79,3 auf 81,9. Österreich ist ohnehin schon nahezu Weltmeister bei den Spitalsaufenthalten. Von 2008 bis 2016 sind die Aufenthalte im Krankenhaus für Menschen über 90 bei Frauen um 73 Prozent und bei Männern um 91 Prozent angestiegen. Das Ganze kann sich à la longue einfach nicht ausgehen. Menschen werden älter und beanspruchen völlig zu Recht das Gesundheitswesen. Wer soll das alles bezahlen? Sie? Ich? Wir? Der Staat? Der Finanzminister aus seinem Bausparer? Wer denn, wenn nicht wir alle?

Was wir aus eigener Erfahrung wissen: Junge Spitalsärzte wandern ins Ausland ab, etwa nach Deutschland oder in die Schweiz, weil sie dort andere Rahmenbedingungen (bessere Bezahlung, bessere Ausbildung) vorfinden. Das heißt, sie übernehmen gleich zu Beginn Verantwortung, werden in den klinischen Alltag einbezogen und erfahren eine ernsthafte Betreuung. Junge Ärzte haben zudem ein grundsätzliches Problem: Sie lernen oft mechanistisch in einem verschulten Medizinstudium. Anamnese, klinischer Blick und das Be-Hand-eln von Patienten treten in den Hintergrund.

Anstatt einen Patienten einmal mit den Händen abzutasten, werden die aufwändigsten Untersuchungen angeordnet und die kompliziertesten Gerätschaften aktiviert, um ja keinen Fehler zu machen. Um ja keinen Wert zu übersehen. Dabei übersieht man das Wichtigste an unserem Beruf: den Menschen an sich.

Junge Ärzte richten sich zunehmend nach sogenannten Leitlinien. Das sind Wegweiser bei der Diagnostik und Behandlung. Diese Leitlinien haben Professoren, Spezialisten und Fachärzte in diversen Gremien mitbeschlossen und teilweise selbst aufgestellt. Schön und gut. Diese Empfehlungen, wie ein Arzt in der jeweiligen Situation vorgehen sollte, sind an sich okay, werden aber wie heilige Gebote angesehen. Verhaltensmaßregeln, an die man sich zu halten hat und an denen man nicht links oder rechts vorbeischauen darf. Das Problem dabei: Wird ein Patient mit einer komplexeren Krankheit von mehreren Fachärzten, also in verschiedenen Disziplinen, exakt nach den jeweiligen Leitlinien behandelt, kann man davon ausgehen, dass er nach der Behandlung zumindest mit einer Vielzahl an Medikamenten ausgestattet ist.

Aus dem einfachen Grund, weil der hochspezialisierte Arzt einen Tunnelblick hat und den Patienten nicht in seiner Gesamtheit wahrnimmt. Wer stur nach vorgegebenen Richtlinien handelt, tut nicht dem Patienten etwas Gutes, sondern sich selbst. Denn sollte etwas passieren, kann sich der Arzt zurücklehnen und sagen: Tragisch, dass das geschehen ist, aber ich habe mich richtig verhalten, gemäß allen vorgegebenen Standards. So ist der Arzt aus dem Schneider. Der Patient könnte aber an der Befolgung der Leitlinien erkranken.

Allerdings ist auch nicht die Frau oder der Herr Doktor an allem schuld. Für eine gute Behandlung braucht es den Willen der Patienten. Die Mitarbeit. Patienten verschließen gerne die Augen, was ihre eigene Beteiligung am Krank- oder Gesund-Sein betrifft. Das allgemeine Bewusstsein verlangt eher nach einer Reparaturmedizin. Der Patient ist der Meinung: Ich habe ein Recht auf Gesundheit. Tut was, damit ich schnell wieder fit bin. Auf diese Art und Weise wird der Arzt zum Dienstleister.

Das ist grundlegend falsch. Uns Ärzten ist es ein Anliegen, den Patienten aus der Schockstarre der Passivität herauszuholen und ihr oder ihm zu zeigen: Sie müssen da schon mithelfen, wir sind keine Zauberer. Wir schwingen nicht Merlins Wunderstab und alle Wunden sind verheilt. Heilung ist ein bilaterales Abkommen. Da gehören zwei dazu.

Mit der idealistischen Feststellung „Gesundheit ist ein Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen“ in der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 22. Juli 1946 wurde die Grundlage für die Diskussion um Patientenrechte und -verantwortung gelegt. Lange bevor Patienten in Österreich noch darauf hoffen durften, dass sie ein Anrecht auf ihre Befunde haben oder auch nur Einsicht in ihre Krankenakte bekommen könnten. Damit hat man gleichzeitig das Wachstum eines professionellen und profitorientierten Gesundheitssystems angeregt.

Mit der Formulierung „Sich des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu erfreuen ist ein Grundrecht jedes Menschen“ in dieser Verfassung hat man die Basis für die politische Diskussion um Patientenrechte, Patientenautonomie und Patientenbeteiligung der folgenden Jahrzehnte gelegt. So konnten Patienten ihren Anspruch gegenüber Ärzten stellen, sie „gesund zu machen“, wie auch immer.

Diese Formulierungen haben die Vorstellung genährt, es gäbe nur eine Gesundheit, die anzustreben sich lohnt. Erst wenn man diesen einen Zustand der vollkommenen Gesundheit erreicht habe, könne eine Krankenbehandlung als erfolgreich bezeichnet werden. Es gibt aber keine perfekte Gesundheit. Nicht diesen einen Idealzustand gegenüber vielen möglichen Krankheiten. Vielmehr ist es ein individuelles Kontinuum, ein Schwanken zwischen zwei Polen, hier gesund und dort krank. Dazwischen pendelt der Mensch.

Seit Ende der Siebzigerjahre spielt die Patientenbeteiligung in der internationalen Gesundheitspolitik eine bedeutendere Rolle. Erst in der Erklärung der WHO bei der Konferenz in Alma-Ata 1978 wird betont: „Die Menschen haben das Recht und die Verpflichtung, sich individuell und kollektiv an der Planung und Umsetzung ihrer Gesundheitsversorgung zu beteiligen.“

Trotzdem wünscht sich der geneigte Mensch eine Ruckzuck-Reparaturmedizin. In einem TV-Werbespot sehen wir eine Bobfahrerin, die unmittelbar vor dem Start von argen Kopfschmerzen geplagt ist. Arme Frau. Das kennt man ja: Wichtiger Termin und winzig kleine Männchen mit Spitzhacken im Kopf, die einen Krater in die Großhirnrinde graben, autsch. Was tun? Kein Problem, zeigt uns die Werbung, flugs wird ein Medikament eingenommen und unmittelbar danach kann die Bobfahrerin beschwerdefrei starten, bravo. Ja! Einfache, rasche Diagnose eines separierten Symptoms und eine ebenso rasche therapeutische Hilfestellung durch den Arzt. Die Vorstellungen vieler Menschen sind vom mechanistischen Denken geprägt. Wie bei einer Autoreparatur: benutzt, gefahren, kaputt gemacht, repariert, gefahren bis nicht mehr reparierbar, verschrottet.

Der Logik des Gesundheitssystems entspricht das. Der Arzt hat nur wenige Minuten, um sich mit dem Patienten und seinen Anliegen zu beschäftigen. Eine punktuelle Beobachtung und Behandlung wird finanziert, im Zweifelsfall an einen spezialisierten Kollegen weiterverwiesen. Auf Wiederschauen. Letztlich führt so ein Vorgehen zu wiederkehrenden Arztbesuchen der Patienten, zu immer häufigeren Kontrollen, Arztwechseln, Leidensschleifen, größerem Dokumentationsaufwand, Kostenvermehrung, unzufriedenen Ärzten und Patienten, ohne dass der Patient die Chance erhält – und genötigt ist –, den möglichen Ursachen für Symptome und den grundlegenden Zusammenhängen auf die Spur zu kommen. Unbestritten ist, dass viele Patienten lieber repariert werden möchten, als sich ganzheitlich zu erfahren, um tatsächlich gesund zu werden.

Wir Ärzte sind nach dem mechanistischen System aufgezogen worden: Man dreht ein Rädchen, tauscht was aus und das Leben geht munter weiter. Die ganzheitliche Schau wird nicht mehr beachtet, Quantenphysik und Relativitätstheorie haben neue Sichtweisen gebracht. Auch als Schulmediziner wollen wir betonen: Es braucht sehr wohl die Komplementärmedizin. Problem dabei: Was bei uns nicht messbar ist, ist offiziell nix wert.

Die moderne Medizin hat sich derweil ultramäßig spezialisiert, nicht nur auf Körperregionen oder Organe, sondern schon nur mehr auf Enzyme oder einzelne Stoffe, das heißt die Spezialisierung geht tief in das Mikroskopische hinein. Kleiner, immer kleiner, feiner.

Hier entstehen Denkfehler. Der holistische Ansatz ist gewöhnlichen Medizinern höchst suspekt, weil wir Ärzte den menschlichen Körper in seiner wundervollen Komplexität gar nicht mehr verstehen können. Genetik, Epigenetik, der gesamte Umfang aller medizinischen Erkenntnisse und Errungenschaften, alles, was uns heute zur Verfügung steht, das kann ein Mensch allein längst nicht mehr begreifen.

Wenn man andere Dinge, sagen wir die Philosophie, in das Denken miteinbezieht, erweitert sich der Horizont. Die Medizin ist keine reine Naturwissenschaft, vielmehr ein gesamtwissenschaftlicher Zugang zum Menschen. Und genau hier zeigt sich: Wir haben das Hinterfragen verlernt. In der Philosophie wird gelehrt, wie man Fragen stellt, und genau das wäre wichtig, heute wieder ins Medizinstudium zu integrieren. Ethik zu vermitteln ist wichtiger, als Technik zu bekritteln.

Die Zeit ist das nächste Problem des Mediziners. Für ihn selbst und den Patienten. Zeit ist aus der Gleichung Patient plus Arzt mal Behandlungszeit mal Einfühlungsvermögen = Heilung hoch zwei herausoptimiert worden.

Medizin ist durch diese Prozessoptimierung paradoxerweise teurer geworden. Der Arzt denkt sich: Bevor ich etwas übersehe, mache ich alles, was es gibt, und zwar zweimal. Bevor man einmal mit dem Patienten redet. Der Patient will oft gar nicht reden, will sich nicht um seine Krankheit kümmern, er will Action. Das heißt, es braucht eine Rückbesinnung.

Heute gilt: Der Tod ist keine Option. Den Tod gibt es in der Phase der Behandlung nicht. Er wird ausgeklammert und als biologischer Systemfehler betrachtet. Alles dreht sich um die Diagnose und die Therapie. Bis zum letzten Atemzug. Bis zur Nulllinie.

Operative Exzellenz ist das Gebot der Stunde. Schneller, besser und trotzdem billiger. Hier zeigt sich das Dämmern der künstlichen Intelligenz. Ein Algorithmus spart Zeit, in der Labormedizin schon längst eingesetzt, Cluster werden gecheckt, Details herausgefiltert, die menschliche Arbeitskraft ist obsolet. In der Radiologie schauen Computer Hunderte Bilder während eines Wimpernschlags durch, ähnlich in der Dermatologie. Programme beurteilen, ob der Patient Hautkrebs hat oder nur ein Wimmerl. Programme treffen Entscheidungen, zum Teil besser als jeder Arzt.

Auffassungsgabe, Wissen, Erfahrung, das braucht es für eine Einschätzung. Der Arzt kann sich durch Empathie hervortun, Redefining Medicine 4.0 würde man es neudeutsch ausdrücken.

Auf dem Weg in die Zukunft ist viel verloren gegangen. Vor allem die Weisheit. Klingt nach altbackenen Träumen von der guten alten Zeit, aber nein, wir sagen: Ärzte müssen fundamental umdenken, wenn sie als Ärzte überleben wollen. In ein paar Jahren werden Roboter operieren, Computer alle nötigen Parameter abklären und eigenständig Heilverfahren einleiten. Dann braucht es Menschlichkeit.

Das heißt, viele Dinge müssen schon jetzt im Studium revolutioniert werden. Das System hat eine Masse an Einzelgängern produziert. Ärzte verdienen gut, man macht auch was dafür, aber wir empfinden unser Tun nicht als Teamwork. Wir sagen nicht, wir haben diesen Menschen auf dem OP-Tisch verloren. Wir hinterfragen nicht, wollte er das? So sterben? Es passiert ja selten etwas, selbst wenn man belangt wird. Und man wird so gut wie nie belangt.

Es ist also auch ein gesellschaftliches Problem. Wir Ärzte werden nicht als Teamworker sozialisiert, sondern als einsame Cowboys. Man will immer der Beste sein. Das geht auf der Uni mit Ellbogentechnik los und wird später im Spital als nackter Überlebenskampf ausgetragen, aber immer mit einem Lächeln.