Joachim Hoell

 

 

Der literarische Realitätenvermittler.

Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman 

Auslöschung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2014

 


Über dieses Buch

 

Ich bin nicht eigentlich Schriftsteller, habe ich zu Gambetti gesagt, nur ein Vermittler von Literatur und zwar der deutschen, das ist alles. Eine Art literarischer Realitätenvermittler, habe ich zu Gambetti gesagt, ich vermittle literarische Liegenschaften sozusagen.

Thomas Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall, 1986

Diese Selbsteinschätzung des erzählenden Protagonisten Franz-Josef Murau erhellt aus seiner Tätigkeit in Rom: er ist der Deutschlehrer Gambettis, der diesem die deutsche Literatur nahezubringen versucht. So wird auf den ersten Seiten des Romans ein Kanon zu lesender Werke aufgestellt, die Gambetti auf das aufmerksamste und mit der in seinem Fall gebotenen Langsamkeit studieren soll. Im Verlauf des Romans wird diese Literaturliste ständig erweitert, um am Ende mit einer beträchtlichen Anzahl an Autoren und Werken die freien Regale dieser Bibliothek des bösen Geistes gefüllt zu haben. Der geistesgeschichtliche Horizont, den Murau in diesem Pandämonium absteckt, reicht von Montaigne bis zu Ingeborg Bachmann, von der Spätrenaissance bis in die Gegenwart.

Joachim Hoell begibt sich auf die literarische Reise nach diesen 'Liegenschaften' und veranschaulicht in dieser größten Monographie zu Bernhards letztem und umfangreichsten Roman Auslöschung, auf welche Weise Thomas Bernhard von Autoren wie Jean Paul, Novalis, Hebel, Goethe, Kafka, Musil, Broch, Bachmann, Kropotkin, Pavese, Sartre, Montaigne, Descartes, Pascal, Voltaire und Rousseau thematisch, weltanschaulich und ästhetisch geprägt wurde.

Die intertextuelle Analyse bildet somit einen neuen Schlüssel für das Werk des 1989 verstorbenen österreichischen Schriftstellers.

 

Die Originalausgabe dieses Buchs erschien 1995 in der VanBremem Verlagsbuchhandlung in Berlin. Für diese Ausgabe bei epubli wurde das Buch geringfügig überarbeitet und um ein aktives Inhaltsverzeichnis erweitert.

Pressestimme:

 

Realitätenvermittler (österreichisch für Grundstücksmakler) handeln mit Liegenschaften und spielen in Bernhards Leben und Werk eine nicht unwichtige Rolle. Franz-Josef Murau, die Hauptfigur der Auslöschung, bezeichnet sich selbst als einen "literarischen Realitätenvermittler". Von dieser Selbsteinschätzung ausgehend, macht der Verf. den Begriff der "literarischen Liegenschaft" literaturwissenschaftlich fruchtbar. So entsteht eine Topologie im doppelten Sinn des Begriffs. Denn es werden nicht nur die intertextuellen Bezugnahmen, sondern auch ihre Bedeutung als Konstituenten der Figur Muraus und der dargestellten Welt rekonstruiert. Die Arbeit behandelt also im Kontext der zum Teil nur über Autorennamen zitierten, deutsch- und fremdsprachigen Literatur (wobei die Goethezeit und die Moderne sowie autobiographische bzw. philosophische Literatur abgedeckt werden) die zentralen (aber auch schon hinlänglich bekannten) Topoi des Romans wie Kindheit, Krankheit, Politik und Utopie, Romantik sowie das Selbstverständnis des Geistesmenschen in seinem Versuch der autobiographischen Selbstvergewisserung im Akt der Auslöschung. Den Wert der Arbeit macht die solide und umfassende Aufarbeitung dieser topologischen Felder aus.

Germanistik, Oliver Jahraus, Band 40, 1999

 

Über den Autor

 

Joachim Hoell, geboren 1966, lebt als Autor in Berlin. Nach Studium und Promotion in Germanistik und Lateinamerikanistik zahlreiche Artikel und Bücher, u.a. Biografien über Thomas Bernhard (dtv 2000, Hörbuch gelesen von Hermann Beil, Tacheles 2006), Ingeborg Bachmann (dtv 2001, Hörbuch gelesen von Sophie Rois, Random House Audio 2006) und Oskar Lafontaine (Lehrach 2004), Mitherausgeber der Gesammelten Schriften von Philipp Mainländer (Olms 1996-1999) und zahlreiche Romanbearbeitungen fürs Hörbuch wie Hörbuchregie, von Autoren wie Louis Begley, Harry Belafonte, T.C. Boyle, Charles Dickens, John Grisham, Richard Ford, Robert Harris, Stephen Hawking, Terézia Mora, Melinda Nadj Abonji, Hanns-Josef Ortheil, Rüdiger Safranski, Frank Schirrmacher, Richard Sennett und Martin Suter. Lehraufträge zu moderner Literatur und Hörbuch an zahlreichen Universitäten. Konzeption und Moderation literarisch-musikalischer Programme, u.a. im Residenzschloss Ludwigsburg.

 

… mehr auf www.joachimhoell.de


Bei epubli von Joachim Hoell erhältlich:

 

Der literarische Realitätenvermittler. Die Liegenschaften in Thomas Bernhards Roman Auslöschung. Berlin 1995, 2. Auflage epubli Berlin 2014

 

Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum. Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Berlin 2000, 2. Auflage 2001, 3. Auflage epubli Berlin 2014

 

Thomas Bernhard. Ein Portrait. München 2000, 2. Auflage 2003, 3. Auflage epubli Berlin 2014

 

Ingeborg Bachmann. Ein Portrait. München 2001, 2. Auflage 2004, 3. Auflage epubli Berlin 2014

 

Provokation und Politik. Oskar Lafontaine. Braunschweig 2004, 2. Auflage epubli Berlin 2014

 

 

Der literarische Realitätenvermittler.

Die Liegenschaften in Thomas Bernhards

Roman Auslöschung

Joachim Hoell

© 2014 Joachim Hoell

published by: epubli GmbH

Berlin www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-8585-7

 

I.      Einleitung

 

Aber wir sind eingeschlossen in eine fortwährend alles zitierende Welt, in ein fortwährendes Zitieren, das die Welt ist ... (Thomas Bernhard Verstörung)

 

Die Nachricht vom Tod seiner Eltern und seines Bruders führt für den Österreicher Franz-Josef Murau zu einer Reflexion seines Lebens in Rom und seiner Kindheit in Wolfsegg. Der dem Leser vorliegende Bericht ist Muraus literarische Bewältigung seines "Herkunftskomplex[es]" (A 201), der Auslöschung, die bis auf die Einschübe eines ungenannten Herausgebers identisch mit der Auslöschung1 ist. Obwohl Murau der Verfasser der Schrift ist, behauptet er, daß er nie ein Schriftsteller habe sein wollen, er wollte lediglich "etwas aufschreiben, nur für mich" (A 617):

 

Ich bin nicht eigentlich Schriftsteller, habe ich zu Gambetti gesagt, nur ein Vermittler von Literatur und zwar der deutschen, das ist alles. Eine Art literarischer Realitätenvermittler, habe ich zu Gambetti gesagt, ich vermittle literarische Liegenschaften sozusagen. (A 615)

 

Diese Selbsteinschätzung erhellt aus seiner Tätigkeit in Rom: er ist der Deutschlehrer Gambettis, der diesem die deutsche Literatur nahezubringen versucht. So wird auf den ersten zwei Seiten des Romans ein Kanon zu lesender Werke aufgestellt, die Gambetti "auf das aufmerksamste und mit der in seinem Fall gebotenen Langsamkeit" (A 7) studieren soll. Im Verlauf des Romans wird diese Literaturliste ständig erweitert, um am Ende mit einer beträchtlichen Anzahl an Autoren und Werken die freien Regale dieser "Bibliothek […] des bösen Geistes" (A 149) gefüllt zu haben. Der geistesgeschichtliche Horizont, den Murau in diesem Pandämonium absteckt, reicht von Montaigne bis zu Ingeborg Bachmann, von der Spätrenaissance bis in die Gegenwart.

Dieses name-dropping scheint gewissermaßen die einzelnen Autoren und Werke einzuebnen, so daß in der Forschungsliteratur zur Auslöschung zumeist der Brückenschlag zwischen der bedeutungslosen Geste des Hofmeisters und der totalen Auslöschung Muraus konstatiert wird, der den Sinn der Lektüreempfehlungen für den Roman negiert.

In dieser Arbeit soll entgegen dieser mittlerweile tief verwurzelten Meinung eine Recherche nach den von Murau vermittelten »Liegenschaften« durchgeführt werden; die Bedeutungen für die eigene Schrift des »literarischen Realitätenvermittlers« wie für Thomas Bernhards Auslöschung müssen dabei eruiert werden. Bernhard als realer Autor des vorliegenden Textes schiebt einen fiktiven Autor vor, um sein eigenes Ich hinter diesem verstecken zu können, ein Kunstgriff, der ihm ein gewaltiges Artikulationsfeld eröffnet. Wie Bernhard diese Möglichkeiten auszuschöpfen trachtet, soll im folgenden ersichtlich werden, denn die Lektüreerfahrungen Muraus sind auch die seinigen, allerdings mit dem qualitativen Unterschied, daß Bernhard diese »Realitäten« im Gegensatz zu Murau zu differenzieren weiß.

Muraus Empfehlung an Gambetti, auch "Amras von Thomas Bernhard" (A 7) zu studieren, ist ein deutliches Signal, daß Bernhard diese frühe Erzählung aus dem Jahre 1964 in Bezug zur Auslöschung setzt, um den Kreis zu seinen literarischen Anfängen zu schließen. Darüber hinaus weist der Umstand, daß die Auslöschung die zuletzt veröffentlichte und die umfangreichste Prosaschrift Bernhards ist, in der seine bevorzugten Literaten und Philosophen vereinigt werden, darauf hin, die Auslöschung könnte sein literarisches Vermächtnis darstellen, sein opus summum, in dem er Bilanz zieht.

Die möglichen Bedeutungsfelder dieser »Liegenschaften« sollen im Hauptteil gezeigt werden. Einerseits unter dem Aspekt, daß es Bernhards wichtigste Autoren sind, die ihn thematisch, weltanschaulich und ästhetisch geprägt haben, andererseits, daß es die die Auslöschung konstituierenden Autoren sind, die der fiktive Autor Murau einbringt. Dieser auf zwei Ebenen geführte Dialog mit den sogenannten Prätexten bedarf eines theoretischen Instrumentariums, das im Kapitel »Intertextualität« erarbeitet werden wird. Zuvor soll eine »Zeitliche Einordnung« der Auslöschung in Bernhards Werkgeschichte die intertextuellen Bezüge innerhalb des eigenen Schaffens umreißen und ein Überblick zur Geschichte des »Realitätenvermittlers« die Konnotationen dieses Berufs in Bernhards Werk darstellen.

 

1.      Zeitliche Einordnung der Auslöschung

 

Da in dieser Arbeit einerseits die Lektüreerfahrungen Bernhards und andererseits dessen eigenes Werk komparatistisch zur Auslöschung betrachtet werden, soll eine chronologische Bestimmung innerhalb der Werkgeschichte den Standort des Romans klarstellen.

Die Auslöschung ist in den Jahren 1981/82 begonnen worden, wie Kommentare Bernhards vermuten ließen und mittlerweile von seinem Nachlaßverwalter bestätigt wurde. Damit scheint die exakte Einordnung des Romans in die Werkgeschichte eindeutig, denn größere Eingriffe soll Bernhard vor der Veröffentlichung im Jahre 1986 nicht vorgenommen haben.2 Warum Bernhard das Manuskript solange unter Verschluß hielt – Horaz’ empfiehlt, aus ästhetischen Gründen, "die Blätter des Konzepts sollen in den Pult gelegt werden und dort bis zum neunten Jahr verschlossen liegenbleiben"3 -, ist ungeklärt. Eine biographische Spekulation über die Hintergründe, ein inhaltlicher Vergleich zu den 1982 erschienenen Texten Beton und Ein Kind und eine thematische Einordnung des Romans in die Werkgeschichte sollen der Betrachtung der »Liegenschaften« im Hauptteil hilfreich zur Seite stehen.

Biographische Situation

Die Auslöschung. Ein Zerfall weist im Titel auf den destruierenden Gestus des Verfassers hin, der auch seinen eigenen Schwanengesang anstimmt, weil ihm sein nahes Ende bevorsteht. Bernhards Krankheitszustand verschlechterte sich seit Ende der siebziger Jahre zunehmend4, und dieser existentielle Überlebenskampf spiegelt sich in seinen literarischen Bemühungen des letzten Dezenniums wider. Bernhard rückt seit Ja (1978) seine eigene Todeskrankheit ins Zentrum seiner Schriften, die latent in Wittgensteins Neffe (1982), Beton (1982), Der Untergeher (1983), Holzfällen. Eine Erregung (1984), Der Theatermacher (1985) und Heldenplatz (1988) durchscheint; in Auslöschung werden in einer tour de force alle Hindernisse umgestoßen, entzweigeschlagen, ausgelöscht.

Die Auslöschung scheint als Bernhards literarisches Testament konzipiert zu sein, das die Kardinalthemen wie Kindheit, Austrofaschismus, Katholizismus, Anarchie und Poetikreflexion vereinigt und in einer voluminösen "Haßarie"5 Bilanz zieht. Ästhetische Kommentare, z.B. zur Kunst der Übertreibung, runden den Eindruck ab, Bernhard habe die Veröffentlichung des Romans zurückgestellt, um mit diesem einen Schlußpunkt zu setzen. Die ungeheure Produktivität Bernhards seit Korrektur (1975) versiegt 1986 nach dem Erscheinen der Auslöschung, es entstehen noch die Auftragswerke fürs Theater und die bereits 1959 verfaßten Prosaskizzen In der Höhe. Rettungsversuch. Unsinn werden 1989 veröffentlicht.

Auslöschung – Beton und Ein Kind

In Beton sind die Österreichbeschimpfungen Rudolfs vergleichbar mit denen Muraus und dessen Schwester erinnert, bis hin zur Beschenkung des katholischen Liebhabers, an Muraus Mutter. Die Wirkungslosigkeit der Literatur, der verheißungsvolle Süden, die Verschenkung eines Erbes und die Identität des Erzähler-Ich, das durch Brechung eines Herausgebers der Verfasser der vorliegenden Schrift ist, sind allesamt Variationen der Auslöschung.6

Für das frühe Datum sprechen auch Korrelationen zu dem letzten Band der autobiographischen Tetralogie Ein Kind. Die in der Auslöschung stattfindende Abrechnung mit der Kindheit gleicht in der Schilderung einzelner Episoden, z.B. den Beschimpfungen und Züchtigungen durch die Mutter (A 88/98), der Abtreibung des ungeliebten Kindes (A 290f.) und der Friedhofsbesuche (A 450f.) diesem Kindheits-Werk, wobei die allegro-Töne in Ein Kind den adagio molto-Tönen in der Auslöschung gegenüberstehen; aber es handelt sich eben um die neue Fassung von Onkel Georgs verschollener "Antiautobiografie" (A 198).

Für eine Überarbeitung kurz vor Erscheinen spräche lediglich die politische Dimension der Auslöschung, die zu der in dieser Zeit heftig diskutierten Waldheim-Kontroverse paßte, welche schon in Alte Meister (1985) von Reger erwähnt wird (s. AM 213ff.), aber in der Auslöschung einen der Angelegenheit und dem Zeitpunkt angemesseneren, bitteren Ton anschlägt; dies mag jedoch eine Bernhardsche Prophezeiung gewesen sein.

Die Wendemarke

In Bernhards Prosa der 60er Jahre ist der Dualismus zwischen einem Künstler und einem (Natur-)Wissenschaftler gegeben, die Protagonisten der 70er Jahre (bis Beton, 1982) sind ausnahmslos Wissenschaftler, in den letzten Romanen, Der Untergeher (1983), Holzfällen (1984) und Alte Meister (1985) sind es Künstler.7 Die Auslöschung steht an der Schwelle der Werkentwicklung, denn der Protagonist Murau bezeichnet sich nicht nur als "Geistesmensch" (A 47/149) und als "Verstandesmensch" (A 288), sondern wird in seiner Tätigkeit als Lehrer, Schriftsteller und Verfasser von Aufsätzen über "Leos Janácek" (A 20), Pascal, Bohuslav Martinu, Marias Gedichten (A 517) als "Wissenschaftler" (A 406) und Künstler ausgewiesen. Zudem ist er der einzige Protagonist in Bernhards Prosa, der sich explizit mit Literatur beschäftigt – und zwar als Autor und als Kritiker.

Dieser Absolutheitsanspruch Muraus unterscheidet ihn von den Künstlergestalten in Untergeher, Holzfällen und Alte Meister, die mit Humor und Komik gegen ihre Umwelt vorgehen, um letzten Endes so "die Existenz auszuhalten" (A 612).


2. Realitätenvermittler


Die Poësie ist das ächt absolut Reelle. (Novalis)8


Der des Österreichischen nicht mächtige Leser vermeint in dem Begriff des Realitätenvermittlers einen in Bernhards Werk üblichen Neologismus zu erkennen.9 Der Fremdwörter-Duden jedoch führt den Begriff der Realität als das österreichische Synonym für Grundstück und weist den Begriff des Realitätenvermittlers als Grundstücksmakler aus.10

Deswegen bleibt der Sinn des Wortes Realität, welches seinem lateinischen Ursprung nach Wirklichkeit, Gegebenheit und Tatsache bedeutet, trotzdem bestehen. Daß dem Wort »Realitäten« auch dieser Sinngehalt im Bernhardschen Gebrauch zukommt, wird im folgenden ersichtlich werden.

Ein drittes Bedeutungsfeld ergibt sich aus der Philosophie. Im Kontext zu Muraus »literarischer Realitätenvermittlung« wird klar, daß Bernhard unmittelbar an die Philosophie der romantisch-idealistischen Epoche anknüpft. Die Einsicht, daß der absoluten Erkenntnis in der Philosophie Grenzen gesetzt sind, leitet zu einer Verabsolutierung der Kunst. "Wo die Philosophie aufhört, muß die Poesie anfangen"11, fordert Friedrich Schlegel, und Novalis formt die ausführlichste Begründung der Kunst als Realität aus, z.B.: "Die Kunst ist das Selbstbewußtsein des Universums" (Novalis 2, 647), "Alle dichterische Natur ist Natur […]. Sie ist allein Realität" (Novalis 3, 693) oder "Die Poësie ist das ächt absolut Reelle. […] Je poëtischer, je wahrer" (Novalis 2, 647).

Dieser in die Romantik zurückweisende Begriff des »literarischen Realitätenvermittlers« wird in der Untersuchung der »Liegenschaften« noch vertieft werden; Autoren wie Jean Paul, Musil, Kafka, Pavese und Bachmann haben ihr Leben wie ihr Schreiben in einen kompatiblen Realitätsbegriff zu fassen versucht, und variieren den romantischen Gedanken einer Universalpoesie.

Bernhard wählt eine Vokabel, die in ihrer dialektalen, ihrer etymologischen wie in ihrer philosophischen Bedeutung verstanden werden kann und muß.

Der Realitätenvermittler in Bernhards Prosa

Meine Grundstücke sind meine Themen. […] Die Welt ist, wie Sie wissen, eine Möglichkeitswelt, meine Grundstücke sind Möglichkeitsgrundstücke, wie die Philosophien Möglichkeitsphilosophien sind. (Bernhard Er 98)12


Im Sinne des österreichischen Sprachgebrauchs, also als Grundstücksmakler, trat der Realitätenvermittler schon in mehreren Schriften vor der Auslöschung in Erscheinung.

In Verstörung (1967) statten Vater und Sohn "einem gewissen Bloch, Realitätenbürobesitzer" (V 22), einen Besuch ab. Dieser "Jude" Bloch "lebe seinem Geschäftsvergnügen", pflege jedoch mit dem Vater des Erzählers eine Freundschaft, die "»ihr Philosophisches in sich hat«" (V 22). Bloch ist Besitzer einer Bibliothek, in welcher "man »vergleichende politische Wissenschaften, angewandte Naturgeschichte, Literaturgeschichte«" betreibe, wobei die "Künste [...] die meiste Zeit zu kurz [kämen], aber Blochs Frau zuliebe öffne man sich auch ihnen zeitweilig." (V23) Die philosophischen Werke, die Bloch dem Vater ausleiht, sind Bücher von Kant, Marx, Nietzsche, Pascal und Diderot. Die Begründung für diese Auswahl gibt der Vater seinem Sohn, dem Erzähler, nach Verlassen des Blochschen Hauses:


Er wende sich jetzt mehr und mehr den französischen Schriftstellern zu und von den deutschen ab. Im Grunde aber habe er nie ein echtes Bedürfnis nach einer unwissenschaftlichen, nach der poetischen Literatur gehabt, und diese seine Eigenschaft verstärke sich offensichtlich. Für die sogenannte Schöne Literatur sei er in dem Grade, in welchem er sich Klarheit und Folgerichtigkeit verschaffen könne, immer weniger aufgeschlossen, er schaue sie als eine in jedem Fall peinliche, ja in großen Zügen lächerliche Verfälschung der Natur an. (V 26)


Dies erscheint wie eine Selbsteinordnung Thomas Bernhards, der sich in der zweiten Phase seiner Prosa dem (natur-)wissenschaftlichen Ideal zuwandte, um in der dritten Phase sich wieder der "Schönen Literatur" und den Künsten zuzuwenden.

Dieser philosophische Makler handelt nicht nur mit Grundstücken, sondern auch mit Büchern, die sich der Vater des Studenten ausleiht. Bloch ist zwar primär Vermittler von Liegenschaften, sekundär jedoch Vermittler von Literatur und von Büchern und weist in dieser Doppelfunktion schon auf den "literarischen Realitätenvermittler" Franz-Josef Murau hin.

In der Erzählung Der Wetterfleck (1969) spekuliert der Anwalt Enderer darüber, ob der bei ihm eintretende Klient "Realitätenvermittler, Liegenschaftskäufer" sei, da "diese Leute [...] solche Wetterflecke in solcher Körperhaltung [tragen] und [...] derartige Gesichter" (Er 138) haben. Der Verdacht des Anwalts ist, daß er "Realitätenvermittler [sei], einer von diesen Männern, die in ihren Wetterflecken herumgehen und wie die Ärmsten der Armen ausschauen, und doch den ganzen Liegenschaftsmarkt der inneren Alpen beherrschen" (Er 138f.), wobei Enderer dann erfährt, daß es sich bei Humer um den "Besitzer des Bestattungswäschegeschäft[es]" (Er 142) handle. Dieser stürzt sich nach dem Gespräch in der Anwaltskanzlei "aus einem Dachbodenfenster seines Hauses" (Er 168), weil er von seinem Sohn und dessen Frau genötigt wurde, im eigenen Haus ständig umzuziehen und letztlich völlig isoliert im Dachgeschoß verkümmere, was ihn umbringe (Er 167).

Humer, dessen Name die Assoziation an den schottischen Philosophen David Hume evoziert, ähnlich wie Bloch in Verstörung natürlich an den gleichnamigen deutschen Philosophen erinnert, scheint lediglich auf diese namentliche Korrespondenz zu einem "geistigen Vermittler" reduziert worden zu sein; schließlich ist er auch nicht der vermeintliche "Realitätenvermittler".

Der "Realitätenvermittler Moritz" aus Ja (1978) bedeutet anfangs für den Ich-Erzähler die erhoffte, "Rettung" (J 8), die dann indirekt durch dessen Vermittlung an die Perserin eintritt. Die Liegenschaften, die dem Schweizer und seiner Frau, der Perserin, von Moritz vermittelt werden, besiegeln das Schicksal des "verlorene[n], letztenendes vernichtete[n] Mensch[en]" (J 144f.) Der Erzähler verdankt der Perserin als Spiegel seiner selbst die Rettung: "War es nicht mein eigener Zustand, den mir die Perserin jetzt so auf dem Baumstumpf sitzend, vorgeführt hatte?"(J 134). Moritz’ doppelte "Realitätenvermittlung", nämlich der Perserin "das abstoßendste Grundstück" (J 134) verkauft zu haben und dem Ich die Bekanntschaft mit ihr vermittelt zu haben,


[welche] aus Hunderten und Aberhunderten von für mich lebensrettenden Gründen, welche in der Person der Perserin konzentriert für mich sichtbar und in hohem Maße sofort nützlich gewesen waren, [bestand] (J 76),


ist seine Funktion. Das lebensbejahend konnotierte Ja des Romans, welches nach dem Suizid der Perserin einen bitteren Geschmack zurückläßt, ist ein solches lebensrettendes zumindest für den Erzähler. Dieser quälte sich mit Selbstmordgedanken (J 76), wird aber von der Perserin davor bewahrt, die ihr Ja auf die Frage , ob "sie selbst sich eines Tages umbringen werde" (J 148), einlöst und an seiner Stelle ihre Existenz auslöscht. Der "Realitätenvermittler Moritz" hat in Ja nicht nur die Rolle der Grundstücksvermittlung inne, sondern auch die der "Existenzvermittlung".13

In Beton (1982) ist die in Haß-Liebe des Erzählers geschilderte Schwester Elisabeth Inhaberin eines "Realitätenvermittlungsgeschäft[es]" (Be 16). Dies erwarb sie durch Heirat mit einem Realitätenvermittler, den sie "nach Peru" vertrieb, um das Geschäft "zur Gänze an sich zu reißen" (Be 16). "Sie ist ein Geschäftsmensch" (Be 16f.) und steht dem Bruder darin diametral gegenüber: "Ich rede nie von Geld und habe es, sagte sie einmal, du redest nie von Philosophie und hast sie" (Be 68).

Die realitätenvermittelnde Schwester ist dies für den Bruder im engsten Sinne des Wortes, nämlich als Vermittlerin von Wirklichkeit, denn sie ist "bei klarem Verstand, der ihr niemals abzusprechen gewesen ist" (Be 52), und liebt ihn, "weil [er] so phantastisch" (Be 52) ist. Die immer wieder durch sie erhoffte Beruhigung tritt nicht direkt ein, jedoch motiviert sie ihn, nach Palma zu reisen, wo er der Anna Härdtl begegnet, die dann seine vorläufige Rettung bedeutet, denn "[t]atsächlich richten wir uns an einem noch unglücklicheren Menschen sofort auf" (Be 210).

Das letzte Mal wird ein Realitätenvermittler in Der Untergeher (1983) genannt, wobei dies nur en passant, wenn das Philosophen-Ich über den etwaigen Verkauf seines Hauses räsoniert: "Ohne Realitätenvermittler ist kein Verkauf möglich, und vor den Realitätenvermittlern graust es mich, dachte ich" (U 189). Dies könnte eine werkinterne Anspielung Bernhards sein, der sich auf diese Weise von der zuvor geschaffenen Figur des Realitätenvermittlers Murau abwendet.

Die Wiederkunft des Realitätenvermittlers als literarischer ist bereits antizipiert. Seine Bedeutung umfaßt jeweils mehr als die eines Grundstücksmaklers, die Vermittlung von "Literatur-Realitäten" (Bloch in Verstörung), von "Existenz-Realitäten" (Moritz in Ja), von "Verstandes-Realitäten" (Schwester in Beton) belegt dies.

Letztendlich repräsentiert Murau, wie jede dieser Figuren, den klassischen »Geistesmenschen« aus der Bernhardschen Literaturfabrik, den Josef Quack folgendermaßen charakterisiert:


[…] das Ideal des ‘Geistesmenschen’, ein wahrhaft unzeitgemäßer Begriff, eine fast rührend altmodische Vorstellung. […] Ein Geistesmensch ist nach Bernhard dadurch gekennzeichnet, daß er nicht in der normalen Geschäftigkeit des Alltags aufgeht, sondern sich ganz allgemein für künstlerische oder philosophische Dinge interessiert.14


Daß dieser Geistesmensch nicht in der normalen Geschäftigkeit des Alltags aufgeht, ist zwar richtig, vermag hingegen nicht die politische Dimension seiner Beobachtungen schmälern, wie in dieser Arbeit noch deutlich werden wird, denn die so eindringlichen und quälenden Reize, die er dabei der Welt zu geben vermag, sind in höchstem Maße modern und aktuell. Eine Wendung Adornos rehabilitiert diesen Bernhardschen Typus, der sich immerhin gegen die ungeistigen Menschen und deren Verbrechen richtet: „Das Wort ‘geistiger Mensch’ mag abscheulich sein, aber daß es so etwas gibt, merkt man an dem Abscheulicheren, daß einer kein geistiger Mensch ist.“15

Muraus Bezeichnung »literarischer Realitätenvermittler« und »Geistesmensch« verrät bereits ein wichtiges Charakteristikum seiner Person, nämlich seiner Beschwörung der romantisch-idealistischen Epoche, als der schöpferische Geist über den bloßen Verstand dominierte. Dies verdeutlichen Muraus Invektiven gegen die Photographie als "Teufelskunst unserer Zeit" (A 243) und als "das größte Unglück des zwanzigsten Jahrhunderts" (A 30). Die kreative Phantasie des Künstlers wird gegen die einfache, realistische Abbildung der Photographie gesetzt. Gößling bezeichnet dies als als "ein Symbol der großen Kontroverse, die im Neunzehnten Jahrhundert gewissermaßen zwischen dem ‘Geist’ und seinem abtrünnigen Sohn, dem ‘Verstand’, ausgefochten wurde"16, als letzten Feldzug Muraus gegen den unausweichlichen "Siegeszug des Positivismus, der metaphysisch-spekulatives Denken idealistischer und romantischer Herkunft verdrängte"17.


3. Intertextualität

 

Der Begriff der »Intertextualität« bezeichnet die wechselseitigen Beziehungen zwischen Texten.

Ein breiter Konsens, welchen Charakters diese Beziehungen sind, konnte in den unzähligen Studien, die in den letzten Jahren zu diesem Thema erschienen, allerdings nicht gefunden werden. Vielmehr hat sich die Intertextualität zu einem der schillerndsten Begriffe der Literaturtheorie entwickelt, der beinahe so viele kontrastierende Ansätze hervorbrachte wie Bestimmungsversuche darüber. Oftmals handelt es sich jedoch nur um Marginalien oder Aperçus globalerer Systeme, die vergröbert, zwei konträren Textauffassungen entspringen: ein völlig entgrenzter konkurriert mit einem enger gefaßten Textbegriff.

In mehreren Publikationen der letzten zehn Jahre zeigt sich das Bemühen der Verfasser, in dieses Dunkel Licht zu bringen; erwähnenswert sind die Monographie von Gérald Genette Palimpsestes (1982)18, und die aus Symposien hervorgegangenen Sammelbände Dialogizität (1982)19 und Intertextualität (1985)20. Die Titel dieser Bände deuten bereits auf unterschiedliche Termini hin: Genette z.B. verwendet für den umfassenden Begriff der Intertextualität den der Transtextualität, der sich wiederum aus Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Hypertextualität und Architextualität zusammensetzt21; die Aufsätze in Dialogizität berufen sich explizit auf Bachtins »Ästhetik des Wortes«22 und lehnen dabei den von Kristeva geprägten Begriff der Intertextualität als "Verkürzung" von Bachtins Dialogizität ab23; in dem Band Intertextualität wird ein systematischer Überblick zum Thema gegeben, um die Theorie in ihrer umfassenden Dimension zu fassen. Der letztgenannte Reader wird wegen seiner thematischen Geschlossenheit und Systematik am häufigsten in dieser Arbeit konsultiert werden, da er für die Untersuchung der Murauschen »literarischen Realitätenvermittlung«, die eines theoretischen Gerüstes bedarf, am zweckdienlichsten ist.

Der Komplexität der Theorien wegen wird im folgenden eine Auffächerung in die die Auslöschung tatsächlich tangierenden Punkte, die für den Vergleich im Hauptteil nützlich werden, vorgenommen: Erwähnung werden die Themenkreise, Formen, Markierung, Bezugsfelder, Skalierung und Autor-Autoreflexivität finden. Ein kurzer Überblick zur literartheoretischen Entstehung der Intertextualität soll den geschichtlichen Ort ihrer Begründer umreißen und somit eine Einführung in die grundsätzliche Problematik geben.

Geschichte

Jeder einzelne Text hat Vorgänger- und Folge-Texte, d.h. er repräsentiert einen Zwischen-Text in der Diachronie der poetischen Evolution.24

 

Julia Kristeva prägte den Terminus in den sechziger Jahren mit explizitem Rückgriff auf Michail Bachtins Begriff der »Dialogizität«. Bachtin kritisierte die Erstarrung der postrevolutionären Kulturpolitik in der Sowjetunion und setzte dieser »Monologizität« seine Theorie der »Dialogizität« entgegen. Bachtins Konzept bezieht sich auf den Dialog der Stimmen innerhalb der Sprache, der Kunst und der Gesellschaft:

 

Außer der vom Wortkünstler vorgefundenen Wirklichkeit von Erkennen und Handeln wird von ihm auch die Literatur vorgefunden: es gilt, gegen oder für alte literarische Formen zu kämpfen, sie sind zu benutzen oder zu kombinieren, ihr Widerstand ist zu überwinden oder in ihnen ist Unterstützung zu suchen. Doch all dieser Bewegung und diesem Kampf im Rahmen des rein literarischen Kontextes liegt der wesentlichere, bestimmende primäre Kampf mit der Wirklichkeit von Erkennen und Handeln zugrunde […].25

 

Die Polarität von Affirmation und Destruktion ist in der Theorie der Intertextualität oftmals die Achse, um die sich die Diskussion dreht. Die Sprengkraft gegen die bürgerliche Ideologie war eines der faszinierendsten Momente der Bachtinschen »Dialogizität« für Kristeva, die den Begriff der Intertextualität folgendermaßen in die Literaturdebatte einführte:

 

[…] tout texte se construit comme mosaique de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte. A la place de la notion d’intersubjectivité s’installe celle d’intertextualité, et le langage poétique se lit, au moins, comme double. 26

 

Dieser "andere Text" ist jedoch ein Universum von Texten, wobei der Textbegriff selbst so entgrenzt wird, daß jedes kulturelle System, also auch Geschichte und Gesellschaft, Text sein soll. Die Tötung des Subjekts, das hinter dem Text verschwindet, ist die Antwort des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus auf den bürgerlichen Begriff eines autonomen und intentionalen Individuums. Diese Zuspitzung der Bachtinschen Gedanken markiert zwar in der Literaturtheorie eine neue Dimension der Rezeptionsästhetik, ist aber nur die bereitgestellte Terminologie für früher gewonnene Einsichten. Jorge Luis Borges, der »Vater der Postmoderne«, formulierte bereits in den dreißiger Jahren in seinen Fiktionen wiederholt die Vormacht des Textes über seinen Autor. In der Erzählung »Die Bibliothek von Babel« setzt er die Bibliothek und das Universum gleich und gelangt zu folgender Konklusion:

 

Die Gewißheit, daß alles geschrieben ist, macht uns zunichte oder zu Phantasmen.

[…]

Die Bibliothek ist unbegrenzt und zyklisch. Wenn ein ewiger Wanderer sie in irgendeiner beliebigen Richtung durchmäße, so würde er nach Jahrhunderten feststellen, daß dieselben Bände in derselben Ordnung wiederkehren (die, wiederholt, eine Ordnung wäre: Die Ordnung).27

 

Dieser entgrenzte, unendliche Begriff des Textes zeichnete den Intertextualitäts-Diskurs der späten sechziger und siebziger Jahre aus, in dem jeder Text dem Universaltext angehört, der mit der Wirklichkeit und der Geschichte zusammenfällt. In der Folge wurde versucht, den Begriff enger zu fassen, unter den sich nicht jeder Text in einem regressus ad infinitum subsumieren läßt.

Wie weit Bernhards Auslöschung von einer nicht geglückten Subjektwerdung erzählt und dies poetologisch mit der Form des Romans verknüpft, wird im konkreten Textvergleich im Hauptteil überlegt werden.

Nach diesem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Intertextualität soll im folgenden das theoretische Instrumentarium bereitgestellt werden, das zur Dechiffrierung der Beziehung der Auslöschung zu dem genannten Kanon an Prätexten beitragen soll.

Fokussierung der Intertextualtätstheorie auf die Auslöschung

Und ein Buch soll ja sein wie ein Kreuzworträtsel.

       (Thomas Bernhard 1986)28

 

In der Auslöschung werden 49 Autoren und 22 Werke genannt; allgemeine Verweise auf deutsche, französische, englische, russische, italienische und spanische Literatur wie offene oder verdeckte Zitate, Anspielungen, Paraphrasen und Parodien durchziehen das gesamte Romangefüge. Diese quantitative Nennung besagt noch nichts über den qualitativen Wert dieser Texte und Autoren für die Auslöschung. Die Forschungsliteratur hat gerade wegen dieses overkills von vornherein eine genaue Untersuchung dieser Literaturzitate vermieden, da die Identität eines "haßerfüllten" und "gescheiterten" Murau mit der manischen, inhaltslosen Beschwörung von »Alten Meistern« und »Großen Geistern« bestätigt wird:

Jede intertextuelle Verbindung wird geleugnet bei Juliane Vogel, für die die Zitate ein "Wechselspiel zwischen Deklamation und Gestik", und ein leeres "name-dropping" sind. Letztendlich behauptet sie, daß eine "erläuternde Geste des Hofmeisters und dem Bildungserleben Muraus […] nicht hergestellt"29 werde.

Für Hermann Korte sind "die immer wieder in den Roman eingestreuten Lektürehinweise, etwa auf Werke Jean Pauls, Kafkas, Brochs, Fontanes und Bernhards selbst […] bloße Zitate einer längst obsoleten literarischen Praxis."30

Andreas Gößling weist auf bestimmte literarische Zusammenhänge hin, wie auf die Murausche Beschwörung der "idealistisch-romantischen Epoche"31 mit Autoren wie Jean Paul, Novalis, Schopenhauer, Kant, Hegel und Heine, wobei nur eine Verbindung zu Novalis’ Heinrich von Ofterdingen ansatzweise hergestellt wird. Letztendlich reicht auch für Gößling die literarische Realitätenvermittlung nicht über den musealen Aspekt eines Bibliothekars hinaus:

 

Der fiktive wie der reale Autor sind sich des literarhistorischen Zitatcharakters und folglich der Geschichtlichkeit der beschworenen Subjektivität bewußt und damit letztlich gegen die Versuchung gefeit, als museale Kulissenwelt zu restaurieren, was sich qualitativer Vergegenwärtigung über die geschichtlichen Brüche hinweg entzieht.32

 

Josef Quack meint, daß es sich bei den "verehrten Autoritäten" Descartes, Voltaire, Kant, Jean Paul und Kafka, die Murau nennt, nicht "um eine renomistische Aufzählung von Berühmtheiten handle", denn im einzelnen lassen sich doch "sachliche Bezugspunkte aufspüren, warum gerade diese Namen angeführt werden." Allerdings wird dies nicht durch Belege verifiziert, hingegen behauptet, daß der Bezug zu Schopenhauer "keine Rätsel" aufgebe, weil "der Erzähler die ethische Auffassung des Philosophen in der Hauptsache [sic!]"33 teile.

Oliver Jahraus betont, im "Rahmen dieser Arbeit kann der Frage, inwieweit diese Referenzen auf andere Werke für das eigene Werk oder den speziellen Text funktionalisiert werden, nicht nachgegangen werden." Paradoxerweise behauptet er anschließend, daß "die Häufigkeit dieser Form der Zitate als Namensgebung oder als Motto [festzuhalten sei], ohne daß im Text eine Auseinandersetzung mit den Autoren im Sinne einer expliziten Reflexion oder Interpretation stattfinden würde."34 In seiner zweiten Arbeit zu Thomas Bernhard gibt der Autor im Überflug eine Art Konkordanz zum Bernhardschen Œuvre heraus, welche die intertextuellen Bezüge in der Auslöschung zwar nicht mehr leugnet, jedoch nur ansatzweise herstellt.35

Ingeborg Hoesterey gibt in ihrer Untersuchung »Postmoderner Blick auf österreichische Autoren«, in der Bernhard bereits im Titel unter die Postmoderne subsumiert wird, einen konkreten Ratschlag zu einer intertextuellen Lektüre vor:

 

Auch Thomas Bernhard verweist in zahlreichen seiner Dramen wie auch Prosaarbeiten auf den intertextuellen Status von Schreiben heute, bzw. auf das intensivere Bewußtsein zeitgenössischer Autoren hinsichtlich ihrer Bedingtheit durch die Tradition ihres Mediums. Als besonders prononciertes Beispiel hierfür sei der Beginn von Bernhards Auslöschung. Ein Zerfall (1986) genannt, wo der Autor seinen Ich-Erzähler einen literarischen Kanon zwecks Beherzigung durch seinen Schüler entwerfen läßt, eine ebenso ernstzunehmende wie spöttisch-paradostische Reflexion auf das Lesen des Schreibens.36

 

Die Autorin gibt zwar die Andeutung, daß es sich um "ernstzunehmende" Reflexionen handeln könne, die sie aber nicht ausführt.

Intertextuelle Bezüge in der Auslöschung werden also entweder geleugnet oder nicht hergestellt, desungeachtet, daß einige Interpreten das Bernhardsche Werk bis zur Auslöschung mit einzelnen Autoren wie Schopenhauer37, Kierkegaard38, Heidegger39, Pascal40, Novalis41, Stifter42, Beckett43, Wittgenstein44, Kafka45 u.a. kontrastierten.

Dieser Untersuchung liegt die Ansicht zugrunde, daß das Bernhardsche Œuvre im allgemeinen und die Auslöschung im besonderen sich einer klaren Subsumierung unter einen einzigen Autor entziehen: Bernhard komponiert polyphon, ganz im Sinne Roland Barthes’:

 

[…] der Inter-Text ist nicht unbedingt ein Feld von Einflüssen; vielmehr eine Musik von Figuren, Metaphern, Wort-Gedanken; es ist der Signfikant als Sirene.46

 

Diese Definition trifft Bernhards musikalisches Verfahren, das im Novalis-Kapitel unter sprachlichen Aspekten untersucht werden wird, als formales Prinzip der Intertextualität. Dieses schwebende Verfahren statuiert kein klar umrissenes intertextuelles Feld, das dechiffriert werden muß, sondern einen nonchalanten Dialog mit Autoren und Werken.

Formen

In dieser Untersuchung wird der dekonstruktivistische und postmoderne Ansatz eines universalen Intertextes abgelehnt; das soll nicht bedeuten, daß nicht auch der Gedanke einer »Bibliothek von Babel« bei Bernhards literarischen Unternehmungen mitschwingt, jedoch ist dieser Ansatz untauglich, um im Konkreten tiefere Schichten eines Textes bloßzulegen:

 

Denn wenn die Individualität und Subjektivität des Autors als intentionale Instanz zum bloßen Medium herabsinkt, dessen sich das universelle Spiel intertextueller Referenzen undifferenziert bedient, wenn auch die Instanz des Lesers ihre klare Identität verliert und stattdessen aufgeht in der Pluralität eines universellen Intertextes, und wenn schließlich auch der Text sich entgrenzt zu einer Momentaufnahme in einem Universum der Texte, einem Kontinuum der pluralen Codes, bei denen selbst die elementare Verbindung von Signifikant und Siginfikat nicht mehr trägt, dann wird in gleichem Maße auch die Frage nach der Funktion entgrenzt und zunehmend gegenstandslos.47

 

Der Begriff des Textes wird auf einen literarischen eingeschränkt48; diese Subkategorisierung gilt nicht nur für die Auslöschung, die eindeutig dem Genre der sogenannten »Belletristik« zuzuordnen ist, sondern auch für die Prätexte. Muraus Selbsteinschätzung eines "literarischen Realitätenvermittlers" impliziert bereits eine solche Einengung des Terminus.

Außerdem werden nur die im Roman erwähnten Autoren und Werke betrachtet, denn eine intertextuelle Arbeit darf "kein Freibrief für beliebige Assoziationen des Rezipienten"49 sein.

Diese Abgrenzungen sollen dem Text als Intertext am gerechtesten werden, damit einerseits das Sinnpotential der vergleichenden Prätexte voll auszuschöpfen, andererseits den Text nicht unnötig aufzublähen.

Markierung

Die Autoren und Werke benennt Murau so kategorisch und offen, daß viele Exegeten gerade dieser Direktheit wegen auf eine fundamentale Nichtigkeit und eine bloße Nennung schließen.

Die Werke werden kursiv dargestellt, die Autoren werden hingegen nicht durch einen solchen "graphemischen Indikator"50 gekennzeichnet. Die Bedeutung dieser Kursivierungen ist allerdings bei der verschwenderischen Handhabung dieser Art der Hervorhebung in Bernhards Schriften gering51; zudem gehören die genannten Werke fast ausschließlich dem etablierten, klassischen Textkanon an, der einem breiten Lesepublikum bekannt ist, so daß selbst diese Betonung von minimaler Relevanz ist.

Die Markierung der inhaltlichen Bezüge ist versteckter, wobei diese bei Kenntnis der zitierten Texte ein beachtliches Sinnpotential enthalten, das vom Rezipienten aufgefüllt werden muß. Daß dies von Bernhard intendiert ist, belegt gerade das fein gesponnene Netz subtiler Erweiterungen seines Romans durch Verweise auf ausgewählte Werke und Autoren. Bernhard führt den Leser nicht an der Hand durch seinen Roman, sondern verläßt sich auf die literarische Bildung52 und Autonomie des Rezipienten, der die Bezüge selbst herstellen muß. Die Leerstellen, die jeder Leser anders füllt, führen von einer hermeneutischen Lektüre weg und leiten zu einem subjektiven Lesen hin.53

Bezugsfelder

In der Auslöschung werden auf der einen Seite Autoren nebst einem Werk genannt, auf der anderen Seite beschränkt Murau sich auf bloße Nennung bzw. Aufzählung von Schriftstellern.

Wird das Werk nicht direkt zum Thema, so handelt es sich um eine Systemreferenz. Die in der Auslöschung vorliegenden Systeme sind gattungsspezifisch und epochal begründet. Die häufige Erwähnung französischer Philosophen und Literaten der Aufklärung oder der Prosastilisten der französischen und russischen Erzähltradition des 19. Jahrhundert sind eindeutig systemreferent, denn inhaltlich bestimmte Erfahrungen und Erkenntnisse der Zeit der Aufklärung, wie poetologische Verfahren der Romankunst des 19. Jahrhundert werden mit Muraus Innen- und Außenleben verknüpft und konfrontiert.

Wird das Werk genannt, so handelt es sich um eine Einzeltextreferenz. Eine intertextuelle Aufarbeitung bezieht sich in diesem Fall nicht nur auf die Epoche, den literarhistorischen Kontext des Autors oder der Gattung, sondern auf das Werk en detail. Thematische Bereiche wie z.B. die Anarchie oder die Poetikreflexion werden so in ihrer Bedeutung für die Auslöschung erweitert, indem z. B. Titel wie Brochs Esch oder die Anarchie und Kropotkins Memoiren eines Revolutionärs oder Jean Pauls Siebenkäs und Paveses Handwerk des Lebens genannt werden. Daß diese Werke an signifikanten Stellen innerhalb des Romans eingebracht werden, erhöht den Grad des intertextuellen Bezugs.

Ein drittes Bezugsfeld ist eher untypisch in der Intertextualitätsdebatte: die Biographie des Autors. Bernhard hat in seinen Schriften und Reden nicht nur politische Mißstände und deren Verursacher namentlich angeklagt und brüskiert (z.B. den Alt-Nazi Filbinger in Vor dem Ruhestand, 1979, oder den österreichischen Finanzminister in »Vranitzky. Eine Erwiderung«, 1985), sondern auch unliebsame Künstler angegriffen. Die Heidegger-Beschimpfungen in Alte Meister setzten in ihrem Einfallsreichtum und ihrer Komik Maßstäbe, die allenfalls noch von der Goethe-Polemik in Auslöschung erreicht werden.

Die biographischen Projektionsfelder aller Autoren in dieser Untersuchung müssen beachtet werden, da Murau als Bernhards fiktiver Autor eine ausgesprochen persönliche Literaturgeschichte schreibt. Unter der scheinbaren Oberflächenstruktur dieser Biographeme werden substantielle Muster sichtbar, wie z.B. die Krankheitsanfälligkeit des Künstlers und seine daraus resultierende Geistigkeit et vice versa.

Skalierung

Manfred Pfister schlägt ein Modell der Skalierung von Intertextualität vor, in dem er zwischen sechs qualitativen und zwei quantitativen Kriterien der Skalierung unterscheidet.

Hinsichtlich der quantitativen Kriterien ist die Auslöschung hochgradig intertextuell. Sowohl die Zahl und Streubreite der ins Spiel gebrachten Prätexte als auch die Dichte und Häufigkeit der intertextuellen Bezüge ist immens, was einerseits bereits summarisch belegt wurde, andererseits durch die tatsächlichen Bezüge im Hauptteil gezeigt werden wird.

Die qualitativen Kriterien schlüsselt Pfister auf in: Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizität. Ein weiteres, in dem Modell Pfister nicht enthaltenes Kriterium, soll noch hinzugefügt werden, denn bei der Fülle an zu untersuchender Literatur muß auch die »Interprätextualität« betrachtet werden:

 

Gerade in intertextuell besonders dichten Texten ist die Frage, inwieweit sich die herangezogenen Prätexte gegenseitig perspektivisch brechen und relativieren, besonders relevant.54

 

Die Betrachtung dieser konterkarierenden Elemente innerhalb des literarischen Diskurses in der Auslöschung wird den Abschluß der intertextuellen Analyse bilden.

An dieser Stelle bereits eine grobe Einordnung des Grades der intertextuellen Intensität der Auslöschung darzustellen, wäre ein verdrehtes Verfahren; jedoch sollen diese Kriterien im Hauptteil bei der jeweiligen intertextuellen Referenz als Folie benutzt werden, um am Ende der Untersuchung – als intertextuelles Fazit – gebündelt betrachtet zu werden.

Autor-Autoreflexivität

Wie bereits im Kapitel »Zeitliche Einordnung« gezeigt wurde, gibt es einige Parallelen zwischen der Auslöschung und Bernhards letztem Band seiner Autobiographie Ein Kind. Daß Bernhards Kindheits-Tetralogie biographische Ungenauigkeiten und bewußte fiktionale Ausschmückungen enthält, ist mittlerweile evident55. Bernhard leugnete dies nie, denn "[l]etzten Endes kommt es nur auf den Wahrheitsgehalt der Lüge an" (Ke 33), bekennt er in Der Keller (1976). Bernhard läßt seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen oftmals unverdeckt in seine Schriften einfließen, so daß viele der wesentlichen Figuren in seinem Werk zwar nicht Selbstcharakterisierungen Bernhards sind, aber dennoch solche enthalten. Diese Ich-Konstruktionen sind zwar nie Bernhard – selbst in den Autobiographien nicht -, aber sprechen, denken und reflektieren die »Realität« in verwandter Weise wie er.56 Dieser Sachverhalt illustriert, wie autobiographisch selbst Bernhards fiktionale Literaturprodukte sind, also seine Erzählungen, Romane und Stücke. Eine Identität von Bernhard und seinen Figuren dahinter zu vermuten, entspräche nicht dem fiktionalen und künstlichen Eigenwert seines Werkes, jedoch besitzen die Protagonisten im Bernhardschen Œuvre viele Züge ihres Schöpfers. Die Bernhard-Kritikerin Sigrid Löffler insistiert nachdrücklich auf der Relation zwischen dem Autor Thomas Bernhard und der Figur Franz-Josef Murau:

 

Jedenfalls sollte man, wenn man Bernhard schon liest, hinter all dem Gefasel, Geschwätz und Gefuchtel nach dem wahren Thomas Bernhard suchen – das ist ein vor Selbstekel und Selbstmitleid heulender, ganz kleinlauter Wicht, der mitten im Buch hockt, dort wo alle Aufplusterungen nichts mehr helfen.57

 

Diese vehemente Äußerung – Murau selbst erklärt, daß der "Übertreibungsfanatismus nämlich zur Übertreibungskunst" (A 611) wird – trifft in ihrem Kern den Roman in seinem tiefsten Inneren, denn Bernhard sitzt tatsächlich mitten in seinem Buch.

Wenn Murau Gambetti auch "Amras von Thomas Bernhard" (A 7) zur Lektüre gibt, ist dies nicht nur ein eitler und ironischer Verweis Bernhards, in das Pantheon der Weltliteratur eingeschlossen zu sein, sondern auch der Hinweis, den intertextuellen Zusammenhang zwischen dem frühen Amras und der späten Auslöschung zu dechiffrieren. Pointiert bedeutete dies, daß er sein Erzählwerk auch in Bezug zu der Auslöschung setzt. Die Autoreflexivität Bernhards scheint nicht nur in der Wiederkehr thematischer, sondern auch formaler und stilistischer Merkmale auf. Den ständigen, topoihaften Wiederholungen in Bernhards Werk spricht Huntemann "selbstparodistische Züge" zu, woraus er folgert:

 

Für die Rezeption und Beurteilung eines späten Textes wie »Auslöschung« ist es daher nicht unerheblich, ob er für sich allein oder vor dem Hintergrund des bisherigen Erzählwerks gelesen wird, was ihn weitgehend als Ansammlung von Selbstzitaten erscheinen ließe.58

 

Murau, der sich der Literatur "verschrieben" (A 609) hat – und dies ist einmalig in Bernhards Werk, daß der Protagonist sich primär mit Literatur beschäftigt -, erweist auch dem Schriftsteller Thomas Bernhard Reverenz. Die Genese der Auslöschung aus Bernhards literarischem Vorleben, die Murau als einen in dieser Bernhardschen Erzähltradition stehenden und sich dessen bewußten Protagonisten wählt, vermag nicht nur die Auslöschung, sondern das gesamte Bernhardsche Œuvre zu reflektieren. Ulrich Suerbaum stellt die Hypothese einer Reihe auf – in Bezug auf Poes Murders of the Rue Morgue zu Conan Doyles Sherlock Holmes -, die sich auch auf eigene Texte beziehen kann:

 

Bei der linearen Intertextualität spielen die Bezüge auf andere Werke der eigenen, dem Autor zugehörigen Reihe eine wichtige Rolle, mitunter eine wichtigere als übergreifende Bezugsnahmen. »Genre begins at home«.59