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Penny L Chapman

Broken Saint (Confined 2)





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Guide to Contents

BROKEN SAINT

 

Confined 2

Penny L. Chapman

 

 

 

Alle Rechte bei Verlag/Verleger

 

Copyright © Penny L. Chapman September 2019

c/o Autorenservice Patchwork

Schlossweg 6

A-9020 Klagenfurt

AutorinPennyLChapman@t-online.de

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Playlist

 

Hier die Songs, die mich zu Szenen und Cha­rak­te­ren in­spi­rier­ten und mich wäh­rend des Schrei­bens von

Bro­ken Saint be­glei­tet ha­ben. Viel Spaß!

 

Milck – Ta­ke me to church

Eva­ne­scen­ce – Haun­ted

La­na Del Rey – Dark Pa­ra­di­se

Apo­ca­lyp­ti­ca – I don’t ca­re

Slip­knot – Snuff

Sa­mu­el Bar­ber – Ag­nus Dei

Lungs and Limbs – Grim Ran­ger (Acous­tic Ver­sion)

Be­yon­ce – Sweet Dre­ams

Writ­ten by Wol­ves – Not af­raid to die

Fa­mi­ly Band – Night Song

Blood­hound Gang fe­at Vil­le Va­lo – So­met­hing Dia­bo­li­cal

Drow­ning Pool – Te­ar away

Three Days Gra­ce – Chalk out­li­ne

Theo­ry of a De­ad­man – An­gel

Clint Man­sell – Lux Ae­ter­na (Dar­ios Song)

La­na Del Rey – Gods & Mons­ters

Va­le­rie Brous­sard – A litt­le wi­cked (Au­bre­ys Song)

Fo­xes – De­vils Si­de (The­me Song)

Break­ing Ben­ja­min – Dan­ce with the De­vil

Un­li­ke Plu­to – Vil­lain Of My Own Sto­ry

Hy­pno­ga­ja – He­re co­mes the rain again

Sla­ves – I’d Rat­her See Your Star Ex­plo­de (Acous­tic)

Break­ing Ben­ja­min – Feed the Wolf

Oh Land – Wolf & I (Cre­dits)

Let him that is wit­hout sin cast the first sto­ne

- Je­sus Christ

 

 

Für alle, die nie Kin­der sein durf­ten.

Das, was frü­her war, hat dich ge­formt, aber es de­fi­niert dich nicht. Die Nar­ben sind ein Teil dei­ner Ge­schich­te. Sie er­in­nern dich da­ran, dass du über­lebt hast.

Was dich aus­macht, sind dei­ne Ent­schei­dun­gen und die Men­schen, die dich be­glei­ten.

Nut­ze dei­ne Wun­den und wan­de­le sie in Stär­ke. Bli­cke mit Stolz auf dei­ne Nar­ben, denn du bist stark.

Lass dei­ne Ver­gan­gen­heit hin­ter dir und sieh in die Zu­kunft.

Ei­ner Zu­kunft, über die du allei­ne be­stimmst.

- Pen­ny L. Chap­man

 

Kapitel 1

 

AU­BREY

 

 

»In der Un­schuld des Rei­nen ver­birgt sich das Pa­ra­dies. Ein­mal ver­lo­ren wird dir nie wie­der Ein­lass ge­währt. Bist du be­reit, für dei­ne Sün­den zu zah­len?«

Die sanf­te Frau­en­stim­me aus den Lauts­pre­chern er­starb. Für ei­nen Mo­ment sah ich ins Pu­bli­kum. Fast je­der Tisch an der Büh­ne war be­setzt. Über­all sa­ßen Män­ner in teu­ren An­zü­gen. Sie nipp­ten an ih­ren Cham­pa­gner­glä­sern und mus­ter­ten mich wie hung­ri­ge Tie­re. Ich lä­chel­te, blen­de­te ih­re Bli­cke aus und strich den grau ka­rier­ten Rock mei­ner Schul­uni­form zu­recht.

Die­ser Mo­ment ge­hör­te mir.

Mein Auf­tritt.

Mein Stück Frei­heit für die­se Nacht.

Die er­sten Tö­ne von Milcks Ta­ke me to church er­klan­gen und ich be­gann, lang­sam die Hüf­ten im Takt der Musik zu be­we­gen. Das schumm­ri­ge Licht der Ker­zen­leuch­ter an den mit ro­tem Samt be­spann­ten Wän­den, der Qualm von Zi­gar­ren, der die Luft sti­ckig mach­te, und die Musik lie­ßen mich schwe­ben.

Mit je­der Se­kun­de ver­schwand die Welt um mich he­rum. Wie durch ei­nen Tun­nel nahm ich den Ap­plaus und die Ru­fe der Män­ner wahr. Ich tanz­te, bis Schweiß über mei­nen Rü­cken lief und mei­ne Bei­ne zit­ter­ten. Als die Musik ver­blass­te, ver­beug­te ich mich, strich mei­ne blon­den Zöp­fe zu­recht, was mit to­sen­dem Ap­plaus be­lohnt wur­de, und ließ mei­nen Blick wie­der durchs Pu­bli­kum wan­dern, in der Hoff­nung, sein Ge­sicht zu se­hen. Seit zwei Jah­ren hoff­te ich da­rauf, ihn hier zu se­hen. Seit zwei Jah­ren ver­miss­te ich ihn. Aber er war nicht hier.

Ich zwang mich zu ei­nem Lä­cheln, wink­te den Zu­schau­ern zu und schweb­te von der Büh­ne.

Zehn Mi­nu­ten spä­ter ließ ich mich an der Bar nie­der. Ich trank ei­nen gro­ßen Schluck Co­la aus dem Glas, das Lu­cky, der Bar­kee­per, nach der Show immer für mich be­reits­tell­te, und sah auf mein Han­dy. Es war ein Uhr.

»Ich hab in ei­ner Stun­de Feie­ra­bend«, sag­te Lu­cky. »Trink noch was, lass uns quat­schen und dann fahr ich dich nach Hau­se. Mir ge­fällt nicht, dass du mit dem Bus fährst.«

Lu­cky war drei Jah­re äl­ter als ich und ei­ne Ver­bin­dung zwi­schen der rea­len und mei­ner Welt. Schon des­we­gen moch­te ich ihn. Ich moch­te sei­ne knall­blau­en Haa­re, sein schie­fes Lä­cheln und sei­nen ver­kork­sten Humor.

Wie ger­ne hät­te ich sein An­ge­bot an­ge­nom­men, aber mir blieb kei­ne Stun­de.

Ich trank die Co­la aus und glitt vom Bar­ho­cker. »Ich kom­me klar.« Ich beug­te mich über die The­ke, küss­te sei­ne Wan­ge und lä­chel­te, ob­wohl mir nicht da­nach zu­mu­te war. »Ich mag das Bus­fah­ren.«

»Du bist echt merk­wür­dig, Au­brey.« Lu­cky mus­ter­te mich mit ei­nem nach­denk­li­chen Blick, der sil­ber­ne Ring in sei­ner rech­ten Braue fun­kel­te wie ein Dia­mant im Ker­zen­schein.

»Was hast du ge­gen -«

»Sü­ße.« Je­mand gab mir ei­nen Klaps auf den Hin­tern.

Ich schoss he­rum und schlug die Hand des Man­nes weg. »Fin­ger weg.«

Lu­cky kam hin­ter der The­ke her­vor, woll­te da­zwi­schen­ge­hen, aber ich schüt­tel­te den Kopf, oh­ne den grau­haa­ri­gen Ty­pen vor mir aus den Augen zu las­sen. »Schon gut, ich ha­be das im Griff.« Ich sah dem Mann in die Augen, ein Schleier von Al­ko­hol lag über ih­nen. »Wenn Sie mich noch ein­mal an­fas­sen, schnei­de ich Ih­nen die Fin­ger ab, ha­ben wir uns ver­stan­den?«

»Ich woll­te nicht  … Die Show war klas­se, Klei­ne und ich -«

»Ha­ben wir uns ver­stan­den?«

»Ent­schul­di­gung.«

»Das ist ein Bur­les­que-Klub, kei­ne schmie­ri­ge Strip­bar. Wenn Sie grap­schen wol­len, ge­hen Sie auf den Markt. Die Me­lo­nen sol­len ziem­lich prall sein.«

Hin­ter der The­ke hör­te ich Lu­cky la­chen. »Amen Schwes­ter.«

Oh­ne ein wei­te­res Wort ging der Mann an mir vor­bei, zog sei­ne Brief­ta­sche her­vor und leg­te – mit ei­nem ent­schul­di­gen­den Blick über die Schul­ter – ei­ni­ge Schei­ne auf die Bar, ehe er den Klub ver­ließ.

Lu­cky nahm das Geld, zähl­te es und riss die Augen auf. »Du bist wie ei­nes die­ser Schoß­hünd­chen. Klein und bis­sig.« Er hielt mir die Schei­ne un­ter die Na­se. »Be­ein­druckend, fünf­zig Dol­lar für ei­nen ver­ba­len Tritt in die Ei­er. Ma­rio soll­te dich als Tür­ste­her ein­stel­len.«

Ei­nen Mo­ment lang über­leg­te ich, das Geld zu neh­men, aber Lu­cky leb­te in ei­nem Ein-Zim­mer-Apart­ment und fi­nan­zier­te sich das Stu­di­um, in­dem er Drinks im Milk and Blush ser­vier­te. Er be­saß nicht viel Geld, aber er war glü­cklich.

Ich schüt­tel­te den Kopf und schob sei­ne Hand zurück. »Be­halt du es, ich ha­be heu­te ge­nug ver­dient.«

Be­scheu­er­te Iro­nie.

Allein mei­ne Hand­ta­sche von Ba­len­cia­ga kos­te­te mehr als die Mie­te für sein Apart­ment. Trotz­dem brauch­te ich je­den Cent, den ich im Milk and Blush ver­dien­te, denn oh­ne Geld konn­te ich mei­nen Plan ver­ges­sen. Dad wür­de mir mein Vor­ha­ben nicht nur aus­re­den wol­len, er wür­de ver­su­chen, mich mit aller Macht da­von ab­zu­hal­ten, und mir Stei­ne in den Weg le­gen.

Aber wie alle hier muss­te auch Lu­cky nichts da­von wis­sen. Für ihn war ich ein­fach Au­brey, das blon­de Mäd­chen, das nachts tanz­te, allei­ne durch die Stadt fuhr und ro­te Chucks zur Schul­uni­form trug.

Er mus­ter­te mich nach­denk­lich und steck­te die Schei­ne zö­ger­lich in sei­ne Ho­sen­ta­sche. »Ich re­van­chie­re mich.«

»Bring mir ein­fach das näch­ste Mal ei­nen Bur­ger mit.«

Noch immer et­was ver­le­gen, nick­te er und wech­sel­te das The­ma. »Hat Ma­rio dich schon ge­fragt?«

»Hat er mich was ge­fragt?«

»Kat­ja und La­cey be­kom­men jetzt das Dop­pel­te. Nicht schlecht für ein paar Mi­nu­ten Nip­pel zei­gen.«

Ich lach­te, nahm mei­ne hell­brau­ne Hän­ge­ta­sche von der The­ke und häng­te sie über ei­ne Schul­ter. »Ma­rio ris­kiert schon ge­nug für mich. Er wird mich nicht fra­gen und ich wür­de es nie ma­chen.«

Ma­rio, der Be­sit­zer des Milk and Blush, hat­te mich oh­ne viele Fra­gen ein­ge­stellt, ob­wohl er wuss­te, wes­sen Tochter ich war.

Lu­cky zuck­te mit den Schul­tern, sein schie­fes Lä­cheln spen­de­te et­was Trost und für ei­nen Mo­ment fühl­te ich mich zu­ge­hö­rig. »Ist wahr­schein­lich bes­ser so.« Er ließ ei­nen Blick über mei­ne ro­ten Chucks, grau­en Knies­trümp­fe und den pas­sen­den Rock wan­dern. »Die al­ten Sä­cke ste­hen auf die Schul­mäd­chen­num­mer.«

Schul­mäd­chen. Fast hät­te ich ge­lacht. Wä­re zu schön, um wahr zu sein.

»Ich muss los, wir se­hen uns mor­gen.«

»Pass auf dich auf, Klei­ne.«

Ich hob die Hand zum Ab­schied und warf ei­nen Blick auf Can­dy. Sie schweb­te an ei­nem Seil, das über der Büh­ne hing, und wink­te dem Pu­bli­kum zu, wäh­rend ih­re knall­ro­ten Lip­pen mit ih­rem Kor­sett um die Wet­te strahl­ten.

Selbst hier be­kam ich ei­ne Son­der­be­hand­lung. Wäh­rend die an­de­ren Mäd­chen die ex­tra­va­gan­ten Num­mern be­ka­men, be­stand mein Auf­tritt da­rin, in mei­ner Schul­uni­form die Hüf­ten im Takt der Musik zu schwin­gen. Ja nichts Ge­wag­tes oder zu Aus­ge­fal­le­nes. Ma­rio konn­te nicht ris­kie­ren, dass ich mich wäh­rend der Ar­beit ver­letz­te oder Dad von mei­nem Job er­fuhr.

Ich seufzte und ver­ließ das Milk and Blush.

Als ich den Geh­weg be­trat, leg­te ich den Kopf in den Na­cken und at­me­te tief durch.

In der Luft lag der Duft von be­vor­ste­hen­dem Re­gen und Herbst­laub. Nur noch ver­ein­zelt fuh­ren Wagen durch die Stra­ßen. Die ro­ten Lam­pen ih­rer Rück­lich­ter und die Leuch­trek­la­men der Klubs ge­gen­über er­hell­ten die Dun­kel­heit und ich blieb kurz ste­hen, um mich zu sam­meln, wie ich es immer tat, wenn mei­ne Schein­welt mit der Rea­li­tät kol­li­dier­te.

Mein Haar roch nach Ziga­ret­ten, mei­ne Fü­ße ta­ten weh vom Tan­zen und in mei­nen Oh­ren dröhn­te noch immer Musik, aber ich war glü­cklich.

Die­ses Ge­fühl konn­te er mir nicht weg­neh­men, die­ser Mo­ment ge­hör­te mir allei­ne.

Ich zog die graue Ja­cke mei­ner Schul­uni­form dich­ter an mei­nen Ober­körper und setz­te mich in Be­we­gung. Bis zur Bus­hal­tes­tel­le waren es nur ein paar Me­ter. Ich bog nach rechts um die Ecke und lief ein Stück an der Haupt­stra­ße ent­lang. Ein Schep­pern ließ mich zu­sam­men­schre­cken. Ich fuhr he­rum, ent­deck­te ei­ne Kat­ze, die auf ei­ner um­ge­stürz­ten Müll­ton­ne ba­lan­cier­te, und ver­zog den Mund. Mei­ne Ak­tion Da­rio ge­gen­über war nicht nur un­fair, son­dern auch dumm ge­we­sen. Seit­dem ich vor vier Wo­chen die Ge­rüch­te über die Skulls im In­ter­net ge­streut hat­te, er­schrak ich bei je­der Klei­nig­keit. Ich hat­te be­haup­tet, dass sie Mäd­chen ge­gen ih­ren Wil­len an­fass­ten, dass sie ei­nen Laden über­fal­len hat­ten und an­de­re Din­ge, auf die ich nicht stolz war. Aber das war nicht das Schlimm­ste. Die Ent­täu­schung da­rüber, dass er nicht auf­kreuz­te, quäl­te mich, denn ich kann­te Da­rio und hat­te ge­hofft, dass ihn mei­ne Pro­vo­ka­tion her­vor­lo­cken wür­de.

Ich er­reich­te die Hal­tes­tel­le, stell­te mich un­ter und zog Der ro­te En­gel, ei­nes mei­ner Lie­blings­bü­cher, aus der Ta­sche. Als mich fünf Mi­nu­ten spä­ter Schein­wer­fer blen­de­ten, stieg ich in den Bus. Ich leg­te die Hän­de in den Schoß und sah aus dem Fens­ter.

Die Leuch­trek­la­men der Bars spiegel­ten sich im Glas, als ver­spot­te­ten sie mich. Als woll­ten sie mich da­ran er­in­nern, wie bunt das ech­te Le­ben war, wäh­rend mei­nes aus vier Nu­an­cen von Weiß und Beige be­stand.

Der Bus bog links ab, ver­ring­er­te das Tem­po und hielt an der Lan­cas­ter Ave­nue.

Ich hetz­te den Geh­weg ent­lang, vor­bei an schi­cken Ein­fa­mi­lien­häu­sern mit wei­ßer Fass­ade und eben­so wei­ßen Zäu­nen und bog nach rechts in un­se­re Sei­ten­stra­ße ab. Bäu­me, de­ren Laub wie Flam­men er­strahl­te, säum­ten rechts und links den Weg, aber hier park­ten kei­ne Wagen auf der Stra­ße. Hier rag­ten me­ter­ho­he Eisen­zäu­ne in die Luft, dich­te He­cken ver­sperr­ten die Sicht auf die da­hin­ter­lie­gen­den Vil­len und an je­dem Tor summ­te ei­ne Ka­me­ra, wenn sie ei­nen Be­su­cher er­späh­te.

Ei­ne si­che­re und ge­pfleg­te Ge­gend, in de­ren Pa­läs­ten Frau­en und Män­ner leb­ten, die je­dem Men­schen in Step­ford Kon­kur­renz mach­ten.

Es war un­fair, aber ich ver­ach­te­te sie. Ih­re be­schränk­ten Sicht­wei­sen, ver­staub­ten Mo­ral­vor­stel­lun­gen und ihr fal­sches Lä­cheln, das ver­schwand, so­bald sie ein­an­der den Rü­cken zu­wand­ten. Reich­tum mach­te kor­rupt.

Ich steu­er­te auf die Ein­fahrt vor un­se­rem Tor zu, duck­te mich im Schat­ten der Back­stein­mau­er, als die Ka­me­ra in mei­ne Rich­tung dreh­te, und war­te­te, bis sie wie­der nach rechts wan­der­te.

Ich lief rechts am Tor ent­lang, wo dich­te He­cken wuch­sen, und stell­te ei­nen Fuß auf die Quers­tre­ben. Ich griff nach oben an ei­ne weite­re Stre­be und zog mich am Zaun hoch. Die zwei Me­ter stell­ten kein Pro­blem mehr dar, in we­ni­ger als drei Mi­nu­ten hat­te ich ihn über­wun­den und schlich wie ein Dieb über den Rasen un­se­res An­we­sens bis zur Ein­fahrt.

Auch hier gab es Ka­me­ras, aber ich wuss­te, an wel­chen Stel­len sie sich be­fan­den, und duck­te mich oder war­te­te ein paar Se­kun­den, bis die Luft rein war.

Als ich das Haus er­reich­te, lief ich zur rech­ten Haus­wand. An die­ser Sei­te un­se­rer Vil­la im Ko­lo­ni­al­stil rank­te dich­tes Efeu und ich grub mei­ne Hand zwi­schen die Blät­ter, bis ich die Lei­ter er­tas­te­te, die ich vor an­der­thalb Jah­ren dort an­ge­bracht hat­te und seit­dem fast je­de Nacht be­nutz­te. Ich schob ei­nen Fuß zwi­schen das Efeu, spür­te die er­ste Stu­fe un­ter mei­ner Schuh­soh­le und stieg bis in die zwei­te Eta­ge. Das Fens­ter war nur an­ge­lehnt, ich leg­te mei­ne Hand ge­gen die Schei­be, drück­te es auf und klet­ter­te in mein Zim­mer. Dort an­ge­kom­men, stieß ich ei­nen Seuf­zer aus, häng­te mei­ne Ta­sche über den Schreib­tisch­stuhl und sah auf die Uhr.

Zwan­zig Mi­nu­ten.

Ich streck­te die Ar­me über dem Kopf aus, dreh­te das Ge­sicht zur Sei­te und gähn­te. Mein Haar roch noch nach Ziga­ret­ten und ein kur­zer Stich durch­fuhr mich.

Der Ge­ruch er­in­ner­te mich an ihn. An sein Par­füm, sei­ne Dun­kel­heit und das, was er in mir aus­ge­löst hat­te. Aber Da­rio hat­te mich im Stich ge­las­sen und mit ihm war auch mei­ne Frei­heit ver­schwun­den.

Von ei­nem Tag zum an­de­ren hat­te sich alles ge­än­dert und selbst jetzt, zwei Jah­re spä­ter, frag­te ich mich noch immer, ob es mei­ne Schuld war.

Nicht jetzt, be­eil dich. Ich schüt­tel­te den Kopf, als könn­te ich da­mit die Ge­dan­ken los­wer­den, und ging zum Schreib­tisch. In der Ta­sche kram­te ich das Geld her­aus, zähl­te es und är­ger­te mich, dass Mr. Mil­ler nicht da ge­we­sen war. Er saß immer in der er­sten Rei­he und gab Trink­geld, das manch­mal so­gar mei­nen Lohn über­stieg.

Aber nicht heu­te. Heu­te hat­te ich nur ein­hun­dert Dol­lar ver­dient und ob­wohl mir noch acht Mona­te blie­ben, frag­te ich mich, ob mei­ne Er­spar­nis­se je­mals ge­nü­gen wür­den, um mei­nem Ge­fäng­nis zu ent­kom­men.

Ich ord­ne­te die Schei­ne, dreh­te mich zum Bü­cher­regal und zog die Schmuck­aus­ga­be von Grimms Mär­chen her­vor. Ich schlug Sei­te ein­hun­dert­zwan­zig auf und leg­te die Schei­ne zwi­schen die Sei­ten mei­nes Lie­blings­mär­chens, Rot­käpp­chen. Er kommt nicht, ver­giss ihn.

Aber wie soll­te ich ihn ver­ges­sen? Da­rio war seit mei­ner Ge­burt ein Teil mei­nes Lebens ge­we­sen.

Selbst jetzt konn­te ich den Ge­dan­ken an ihn nicht ent­kom­men.

Ich stell­te das Buch zurück an sei­nen Platz, zog mei­ne Sa­chen aus und dusch­te. Da­nach schlüpf­te ich in ein wei­ßes, knie­lan­ges Nach­themd mit Spit­ze am Saum und leg­te mich ins Bett. Ich ver­kroch mich mit dem Han­dy un­ter der De­cke, wisch­te übers Dis­play und öff­ne­te Fa­ce­book, um mir die Ein­trä­ge auf der Fan­sei­te der Skulls an­zu­se­hen.

Der neus­te Bei­trag war ein Vi­deo mit der Über­schrift: Es­ka­la­tion am Frei­tag: Die Skulls lie­fern bom­bas­ti­sche Feu­ers­how.

Mein Herz­schlag be­schleu­nig­te sich, als ich auf Play klick­te.

Ganz in Schwarz ge­hüllt, mit To­ten­kopf­tü­chern vor Na­se und Mund und ei­nem Mo­lo­tow­cock­tail in je­der Hand schlen­der­ten die drei Skulls auf ein Ge­bäu­de zu.

Ich hielt den Atem an und ver­such­te, an­hand der Grö­ße aus­zu­ma­chen, wer von ih­nen Da­rio war. Aber die Auf­nah­men waren ver­wa­ckelt und un­scharf. Wahr­schein­lich hat­ten ih­re Grou­pies sie heim­lich ge­macht.

Ein Kna­cken ließ mich auf­schre­cken. Ich schob die De­cke von mir und sah mich um. Mond­licht schien ins Zim­mer und be­leuch­te­te ei­nen schma­len Teil des Bodens, aber es war noch nicht zwei Uhr und Dads We­cker klin­gel­te erst in ein paar Mi­nu­ten.

»Hal­lo?«, flüs­ter­te ich in die Dun­kel­heit und hoff­te, mein gro­ßer bö­ser Wolf tauch­te end­lich auf. Seit Wo­chen war­te­te ich auf ihn.

Der Vor­hang vor mei­nem Fens­ter weh­te im Wind, aber sonst reg­te sich nichts.

Ich leg­te mich wie­der hin und schob die Ent­täu­schung bei­sei­te, als ich ein wei­te­res Kna­cken des Die­len­bodens hör­te.

»Hast du Angst?«

Sei­ne tie­fe Stim­me ließ mich hoch­schre­cken. Ich sprang aus dem Bett, stürm­te auf den rie­si­gen Schat­ten zu, der ge­gen mein Bü­cher­regal lehn­te, und fiel ihm um den Hals. Wie frü­her trug er schwar­ze Je­ans, Com­bat­boots, ei­nen schwar­zen Hoo­die und das Tuch vor dem Mund.

»Da­rio.« Ich schlang mei­ne Ar­me um sei­nen Na­cken, drück­te mich an ihn und küss­te sei­ne Wan­ge. Wie frü­her roch er nach Ziga­ret­ten und Aben­teu­er. »End­lich.«

Aber er um­arm­te mich nicht oder gab mir ei­nen Kuss auf die Wan­ge, wie er es sonst immer ge­tan hat­te.

Er stand ein­fach nur da, als lie­ße er es über sich er­ge­hen. Wahr­schein­lich war er wü­tend, aber das war ich auch. Wir hat­ten uns so lan­ge nicht ge­se­hen und ich hat­te ihn ver­misst. Mehr als alles an­de­re, aber jetzt war nicht der pas­sen­de Mo­ment, um zu re­den, denn der Alarm an mei­nem Han­dy schrill­te auf – zwei Mi­nu­ten vor zwei.

»Wir müs­sen uns be­ei­len.« Ich nahm sei­ne Hand und zog ihn zum an­gren­zen­den Ba­de­zim­mer. »War­te hier und sag kein Wort.«

Da­rio ver­schränk­te die Ar­me vor der Brust, lehn­te sich ge­gen die Wand und schwieg.

Ich rann­te zu mei­nem Bett, leg­te mich hin­ein und zog die De­cke bis un­ters Kinn. Auf die Se­kun­de ge­nau quietsch­te mei­ne Zim­mer­tür und Dads Schrit­te nä­her­ten sich dem Bett. Er leg­te ei­ne Hand auf die De­cke und tas­te­te nach mei­ner Schul­ter, um si­cher­zu­ge­hen, dass ich wirk­lich da war.

Es war pa­ra­no­id, viel­leicht so­gar et­was krank und wie immer fühl­te ich mich un­wohl, aber es war Dads Art si­cher­zu­stel­len, dass mir nichts ge­schah. Denn mein Vater lieb­te nichts auf der Welt mehr als mich. We­der sei­ne Ar­beit noch sein Ver­mö­gen und wahr­schein­lich noch nicht ein­mal sein ei­ge­nes Le­ben. Sei­ne Lie­be war der Grund für mei­ne Ge­fan­gen­schaft.

Ich täusch­te ein gleich­mä­ßi­ges At­men vor, ob­wohl mein Herz ra­ste, und be­te­te, er wür­de schnell ver­schwin­den. Da­rio ist wie­der bei mir.

»Mein klei­nes Mäd­chen«, mur­mel­te Dad und strich über mein Haar. »Mö­ge Gott dich schüt­zen.«

Er zog die De­cke hoch bis zu mei­nen Oh­ren, als könn­te sie mich vor Mons­tern un­ter mei­nem Bett be­schüt­zen, und ver­schwand wie­der.

Als sei­ne Schrit­te sich ent­fern­ten, warf ich die De­cke zurück und woll­te auf­sprin­gen und er­schrak. Da­rio stand direkt vor mei­nem Bett.

Er wirk­te noch grö­ßer und brei­ter als in mei­ner Er­in­ne­rung, aber ich hat­te kei­ne Angst vor ihm so wie alle an­de­ren.

Ich stand auf, dräng­te mich zwi­schen Bett und Da­rio und ver­schränk­te die Ar­me vor der Brust. Es gab noch et­was zu klä­ren. »Du bist ein Arsch­loch.«

Er lach­te freud­los. »Ist Dad­dy auf die näch­ste Si­cher­heits­stu­fe um­ge­stie­gen?«

Es gab so viel zu er­zäh­len, so viel zu sa­gen und doch wuss­te ich nicht, wo ich be­gin­nen soll­te. Fast un­ser gan­zes Le­ben hat­ten wir mit­ein­an­der ver­bracht und egal, was er tat, ich hat­te ihn be­wun­dert. Aber jetzt war ich er­wach­sen und die Zeiten, in de­nen er mich mit ei­nem Zwin­kern um den Fin­ger wi­ckeln konn­te, waren vor­bei.

»Das Letz­te, was du zu mir ge­sagt hast, war: bis mor­gen. Das ist zwei Jah­re her«, flüs­ter­te ich. Wahr­schein­lich lag Dad schon wie­der im Bett, aber ich durf­te nichts ris­kie­ren.

»Und du hast ver­spro­chen, ein bra­ves Mäd­chen zu blei­ben. Aber bra­ve Mäd­chen lü­gen nicht.«

Ich setz­te mich aufs Bett und sah zu ihm auf. »Ich ha­be ver­sucht, dich an­zu­ru­fen. Ich ha­be ver­sucht, dei­ne Schwes­tern zu er­rei­chen, aber eu­re Num­mern waren nicht mehr ver­füg­bar. Ich ha­be Brie­fe ge­schickt und bin zu dei­nem Vater ge­fah­ren, weil ich nicht ver­stan­den ha­be, was los ist. Aber er hat nur ge­sagt, dass du nicht ge­fun­den wer­den willst.«

»Wie­so kommst du nach zwei Jah­ren auf die Idee, mich öf­fent­lich zu pro­vo­zie­ren?« Sei­ne Stim­me klag kühl, ru­hig. »Das war sehr dumm, Sü­ße.«

Na­tür­lich war es das. Im Nach­hi­nein be­trach­tet war es kin­disch, aber ich hat­te mir nicht an­ders zu hel­fen ge­wusst. Als ich vor vier Wo­chen ein al­tes Foto von uns ge­fun­den hat­te, waren alle Er­in­ne­run­gen, alle Ge­füh­le wie­der hoch­ge­kom­men und ich be­schloss, ei­nen letz­ten Ver­such zu un­ter­neh­men, ihn zu kon­tak­tie­ren. Mei­ne Idee war viel­leicht kin­disch ge­we­sen, aber sie hat­te funk­tio­niert.

Da­rio schlen­der­te zum Schreib­tisch, hob mei­ne Blu­se vom Boden auf und roch da­ran. »Von wem hast du dich fi­cken las­sen?«

Wie bit­te? Sei­ne Wor­te tra­fen mich wie ein Gift­pfeil. Ich stand auf und riss ihm die Blu­se aus der Hand. »So re­dest du nicht mit mir.«

»Tut mir leid, ich ha­be ver­ges­sen, wie an­stän­dig Dad­dys Prin­zes­sin ist.«

Dei­ne Un­schuld ist das Wert­voll­ste, das du be­sitzt.

Ich ball­te die Hän­de zu Fäus­ten und press­te sie ge­gen mei­ne Ober­schen­kel, um die Wut un­ter Kon­trol­le zu hal­ten. Er war ver­är­gert und be­saß je­des Recht da­zu, aber das war kei­ne Ent­schul­di­gung für sein Ver­hal­ten. »Es tut mir leid, was ich im In­ter­net über die Skulls ge­sagt ha­be. Ich wuss­te mir nicht mehr an­ders zu hel­fen.«

»Au­brey, Au­brey.« Er schüt­tel­te den Kopf, als ta­del­te er ein un­ge­zo­ge­nes Kind. »Du machst dir doch nicht selbst die Hän­de schmut­zig.«

Auch da­mit lag er falsch. In den letz­ten zwei Jah­ren hat­te ich ge­lernt, die Din­ge selbst in die Hand zu neh­men.

Er wand­te den Blick ab und be­trach­te­te mein Zim­mer. Es war zu dun­kel und die Ka­pu­ze, die er tief ins Ge­sicht ge­zo­gen hat­te, ließ mich den Aus­druck da­rin nicht er­ken­nen, aber selbst sei­ne Stim­me zeig­te kei­ne Emo­tio­nen. Wenn er frü­her wü­tend ge­we­sen war, hat­te er mich ge­packt und ge­schüt­telt.

Aber jetzt war er ru­hig und emo­tions­los. Wa­rum war er so an­ders?

Er lief zum Bü­cher­regal, hock­te sich hin und zog ein Buch her­vor. Als er sich zu mir dreh­te und das Mond­licht auf ihn fiel, er­kann­te ich den Titel: Grimms Mär­chen. Er hielt es in der Hand und blät­ter­te da­rin. Geld­schei­ne fie­len zu Boden, Da­rio bück­te sich, hob sie auf und hielt sie mir vor die Na­se.

»Dei­ne Sa­chen rie­chen nach Kip­pen und du ver­steckst Geld. Bist du un­ge­zo­gen, Ba­by­doll?«

Ba­by­doll. Mein Herz tat ei­nen Satz, stol­per­te und schlug schnel­ler. Frü­her hat­te er mich so ge­nannt. Ich war fünf Jah­re jün­ger als er. Klein, zier­lich und trug Zöp­fe, wie die Pup­pen, mit de­nen ich spiel­te. Ich hat­te es ge­liebt, wenn er mich so nann­te.

Es war et­was, das nur uns ge­hör­te. So viele Ri­tua­le hat­ten uns ge­hört.

Ich riss ihm das Geld aus der Hand und hoff­te, er wür­de mir nicht an­hö­ren, wie sehr mich sei­ne dis­tan­zier­te Art ver­letz­te. »Wa­rum bist du hier? An­schei­nend nicht, weil ich dir ge­fehlt ha­be.«

Da­rio leg­te den Kopf schief, streck­te sei­ne Hand aus und nahm ei­ne mei­ner Haar­sträh­nen zwi­schen zwei Fin­ger. »Eigent­lich bin ich her­ge­kom­men, um dir zu sa­gen, dass wir uns nicht pro­vo­zie­ren las­sen.« Er zog mich an mei­nen Haaren nä­her zu sich. »Nie­mand legt sich mit den Skulls an.«

»Eigent­lich?« Ich ver­such­te, mei­ne Haa­re aus sei­nem Griff zu be­frei­en, aber Da­rio zog so fest da­ran, dass mei­ne Kopf­haut schmerz­te. »Du tust mir weh.«

Er schob das Tuch von sei­nem Mund und lä­chel­te. »Ich wer­de ihm weh­tun.«

»Wem?«

Statt zu ant­wor­ten, ließ er mich los und schlug das Buch in der Mit­te auf. Er ließ ei­nen Fin­ger über die bun­ten Bil­der glei­ten und rich­te­te den Blick auf mich. »Du hast kei­ne Angst mehr vor dem gro­ßen, bö­sen Wolf.«

Es klang nicht wie ei­ne Fra­ge und ich schwieg, weil ich nicht wuss­te, wo­rauf er hin­aus­woll­te.

»Das war ein Feh­ler. Du hast ihn her­aus­ge­for­dert. Jetzt kommt dich sein Ru­del ho­len.«

Er beug­te sich zu mir her­un­ter. Sei­ne Zun­gen­spit­ze be­rühr­te mein Ohr­läpp­chen, ein Schau­er lief über mei­nen Rü­cken. Frü­her hat­te ich mir ge­wünscht, dass er mich be­rühr­te. Aber er hat­te immer Ab­stand ge­wahrt und sich von mir fern­ge­hal­ten. In mei­ner Fan­ta­sie hat­te es sich an­ders an­ge­fühlt. Ge­bor­gen, warm und ver­traut.

Vor­sich­tig wand­te ich das Ge­sicht zur Sei­te. Mei­ne Na­sen­spit­ze be­rühr­te sei­ne Wan­ge und ich hielt den Atem an. »Es tut mir leid.«

»Zu spät.«

 

Kapitel 2

 

AU­BREY

 

 

Noch immer schwirr­ten die Ge­dan­ken um mein un­er­war­te­tes Wie­der­se­hen mit Da­rio durch mei­nen Kopf. Die hal­be Nacht hat­te ich mich im Bett ge­wälzt, über sei­ne Wor­te und sein Ver­hal­ten ge­grü­belt, aber egal, wie sehr ich ver­such­te, mir ein­zu­re­den, dass er nur wü­tend war, es er­gab kei­nen Sinn. Nie hat­te er mich so be­han­delt wie ge­stern. In den letz­ten zwei Jah­ren hat­te ich mir immer wie­der vor­ge­stellt, wie un­ser Wie­der­se­hen ver­lau­fen wür­de. In mei­ner Fan­ta­sie nahm er mich in die Ar­me, ent­schul­dig­te sich für sein Ver­schwin­den und wir mach­ten da weiter, wo wir auf­ge­hört hat­ten. Als Freun­de, viel­leicht mehr.

Aber die Rea­li­tät hat­te mir ih­re Faust ins Ge­sicht ge­schleu­dert und mir be­wusst ge­macht, dass sich alles zwi­schen uns ver­än­dert hat­te.

Ich stieg die Trep­pe hi­nab, strich mei­nen Rock zu­recht, schob die Ge­dan­ken an Da­rio bei­sei­te und um­fass­te das zu­sam­men­ge­roll­te Do­ku­ment fes­ter. Für das, was ich vor­hat­te, be­nö­tig­te ich ei­nen kla­ren Kopf. Ich konn­te spä­ter über Da­rio nach­den­ken, schließ­lich hat­te ich den gan­zen Tag Zeit.

Die In­nen­flä­che mei­ner Hand kleb­te an dem Papier und in mei­nem Ma­gen bil­de­te sich ein Kno­ten, der sich bei je­dem Schritt en­ger zu­zog.

Als ich die letz­te Stu­fe er­reich­te, stieg mir der Duft von ge­rös­te­ten Kaffee­boh­nen und war­men Cro­is­sants in die Na­se. Augen­bli­cklich knurr­te mein Ma­gen und er­in­ner­te mich da­ran, dass ich seit mehr als zwölf Stun­den nichts mehr ge­ges­sen hat­te.

Dad saß in der Mit­te un­se­res rie­si­gen Ess­ti­sches über sei­ne Zei­tung ge­beugt, die Augen waren zu­sam­men­ge­knif­fen und tie­fe Fal­ten zeich­ne­ten sich auf sei­ner Stirn ab. Ich kann­te die­sen Ge­sichts­aus­druck, er stu­dier­te die Ak­ti­en.

»Mor­gen, Dad.«

Er sah von der Zei­tung auf, sein Blick fiel auf mei­ne ro­ten Chucks und augen­bli­cklich ver­zog er den Mund. »Wie oft müs­sen wir noch da­rüber dis­ku­tie­ren, Au­brey?«

»Von mir aus gar nicht.« Ich wuss­te, wie er da­rüber dach­te, aber ich lieb­te die ro­ten, ab­ge­tra­ge­nen Chucks, die Leo mir zu mei­nem sieb­zehn­ten Ge­burts­tag ge­schenkt hat­te. »Mach, was du willst, aber ich be­hal­te sie an.«

»Sie schi­cken sich nicht zur Schul­uni­form. Du siehst so or­dent­lich aus, aber die­se  … Schu­he ver­der­ben alles.« Er be­ton­te das Wort, als sei es gif­tig, aber gab sich wie immer ge­schla­gen. Zu­min­dest da­bei ließ er mir mei­nen Wil­len. Sei­ne Mie­ne wur­de wei­cher. »Wa­rum bist du schon wach? Was ist los?«

»In Frank­reich ist es schon mit­tags.« Ich ging zu ihm und küss­te sei­ne Wan­ge. »Mom fehlt mir, ich ha­be sie an­ge­ru­fen.« Ich setz­te mich an die Kopf­sei­te, leg­te die Hand, in der ich das An­mel­de­for­mu­lar hielt, in den Schoß und schüt­te­te mir Oran­gen­saft ein. Hof­fent­lich be­merk­te Dad mei­ne Lü­ge nicht. Na­tür­lich fehl­te mir Mom, aber ich hat­te sie heu­te noch nicht an­ge­ru­fen. Vor drei Jah­ren hat­ten sich mei­ne Eltern ge­trennt und seit­dem wohn­te ich mit Dad allei­ne. Sie hat­ten be­schlos­sen, mich in mei­ner ge­wohn­ten Um­ge­bung zu las­sen, da­mit ich hier weiter zur Schu­le ge­hen konn­te. Aber selbst, als Dad mich von der Highs­chool nahm, frag­te nie­mand, bei wem ich lie­ber woh­nen wür­de. Für mei­ne Eltern stand von An­fang an fest, dass es hier, direkt bei Dad, am si­chers­ten für mich war. Noch so ei­ne Lo­gik, die ich nicht ver­stand.

Dad mus­ter­te mich mit dem­sel­ben nach­denk­li­chen Blick, mit dem er Se­kun­den zu­vor die Ak­ti­en stu­diert hat­te. »Geht es dir gut?«

»Klar, alles be­stens.«

Nichts war be­stens. We­der die Un­ru­he, die seit letz­ter Nacht wie ein Sturm in mir tob­te, noch die Ver­wirrt­heit über Dar­ios Ver­hal­ten. Aber wenn ich nicht dem­nächst mit Git­tern vor den Fens­tern auf­wachen woll­te, muss­te ich schwei­gen.

Dad run­zel­te die Stirn, sein Blick bohr­te sich in mei­nen Kopf, als su­che er nach ei­ner Lü­ge. »Es ist ge­ra­de mal hell und du bist schon wach, al­so was ist los?«

Ich um­klam­mer­te das An­mel­de­for­mu­lar, leg­te es auf den Tisch, schob es mei­nem Vater zu und hielt die Luft an.

Er senk­te den Blick. »Was ist das?«

»Die An­mel­dung für das Col­le­ge.«

Oh­ne ei­nen wei­te­ren Blick schob er die Un­ter­lagen bei­sei­te und fal­te­te die Hän­de. »Das se­he ich, aber ich dach­te, wir hät­ten das ge­klärt.«

»Ich bin neun­zehn. Ich müss­te dich nicht mal um Er­laub­nis fra­gen.«

Sein Blick ver­schärf­te sich. »So­lan­ge du hier wohnt, so­lan­ge du kein ei­ge­nes Ein­kom­men hast, tust du, was ich sa­ge. Ha­ben wir uns ver­stan­den?« Er biss die Zäh­ne zu­sam­men. »Hör zu, Au­brey, ich will dir nicht dro­hen müs­sen, aber wenn du nicht ge­horchst, be­kommst du spä­ter kei­nen Cent. Und es wür­de mir das Herz bre­chen, mei­ne ein­zi­ge Tochter zu ver­lie­ren.«

Ich schluck­te. Es war lä­cher­lich, fast schon pein­lich. Ich war neun­zehn Jah­re alt und ließ ihn über mein Le­ben be­stim­men, als wä­re ich ein Kind. Aber so sehr ich es auch hass­te, so sehr ich mir ei­ne eige­ne Woh­nung und Frei­heit wünsch­te, es war un­mög­lich. Ich be­saß we­der Geld noch Freun­de. Wo soll­te ich hin? Als ich vor ei­nem Jahr heim­lich ei­nen Job in ei­nem Café an­ge­nom­men hat­te und er es her­aus­fand, droh­te er mir nicht nur mit Ent­er­bung. Dad hat­te mich ei­ne Wo­che kaum an­ge­se­hen, nicht mit mir ge­re­det und war eis­kalt ge­we­sen. Ich woll­te ihn nicht ver­lie­ren, er war der Ein­zi­ge, der mir noch ge­blie­ben war.

Ich seufzte und ver­such­te, mei­ne Wut her­un­ter­zu­schlu­cken. »Du hast ver­spro­chen, noch mal da­rüber nach­zu­den­ken.« Als ich das The­ma vor ei­ni­gen Wo­chen an­ge­spro­chen hat­te, ver­trös­te­te mich mein Vater auf ei­nen spä­te­ren Zeit­punkt. Ich war­te­te je­den Tag auf sei­ne Ent­schei­dung, aber nichts ge­schah und ich hat­te das War­ten satt.

»Ich ha­be auch ver­spro­chen, dich zu be­schüt­zen.«

Ich starr­te auf mei­ne zu Fäus­ten ge­ball­ten Hän­de und press­te die Lip­pen zu­sam­men. Na­tür­lich hat­te ich die­se Ant­wort er­war­tet, aber sie wirk­lich zu hö­ren, traf mich här­ter, als ge­dacht. »Dad, ich will nur zum Col­le­ge und nicht der Ma­fia bei­tre­ten. Ich bin alt ge­nug.«

Woll­te ich ihn über­zeugen, muss­te ich mich zu­sam­men­rei­ßen. Bei ei­nem Aus­bruch wür­de er mich aufs Zim­mer schi­cken und die Sa­che wä­re er­le­digt.

Ich straff­te die Schul­tern und zwang mich zu ei­nem Lä­cheln, als ich ihn an­sah. »Bit­te Dad, ich ver­mis­se die Schu­le.«

»Wenn dir die Stun­den bei Ro­sie nicht ge­nü­gen, bit­te ich sie, den Un­ter­richt aus­zu­deh­nen.«

Ro­sie war un­ser Haus­mäd­chen und gleich­zei­tig mei­ne Leh­re­rin, die mich täg­lich fünf Stun­den un­ter­rich­te­te. Manch­mal frag­te ich mich, wa­rum je­mand mit ih­rem Bil­dungs­stand als Dienst­mäd­chen ar­beit­ete, aber sie hat­te kei­ne Fa­mi­lie und fühl­te sich wohl hier.

Na­tür­lich un­ter­rich­te­te sie mich in un­se­rem Haus, wo es si­cher war und mich nie­mand ent­füh­ren oder er­mor­den konn­te. Der ein­zi­ge Ort, den ich allei­ne auf­su­chen durf­te, war die Kir­che.

Ich schüt­tel­te den Kopf, der Kno­ten in mei­nem Ma­gen ver­wan­del­te sich in Feu­er. Hit­ze stieg in mein Ge­sicht und ich press­te die Fäus­te ge­gen die Tisch­plat­te, da­mit ich nicht das Glas griff und es auf den Boden don­ner­te. »Du weißt, was ich mei­ne. Ei­ne rich­ti­ge Schu­le mit Leu­ten in mei­nem Al­ter. Mit De­bat­tier­klubs, Foot­ball­spie­len und Kau­gum­mi, das die Bö­den ver­klebt.«

Par­tys, Knut­schen und Sex.

»Du weißt, dass es zu ge­fähr­lich ist.«

»Bit­te Dad.«

»Ich muss in ein paar Wo­chen für ei­ne Wei­le nach Port­land. Der May­er-Fall zieht sich, wir müs­sen uns zu­sam­men­set­zen und die Ver­tei­di­gung pla­nen. Lass uns da­nach re­den.«

Nur beim Ge­dan­ken da­ran, ei­ne Wei­le oh­ne sei­ne Über­wa­chung aus­zu­kom­men, schlug mein Herz schnel­ler. »Das ist  … scha­de. Aber du kannst dich auf mich ver­las­sen.«

»Na­tür­lich sind Py­ro und Ro­bert in­for­miert und vor­be­rei­tet. Du musst dir kei­ne Sor­gen ma­chen, dass et­was pas­siert.«

Ich sank im Stuhl zurück. Von ei­ner Se­kun­de zur näch­sten zers­tör­te er mei­ne Aus­sicht auf ein paar Wo­chen Frei­heit. Ich war­te­te ei­nen Mo­ment, bis ich si­cher war, dass er mir mei­ne Ent­täu­schung nicht an­hör­te, und lä­chel­te. »Okay. Aber wa­rum be­spre­chen wir das mit mei­ner Col­le­ge-An­mel­dung nicht so­fort?«

»Die Stur­heit hast du von dei­ner Mutter.« Dad seufzte. »Es tut mir leid, aber das ist ein­fach zu ge­fähr­lich, Au­brey.«

»Wa­rum? Wo­vor hast du Angst?«

»Mach dich nicht lä­cher­lich, alles ist in Ord­nung.«

»Ja? Wa­rum darf ich dann ver­dammt -«

»Ach­te auf dei­ne Wort­wahl, Au­brey.«

Ich muss­te es sa­gen, ich muss­te wis­sen, ob ich mit mei­ner Ver­mu­tung rich­tig lag. »Ist es, weil Da­rio zurück ist?«

Ei­nen Mo­ment schien die Zeit still­zu­ste­hen, alles ver­lang­sam­te sich und die Stil­le wur­de so laut, dass mir die Oh­ren schmerz­ten.

»Was?« Dads Augen waren weit auf­ge­ris­sen. »Wo­her weißt du da­von?«

In Se­kun­den­schnel­le ging ich die Mög­lich­kei­ten durch.

Ich hat­te kaum Kon­takt zu Leu­ten außer­halb die­ser vier Wän­de. Zu­min­dest nicht nach Dads Wis­sen. In­ter­net und Han­dy waren er­laubt, aber wenn er er­fuhr, dass ich die­sen Bo­nus nutz­te, um die Skulls zu ver­fol­gen oder um an­de­ren zwei­fel­haf­ten Din­gen nach­zu­ge­hen, wür­de er mir auch die­se Frei­heit ent­zie­hen.

»Wo­her weißt du es?«, wie­der­hol­te er.

»Als Mr. Lie­ber­man zu Be­such war, muss ich et­was auf­ge­schnappt ha­ben.«

Du sollst nicht lü­gen, Gott sieht alles.

Dad sah mich ei­ni­ge Se­kun­den an, als er­kann­te er mei­ne Lü­ge, aber dann senk­te er den Blick. »Lie­ber­man.« Er rieb sich über das Kinn. »Er hat auch Är­ger mit den San­to­cas, wa­rum al­so soll­te er Car­los’ Sohn er­wäh­nen?«

Car­los’ Sohn. Die Gleich­gül­tig­keit, mit der mein Vater über Da­rio sprach, traf mich. Frü­her war er wie ein ei­ge­nes Kind für Dad­dy ge­we­sen.

Un­se­re Väter hat­ten nicht nur zu­sam­men­ge­ar­bei­tet, un­se­re Fa­mi­lien waren eng be­freun­det ge­we­sen. Car­los San­to­ca, ho­hes Tier im Stadt­rat, und Dad, ei­ner der be­kann­tes­ten Rich­ter in At­lan­ta, hat­ten sich per­fekt er­gänzt. Im Ge­richts­saal waren sie ein ein­ge­spiel­tes Te­am, pri­vat fei­er­ten wir Gar­ten­par­tys zu­sam­men. Un­se­re Fa­mi­lien ver­brach­ten den jähr­li­chen Ka­ri­bi­kur­laub zu­sam­men und Car­los’ Kin­der, Me­lis­sa, Leo und Da­rio waren wie Ge­schwis­ter für mich ge­we­sen. Jetzt sprach mein Vater von Da­rio, als kann­te er ihn nicht.

»Ich hö­re, Au­brey.«

Sei­ne Stim­me riss mich aus den Ge­dan­ken und ich ver­such­te, mich an sei­ne Fra­ge zu er­in­nern. »Wie bit­te?«

»Wa­rum soll­te Lie­ber­man Da­rio er­wäh­nen?«

»Kei­ne Ah­nung.«

»Und wie kommst du da­rauf, dass sei­ne Rück­kehr et­was mit mei­ner Ent­schei­dung ge­gen dei­nen Col­le­ge­be­such zu tun ha­ben könn­te?«

»Sag du es mir.« Die Hit­ze krib­bel­te wie Luft­bla­sen un­ter mei­ner Haut, aber ich hielt mei­ne Wut, so gut es ging, zurück. »Bit­te sag mir, was zwi­schen Car­los und dir vor­ge­fal­len ist.«

»Er hat mich um fünf Mil­lio­nen be­tro­gen.«

Die­sen Teil der Ge­schich­te kann­te ich be­reits, aber ich war si­cher, das mehr da­hin­ter­steck­te. »Was hat das mit Da­rio und mir zu tun? Wa­rum durf­ten wir uns nicht weiter se­hen? Wa­rum hältst du mich seit­dem hier ge­fan­gen?«

»Ich hal­te dich nicht ge­fan­gen, ich be­schüt­ze dich.«

»In­dem du mir alles ver­bie­test?« Mei­ne Stim­me zit­ter­te, aber ich muss­te es los­wer­den, be­vor ich den Mut ver­lor. »Ich weiß viel­leicht nicht, was wirk­lich pas­siert ist, aber ich weiß, dass Da­rio mir nie et­was tun wür­de.«

»Au­brey  …« Er schüt­tel­te den Kopf und nahm mei­ne Hän­de in sei­ne. »Ich ha­be dir ge­sagt, dass ich nicht da­rüber re­de -«

»Weil du mich be­schüt­zen willst«, un­ter­brach ich ihn. »Aber ich muss es wis­sen. Ich will end­lich wis­sen, wa­rum ich so le­ben muss.«

In Dads grau­en Augen blitz­te et­was auf, das ich als Mit­leid deu­te­te. Ich wuss­te, dass er es nicht tat, um mich zu be­stra­fen. Er ver­such­te, mein Le­ben so an­ge­nehm wie mög­lich zu ge­stal­ten.

In­ner­halb un­se­res An­we­sens durf­te ich tun, was ich woll­te, so­lan­ge ich mich be­nahm. Ich durf­te den gan­zen Tag Fil­me im Ki­no­saal se­hen und durf­te Piz­za be­stel­len, wann immer ich woll­te. Meis­tens lud ich Py­ro und Ro­bert – un­se­re Body­gu­ards – da­zu ein, um ein we­nig Ge­sell­schaft zu ha­ben.

Die Re­geln waren ein­fach. Kein Al­ko­hol, Bett­ruhe ab zehn Uhr und je­den Sonn­tag ein Kirch­be­such. Nicht, dass die Kir­che nicht all­ge­gen­wär­tig war. Ne­ben sei­ner Tä­tig­keit als Rich­ter dien­te Dad als Pries­ter in St. An­ge­lic. Was im er­sten Mo­ment wi­der­sprüch­lich er­schien, war nichts Un­ge­wöhn­li­ches. Viele orts­an­säs­si­ge Pfar­rer gin­gen ne­ben ih­rem Dienst an Gott auch ge­wöhn­li­chen Be­rufen nach.

Je län­ger er schwieg, de­sto ge­wal­ti­ger wur­de die Druck­wel­le in mei­ner Brust. Mit je­der Se­kun­de brei­te­te sie sich aus und droh­te, mei­nen Brust­korb zu spren­gen. »Bit­te, ich muss es wis­sen.«

»Au­brey  …«

»Bit­te Dad­dy. Ich ver­spre­che, dass ich da­nach nie wie­der fra­gen wer­de, aber sag mir, was los ist.«

Er at­me­te tief ein, rieb sich über die Stirn und press­te die Lip­pen zu­sam­men. »Du hast recht, es geht nicht nur um mein Zer­würf­nis mit Car­los. Auch Da­rio hat et­was Schre­ckli­ches ge­tan.«

»Was denn?«

Dad schwieg.

Ich drück­te sei­ne Hand. »Was hat Da­rio ge­tan?«

Mein Vater at­me­te laut aus und schüt­tel­te den Kopf. »Seit zwei Jah­ren ha­be ich mich vor die­sem Mo­ment ge­fürch­tet.«

Die Angst vor der Wahr­heit kroch durch mei­ne Zel­len und lähmte mich wie Gift. »Egal, was es ist, ich kom­me klar.«

»Da­rio hat ei­nen Men­schen ge­tö­tet.«

Wie ei­ne Kugel schos­sen die Wor­te mei­nes Vaters durch mein Ge­hirn.

Sie rausch­ten durch mei­ne Syn­ap­sen und färb­ten die Som­mer­ta­ge schwarz, an de­nen Da­rio und ich durch den Gar­ten ge­tobt waren.

Un­se­re Kla­vier­stun­den.

Da­rio hat ei­nen Men­schen ge­tö­tet.

Un­se­re heim­li­chen Film­aben­de, wenn das gan­ze Haus schlief und es nur ihn und mich ge­ge­ben hat­te.

Da­rio hat ei­nen Men­schen ge­tö­tet.

Die Be­rüh­run­gen, wenn er sei­ne Hand mit mei­ner ver­glich und da­rüber lach­te, wie klein ich war.

Da­rio hat ei­nen Men­schen ge­tö­tet.

»Es tut mir leid, mein Schatz.« Dad wisch­te mit dem Dau­men über mei­ne Wan­ge. »Jetzt kennst du den Grund für mei­ne Sor­ge. Ich woll­te dir das alles er­spa­ren, weil ich weiß, wie sehr du dich mit ihm ver­bun­den ge­fühlt hast. Er war be­ses­sen von dir und ich bin si­cher, dass er dir auch et­was an­tun wür­de.«

Noch immer rausch­ten Er­in­ne­run­gen an den Jun­gen von da­mals durch mei­nen Kopf. Sei­ne brau­nen Augen, in de­nen immer Dun­kel­heit ge­le­gen hat­te. Schon als Kind be­merk­te ich, dass Da­rio an­ders als die Jungs in mei­ner Schu­le war. Im Som­mer ging er nie mit uns schwim­men. Nie er­hell­te ein Lä­cheln sein Ge­sicht. Ich er­wisch­te ihn öf­ter nachts in Dads Heim­ki­no mit ei­nem Jo­int in der Hand, weil er nicht schla­fen konn­te.

In man­chen Näch­ten nahm ich ihn mit auf mein Zim­mer, weil es ihm Frie­den gab, wenn er mich beim Schla­fen be­ob­ach­te­te. Wenn ich mor­gens auf­wach­te, saß er noch immer auf dem Boden vor mei­nem Bett und starr­te ins Lee­re.

Da­rio war mein dunk­ler En­gel mit zer­bro­che­nen Flü­geln ge­we­sen.

Sa­tan war auch ein En­gel, be­vor er aus dem Himmel ver­bannt wur­de, sag­te er immer und ich lach­te da­rüber, denn für mich war Da­rio immer Gott ge­we­sen. Mein Freund, mei­ne Son­ne, mei­ne Welt – mein gan­zes Uni­ver­sum.

Die Schlag­zeilen aus dem In­ter­net schli­chen sich in mei­ne Ge­dan­ken.

Jun­ge ver­schwin­det nach Auf­nah­me­prü­fung der Skulls. Da­rio San­to­ca – die Höl­le woll­te ihn nicht.

Bis­her hat­te ich über die reiß­er­ischen Über­schrif­ten ge­lacht. Ich hat­te selbst ein paar er­fun­den. Aber nie hat­te ich auch nur ei­ne Se­kun­de ge­glaubt, es könn­te die Wahr­heit sein.

Dads Lip­pen be­weg­ten sich, er sprach, aber mei­ne Ge­dan­ken waren so laut, dass ich mich an­stren­gen muss­te, um ihn zu ver­ste­hen.

»Bit­te sag et­was, Schatz.«

»Ich  …« Tausend Fra­gen schos­sen durch mei­nen Kopf. »Bist du si­cher? Ich mei­ne, wen? Wo­her weißt du das und wa­rum ist er dann nicht im Ge­fäng­nis? Wa­rum soll­te er mir et­was tun?«

Dad warf ei­nen Blick auf sei­ne Arm­band­uhr, trank ei­nen Schluck Kaffee und nahm mei­ne Hand wie­der. »Quä­le dich nicht noch mehr, Au­brey. Das, was du weißt, ge­nügt.«

Er er­hob sich, schob sei­nen Stuhl zurück und stell­te sich ne­ben mich. Mit ei­ner Hand griff er nach der fei­nen Gold­ket­te um mei­nem Hals und um­fass­te den Kreuz­an­hän­ger. »Gott ist bei dir. Er kennt alle Ant­wor­ten und er­hört all dei­ne Ge­be­te.«

Er ließ die Ket­te los, beug­te sich her­un­ter und küss­te mei­ne Stirn. »Viel­leicht soll­test du heu­te am Got­tes­dienst teil­neh­men, dann bist du bei mir.«

»Nein, schon gut.« Ich zwang mich zu ei­nem schwa­chen Lä­cheln. »Ro­sie woll­te heu­te ei­nen Test mit mir schrei­ben und ich will nicht um­sonst ge­lernt ha­ben.«

»Gut, nimm dir Zeit, um da­mit klar­zu­kom­men.«

Er rief Ro­sie, da­mit sie den Tisch ab­räum­te, und flüs­ter­te ihr et­was ins Ohr. Wahr­schein­lich bat er sie, ein Au­ge auf mich zu ha­ben.

Dad ver­ließ den Wohn­be­reich, kurz da­rauf fiel die Haus­tür ins Schloss und ich blieb mit mei­nen Ge­dan­ken zurück.

Es konn­te nicht stim­men. Dad muss­te sich täu­schen.

Was, wenn Da­rio wirk­lich ein Mör­der ist?

Ich starr­te zu Boden und ver­such­te die Wor­te, die durch mei­nen Kopf wir­bel­ten, zu sor­tie­ren.

Ich muss­te die Wahr­heit her­aus­fin­den.

Falls Da­rio un­schul­dig war, und da­ran woll­te ich noch immer glau­ben, konn­te ich Dad viel­leicht da­von über­zeugen, mich ein nor­ma­les Le­ben le­ben zu las­sen.