»Ich möchte das Kopftuch aus religiösen Gründen tragen, und ich möchte boxen, weil ich Sport liebe. Zwei Dinge aus unterschiedlichen Welten, die in mir zusammenwachsen. Das ist eben meine Identität.«

Bereits als Kind liebte Zeina Nassar Sport. Als sie mit dem Boxen beginnt, ist sie der glücklichste Mensch der Welt. Doch Vorurteile bekommen immer größere Macht über ihr Leben. Nie wird sie einfach als Sportlerin gesehen, für ihre Rechte muss sie sich unermüdlich einsetzen. Jeden Tag wird sie auf das Frausein reduziert, auf den Hijab. Erst 2019 darf die Deutsche Meisterin international mit Kopftuch boxen. Auch außerhalb des Rings kämpft sie ohne Unterlass. Für die Erlaubnis, für ihren Wunschstudiengang zugelassen zu werden. Für Offenheit und Gleichberechtigung. Und dafür, sie selbst sein zu dürfen. Eine junge Frau, diszipliniert, entschlossen, voller Lebensfreude – und ein Vorbild für Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt.

 

Zeina Nassar

 

Dream Big

 

Wie ich mich als Boxerin gegen alle Regeln durchsetzte

 

 

hanserblau

 

 

INHALT

 

PROLOG

K. O.

 

EINS

Herkommen

Ankommen

 

ZWEI

Glauben

Wissen

 

DREI

Etwas ändern

Sich zeigen

 

EPILOG

O. K.

 

DANK

 

 

Dieses Buch widme ich allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die ähnliche Situationen, wie ich sie erlebte, überwunden haben. Aber auch allen, die weniger erfolgreich waren oder die ans Aufhören denken. Glaubt weiter an eure Ziele und sucht euch euren Weg. Folgt euren Träumen und verändert euer Leben.

 

 

PROLOG

 

 

 

 

K. O.

 

Die gerösteten Sonnenblumenkerne, die in Kreuzberg an jeder Ecke verkauft werden, und Sommerregen, noch bevor der erste Tropfen zu spüren ist und sich der Beton dunkelgrau färbt – es gibt fast nichts, was besser riecht. Nur eines: Sporthallen. Mit ihrem typischen Geruch aus Leder, Schweiß, Gummi und auch ein bisschen Moder. Noch lieber mag ich es, wenn dieser Duft von einer Hand aufgewirbelt wird, der ich gerade ausgewichen bin, sodass ich nur noch den Luftzug auf meiner Wange spüre. Denn dann steigt mir nicht nur die Sporthallenluft in die Nase, sondern auch der Sieg.

 

Ich muss einfach gewinnen. Wenn ich beim Mensch ärgere Dich nicht keine Sechs würfle, ärgere ich mich sehr. Die Option zu verlieren gibt es nicht. Nicht heute, nicht irgendwann. Ob es UNO oder ein Wettkampf ist, und heute steht Letzteres an. Seitdem mich vorhin mein Wecker aus einem Schlaf mit intensiven, aber diffusen Träumen gerissen hat, gilt mein einziger Gedanke dem Gewinnen. Die banalen Aufgaben wie Zähneputzen und Anziehen erledige ich wie in Trance. Nur auf das Beten konzentriere ich mich. Anschließend bin ich wieder ganz beim Wettkampf.

Meine Trainerin und ich machen uns auf den Weg in die Bruno-Gehrke-Halle in Berlin-Spandau. Im westlichsten Westberlin. Die Fahrt dauert eine Ewigkeit, wie kann das noch Berlin sein? Aber vielleicht liegt es auch an meiner Nervosität. Mein Atem geht schnell, ich bin aufgekratzt und aufgeputscht, verbissen und vorfreudig. Es ist, als würde mein Körper unter Elektrizität stehen. Oder sind diese kleinen Signale, Stromstöße und Herzschläge vielleicht außer Takt? Kaum angekommen, checkt mich die Ärztin durch.

»Zunge raus!«, befiehlt sie, und ich strecke die Zunge raus. Sie schaut streng, und ich wundere mich, wie man bei meiner Einstein-Grimasse so humorlos bleiben kann. Kein auffälliger Belag. Sie nimmt meine Handgelenke, leuchtet in meine Pupillen, klopft mir auf die Knie, legt ein Stethoskop auf mein Herz und meine Lunge und wiegt mich. Die Waage zeigt: Ich bin ein Fliegengewicht in Topform für den Kampf. Nachdem die Ärztin genickt und alle Werte notiert hat, kann ich endlich in die Halle. Ab jetzt darf ich wieder alles essen, was ich will. Und vor allem habe ich Zeit, mich in Ruhe aufzuwärmen.

Ruhe. Zum ersten Mal heute spüre ich sie. Während ich in einer Ecke seilhüpfe, sehe ich, wie Sonnenstrahlen durch die meterhohen Fenster fallen und alles milchig weiß erscheinen lassen. Die Staubpartikel zirkulieren in der Luft und glitzern im Licht, irgendwie magisch. Ich mache einen Moment Pause und merke gar nicht, wie sich die Halle nach und nach füllt. Doch dann vernehme ich Tuscheln und Menschen, die mich ansehen, als wäre ich ein entlaufener Leopard. Ältere Herren in Anzügen zeigen auf mich. Das ist doch wohl keiner meiner wirren Träume, das ist zu real. Ich sehe an mir herunter. Ist etwas verrutscht? Meine neuen blauen Satinshorts passen wie angegossen, der bauchnabelhohe Bund ist nicht zu eng und nicht zu weit, die Schuhe sind geschnürt. Jetzt schauen sie mir direkt ins Gesicht. Ich schaue weg, dehne mein linkes Bein, dann das rechte, hebe meinen linken Ellbogen und führe die Faust am Hinterkopf zwischen den Schultern nach unten. Das Gleiche möchte ich auch mit dem anderen Arm tun, aber ein Mann baut sich vor mir auf. Bevor ich fragen kann, was er will, schießt es aus ihm wie aus einem Revolver:

»So willst du doch nicht boxen, oder?«

»Häh?«, sage oder denke ich, so genau kann ich das nicht mehr sagen, aber ich weiß, dass ich nicht länger begriffsstutzig bin. Ich verstehe. Willst du so boxen? Als Frau? Willst du so boxen? Mit Kopftuch? Ich könnte entgegnen: Willst du so nerven? Mit Gehirn?

 

Andere Menschen dürfen einfach Sport machen. Ich muss mich immer doppelt beweisen. Ich kämpfe nicht nur im Ring, ich kämpfe um mein Recht. Aus den Lautsprechern höre ich meinen Namen. Zeina Nassar. Ich zupfe an meinem Kopftuch, an den Ärmeln und gehe zum Ring. Ich springe durch die blau-weiß-roten Seile und schaue mich im Raum um. Ich achte mehr darauf, was geredet wird, als dass ich mich auf das fokussiere, was ich schon so lange will.

»Bist du bereit?«, fragt mich meine Trainerin.

Seit etwa einem Jahr trainiere ich für diesen Kampf, und manche sagen, ich sei unschlagbar. Es gibt niemanden mehr in meinem Verein, mit dem ich mich messen kann. Niemand möchte mehr mit mir kämpfen. Ich bin stärker als jede einzelne meiner Sparringpartnerinnen. Natürlich bin ich bereit, ich muss bereit sein. Auch wenn ich weiß, dass meine heutige Gegnerin fünf Kämpfe mehr hat als ich und Berliner Meisterin ist. Ich bin bereit, erst recht, als ich in die Augen meiner Eltern und meiner Onkel sehe. Sie sind gekommen. Ein kleines Lächeln, und da ist er wieder, der Siegeswille. Es gibt keine andere Option. Ich will sie nicht enttäuschen.

Der Gong ertönt. Ich gehe in Deckung, pirsche mich an die Gegnerin heran, tänzele, tauche ab und auf, aber was geht hier vor sich? Ich brauche dreißig Sekunden, um zu verstehen, dass ich vor gefühlt zweihundert Menschen boxe, und weitere dreißig Sekunden, um zu durchschauen, was meine Gegnerin vorhat, wie ihr Boxstil ist. Und während ich noch überlege, bekomme ich einen Jab, eine Gerade mit ihrer Führerhand. Erst auf meine Handschuhe, dann streift ihre Hand meinen Kiefer, ich komme nicht zum Zug, ich habe das Gefühl, dass ich es nicht einmal versuchen kann. Ich werde wütend, weil hier etwas gewaltig schiefläuft. Wieder der Gong. Zwei Minuten sind vorbei. In der Ecke redet die Trainerin auf mich ein, ich höre gar nichts, nur ein Pfeifen in meinem Ohr und wie der Gong nochmals ertönt.

Jetzt, in der zweiten Runde, werde ich angreifen, das Spiel zu meinem machen. Aber es geht alles noch schneller als in der ersten Runde, und gleichzeitig fühlen sich die zwei Minuten wie eine Stunde an. Ich spüre die Faust meiner Gegnerin in meinem Gesicht, in meinen Rippen und die Tränen in meinen Augen. Und noch während des Kampfes wird mir etwas bewusst. Manche sagen dazu »schmerzlich bewusst«, ja so ist es, schmerzlich, und ich weiß nicht, ob das an den Schlägen liegt, die ich einstecke. Aber mir wird klar, dass ich mich gerade nicht nur wie ein Kind fühle, sondern dass ich fast noch eines bin. Ich bin doch erst fünfzehn Jahre alt. Dies ist mein erster Wettkampf. Mein erster offizieller Wettkampf, die Berliner Meisterschaften. Ich kassiere einen Haken. Wir haben doch gerade eben erst aufgehört, die bunten Papierblätter mit den Diddl-Mäusen zu sammeln, zu tauschen und sie fein säuberlich in Plastikhüllen abzuheften. Ich jedenfalls. Mir kommt mein Ordner in den Sinn, die Diddl-Maus mit den eng zusammenstehenden Augen und dem Lächeln, das dümmlich naiv wirkt, aber auch so freundlich. Ich sehe den Boden des Boxringes, spüre die schnellen Schläge, so schnell, dass ich sie nicht zählen kann, der Boden ist blau, und ich sehe die Farbkleckse auf den Diddl-Blättern vor mir, in Rot, Orange, Gelb. Dann die Maus unter Wasser, umgeben von Herzchen, als Pilot, ob es eine boxende Diddl-Maus gibt? Oder eine boxende Diddlina mit Kopftuch?

Und woran ich heute nicht denke, aber woran ich hätte denken sollen: Ich bin erst fünfzehn Jahre alt und schon Wegbereiterin. Ich bin das erste Mädchen, die erste Frau, die offiziell mit dem Kopftuch in den Ring steigt.

Doch gerade fühle ich mich wie eine Versagerin, suche nach meinen Eltern, um zu sehen, ob sie es bereuen. Ein weiterer Haken, ich schmecke Eisen, ist das Blut? Meine Beine zittern. Der Ring wird immer kleiner, ich nehme alles in Zeitlupe wahr, ich suche den Schiedsrichter mit der schwarzen Fliege. Ich sehe nur noch gleißendes Licht, kurz darauf die Dunkelheit, und aus dieser heraus höre ich: Eins. Zwei. Drei.

 

 

EINS