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ISBN 978-3-8280-3458-7

Auch als E-Book erhältlich (ISBN 978-3-8280-3458-7).

1. Auflage 2018

Bildnachweis: Autorenfoto: Andrzej Nyga;

Coverfoto: Corinne Holthuizen-Habermann

Sämtliche Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Inhalt

Frühlingsanfang

„Morgen ist der 21. März. Besorge ein stimmungsvolles Frühlingsbild für die Titelseite“, sagte Peter Lauer, Chefredakteur des »Badener Tagblatts«, zur Volontärin Rita Frei. Mit 38 Jahren galt sie als spät berufen im Kollegenkreis. Vier Monate überließ sie Mann und ihre drei Kinder der Fürsorge einer älteren Freundin, um ihren Traum zu realisieren: journalistisch tätig zu sein.

Neben Einfühlungsvermögen und der Fähigkeit, etwas lesergerecht darzustellen, bringe sie auch Ideen mit, hatte der Chef ihre Anstellung gegenüber dem Team begründet. „Nimm die Kamera mit und fang an“, wendete er sich zwinkernd Rita zu.

Sinnend sah sie aus dem Fenster. Bei dem Wort „Frühling“ fiel ihr Liebe ein. Schon bei dem alten Ohrwurm „Ein Lied geht um die Welt“ singt der Tenor mit Inbrunst: „Wer hat noch nie vom Glück geträumt, wenn der Winter Abschied nahm, wer hat noch nie verliebt gereimt, immer wenn der Frühling kam.

Denn in uns allen blüht die Sehnsucht nach dem einen, von dem wir meinen, es wär’ das Glück.“ – In uns allen, dachte Rita.

Kein Sonnenstrahl durchdrang die graue Wolkendecke. Die Natur blieb dem Datum um Wochen hinterher. Was soll’s, sie musste ein Frühlingssujet finden, schlüpfte in den Mantel, schlug den Kragen hoch und ging geradewegs ins Badener Römerquartier. In den geschützten Vorgärten hoffte sie fündig zu werden. Schneeglöckchen und Krokusse setzten optimistische Akzente. Ein Symbol, das Rita abgegriffen fand, zu schwach für den verheißungsvollen Frühlingsanfang.

Sie ging zur Limmat-Promenade hinunter, sie war zuversichtlich, ein schmusendes Pärchen diskret ins Bild setzen zu können. Auf dem Pfade Amors, weitab der City, machten Teenies ihre ersten Flirtversuche, trotz des kühlen Wetters. Ich setze selbst ein Liebespaar in Szene, beschloss Rita. Einen Mann zu bitten, für das Titelbild der Tageszeitung kurz in die Rolle des Liebenden zu schlüpfen, müsste doch verlockend sein.

Vom nahen Kirchturm schlug es zwölf. Auf dem Weg zum Mittagessen nahm der Menschenstrom zu. Voller Elan suchte Rita nach Gesichtern, die zu ihrem Vorhaben passend sein könnten. Doch sie spürte, wie ihr Mut sie zu verlassen drohte. Sie wollte ihre Balance wiederfinden und kehrte im Café Himmel ein.

Am hintersten Tisch saß René Aschwanden, 26 Jahre jung und Gerichtsberichterstatter. Seine ruhige dunkle Stimme und das sonore Lachen waren ihr vom Nebenbüro der Redaktion vertraut. Gesprochen hatte sie noch nicht mit ihm.

Rita ging auf ihn zu, erzählte ihm ihre Not, ein Frühlingsbild für die Ausgabe am nächsten Tag zu schießen. Sie erzählte ihm von der Idee, ein Liebespaar in Szene zu setzen. Jetzt habe sie der Mut verlassen, einen geeigneten Mann anzusprechen.

Schalk blitzte aus Renés braunen Augen. „Komm“, sagte er, „ich helfe dir.“ Er rief die Kellnerin und zahlte.

Schnurstracks eilten sie zum Kurpark, entdeckten eine lauschige Bank vor immergrünen Sträuchern, aus denen der weiße Stamm einer Birke gen Himmel ragte. René befestigte die Kamera in einer Astgabel, stellte den Selbstauslöser ein und lief in Ritas ausgebreitete Arme. Sie umschlang seine Schultern. Die Köpfe gegeneinandergelehnt, hielten sie den Atem an, konzentriert auf das Surren des Selbstauslösers.

„Mehr Fotos vergrössern die Auswahl“, sagte René.

Um die Frühlingsgefühle zu verstärken, zogen sie die Mäntel aus, um dichter aneinanderzurücken. René ging zur Kamera, stellte den Selbstauslöser ein, rannte zurück in die arrangierte Pose.

Passanten kamen des Weges, verlangsamten neugierig den Schritt, schauten schmunzelnd zurück.

Sich der Komik ihrer Situation bewusst, mussten Rita und René lachen. Der Spurt zum Selbstauslöser, der Rückflug in die lockenden Arme machten zunehmend Spass.

„Eine der vielen Aufnahmen eignet sich bestimmt als Aufhänger in der morgigen Ausgabe“, fand Rita.

„Für alle Fälle machen wir noch ein letztes Bild“, bestimmte René. Er drückte auf den Selbstauslöser, lief zur Bank, schmiegte sich fest an Rita, umschlang sie innig und küsste sie. Zart.

Tausend Schneeglöckchen begannen zu läuten. Tausend Sekunden lang.

Am nächsten Morgen schlugen die Leser die Zeitung auf, lächelten einander zu und sagten: „Hast du’s gesehen? Endlich Frühling!“

Taxifahrt in Berlin

Ausser Atem überquerte Kira am Adenauer Platz den Ku’damm. Zu spät. Der Bus fuhr ab. – „Hallo Taxi! Können Sie bis 12 Uhr in Zehlendorf sein?“ – Der Fahrer, Typ Brummi, schaute auf seine Armbanduhr. „Vierzehn Minuten, det schaffen wir.“ Mit überraschendem Elan zwängte er seine 130 Kilo hinter dem Steuerrad hervor und öffnete mit Grandezza den Wagenschlag. Erleichtert liess sich Kira in den Fond fallen. Der glatzköpfige Chauffeur gab Gas, schaltete in den zweiten, dritten, vierten Gang. – „Wohin wollen Sie denn?“ – „Zum Kindergarten in der Gartenstrasse.“ – Verwundert schaute er Kira im Rückspiegel an. – „Is wat passiert?“, fragte er teilnahmsvoll. – „Nein. Ich komme aus Zürich und möchte mein Enkelkind überraschen.“

Die blauen Augen des Dicken verengten sich zu einem Schlitz und beobachteten sie skeptisch. – „Na ja, det muss och sein.“

Stille breitete sich aus. In Kiras Vorfreude drang nur das Geräusch vorbeisausender Reifen auf dem regennassen Asphalt.

Plötzlich drosselte der Taxifahrer das Tempo und hielt an. „Einen kleinen Moment, ick muss mal kurz telefonieren.“ Mit verstellter, sonorer Stimme meldete er sich in der Taxizentrale: „Hallo, hier Kiepke, Nummer sechs. Ick bin jerade in de Hubertusallee, fahre durch den Grunewald über die Clayallee nach Zehlendorf. Soll ick hier jemanden mitnehmen?“

Am anderen Ende keifte eine Frau: „Det hätt ick Ihnen schon durchgegeben!“, und legte auf.

„So ’ne süsse Schnückelmaus!“, flüsterte der Taxifahrer und presste das Handy vor die linke Brust.

„Offenbar weiss sie das nicht“, sagte Kira auf der Hinterbank.

„Bevor ick den Dienst antrete, gehe ich jeden Tag bei ihr vorbei. Aber die kiekt mir nicht mal an, will nicht das Geringste von mir wissen. Ick frag mir oft, wo haben die Frauen denn die feinen Antennen? Mit mir steht keene in Funkkontakt. Ick bin doch nicht so übel, oder?“, fragte er rückwärts über die Schulter schauend.

„Sie müssen Geduld haben. Die Frau, die für Sie bestimmt ist, existiert bereits. Nur sind Sie ihr noch nicht begegnet“, versicherte Kira.

Gleich einem Heissluftballon strömte es aus dem Taxifahrer heraus: „Sich selbst verwirklichen wollen die alle. Ick kann det Wort nich mehr hören. Von meiner Ex hab ick mir deswegen getrennt. Natürlich in aller Freundschaft! Und wat hat sie nu davon? Fällt abends erschöpft ins Bett, hat keene Puste mehr zu knuddeln. – Schön könntes ’ne Frau bei mir haben. Ick kann ihr wat bieten. Einen Taxi-Betrieb mit vier Wagen soll ich übernehmen. Mir fehlt eene, die den Bürokram erledigt. Irgendwat muss man doch erwarten können. – Eene mit Kindern würde ick nehmen. Ick liebe Kinder. Die sollen es bei mir jut haben.“

„Haben Sie es schon mal mit einem Inserat versucht?“, insistierte Kira. „Darin können Sie Ihre Wünsche bereits anmelden.“

„Ne, ne, det is mir zu riskant. Zwei Kollegen sorgen bereits für mich. Eener in München, eener in Tirol. Die Mädels dort unten jefallen mir. Die haben Holz vor der Hütte und wat auf de Hüften. Det passt zu mir. Ick bin ja auch kein Leichtgewicht. Letzten Monat hat es beinah jeklappt. Eine Woche bin ick bei den Bayuwaren (Bayern) jewesen, habe mit eener geschwoft und jelacht. – Beim Abschied sagt die Süsse: ‚Berlin ist nicht meine Stadt, da könnte ich nie leben.‘ Und in Tirol meinte ’ne Brünette nach stürmischer Nacht: ‚Schade, aber du bist einfach nicht mein Typ.‘“

„Unter sieben Milliarden Menschen muss es doch eine geben, für die Sie der Richtige sind“, sagte Kira zuversichtlich.

Er horchte auf. „Det leuchtet mir ein. Det macht mir Mut.“

Punkt 12 Uhr stoppte der weisse Mercedes in Zehlendorf an der Gartenstraße vor dem Kindergarten. Die Eingangstür war noch geschlossen. – „28 Euro“, forderte der Taxifahrer, reichte Kira die Hand zum Wagen heraus, schaute sie von oben bis unten an: „So ’ne Oma hätt ick och jerne jehabt, hätt ick heut noch jern“, doppelte er nach.

„Omi!“, drang der ersehnte Freudenschrei an Kiras Ohr. Mit weit geöffneten Armen stürzte ihr Maurice entgegen.

„Die Konkurrenz ist jross“, seufzte der Taxichauffeur.

„Ein Meter fünfzehn“, sagte Kira stolz und ging mit ihrem Traummann davon.

Auferstehung

„Es ist etwas Furchtbares passiert“, flüsterte Werner ins Telefon. „Ich bin entlassen worden!“ – „Entlassen? Warum denn?“, fragte Karin, seine Frau, erstaunt und gleichzeitig erleichtert, dass es sich nicht um einen Todesfall handelte.

„Als Gründe hatte Verwaltungsratspräsident Kurt Lampert genannt, dass die Umsatzzahlen nach unten zeigen. Das Personal sei mit mir unzufrieden, der Verwaltungsrat habe kein Vertrauen mehr zu mir.“

„Nachdem du beim europäischen Vergleich im letzten Geschäftsbericht vom Stammhaus gelobt wurdest? Die Umsatzzahlen gegenüber Frankreich und Österreich ersichtlich sind und die Vertrauensumfrage beim Personal ein überdurchschnittliches Resultat ergab?“, erwiderte Karin. „Das ist wieder so ein cholerischer Ausbruch von Lampert, für den er sich morgen entschuldigen wird. Komm nach Hause, morgen sieht alles anders aus“, beteuerte sie. – „Ich muss noch heute alles zusammenpacken“, sagte Werner mit versagender Stimme und hängte auf.

Karin presste die Stirn gegen das kühle Fensterglas. Entlassen! Das konnte nicht sein. Vor 18 Jahren war Werner in die Firma eingetreten. Aus dem Nichts hatte er die Sparte Laborarmaturen aufgebaut.

Vom Vertreter zum Abteilungs- und Verkaufsleiter stieg er die Erfolgsleiter hoch bis zum Direktor von 80 Angestellten. Neben finanziellem Erfolg gab er dem vormals spartanischen Unternehmen zu ihrem Stolz einen sozialen Touch. Zwei vor der Pensionierung stehende Mitarbeiter beglückte er mit einer Rentenaufbesserung. Edi Müller, dessen Frau an Brustkrebs litt, gewährte er Freiraum, damit dieser ihr vermehrt zur Seite stehen konnte. Weil ein gutes Betriebsklima die Arbeitsmoral hebt, gründete Werner „Kultur in der AFS“. Einmal im Monat erhielten Männer und Frauen aus Werkstatt und Büro in einer Randstunde Gelegenheit, ihre Hobbys vorzustellen. Bei Weisswein und Kanapees erlebte die Belegschaft anhand von Diavortrag und Geräten, wie „Mineraliensuche in den Alpen“ verläuft oder ein „Trekking im Himalaja“. Im Foyer der Firma stellte Buchhaltungschef Peter Galani Aquarelle aus. Der Start sollte zu einem Bekanntheitsgrad über die Firma hinaus in die Region Zürich führen.

All diese Menschen lassen Werner nicht im Stich, war Karin überzeugt. Sie werden bei Kurt Lampert Partei für ihren Chef ergreifen.