Impressum

Als Vagabund in Uruguay, Paraguay und Argentinien

Nemo Niemann

Copyright: © 2012 Nemo Niemann

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-3015-4

Nemo Niemann

Über das Reisen

Keinen Reiseführer schreiben, sondern Anregungen zum spurenlesenden, schweifenden Reisen zu geben, ist die Absicht Nemo Niemanns. »Pampa« kommt aus der Quechua-Sprache der Incas und meint »Ebene«. Drei Länder Südamerikas sind vor allem von dieser unaufgeregten Landschaft geprägt: Uruguay, Paraguay und Argentinien. Ausser letzterem gelten sie Touristen eher als langweilige, zurückgebliebene Gegenden. Das heisst aber nicht, dass sie rückständig sein müssen. Vielmehr sind sie voller Zeichen, Geschichten und einer Geschichte, die Europas und Nordamerikas Wohlstand mitbegründet haben. Niemanns Spurenlese beginnt mit dem 15. September 2008 in Montevideo, als die Wall Street zusammenbricht. Deshalb begleitet ihn auf der Reise unvorhergesehen auch die Frage: Warum freuen diese Länder sich so darüber, dass die Wall-Street zusammengebrochen ist? Instabil wie Argentinien, verarmt wie Paraguay, am Rande des Existenzminimums wie Uruguay? Nicht was diese Länder so anders erscheinen lässt, sondern was sie mit dem alten Europa, insbesondere dem Mittelmeer, verbindet, führt zu vergessenen oder wenig präsenten Phänomenen, zu einer Mentalitätsgeschichte, die auch heute noch Wirkungen im Alltag, den Bräuchen und in der Politik haben.

Nemo Niemann, Jahrgang 1944, lebt seit 1980 in Spanien. Auf Ibiza gründete er eine deutsche Privatschule. Seit 2001 lebt er in der Provinz Granada, schreibt und übersetzt Reiseliteratur. Sein Firstseller handelt von seiner Umsiedlung von Ibiza nach Andalusien: Die Wirklichkeit kennt keine Eile. Leben in Andalusien. Bei Bod publiziert er »Homerische Kopf- und Fußreisen auf Kreta & Rhodos. Anregungen zum langsamen Reisen«.

Es ist klar, wir sind literarisch Reisende.

Bruce Chatwin

Wenn wir das »Pantheon des Reisens« einmal verlassen und uns nach den toten Winkeln auf unserer Weltreisekarte umschauen, nach den wirklich abgelegenen, unaufgeregt-schönen Orten auf unserer Welt, dann machen wir erstaunliche Entdeckungen. Das Sensationelle an ihnen kommt nicht aus der touristischen Klasse, sondern aus dem Blick für das besondere Wesen oder den Charakter etwa einer Landschaft. Solche Orte können ganz weit weg sein, aber auch ganz in der Nähe liegen. Für die Abgelegenheit, die suggerieren will, dass dort nichts los sei, gibt es sogar einen Begriff: die Pampa.

Klaus Kufeld, Reisen

INHALTSVERZEICHNIS

Prolog

1. Quebraderos – Kopfzerbrechereien

2. Tristeza gris – Graue Traurigkeit

3. Vivir en una utopía pérdida – Wohnen in einer verlorenen Utopie

4. ¿Ciudad soñandora? – Eine träumende Stadt?

5. Ciudad vieja – Die Altstadt

6. Paraisos urugyuayanos – Uruguayische Paradiese

7. El pasado y el futuro – Die Vergangenheit und die Zukunft

Gehpause: Die uruguayische Variante vom Wandernden Juden

8. Dando espalda al río – Dem Fluss den Rücken zeigen

9. La Puta Triple Frontera – Das Scheissdreiländereck

10. 150 años de soledad – 150 Jahre Einsamkeit

11. Tarjetas postales argentinas – Argentinische Postkarten

Bibliographie

Prolog

Unternimmt man heutzutage eine von Neu- und Wissbegier motivierte, untouristische Erkundungsreise in so europaferne Länder wie die des Cono del Sur – Lateinamerikas südlichen Zipfel –, möchte man gerne von sich glauben, dass man sich auf ein einmaliges Erlebnis und Abenteuer einlässt, sozusagen einen Bonsaihumboldt abgibt. Was für das reisende Individuum und seine eigene Lebensgeschichte so zutreffen mag und tatsächlich ja ein privater Luxus ist, scheint hingegen für das Kollektiv – die Familie, den Bekanntenkreis, die Gesellschaft und des Reisenden »globales Dorf« – ein Konsumartikel zu sein, den zu kaufen und zu geniessen jedermannsundfraus gutes Recht ist. Reisen als Konsumartikel jedoch, so empfindet der Autor es im Einklang mit H.M. Enzenzberger1, ist Selbstbetrug: Das Reisen von Anstrengungen, von Unbequemlichkeiten, unerwarteten Hürden und eigenen Erfahrungen zu trennen infantilisiert den Reisenden.

Seit Herodot haben kosmopolitische Reisende nicht nur Antworten für ihre Zuhörer und Leser von ihren Reisen mitgebracht, sondern auch Fragen. Und sie haben sich das Recht auf Subjektivität herausgenommen, die bei den Daheimgebliebenen häufig auf kritische Ablehnung, skeptischen Unglauben oder gar feindliche Gegnerschaft stiessen. Liest man heute A. Humboldts »Kosmos« und seine Schriften über Kuba, Venezuela usw., können seine naturwissenschaftlichen Funde und wissenschaftliche Objektivität darüber hinwegtäuschen, dass er in der Beurteilung der soziopolitischen Gegebenheiten jener Zeit subjektiv war, das heisst er nahm Partei, schrieb, redete und handelte schon damals wie einer, der sich heute wohl in Menschenrechtsbewegungen wiederfände.

Diese Tatsache findet noch heute ihren Reflex in der sogenannten »Humboldtisierung des Westens«2. Es meint einen Universalismus, der transkulturelle und teilweise interkulturelle Wissensgrundlagen für das Verständnis Lateinamerikas aus westlicher Sicht geschaffen hat. Diese bis heute nicht zu unterschätzende Arbeit Humboldts lässt aber leicht vergessen, dass der Privatgelehrte Humboldt als preussischer Staatsdiener, der er zeitweise auch war, ein preussisches Staatsverständnis zugrundelegte. Der Humboldt-Kult in Lateinamerika entstand, blühte und gedeiht bis heute denn auch konsequenterweise bei den lateinamerikanischen Eliten. Zwischen 1890 und 1920 und bis 1950 wurde Humboldts Universalismus in Europa fast ganz vergessen, – vor allem während und wegen der unglückseligen Phase des deutschen Imperialismus – während er in Mexiko, Venezuela und Kuba als angeknabbertes Standbild lebendig blieb.

Es war im 19. Jahrhundert, dass die liberalen Eliten Lateinamerikas sich selbst als politisch fortgeschrittener empfanden als Europa, denn sie hatten schon »ihre« Staaten, »während die Mehrzahl der europäischen Liberalen noch immer unter dem Joch der tyrannischen Monarchien litten«. Auf diese historische Wurzel heute lebendiger Ideologien trifft der Reisende allenthalben im Cono de Sur. Anders als im Europa dieser Tage, wo selbständig Denkende – wieder einmal – schnell als Kommunisten abgestempelt und zum Schweigen gebracht werden sollen, ist das kritische Denken in der Tradition Humboldts quicklebendig. Auch dort, wo Humboldt nicht war, nämlich in den Ländern des amerikanischen Südzipfels.

Der seit einem Jahrzehnt beobachtbare Monsun linksorientierter Regierungen in Lateinamerika hat unter anderem auch seine Wurzeln in Humboldts Schriften und den Kult um ihn. Ohne dass ich darauf ständig penetrant hinweisen und dem Leser die Lesefreude verderben möchte, wird der Leser dies selbst entdecken.

Anders als Humboldt hatte der Autor keine salvoconductos – Empfehlungsschreiben, und ist auch kein journalistischer Tänzer auf diplomatischem Parkett. Mir haben die Zeitungen, Bücher, Alltagsbeobachtungen und Gespräche gereicht, um mir ein subjektives Bild auf objektivem Malgrund zu malen. Meine Arbeit bestand darin, durch möglichst viele Astlöcher zu gucken, damit eine aktuelle und vielleicht in einigen Aspekten allgemeingültige Collage entstehen konnte, die andere dazu anregen mag, ähnlich zu reisen.

1 H.M.Enzenberger, Einzelheiten

2 Michael Zeuske, ¿Humboldeanización del mundo occidental?, Humboldt im Netz, ISSn º1617-5239

Kapitel 1

Quebraderos – Kopfzerbrechereien

Deine mexikanischen Reisepläne und Vorbereitungen zerplatzten wie eine Seifenblase. Statt ins lateinamerikanischste Land mit dem höchsten Anteil an Indios sollte es nun in das Land mit dem geringsten Anteil an indigener Bevölkerung gehen. Nicht in das surrealste Land, wie dein spanischer Schriftstellerfreund Mexiko nannte, würdest du reisen, sondern in das unaufgeregte Uruguay, das Land der Wasser der bunten Vögel«, » wo die Vögel rückwärts fliegen «.

In der touristisch erschlossenen Welt und ihrer Beschreibung in Reiseführern herrscht der Superlativ vor. Wer kann sich ihm schon entziehen? Nun, jemand der aus freundschaftlichen Pflichtgefühlen eine eher traurige Aufgabe übernimmt. Und die bestand für dich darin, deine langjährige Freundin M. nach Montevideo zu ihrer Tochter N. zu begleiten. Es würde der letzte der vielen Lebensorte ihres langen Wanderlebens sein, denn M. gehört zu jener Spezies angelsächsischer Kosmopolitinnen, die überall und nirgends zu Hause sind.

Nie wärst du ohne diesen Anlass auf dieses Reiseziel verfallen. Du zerbrichst dir den Kopf, wie du das Beste aus diesem teuren Flug machen kannst. Als verrentneter Zeitmillionär kannst du großzügig planen. Du studierst also Landkarten und Reiseführer, liest Literatur. Zwei Wochen für die kosmopolitischen Montevideaner, sechs Wochen für seine zurückgebliebenen Hinterländler. (Ja, so wird der Tourist a priori von Reiseführern tatsächlich vorgeimpft!)

Vagabundierendes Reisen mit Bus und Bahn bis Iguazú und weiter nach Potosi, der tragischen Silberminenstadt im südlichen Bolivien? Von dort zurück über Salta im nördlichen Argentinien und mit der Bahn über Cordoba, Tucamán, Santa Fé nach Buenos Aires und zurück nach Montevideo. Eine Rundreise? Doch noch attraktiver wäre eine Flussfahrt von Montevideo bis Salto mit einem Frachter auf dem Río Uruguay. Die Landkarte ließ das möglich erscheinen. Die Reiseführer nicht. Ebensowenig auf dem fast parallel verlaufenden Río Paraná. Nun, du würdest dich schon durchfragen und die Reiseliteratur um eine Attraktivität reicher machen. Schließlich hattest du schon vor 49 Jahren im Alter von 16 Jahren bewiesen, dass es immer ungewöhnliche Wege gibt und warst auf dem Bananendampfer Hornkap der Hornlinie nach Kolumbien gefahren. Du traust ganz einfach den Reiseführern nicht (vergisst aber, dass die Welt eine andere geworden ist…).

Du bist zufrieden mit deinem halboffenen Reiseplan und als du M. mitteilst, dass du sie bei ihrem Umzug nach Montevideo begleiten willst, ruft sie spontan aus: »That would be great!«

Dasselbe sagt dein schwedischer Freund T., als er von Euren Plänen hört. Er hat ganz andere Gründe, weshalb er sich der Reise gerne für zwei Wochen anschließen würde. Seine amerikanische Frau ist von dem Bericht eines gewissen Lee Harrison enthusiasmiert, der Uruguay im Internet als Paradies für Investoren und Rentner anpreist1. Zweihundert Seiten ausdruckbare insider information mit ach so perfekten Fotos und detaillierten Beschreibungen sprechen von niedrigen Lebenshaltungskosten, sagenhaft preiswerten Immobilien für jedermanns Geschmack, ein gesundes Klima und stabile politische Verhältnisse.

Mit diesen Angelhaken hofft Harrison die »Rentnermassen« Europas und der USA zu ködern. T. möchte wissen, wieviel daran ist und will hinter diese Paradieskulisse schauen und die Atmosphäre schnuppern, eventuelle Tätigkeitsfelder erkunden.

Also zwölf Stunden fliegen! Von Madrid nach Montevideo. Es ist ein Nachtflug und die Ankunft um neun Uhr morgens täuscht vor, man habe nur acht Stunden gebraucht. Einmal gefangen in dieser Zigarrenhülle aus zwölf Zentimetern künstlicher Haut, die vom unheimlichen Draussen trennt, versuchst du von einer langsamen Schiffsreise zu träumen. Es funktioniert nicht. Auch nicht bei geschlossenen Augen. Alles spricht dagegen: das Ablenkungs- und Beruhigungstheater des Flugpersonals, das monotone Brummen der Triebwerke, M.‘s Unruhe. Die blöden Bordvideos. Und alles, was dich zu sehen interessiert, verschluckt das nächtliche All: Wie lange fliegen wir über Afrika? Über welchem Ort, welcher Landschaft sind wir abgeschwenkt, überfliegen den Atlantik? Wie ist das Wetter über dem Ozean? Wann kommt der lateinamerikanische Kontinent in Sicht? Fliegen wir über den Amazonas? Kann man Rio de Janeiros Lichter sehen? Wo sind wir?

Für dein Unbehagen an solchem Fliegen findest du keine Erklärung. Erst später liest du bei einem, der mehr Erfahrung als du mit Fernflügen hat: »Die Zeit ist »wie im Fluge« vergangen, aber ich ziehe nicht automatisch Gewinn daraus. Ich habe die Zeit zwar »übersprungen«, aber nicht überwunden. Ich kann mir das etwa so vorstellen, als würde ich in einem Buch »springen«, indem ich Seiten überspringe, also nicht lese, und den Anschluss an die Geschichte verliere.«

Es ist die Erfahrung, philosophiert Klaus Kufeld in seinem lesenswerten Buch »Reisen, Ansichten und Einsichten« , dass wir Zeit als Qualität, als Erlebniszeit auffassen. Und dann zitiert er Albert Einstein, der sagt: »Wenn man mit einem netten Mädchen zwei Stunden zusammen ist, hat man das Gefühl, es seien zwei Minuten; wenn man zwei Minuten auf einem heissen Ofen sitzt, hat man das Gefühl, es seien zwei Stunden. Das ist Relativität.«

Aber es gibt immer noch so tellurische Menschen wie dich, die sehen müssen, wo sie sind. Die auch nicht von einer Reise durch das Weltall träumen.

1 www.escapeartist.com

Kapitel 2

Tristeza gris – Graue Traurigkeit

Venedig bedeutet Kanäle, Gondolieren, Markusplatz, auch Metapher von Tod und Vergänglichkeit inmitten architektonischer Juwelen. Athen, auch wenn wir nie dort waren, heisst Akropolis, Omoniaplatz, vielleicht Perikles. Amsterdam verbinden wir mit Fahrrädern, gardinenlosen Fenstern, Grachten und de seuten dirns.

Aber Montevideo? Selbst spanische Freunde, Andalusier, deren Vorfahren bei der Eroberung, Besiedlung und Kolonisierung so zahlreich eine Rolle am Rio-de-la-Plata-Delta spielten, wissen spontan wenig prägnantes zu assozieren. Bestenfalls verwechseln sie es mit Buenos Aires und erinnern sich an Uruguays Weltmeisterschaftssieg im Fußball. Ja doch, die Gauchos! Viel Rindfleisch. Und Matétee trinken sie andauernd. Aber es ist ein armes Land! – Das, amigos, ist eine Frage, die auf dieser Reise auch beantwortet sein will.

Vor allem: Was heisst dort Armut?

Das erste, was dich bei der Ankunft auf dem kleinen Flughafen Carrasco trotz aller Müdigkeit anspringt, ist ein unübersehbares, prägnantes Schild mit der Aufschrift dengue. Und du hast dich nicht gegen dieses malariaähnliche Fieber impfen lassen, obwohl du davon gelesen hattest.

Gleich zwei Taxis hat N. für euch organisiert. Es sind Kleinwagen mit wenig Platz. Die Fahrer sind sorgsam durch Glas von den Fahrgästen getrennt und du sitzt gepresst wie ein polnisches Kochhuhn auf dem Hintersitz mit angezogenen Armen und Beinen. Wieviel romantischer wäre es doch gewesen, diese Hafenstadt vom Wasser aus zu betreten. Es hängt viel davon ab, von woher man das erste Mal eine Stadt betritt. Dieser Eindruck nämlich bleibt haften. Bei deiner ersten Reise vor der wirklichen Reise – mit dem Finger und Stift auf den Karten – hast du dir eingebildet, es werde leicht sein, sich in dem typisch spanischen Schachbrettmuster horizontaler und vertikaler Straßen in der 1,3 Millionenstadt zurechtzufinden. Aber hupend, nach links und rechts wedelnd, hetzen nun die beiden Taxis wie zwei wild gewordene, kläffende Hunde, echte galgos, auf Abkürzungen und Diagonalen durch die Stadtlandschaft. Du versuchst in der seltsam amorphen Architektur zu lesen. Unglaubliche Stilmischungen und verwirrende Kontraste wohlhabender, gediegener und verkommener Gebäude rauschen wie ein nervöser Videoclip vorbei. Nobles steht neben sachlich Nüchternem, Ungepflegtes neben Herausgeputztem, Hüttenähnliches neben Verfallenem. Gartenanlagen, die keinen Gärtner kennen, andere, die von mindestens drei Heinzelmännchen gehegt werden. Dazwischen immer wieder Baulücken und kariöse Ruinen. Ein urbaner Wildwuchs, den offenbar nur eine Norm zügelt: über ein Stockwerk geht es, bitte sehr, nicht hinaus! Es scheint einen Gestaltungswillen gegeben zu haben. Gleichzeitig erweckt alles den Eindruck, es sei etwas dazwischen gekommen, das diesen Willen gebrochen hat.

Dann hören die Gärten und großen Bäume am Straßenrand auf. Die kläffenden Taxihunde werden ruhiger und achten nun aufmerksam auf Schlaglöcher. Das Stadtviertel, durch das es nun geht, heisst Buceo. Auch hier geht es nicht über ein, zwei Stockwerke hinaus. Vorgärten sind selten oder winzig.

Der vorherrschende Farbton ist jetzt von grauem Verputz bestimmt. Eine leicht verhangene Morgensonne müht sich vergeblich, fröhlichere Farbtöne zu zaubern. Unerwartet springt das grelle Violett eines flachen Eckhauses ins Auge: ein Lebensmittelladen macht fröhlich auf sich aufmerksam. Gleich gegenüber kommen die gehetzten Hunde zur Ruhe, halten vor N.‘s Neuerwerbung, einem schmucklosen, soliden Flachbau mit kleinem Vorgarten und islamisch vergitterten Augen. Blassgrau, mit einem zagen Schuss Hellblau, passt es sich in das Graugrau der anderen Anlieger ein.

»Welcome home, mum!« sagt stolz die Tochter und führt M. behutsam die kleine Treppe hinauf ins Umzugschaos ihres erst vor einer Woche bezogenen neuen Heims. Kinderlärm. Gepäckaufbewahrung. Kaffeegeruch. Ein Begrüssungsweinchen. Reisebefindlichkeiten. Eine kleine Führung durch Haus und Hinterhofgarten: Farben! Ein knospender Advokadobaumriese. Ein blühender Feigenbaum neben einem spriessenden Zitronengewächs. Den grünen Rasen verschlingen Haufen von Bauschutt. M.‘s künftige Wohnstatt präsentiert sich als Skelett, das in den kommenden zwei Monaten neue Organe und frische Häute bekommen soll. T. fragt N. nach Preisen aus. Kaum angekommen, hat seine Recherche schon begonnen.

Warum gibt es hier so preiswerte Immobilien? Weil Uruguays Bevölkerung überaltert ist, junge Menschen keine Arbeit finden und migrieren, wenn sie können. Dann ein Satz, den ihr mehr als einmal hören werdet: »No hay plata en el Rio de la Plata.« Am Silberfluss gibt es kein Geld. Uruguays Zeiten als die »Schweiz Südamerikas« liegen weit zurück, sind Geschichte.

Noch einmal quetscht ihr euch an diesem Ankunftstag in Montevideo in ein enges Taxi. Gern hättet ihr den Fahrer angewiesen, den Weg zum Palacio Salvo im Stadtzentrum über die sieben Kilometer lange Promenade am »Meer« zu nehmen. Aber die Siesta ruft, Augen und Herz sind müde.

Je näher ihr ins Zentrum gelangt, umso grauer wird Montevideos Grau. Das Sonnenlicht bleibt fahl. Endlos zieht sich die Diagonale Fructuosa Rivera, eine der Hauptschlagadern der Stadt mit ihrem lebhaften Gemisch aus Wohnhäusern, Bars, Läden, Holzhändlern und fletes – Kleinspeditionen – hin. Man meint nie anzukommen.

Der erste Eindruck bleibt haften. Montevideo lebt mit einer Traurigkeit aus Grautönen.

Später, wieder daheim, findest du bei Uruguays bekanntesten literarischen Jornalisten, Eduardo Galeano, eine Erklärung. In dem gerade erschienen Buch Espejos (Spiegel), schreibt er: »Montevideo war nicht grau. Es wurde grau gemacht. Damals, um 1890, konnte einer der Reisenden, der die uruguayische Hauptstadt besuchte, ein Loblied auf die Stadt singen, wo lebhafte Farben triumphieren. Die Häuser hatten damals rote, gelbe, blaue Gesichter… Etwas später erklärten Besserwisser, dass dieser barbarische Brauch eines europäischen Volkes nicht würdig sei. Für einen Europäer – egal was die Landkarte sagte – musste man zivilisiert sein. Um zivilisiert zu sein, musste man ernst sein. Um ernst zu sein, musste man traurig sein. Zwischen 1911 und 1913 verfügten die Ordenanzen der Gemeinde dann auch, dass die Platten der Bürgersteige grau zu sein hatten und sie erließen obligatorische Normen für die Häuserfassaden. Es waren nur solche Farben erlaubt, die Baumaterialien imitierten, also im Allgemeinen ziegel- und steinähnlich.«

Dies war also zu den Zeiten britischen Kolonialismus. Auch ein anderer, der Maler Pedro Figari, machte sich über diese koloniale Dummheit lustig, vergisst aber nicht selbstkritisch anzumerken, dass es (wie in den meisten Ländern Südamerikas bei den Führungsschichten) eine unverhohlene Bewunderung für Französisches gab. »Die Mode fordert, dass sogar die Türen, Fenster und Jalousien grau zu streichen seien. Unsere Städte sollen wie Paris sein. Die leuchtende Stadt Montevideo: Sie überschmieren, sie zermalmen und kastrieren sie. Montevideo starb an der Kopierwut.«