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TORSTEN LINDEMEIER

ZUM
GLÜCK
GEHT’S
IMMER
WEITER

VON ALASKA BIS URUGUAY
– WIE 8 JAHRE UNTERWEGS
MEIN LEBEN VERÄNDERTEN

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INHALT

Vorwort

Der Abschied

Kanada & USA

Mexiko und Lateinamerika

Venezuela, Kolumbien & Ecuador

Peru, Chile & Argentinien

Uruguay oder: ein Ausblick

Ich bedanke mich …

VORWORT

Wenn einer eine Reise tut … so kann das viele Gründe haben, verschiedene Gründe, je nach Art der Reise. Bei mir waren es viele verschiedene Gründe für eine besondere Reise, die ich mir immer wieder in meinem Kopf erträumt habe, lange schon. Das erste Mal als junger, neugieriger Mensch aus dem Ruhrpott, ausgestattet mit einer ordentlichen Portion Lust auf Abenteuer. Später, und um einige Jahre gereift, kam der sportliche Ehrgeiz hinzu, sich selbst noch etwas beweisen zu wollen. Dazwischen lag ein Leben voller Dynamik und Rastlosigkeit. Ein Leben wie bei vielen anderen Menschen auch, mit beruflicher Karriere, mit Erfolgen und Misserfolgen, mit Freuden und Tiefschlägen im Privatleben. Kurzum: ein normales Leben … Nur eines Tages war der Gedanke an diese Reise nicht mehr nur ein Traum, und ich setzte ihn sehr kurzfristig und schneller um, als mir vielleicht selbst lieb war.

Ausschlaggebend war eine Veränderung in meinem Privatleben. Meine damalige Freundin, mit der ich mir zusammen in Spanien ein Leben aufgebaut hatte, war gezwungen, aufgrund einer neuen Immigrationsgesetzgebung in ihr Heimatland Ecuador zurückzuziehen. Es traf uns aus heiterem Himmel und war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und mich zum Ausstieg aus meinem geregelten Arbeitsleben als selbstständiger Unternehmer auf Mallorca bewegte. Es war ein hoher Preis! Ich ließ viel zurück. Und ich meine nicht unbedingt die materiellen Dinge, die man sich im Lauf eines mitteleuropäischen Menschenlebens anschafft. Es waren vielmehr die lieben Freunde und die Familie, die man auf jeder Reise teils zurücklässt, teils aber auch für immer verliert – und nicht nur die Chance, Zeit mit ihnen zu verbringen.

Damals war es meine Entscheidung, und obwohl es in Hinsicht auf meine zukünftige Existenz in Ecuador nicht aufgegangen ist, haben die vielen Menschen mit ihren verschiedenen Kulturen in den einzelnen Ländern des amerikanischen Kontinentes mein Leben positiv beeinflusst und verändert. Materialistische Werte waren für mich zuvor immer erstrebenswert gewesen und mein tägliches Ziel. Heute vertrete ich eher die Einstellung: weniger ist mehr. Weniger Eigentum und Besitz bedeutet mehr Freiheit. Auch wenn ich weiß, dass man nicht immer ausbrechen kann aus seinem Hamsterrad, vor allem, wenn man Verantwortung gegenüber anderen Menschen hat.

Dieses Buch soll eine kleine Anregung für Menschen jeden Alters sein, nicht alles bis ins letzte Detail durchzuplanen, sondern die Welt zu bereisen, Menschen kennenzulernen und neue Freunde zu machen, unabhängig davon, auf welche Art und Weise und für wie lange.

DER ABSCHIED

TIME TO SAY GOOD BYE ODER:
EIN TRAUM GEHT IN ERFÜLLUNG

April 2005

Es waren noch wenige Meter bis zum Gipfel des Berges. Ich spürte den Puls in meinen Halsschlagadern, meine Beine waren weich wie Pudding, und ein paar Meter hinter mir hörte ich meinen Kumpel Bodo keuchen. Dass ich vor ihm lag, war eher eine Seltenheit. Bodo war ein zäher Brocken, dessen Ausdauer und Kraft wegen seiner spindeldürren Statur oft und gern unterschätzt werden.

Seit Monaten trainierte ich nun mit ihm, um mich wieder in Form zu bringen – jeden Tag ein paar Kilometer mehr, jedes Mal mit etwas mehr Gepäck. Ich hatte jetzt fast die gesamte Ausrüstung dabei, die ich in Kürze täglich brauchen würde. Mein altes Fahrrad war nach all den Jahren, in denen es im Keller Staub angesetzt hatte, einem »Lifting« unterzogen worden. Es bekam neue Reifen vom Typ »Heavy Duty Longrider« und einen Aluminiumgepäckträger Marke Eigenbau vorn und hinten. Natürlich musste das alte Ding auch einen Namen bekommen. Deshalb tauften wir es bei einer Verabschiedungsfeier unter Freunden auf den Namen »Bob, das Bike«. Mit jedem weiteren Trainingstag wuchs mein Enthusiasmus, und als ich schließlich online mein Flugticket buchte, tat sich die Welt vor mir neu auf. Mein langersehnter Traum begann Realität zu werden: eine Reise per Fahrrad entlang der »Panamericana«, der längsten Straße der Welt.

Von Alaska bis Argentinien.

Von A bis A.

KANADA & USA

ABSCHIED AUS DEUTSCHLAND

Zuvor galt es einige Pflichtaufgaben abzuarbeiten. Der Besuch in meinem Elternhaus und der damit verbundene Abschied von Eltern und Großeltern war ein bewegender Abschied – mindestens vier Jahre verstrichen, bis ich sie wiedersehen sollte. Auf Mallorca hatte ich alles zurückgelassen, was ich in den letzten zehn Jahren aufgebaut hatte: Meine Firma war verkauft, die Finca, die über die Jahre zu meinem geliebten Zuhause geworden war, sollte in Zukunft meiner Familie als Urlaubsresidenz dienen. Ich brauchte ab jetzt keinen festen Wohnsitz mehr, denn die nächsten Jahre sollte ein einfaches Einmannzelt mein neues Zuhause sein. Selbst meine Eltern konnten ihre Sorge nicht verbergen, auch wenn sie es gewohnt waren, weil ich in der Vergangenheit meist weit weg von ihnen gelebt hatte. Das Fernweh hatte mich früh aus dem Elternhaus getrieben, als junger Mann hatte es mich zur Marine verschlagen. Ich lernte in dieser Zeit viele Länder in Nordeuropa kennen. Die Ausbildung in einer Marinespezialeinheit hatte mich geprägt und war vielleicht mit der Grund für meine stete Lust auf Neues, auf Unbekanntes, auf Abenteuer …

Meine Mutter beanspruchte ein exklusives »Mutter-Sohn-Wochenende«, bevor sie mir ihre Einwilligung zu dieser Reise erteilte. Sie wollte mich dabei mit niemandem teilen, nicht einmal mein Vater durfte an diesem letzten Wochenende in Deutschland mit von der Partie sein! Das Musical »König der Löwen« und ein Besuch Hamburgs stand auf ihrer Wunschliste und bot einen gebührenden Rahmen für unseren Abschied. Erst danach durfte mich mein Vater zum Frankfurter Flughafen bringen. Von hier flog ich nach Whitehorse in den Norden Kanadas.

Am Morgen des 4. Mai 2005 – der Tag des Abflugs – merkte ich auch bei meinem Dad, wie schwer es für einen Vater sein musste, seinen Sohn bei einer solchen Unternehmung einfach ziehen zu lassen. Vielleicht ahnte er da bereits, dass es für mich nicht nur eine Reise werden würde, sondern ein ganz neuer Lebensabschnitt begann. Insgeheim war ich auf der Suche nach einem neuen Land, einem neuen Leben, aber das behielt ich für mich: Es hätte nur zu unendlichen Diskussionen geführt. Außerdem war mir so, als sei eine derartige Bemerkung obendrein überflüssig, da Eltern hinsichtlich ihrer Kinder gewisse hellseherische Fähigkeiten besitzen.

FLUGHAFEN FRANKFURT AM MAIN

MANCHMAL IST HEKTIK GUT, um Gefühle zu verbergen. So zögerte das Getümmel der vielen Menschen am Frankfurter Airport, die Suche nach dem Abflugschalter und das aufwendige Procedere, mein Bike als Sperrgepäck aufzugeben, den Augenblick der Verabschiedung hinaus. »So, Sohnemann, pass auf dich auf und halt die Ohren steif!« Mit diesen Worten verabschiedete sich mein Vater, was meinen Erwartungen völlig entsprach. Mit so etwas in der Art hatte ich gerechnet.

Der Boardingschalter eines internationalen Flughafens hat etwas Magisches, denn beim Passieren betritt man sozusagen schon ein »neues Land«. Mich überkam das Gefühl der totalen Freiheit. Jahrelange Verantwortung fiel mit der Kontrolle beim Boarding von mir ab. Kein Handy mehr! Kein Terminkalender! Nur ein Flugticket in der Hand und die Lust, den riesigen Kontinent kennenzulernen, der mich seit je her faszinierte und der so viele Kulturen beherbergt: Amerika!

ANKUNFT IN NORDKANADA

PER DIREKTFLUG landete ich neun Stunden später in Nordkanada. Beim Verlassen des Flugzeugs empfand ich ein besonderes Flair. Das Wetter war angenehm sonnig, und eine leichte Brise wirkte sich geradezu erfrischend auf meine Laune aus. So beflügelt, roch selbst die Luft anders …

Der Airport von Whitehorse ist klein und beschaulich. Mir fiel gleich die entspannte Stimmung auf, die übliche Hektik eines Flughafens fehlte. Selbst die Zollbeamten reagierten hier – entgegen jedem Klischee – cool und gelassen; sie wünschten mir lässig »good luck«, nachdem sie nach Grund und Art meines Aufenthaltes gefragt hatten. Dann nahm ich noch den Karton mit meinem Gepäck und dem zerlegten Mountainbike am Zoll in Empfang, und schon stand ich außerhalb des kleinen Flughafengebäudes.

Wo normalerweise eine endlos lange Schlange von Taxis wartete, fand ich hier vor dem Airport nichts als gähnende Leere! Die meisten Flugreisenden wurden von ihren Verwandten oder Freunden abgeholt. Doch von einem Taxi war weit und breit keine Spur zu sehen …

Irgendwann wurde auch der letzte Fluggast abgeholt, und nun stand ich völlig allein am Halteschild für die Taxis. Mich überkam der Eindruck, dass trotz der frühen Tageszeit – es war erst elf Uhr vormittags – der Airport bis zum nächsten Tag seine Pforten dichtmachen würde. Es verging gut und gerne eine halbe Stunde, in der ich bereits mit dem Gedanken spielte, mein Bike an Ort und Stelle zusammen zu bauen. Gerade als ich den Inhalt meines Koffers in die Packtaschen stopfen wollte, um auf eigene Faust in die Stadt zu radeln, rollte eine große, achtzylindrige Limousine am Taxistand vor. Dieses Schiff von Auto ähnelte zwar nicht im Geringsten einem Taxi, aber als der Fahrer gelassen ausstieg, mir freundlich zulächelte und sich daran machte, mein Bike und das restliche Gepäck im gigantischen Kofferraum zu verstauen, war ich gewillt, darin ein nordamerikanisches »Cab« zu sehen.

Ich war noch nie in einem amerikanischen Straßenkreuzer gefahren, und wahrscheinlich war es der Moment, der die Leidenschaft für große US-Schlitten in mir weckte. Die Fahrt in diesem Ungetüm von Auto bis in die Stadt wertete ich definitiv als erstes Highlight. Ich fühlte mich wie ein Schuljunge, der zum ersten Mal auf Klassenfahrt geht und sich neugierig die Nase an der Wagenscheibe plattdrückt, alles aufsaugend, was sich außerhalb des Fensters abspielt …

WHITEHORSE: PIONIER- UND GOLDGRÄBERSTADT

UND VIEL GAB ES NICHT ZU SEHEN, denn Whitehorse ist eine kleine Pionierstadt, von wo aus der Norden Kanadas erschlossen wurde. Aber es war anders als in Europa! Die Autos waren größer und die Häuser, die überwiegend aus Holz gebaut waren, ähnelten Fertighäusern im Containerstil; die Straßenzüge waren breiter und ausschließlich rasterartig angelegt. Selbst das Gras in den Vorgärten schien mir heller und weicher zu sein als in meiner Heimat. Ich war von der Baleareninsel Mallorca einen mediterranen Baustil gewöhnt, bei dem sich manche Straßen nur so breit ausnahmen, dass gerade zwei Esel aneinander vorbeikamen. Hier war alles breiter und heller, ohne schattige Straßenschluchten.

Der Taxifahrer chauffierte mich zum beez kneez, einem freundlichen Hostel, das ich mir vorab im Internet ausgeguckt hatte. Ab jetzt war low-budget angesagt, da meine Reiseersparnisse ein paar Jahre reichen mussten. Die jungen Pächter des Hostels empfingen mich wahnsinnig freundlich, und die Stimmung ähnelte eher einer studentischen WG. Ich merkte schnell, dass mein Englisch eingerostet war; erst nach und nach kam ich wieder rein und sprach etwas flüssiger. Im Hostel war ich mit meinen achtunddreißig Jahren der älteste Gast, aber keiner ließ es mich merken.

Für den Aufenthalt in Whitehorse hatte ich vier Tage eingeplant. Ich wollte mich akklimatisieren und alle notwendigen Vorbereitungen für die Panamericana treffen. Als Erstes montierte ich mein Fahrrad und überzeugte mich, dass beim Flug nichts beschädigt worden war. Nach einer kleinen Testfahrt durch die Stadt schien alles so weit okay. In der Touristeninformation von Whitehorse wurde mir nahegelegt, ein Video anzuschauen, in dem man Touristen erklärte, wie sie sich im kanadischen Bush, also den kanadischen Wäldern, zu verhalten hatten, wenn sie einem Bären über den Weg liefen – den sogenannten »Bear Encounters«. Begegnungen mit Bären?, ging es mir durch den Kopf … Also gut, ich gab mir den Schnellkurs über das kanadische Wildlife.

Außer mir war kein weiterer Mensch im Filmsaal, es war wohl noch zu früh für die alljährliche Touristensaison. Es wurde ausgiebig gezeigt, wie diese großen Prädatoren leben und Beute schlagen. So erfuhr ich, dass es schätzungsweise neunzigtausend Bären allein im Bundesstaat British Colombia gab – solch eine Information erweckte dann doch mein Interesse, und zwar auf mulmige Weise! Außerdem wurde sehr anschaulich dargestellt, dass ein Mensch im Falle einer Bärenattacke weder im Zelt noch in der Flucht sein Heil suchen sollte. Nicht einmal per Fahrrad wäre man schnell genug, denn ein Bär kann, einmal richtig in Fahrt, über fünfzig Stundenkilometer schnell werden! Ach ja … Des Weiteren sei laut Film so ein Bär in der Lage, mein Frühstück oder den Geruch meiner Zahnpasta bis auf dreißig Kilometer Entfernung weit zu riechen und zu orten! Ich überschlug alle Daten schnell im Kopf: Also hatte ich ab jetzt – im ungünstigsten Fall – jeden Morgen etwas weniger als vierzig Minuten Zeit, um zu frühstücken, mir anschließend die Zähne zu putzen, mein Zelt und all mein Gepäck aufs Bike zu schnallen, um dann mit mindestens einundfünfzig Stundenkilometer Geschwindigkeit das Weite zu suchen! Mich überkam das vage Gefühl, dass ich gewisse Details bei der Planung meiner Fahrradreise durch Nordamerika übersehen hatte!

Nach Verlassen des Filmsaals und zurück in der Realität der Kleinstadt, machte ich mich umgehend daran, ein einige zusätzliche Utensilien für die Reise zu besorgen: Pfefferspray und bearbells, laut Aufklärungsvideo zwei unabkömmliche Dinge, die in der kanadischen Wildnis absolut überlebenswichtig sind. Die kleinen »Bärenglöckchen« trägt man als Wanderer oder Radfahrer an den Fußknöcheln. Durch das permanente Klingelgeräusch soll verhindert werden, dass ein schlummernder Bär von einem nahenden Menschen überrascht wird und daraufhin angreift. Sollte es trotzdem zu einer Attacke kommen, böte sich als letzter Ausweg das Pfefferspray in sehr starker Konzentration, eben speziell für Bären, welches man dem angreifenden Bären in die Schnauze sprühen müsse. Selbstverständlich müsse man darauf achten, Rückenwind zu haben, anderenfalls sprühe man sich selbst handlungsunfähig, was dem Bären die Sache ziemlich einfach macht. Ganz ehrlich: Mir wäre die Empfehlung über den Kauf eines Gewehres lieber gewesen!

Vor dem Aufbruch aus Whitehorse packte ich testweise mein Fahrrad, doch nach drei Stunden gab ich mich geschlagen: Ich hatte einfach zu viel Ausrüstung aus Deutschland mitgebracht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als abzuspecken, weshalb ich alle meiner Meinung nach überflüssigen Ausrüstungsgegenstände an Hostelgäste verschenkte. Nachdem ich nun meine Ausrüstung so weit reduziert hatte, dass ich alles an meinem Bike verstauen konnte (sie wog immer noch sechsundvierzig Kilogramm), wollte ich von Whitehorse per Bus ins 600 Kilometer weiter nördlich gelegene Dawson City fahren. Dort, oberhalb von Dawson, sollte meine Reise beginnen: an der Grenze zu Alaska. Ein Problem jedoch war die frühe Jahreszeit. In der Vorsaison verkehrten keine Buslinien in Richtung Norden. Also kamen nur zwei Alternativen infrage: entweder ich radelte dorthin und absolvierte die vor mir liegenden 600 Kilometer gleich zwei Mal, oder trampen, was ich bis dahin noch nie in meinem Leben gemacht hatte. Trampen ist in Kanada recht üblich, das wusste ich allerdings zum damaligen Zeitpunkt nicht.

Also stand ich da nun am Klondyke-Highway mitsamt meinem Bike, bepackt wie ein Kameltreiber auf großer Karawane. Meine Chancen erschienen mir verschwindend gering. Trotzdem, oder gerade deswegen, schrieb ich auf ein Pappschild meinen Zielort und zeichnete ein dickes Smiley darunter, um die spärlichen Autofahrer gen Norden zu animieren, mich mitzunehmen. Zu meiner Überraschung dauerte es keine fünf Minuten, als ein alter, verrosteter Pick-up an mir vorbeifuhr, bremste und den Rückwärtsgang einlegte. Auf meiner Höhe angekommen, blickte mich ein junges Mädchen grinsend an. »Do you need a ride?«, fragte mich die junge Fahrerin, und ich nickte verhalten. Dass es so schnell gegangen war, einen »Ride« zu bekommen, überraschte mich dann doch. Mit einer kurzen Kopfbewegung forderte sie mich auf, mein Bike und mein Gepäck hinten auf der Ladefläche zu deponieren. Als ich zu ihr in den Wagen stieg, meinte sie gleich, ich käme ihr gerade recht, denn die Fahrt auf der langen Strecke bis Dawson City wäre ansonsten sehr langweilig. Langsam bekam ich ein Gefühl für die Gastfreundschaft der Kanadier, die bei Weitem über dem Standard des Mitteleuropäers liegt.

Morgan war einundzwanzig Jahre alt und kam aus Whitehorse. In ihren Semesterferien arbeitete sie jedes Jahr den Sommer über als Kellnerin in Dawson City. Meine Idee, von Alaska bis Argentinien zu radeln, gefiel ihr. Sie selbst liebte alle Arten von Sport. In den acht Stunden, die wir bis Dawson City brauchten, teilten wir uns meine komplette Reiseverpflegung für den Tag (einen Apfel und ein paar Kekse) und plauderten dabei über Natur, Wildlife in Kanada, Outdooraktivitäten und vor allem übers Reisen. Nach knapp einer Stunde bot sie mir bereits an, dass ich bei ihr in Dawson City unterkommen könne. Klar, warum nicht?, dachte ich, wenigstens über das Wochenende. Aber länger wollte ich keinesfalls in Dawson bleiben, da mein Visum für Kanada nur drei Monate gültig war. Ich hatte ehrlich gesagt nicht die geringste Vorstellung davon, wie lange ich wohl für die Strecke vom Norden Kanadas bis nach Vancouver an der Grenze zur USA brauchen würde. Als wir mit Morgans klapperigen Pick-up endlich Dawson erreichten, fuhr Morgan erst einmal zu einem besonderen Ort der Stadt, der von den Einheimischen The Dome genannt wird – der höchste Punkt über der Stadt. Morgan erklärte mir, dass man von dort aus »the top of the world« sehen konnte, wie die Kanadier diese Region nennen, die den hohen Norden rund um den Yukon River umfasst. Die Stadt wurde einst während des großen Goldrauschs am Yukon River gegründet. Es müssen harte Zeiten gewesen sein, denn auf dem Friedhof von Dawson City konnte man so manche wilde Geschichte nachlesen, die sich gut für jede Art von Western eignete. Auch die Häuserfassaden glichen einer Kulisse aus einem klassischen Revolverheldenfilm. Die Häuser waren durchweg aus Holz und die Straßen nicht geteert, sondern aus Lehm, weshalb sie sich bei Regen in eine matschige Piste verwandelten. Bei den Bürgersteigen handelte es sich um Holzstege, die entlang der Häuserfronten verliefen.

Hier in Dawson gibt es bis heute noch Bars, in denen der Cancan getanzt wird. Dabei schwingen Frauen ihre plüschigen Röcke hin und her und werfen die Beine über ihren Kopf hoch in die Luft. Goldgräber und Fallensteller treffen sich heute wie damals in der Stadt, um ihre Felle oder Goldfunde zu Geld zu machen. Anschließend wird die Marie gleich an Ort und Stelle wieder in den Bars verprasst.

From top of the world in Kanada to end of the world in Fireland Argentina! Mit dem Slogan hatte ich ein griffiges Motto für den Start- und Endpunkt meiner Reise.

ENDLICH – DER AUFBRUCH

ES WAR SAMSTAGMORGEN. Obwohl ich Morgan versprochen hatte, bis Montag in Dawson zu bleiben, machte ich mich nun doch auf den Weg. Ich hatte alles und jeden in Dawson City gesehen und Hummeln im Hintern. Mit meiner gesamten Habe auf dem Bike bereitete mir der selbstgebaute Gepäckträger jetzt irgendwie doch Sorgen … Hoffentlich brach er nicht unter dem enormen Gewicht. Wenn jetzt etwas kaputtging, gäbe es kaum Möglichkeiten, es unterwegs zu richten. Ich hatte mich dafür entschieden, mein altes Mountainbike für die Tour zu nehmen. Da ich in den letzten zehn Jahren beruflich stark eingebunden war, ist mir nie Zeit geblieben, es wirklich zu nutzen. Aber alt heißt ja nicht unbedingt schlecht! Es gab meiner Meinung nach der Sache einen besonderen Reiz, mit diesem alten Ding den Trip in Angriff zu nehmen. Letztendlich fand es so doch noch seinen gebührenden Zweck …

Wie es manchmal so ist auf Reisen, schlug das bis dato so sonnige Wetter ausgerechnet am Tag meiner ersten Etappe in starken Regenfall um. Prima, dachte ich! So kann ich wenigstens sofort die neugekaufte Regenschutzkleidung testen! Von dieser Qualitätsprobe beflügelt, steckte ich mein Tagesziel auf der Karte ab. Stewart Crossing war der nächstgelegene Ort auf dem Klondyke Highway in Richtung Süden. Distanz bis dorthin: hundertfünfundzwanzig Kilometer! Nach meinem ganzen Konditionstraining in den Monaten zuvor musste die Strecke eigentlich gut zu schaffen schein, dachte ich. Aber als ich aus der Stadt herausfuhr, stellte ich fest, dass sich zu dem Regen auch noch ein ordentlicher Gegenwind gesellt hatte. Egal! Der Eifer war groß und nichts konnte mich bremsen.

Die »Bremse« kam dann aber doch, und zwar nach achtzig Kilometern! Bei diesem permanenten Gegenwind kam es mir vor, als würden meine Beine durch ein Fass mit zäher Gelatine waten. Mir wurde klar, dass ich die restlichen knapp fünfzig Kilometer bis zum Tagesende nicht mehr schaffen würde. Der Wind hatte ab Mittag noch mal zugelegt und machte mir das Fortkommen noch schwerer.

Deshalb schlug ich mein kleines Einmannzelt irgendwo direkt neben dem Highway auf. Ich holte meine Notration an Powerbars aus dem Rucksack, heute blieb die Küche also kalt. Während ich so dasaß, dachte ich über das Video mit den Bären nach. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass mir während der letzten acht Stunden auf dem Highway nicht ein einziges Fahrzeug begegnet war, und ich mich hier recht allein auf weiter Flur befand – mit einem lecker duftenden Schokoriegel! Bären konnten ja, glaubte man diesem schlauen Film, selbst auf zweiunddreißig Kilometer Entfernung die Zahnpaste auf meiner Zahnbürste riechen! Galt das also auch für meinen Schokoriegel? Die Sorgen in mir wuchsen, wegen des gut riechenden Leckerlis in dieser Nacht eventuell einen Besuch von einem dieser Burschen zu bekommen, weshalb ich mich mit meinem Tauchermesser bewaffnete und es mit in den Schlafsack nahm. Ob es helfen würde? Keine Ahnung. Aber es beruhigte mich! Während mich noch ein weiterer Gedanke beschäftigte – ist es sinnvoll, mein Bike in dieser Einsamkeit abzuschließen –, schlief ich ein …

Am folgenden Tag war ich früh auf den Beinen, gut ausgeruht und Gott sei Dank ohne Bärenbesuch in der Nacht. Mein Frühstück bestand aus dem obligatorischen Apfel und ein paar Salzkeksen. Mich überkam dieses großartige Gefühl von totaler Freiheit. Super! Was stand heute auf dem Plan? Ich hatte nichts weiter vor, als mein Zelt einzupacken, das Bike zu beladen und weiter gen Süden zu radeln. Was für ein Unterschied zu meinem bisherigen Leben voller Hektik! Mit großem Elan machte ich mich auf, Stewart Crossing zu erreichen, wo ich als Erstes meinen Bestand an Proviant aufstocken musste. Das Thema Proviant ist beim Reisen mit dem Fahrrad so eine Sache. Man will aus Platz- und Gewichtsgründen wirklich nur so wenig wie möglich mitnehmen, hat aber immer einen Riesenhunger wegen der verballerten Energie! Also muss man schon vorab auf einer Karte die gesteckten Tagesetappen so planen, dass man zumindest jeden zweiten Tag die Möglichkeit bekommt, Verpflegung zu kaufen. Sich auf Notrationen zu verlassen, ist beim Biken keine wirkliche Option. Für mich war das der bisher schwierigste Faktor auf dieser Reise. Körperlichen Anstrengungen machen mir in der Regel nichts aus, solange ich nur gut zu essen habe! Der eine Apfel und die paar Kekse am Morgen reichten auch nicht lange vor, weshalb ich mit einem Bärenhunger an einem kleinen Restaurant Halt machte.

Die Moose Creek Lodge hatte sich wie eine Oase in der einsamen kanadischen Waldlandschaft aufgetan. Über der Eingangstür hing der mächtige Kopf eines kapitalen Elchbullen. Drinnen saßen zwei Männer bei einer Tasse Kaffee, die vermutlich zum draußen geparkten Pick-up gehörten. Die Köchin wirbelte in der Küche mit Pfannen hin und her und brutschelte gut riechende Spiegeleier. Die beiden Männer begrüßten mich mit einem kargen »Howdy«, also der kanadischen Kurzform für: »Hallo, wie geht’s?« Nachdem die Köchin, die zugleich auch Wirtin und Besitzerin des kleinen Restaurants war, den Männern die Spiegeleier ruppig auf die Teller geklatscht hatte, kam sie zu mir herüber und betrachtete mit leichtem Schmunzeln mein Biker-Outfit. Dazu erklärten ihr die Männer, dass sie mich zuvor auf dem Highway überholt hatten. Die Wirtin reagierte daraufhin mit einem breiten Grinsen und wollte von mir wissen, wer oder was mich auf die verrückte Idee gebracht hatte, durch Kanada zu radeln? Irgendwie bekam ich den Eindruck, dass die Menschen hier meinen Enthusiasmus, Kanada mit dem Bike zu durchkreuzen, nicht sonderlich teilten, daher sparte ich mir große Erklärungsversuche. Stattdessen bestellte ich wie die Männer Spiegelei auf Toast. Da die Lodge nur Bier, Wasser oder Kaffee anzubieten hatte, entschied ich mich für Kaffee. Was ich bis dahin nicht wusste: In Kanada ist es üblich, Kaffee so oft nachzuschenken, bis der Kunde abwinkt – so wie der Köbes in Köln so lange ungefragt neue Kölschstangen heranschleppt, bis man nicht mehr kann. Deshalb wunderte mich erst einmal über das emsige Verhalten der Wirtin, die mit ihrer Kaffeekanne und einem Habichtsblick umher rannte, um eine geleerte Tasse sofort wieder aufzufüllen. Vergnügt stellte mir vor, ob diese Regelung auch für Bierbestellungen galt …

Dann sprach mich einer der beiden Männer direkt an. Er fragte mich, ob ich kurz vor Erreichen der Moose Creek Lodge den Bären gesehen hätte, der unmittelbar hinter mir den Highway gekreuzt hatte. Sie hatten ihn kurz vor ihrem Überholmanöver hinter mir über die Straße trotten sehen und mussten wegen ihm sogar abbremsen, um nicht mit ihm zu kollidieren. Wie jetzt?, dachte ich. Ein Bär direkt neben mir? Mir wurde schlagartig mulmig, und dieses Gefühl kam nicht von dem Liter Kaffee, den ich mittlerweile intus hatte! Mir war kein Bär aufgefallen! Doch als sich auch noch die Wirtin gelassen ins Gespräch einmischte und meinte, es könne sich vermutlich um den großen, männlichen Bären handeln, der hier seit einiger Zeit sein Unwesen treibt, schmeckte mir das Spiegelei auf Toast plötzlich gar nicht mehr so gut. Aber die Story ging noch weiter. An diesem Morgen hatte der Bär der Wirtin zum wiederholten Male einen Besuch an der Küchentür abgestattet, die nach hinten rausging. Er sei wohl sehr hungrig, deshalb streife er hier immer in der Nähe des Restaurants herum, sozusagen ein »Geruchsmagnet« für Meister Petz. Heute Morgen hätte sie sogar arge Mühe gehabt, ihn zu vertreiben, da er mittlerweile recht forsch versuche, die Hintertür des Restaurants aufzustoßen. Erst mit ihrem Bearbanger konnte sie ihn schließlich verjagen. Mir blieb fast das Spiegelei im Hals stecken – was war ein »Bearbanger«? Und wieso quatschen diese Leute hier so gelassen über den Versuch eines Bären, in ein Haus einzudringen? Meine ursprüngliche Absicht, in dieser Nacht draußen hinter dem Restaurant mein Zelt aufzuschlagen, zerschlug sich im Nu! Ich hatte mir schon in Gedanken prima ausgemalt, an diesem Abend noch genüsslich ein Bier bei einem leckeren, deftigen Essen zu genießen, bevor ich dann gemütlich in meinen Schlafsack krabbeln würde. Aber hier draußen schlafen? No way! Frustriert kramte ich meine Straßenkarte aus dem Rucksack heraus und suchte den nächsten Ort auf meinem Weg Richtung Süden …

Verflixt! Jetzt musste ich doch noch weiter bis nach Stewart Crossing strampeln, obwohl mir eine Übernachtung hier an der Moose Creek Lodge echt gutgetan hätte. Hoffentlich war Stewart Crossing wenigstens mehr als ein kleiner Ort mit nur einem Restaurant und einem hungrigen Bären an der Hintertür. Noch weitere achtundzwanzig Kilometer! Mein Hintern schmerzte mittlerweile, als ob ich seit Tagen nur auf einem Stock gesessen hätte! Der neue Sattel an meinem Bike war wohl gewöhnungsbedürftiger, als ich geglaubt hatte.

DER FIRST-NATION-MANN

ANGETRIEBEN VON DER ANNAHME, eine kleine Stadt vorzufinden, in der ich meinen Vorrat an Proviant wieder auffüllen konnte, riss ich an diesen ersten zwei Tagen zusammen 188 Kilometer ab! Völlig ausgepowert erreichte ich schließlich Stewart Crossing, doch statt der erhofften Kleinstadt fand ich am Ortsschild nur ein einziges Gebäude vor. Der Highway kreuzte den Fluss über eine Brücke, deshalb wohl auch der Name. Mehr gab es nicht! Zu meiner Erleichterung prangten wenigstens in großen Lettern das Wort »Restaurant« auf dem Dach dieses Gebäudes. Vor der Tür stand ein ATV oder auch Quad, eines dieser vierrädrigen Motorräder. Also gab es dort Bewohner und etwas zu Essen, so meine Schlussfolgerung. Und es schien geöffnet zu sein. Gott sei Dank, dachte ich! Beim Eintreten in die gute Stube sank meine Vorfreude auf den Nullpunkt – das Lokal war total leer. Stühle, Tische sowie Küchenutensilien standen kreuz und quer herum, es sah sehr nach Umzug oder besser gesagt nach Einzug aus.

Rick und Irvine, die neuen Besitzer des Restaurants, waren kurz vor mir angekommen und machten wohl gerade eine Bestandsaufnahme des Inventars. Sie hatten um diese Jahreszeit überhaupt noch nicht mit irgendeinem Besucher gerechnet. Ich wurde erst einmal verwundert begrüßt, und nachdem wir es geschafft hatten, in diesem Chaos einen Kaffee zu kochen, setzten wir uns und plauderten drauf los. Die beiden Freunde erzählten mir, dass Irvine einen Unfall in einer der hiesigen Goldminen hatte, bei dem er achtzig Prozent seiner Sehkraft einbüßte. Mit der Abfindung durch die Minengesellschaft kaufte er sich kurzerhand dieses Restaurant. Jetzt war er mit seinem Kumpel Rick gerade dabei, den Laden auf Vordermann zu bringen. So wie es für mich aussah, kam es einer Mammutaufgabe gleich. Doch die beiden hatten die Ruhe weg. Im Norden Kanadas ist Eile wohl völlig fehl am Platz. Nach wir mehrere Stunden Pläne geschmiedet hatten, boten sie mir an, mein Lager in einem der leeren Räume des Restaurants aufzuschlagen. Zelten im Freien sei wegen der Bären zurzeit zu riskant.

Verdammt!, schoss es mir wieder durch den Kopf. Mit jedem Kommentar dieser Art kamen mir mehr und mehr Zweifel an meiner Reise! Und zusätzlich zu diesen nervenden Zweifeln war da immer noch mein aktuelles Problem Nummer eins … der Hunger! Auch Rick und Irvine knurrte irgendwann der Magen, weshalb wir in der Küche nach Proviantresten vom Vorbesitzer suchten, denn an Essbares oder Proviant hatten die beiden in der ganzen Euphorie über das neue Business beim Beladen ihres Pick-ups nicht recht gedacht. Wir fanden zum Glück in einer der Tiefkühltruhen ein paar große, tiefgefrorene Fleischstücke. Rick war begeistert über seinen Fund. Er machte sich gleich daran und setzte den Herd in Gang, dann zauberte er aus seinem Truck (wie die Pick-ups in Nordamerika auch genannt werden) doch noch ein paar Zwiebeln und Kartoffeln hervor und verschwand pfeifend und froh gelaunt in der Küche. Irvine hingegen blieb grinsend am Tisch sitzen. Während er genüsslich seinen Kaffee schlürfte, erzählte er mir von seiner Vergangenheit. Ich erfuhr, dass er ein First Nation Man ist, also kanadischer Ur-Einwohner vom Stamm der Haida. Diese Indianer besitzen bis zum heutigen Tag Jagdrechte, die von der kanadischen Regierung bis heute zugestanden wurden, da es sich um Gewohnheitsrecht der Urbevölkerung handelte. Irvine schilderte mir, wie er als kleiner Junge mit seinem Großvater auf die Jagd gegangen war, und als junger Mann hatte er eine Weile seinen Lebensunterhalt mit der Jagd und dem Verkauf von Tierfellen verdient. Eines Tages jedoch bot man ihm eine feste Stelle in der Goldminengesellschaft an, und er gab die Jagd auf, die langsam unrentabel für ihn wurde. Jetzt, nach dem Unfall in der Mine, fing für ihn ein neuer Lebensabschnitt an.

Seine Erzählungen hörten sich für mich an, als läse ich einen Roman von Karl May. Ich saugte alle Informationen über das Verhalten der freilebenden Tiere in der Wildnis auf. Irvine hatte viel Erfahrung in Bezug auf das Leben im Bush vorzuweisen. Er erklärte mir die Unterschiede zwischen Braun- und Schwarzbären sowie deren Jagd- und Territorialverhalten. Ich lernte, das männliche Elche in der Brunftzeit überaus aggressiv sein können und es schon zu vielen Unfällen gekommen war, wenn sie auf Menschen trafen. Auch Elchkühe mit ihren Kälbern waren nicht zu unterschätzen. Aber am meisten warnte mich Irvine vor der Situation, eine Bärin mit Nachwuchs anzutreffen. Der Beschützerinstinkt einer Bärenmutter ist unglaublich groß, sie würde selbst viel stärkere, männliche Artgenossen angreifen, um ihren Nachwuchs zu verteidigen. Er erklärte mir auch, dass ich in einer solchen Situation nur eine Möglichkeit habe: Ich soll versuchen, mich ruhig zu entfernen, ohne zwischen die Mutter und ihre Jungen zu geraten. Wenn ich zwischen die Tiere geraten würde, wäre das definitiv mein Ende, so Irvine! Im Stillen bedankte ich mich bei ihm für eine weitere Nacht mit Grübeleien und Bärenträumen!

Da Rick nun fast das Essen fertig zubereitet hatte, bot ich an, mich mit irgendetwas aus meinem wenigen Proviant am Festschmaus zu beteiligen. Ich erinnerte mich an das »Überlebenspaket«, das mir meine Großmutter bei meiner Abreise aus Deutschland mitgegeben hatte. Es war immer noch ganz unten in meinem Rucksack verstaut. Ganz liebevolle Großmutter hatte sie ihrem Enkel etwas Gutes tun wollen und zwei Tüten Fertigmischung für Eierpfannkuchen gekauft. »Leicht zu machen«, sagte sie damals, »nur Wasser beimengen, umrühren und in die Pfanne – fertig!« Ich wollte die Freude meiner Oma nicht trüben und ihr gestehen, dass ich nicht einmal eine Pfanne, geschweige denn einen Campingkocher dabei hatte! Aber jetzt waren die Pfannkuchen die ideale Zugabe zu unserem improvisierten Mahl. Als ich zu Rick in die Küche kam, um die Pfannkuchen zu brutzeln, schlug mir ein starker Geruch entgegen, so stark, dass sich mir gleich der Magen umdrehte! Ich bin normalerweise nicht pingelig in Bezug auf Essen, bei der Marine hatte ich gelernt, das Hunger vor Geschmack kommt. Aber es gibt halt für jeden gewisse Speisen, bei denen sich einem die Fußnägel hochrollen, und in meinem Fall ist das Leber! Ich erinnere mich, dass meine Mutter mir als Kind feinste Kalbsleber gebraten hatte, es mir aber nur in Kombination mit einer Unmenge gebratener Äpfel möglich war, den sehr dominanten Geschmack von Leber zu übertünchen. Nun stand ich hier in der Küche eines kanadischen Indianers und seines Trapper-Freunds Rick und sah mich einem Albtraum gegenüber: Mooseliver, also Elchleber! Mich hatte schon gewundert, wie dunkel das Fleisch aus der Tiefkühltruhe war, hatte der Färbung aber keine weitere Beachtung geschenkt. In meinem Magen meldete sich jetzt ein flaues Gefühl, meine Gedanken rasten … Die Situation ähnelte dem ersten Besuch im Elternhaus deiner ersten großen Liebe, bei dem du die Kaffeekanne vom guten Sonntagsgeschirr umstößt und alles auf die gute Spitzendecke tropft, immerhin in Familienbesitzt seit drei Generationen! Du möchtest am liebsten im Boden versinken.

Rick war begeistert von seinem kulinarischen Resultat. Die Leberstücke waren circa vierzig Zentimeter lang und fünf Zentimeter dick, leicht angebraten, mit Zwiebeln und Kartoffeln garniert. Mir kam mit einem gequälten Lächeln ein »Hmm, smells nice!« über die Lippen. Am Tisch grübelte ich darüber nach, wie ich es schaffen konnte, meinen Anteil Elchleber auf wenigstens die Hälfte zu reduzieren. Nur hatte ich zuvor über meinem Hunger geklagt und über die lange Tagestour geprotzt. Am liebsten hätte ich mein Stück Leber in Omas Eierpfannkuchen eingepackt, um den bitteren Geschmack etwas abzuschwächen. Die Zwiebeln erreichten natürlich nicht den gleichen Effekt wie Mutters Bratäpfel, von denen ich in diesem Moment übrigens gerne zehn Kilo gehabt hätte. Tatsächlich würgte ich ein Viertel der Leber hinunter und spülte jeden Bissen mit viel Dosenbier herunter. Meine beiden Gastgeber nahmen es mir aber nicht übel, dass ich nicht alles aß.

Ich dafür lernte an diesem Abend eine wichtige Lektion. Bei Reisen in fremde Länder bedarf es oft viel Fingerspitzengefühl, Aufgeschlossenheit und Respekt gegenüber der jeweiligen Kultur, schließlich macht gerade das den Reiz des Reisens aus, sich in verschiedene Kulturen zu integrieren. Und wenn es nur bedeutet, seinen inneren Schweinehund überwinden zu müssen, um dieses für mich ungenießbare Stück Elchleber zu essen. Leicht hungrig, aber angeduselt vom vielen Dosenbier schlüpfte ich schließlich in meinen Schlafsack und schlief sofort ein. Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich nach einem großen Pott starken Kaffee von den beiden Freunden, die mir wohlwollend einen Tipp mit auf den Weg gaben: ich solle den Tatchun Creek Campground auf meiner Strecke gen Süden meiden. Dort, so meinte Irvine, solle ich zu dieser Jahreszeit auf keinen Fall übernachten, denn da zögen im Moment die Lachse den Fluss hoch – ein gefundenes Fressen für Meister Petz. Ich bedankte mich für den Tipp und war schon mit meinen Gedanken wieder auf der Strecke.

Mein Tagesziel heute lautete Pelly Crossing, die Strecke nahm sich auf meiner Karte wirklich nicht weit aus. Es war ein Abschiedsgeschenk meiner lieben Oma an mich: eine Straßenkarte von ganz Kanada im Maßstab von 1:4 Millionen (zugegeben: optimale Vorbereitung sieht anders aus. Aber ich wollte ja Abenteuer erleben!). Auch Rick und Irvine schätzten die Entfernung auf rund sechzig Kilometer. Schaff ich!, dachte ich mir. Dort sollte es auch einen Supermarkt geben, denn mein Vorrat an Powerbars sowie Obst war aufgebraucht und auch die Kekse wurden knapp.

Das Einschätzen von Entfernungen ist so eine Sache bei Kanadiern! Und bei den Dimensionen Kanadas liegen quasi alle Zielorte unter hundert Kilometern auch mal eben »gleich um die Ecke«. Starker Gegenwind sowie welliges Terrain, sodass es permanent bergauf und bergab geht, ließen mich nur schleppend vorwärts kommen. Aber die Aussicht auf frisches Obst aus dem Supermarkt spornte mich an. Wieder ausgepowert und viel später als geplant erreichte ich den kleinen Ort. Der Einkauf im Supermarkt war ein wahrer Spaß! Ich hätte nie gedacht, dass etwas so Alltägliches wie ein Supermarkt sich auf einmal so aufregend und befriedigend anfühlen würde. All die leckeren Dinge, die man dort fand! Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um den Einkaufskorb und damit auch mein Fahrrad nicht überzustrapazieren. An der Kasse erfuhr ich, dass es außer diesem Supermarkt auch noch einen Imbiss im Ort gab, der große Burger und leckeres, selbstgemachtes Eis im Hörnchen servierte. Eis im Hörnchen! Nix wie hin, war mein erster Gedanke, und zu meinem Glück hatte der Imbiss den ersten Tag in diesem Jahr geöffnet. Viele Angehörige der First Nation aus der ganzen Gegend kamen mit ihren großen Pick-ups vorgefahren, um sich auch ein frisch gemachtes Eis zu gönnen. Ich fiel mit meinem bepackten Bike richtig auf zwischen den großen Trucks, und jeder lächelte mir freundlich zu. Die kleine, etwas pummelige Eisverkäuferin erkundigte sich nach meiner Herkunft und wo es hingehen sollte. Als sie von meinen Plänen erfuhr, kramte sie unter der Imbisstheke einen Schlüssel zu einem nebenan gelegenen Pavillon hervor. Sie reichte mir den Schlüssel und lud mich mit einem freundlichen »Welcome to Pelly Crossing!« ein, in ihrem Pavillon zu übernachten; es wäre zwar nur ein Speisesaal, und ich müsste es mir auf einem Tisch als Schlaflager bequem machen, aber das sei wegen der Bären immer noch sicherer als draußen im Zelt.

Langsam bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun, hörte ich doch nichts anderes als diese Bärenstorys auf meinem Weg. Dass ich hier eine Paranoia bekam, blieb ja wohl nicht aus, oder? Ich freute mich trotzdem über das nette Angebot der Eisdielen-Lady und schob mein Bike unter den überdachten und mit Fliegendraht verschlossenen Speiseraum. Danach ließ ich mir einen großen Cheeseburger und als Nachtisch natürlich ein frisches Eis schmecken. Vor dem Einschlummern machte ich mir noch Gedanken über die Nutzlosigkeit des Fliegengitters bei einem nächtlichen Bärenbesuch, doch die Müdigkeit überwältigte mich und ließ mich den Gedanken nicht zu Ende denken …

Etwa um diesen Zeitraum notierte ich Folgendes in mein Reisetagebuch: Den Traum zu dieser Reise lebe ich schon viele Jahre. Die Umsetzung und Durchführung waren jedoch, trotz aller Planung und Vorbereitungen und trotz der tollen Unterstützung durch Familie und Freunde, weitaus schwieriger, als man es sich vom Sofa aus vorstellt. Ich bin in diesen ersten Wochen meines Trips viele Stunden allein vor mich hin geradelt und hatte dabei viel Zeit, mir Gedanken über den Sinn oder Unsinn dieses Projektes zu machen. Diese Form des Reisens oder der Fortbewegung ist ein Lernprozess. Ich werde nach und nach stärker, gewinne an Kraft, sowie körperlich sowie mental. Ich konzentriere mich nicht mehr auf meine körperlichen Wehwehchen, die der Muskelkater hervorruft, und gewöhne mich zusehends an die Einsamkeit, die wirklich schwer zu beschreiben ist. Diese Ruhe und Stille der kanadischen Wildnis wird in einem Auto nicht so kennenlernen und zu fassen bekommen. Durch das Fahrrad ist der Kontakt zur Natur sehr intensiv. Ich mache sehr viele neue Erfahrungen und meine Aufzeichnungen dienen sozusagen als Ersatz für den Gesprächspartner, irgendwem muss ich schließlich meine Eindrücke »mitteilen« können.

Beim extremen Reisen weitab von der Zivilisation ist Planung wichtig, aber letztendlich ist nichts exakt planbar! Flexibilität ist oberstes Gebot. In Verbindung mit Selbstdisziplin und Ausdauer erkennt man, dass bei Extremreisen die Natur das Maß der Dinge ist, nicht der Mensch.

DER LÄNGSTE TAG,
DIE LÄNGSTE NACHT …

DREIHUNDERTVIERUNDFÜNFZIG KILOMETER in vier Tagen. Der ständige Gegenwind und die lang ansteigenden Abschnitte forderten ihren Tribut. Meine Beinmuskulatur war total übersäuert und verkürzt. Die Schmerzen im Gesäß machten die Tour im Sattel zur Tortur. Wenn ich in den Pausen abstieg, lief ich wie eine Ente im Watschelgang umher. Den ganzen Tag kämpfte ich gegen den Wind und die Berge an. Neben Proviant und Ausrüstung schleppte ich seit Anbeginn der Reise noch zusätzlich einen schweren Rucksack auf dem Rücken mit, der mir das Gefühl gab, das mich irgendjemand ständig wie an einem langen Gummiband zurückzog. Erst gegen sieben Uhr abends kam ich an einem Campground an, dessen Hinweisschilder mich seit gut sechzig Kilometer entlang der Straße begleiteten. Da ich nicht wieder am Highway übernachten wollte, hatte ich mich ins Zeug gelegt, um diesen Campingplatz zu erreichen. Meine Hoffnung war, dass es dort vielleicht ein paar Camper gab, damit ich nicht wieder ein einsames Rendezvous mit der Natur verbrachte. Ohne weiter auf den Namen am Eingang zum Campground zu achten, passierte ich die geschlossene Schranke. Tatsächlich traf ich auf ein älteres Ehepaar, die mit ihrem kleinen Hund in der Nähe ihres Autos saßen. Ich war happy. Denn Hunde garantieren beim Campen in Kanada immer eine gewisse Sicherheit: Falls sich Wildtiere näherten, schlugen Hunde normalerweise an, und die Camper waren gewarnt. Ich war noch dabei, ein schönes Plätzchen für mein Zelt zu suchen, als sich das Pärchen daran machte, alles einzupacken, um den Campingplatz zu verlassen. Sie hatten wohl nur den Tag hier verbracht und wollten am Abend lieber weiterfahren. Zu dumm!, dachte ich. Wieder allein! Da es noch taghell war, machte ich mir weiter keinen Kopf und erkundete die Gegend. Am nahen Fluss las ich eine Hinweistafel, aus der hervor ging, dass dieser Fluss reich an stromaufwärts ziehenden Lachsen war.

Sofort fielen mir die Worte Irvines wieder ein. Hatte er mich nicht gewarnt, auf keinen Fall an solchen Stellen zu übernachten? Und schon gar nicht am Tatchun Creek Campground? Ich versuchte die Situation abzuwägen. Zum einen waren da die warnenden Worte eines Angehörigen der First Nation, der mit Sicherheit wusste, wovon er redete. Zum anderen lag hier mein gesamtes Gepäck auf dem Boden verteilt, mein Körper schrie nach Erholung. Irvine sagte, es sei zu gefährlich hier zu zelten, aber was, wenn ich mir in einem der Holzunterstände einen Schutzwall mit den schweren Holztischen baute? Kurz gedacht, schnell gehandelt! Ich fand meine Idee super, denn so eine hölzerne Burg war ja schließlich kein leichtes Einmannzelt. Selbst Bären würden das erkennen, redete ich mir ein. Die nächste Stunde verbrachte ich damit, mein Nachtlager vermeintlich bärensicher zu machen. Ich stellte sechs große massive Tische zusammen; vier bildeten die Seitenwände, zwei die Überdachung – fertig war mein Unterschlupf! Anschließend traf ich noch weitere Maßnahmen, die ich in dem Bärenlehrfilm erlernt hatte. So verstaute ich nach dem Abendbrot meinen Essensvorrat, die Seife, meine Zahnpasta in einem wasserdichten Beutel, verschnürte ihn mit einer langen Schnur und hing etwa fünfhundert Meter vom Lager entfernt in einen hohen Baum. Wenn also diese Nacht ein hungriger Bär die Vorräte riechen sollte, wäre er dort so beschäftigt, dass er mir hoffentlich nicht zu nahe käme …

Alle Vorkehrungen getroffen, versuchte ich mich mit Eintragungen ins Tagebuch abzulenken und in Schlafstimmung zu bringen. Aber die Szenen aus dem Lehrfilm und die Kommentare der letzten Tage über Bären brachten mich nicht zur Ruhe. Ich erinnerte mich an eine Szene des Films, in dem ein aufgebrachter Schwarzbär einen etwa fünfzehn Zentimeter dicken Baumstamm mit einem einzigen Prankenhieb umgeknickt hatte. Wen sollte dann bitte meine schwachsinnige Holzburg abhalten? Während ich noch hin- und herüberlegte, was ich tun wolle, hörte ich ein Geräusch … Irgendwo aus dem umliegenden Wald ertönte ein holziges Krachen, was mir durch die Stille noch viel lauter vorkam, als es wahrscheinlich in Wirklichkeit war – als würde jemand Baumrinde abreißen. Ich versuchte das Geräusch einzuordnen. Woher kannte ich es nur? Genau! Der Lehrfilm! Es war das Kratzen eines Bären an einem Baumstamm, der einen Eindringling aus seinem Territorium vertreiben wollte. Der Bär markierte sozusagen sein Revier, eine kleine Nachricht, die besagte: »Verschwinde aus meinem Jagdrevier!«