Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil 3

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Nachtrag

Für Liam und Calum

Vorwort

Dieses Buch berichtet über Ereignisse, die manchem Leser seltsam, wenn nicht gar unglaubhaft, erscheinen werden. Das verstehe ich. Denn abgesehen davon, dass sich die Helden wie selbstverständlich durch Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bewegen, widersprechen einige ihrer Abenteuer den Naturgesetzen, die man uns in der Schule eingetrichtert hat. Kritische Leser könnten mir deshalb vorwerfen, ich hätte die Wahrheit verbogen, um das Buch interessanter zu machen. Aber das stimmt nicht. Ich versichere hoch und heilig, dass alles, was ich hier niedergeschrieben habe, wirklich geschehen ist, und dass ich nichts anderes bezeuge als die pure Wahrheit.

Dieter Schultze-Zeu

Teil 1




Wir befinden uns im Sydney des Jahres 2042 und beobachten zwei Menschen, einen Mann und einen Schuljungen. Es handelt sich um den 45-jährigen Commander der intergalaktischen Raumflotte Liam D. und um David, den noch nicht ganz zwölfjährigen Sohn des Commanders.

Kapitel 1

Commander Liam D. und David sind nach Australien geflogen. Der Commander will David Sydney zeigen. David findet eine Kiste mit alten Büchern.

Es ist der 10. September des Jahres 2042, 17:00 Uhr. Commander Liam D. und David sind soeben in West Pennant Hills eingetroffen, einem kleinen hügeligen Vorort im Nordwesten von Sydney. Hier hat der Commander den größten Teil seiner Kindheit und Jugend verbracht. Damals war Sydney allerdings eine bunte lebenslustige Metropole, mit vielen Museen, Galerien, Parkanlagen, Alleen, Einkaufszentren, Sportplätzen, einem großen Hafen für Tanker, Container und Kreuzfahrtschiffe, einem der modernsten Opernhäuser, einem Hightech-Forschungszentrum und fast vier Millionen Einwohnern. Jetzt ist Sydney nur noch eine Geisterstadt. Grau, verrottet, ausgedörrt und menschenleer. Die fatale Folge des von uns Menschen leichtfertig verschuldeten globalen Klimawandels.

Der Commander trägt die elegante Uniform eines Offiziers der intergalaktischen Raumflotte. Darüber – Sydney ist radioaktiv verseucht – einen silberglänzenden Schutzanzug aus strahlenabwehrenden Fasern. Er ist etwa 1,85m groß, sportlich-schlank, hat dunkelblonde Haare mit graumelierten Schläfen, braune Augen und unter der Nase trägt er einen Schnurrbart.

David ist etwa 1,35m groß. Wie sein Vater ist er sportlich-schlank, hat dunkelblonde Haare und große braune Augen. Auch er trägt einen strahlenabwehrenden Schutzanzug.

David ist total glücklich. Mit seinem Vater nach Sydney reisen zu dürfen, war für ihn ein großes Geschenk, denn sein Vater hatte nur sehr selten Zeit für ihn. Als Chefpilot der Explorer XL 12 – dies ist das modernste Fluggerät der intergalaktischen Luftflotte – verbrachte der Commander nämlich weit mehr Zeit auf Kontrollflügen im Weltraum als mit seiner Familie in Berlin. Als David noch jünger war, hatte er sich hierüber manchmal beschwert, weil er sich von seinem Vater vernachlässigt fühlte. Dann hatte ihm der Commander aber erklärt, dass die Kontrollflüge unbedingt notwendig seien, wenn man rechtzeitig erkennen wolle, ob feindliche Aliens in das Sonnensystem eindringen und Kurs auf die Erde nehmen. Denn je eher man die Aliens entdecke, desto mehr Zeit habe man, sich gegen einen etwaigen Angriff vorzubereiten. Natürlich hatte David gefragt, woher man denn überhaupt wisse, dass es feindliche, für die Erde gefährliche Aliens gebe. Man wisse das zwar nicht genau, hatte der Commander geantwortet, aber weil man es auch nicht ausschließen könne, müsse man wachsam sein. Daraus schloss David, dass seinem Vater eine verdammt wichtige Aufgabe übertragen worden war. Wenn seine Schulfreunde wieder einmal erzählten, was sie mit ihren Vätern alles unternommen hatten, war er jetzt nicht mehr neidisch, sondern stolz. Denn er wusste, dass seine Freunde nur deshalb so oft mit ihren Vätern spielen konnten, weil sein Vater im Weltraum unterwegs war, um die Erde zu schützen. Manchmal prahlte er auch mit seinem wichtigen Vater. Und dann waren seine Freunde neidisch.

„Sieh doch!“, rief der Commander. „Da hinten ist das Haus, in dem ich früher gewohnt habe.“

Er zeigte auf eine baufällige Villa, die im verblassenden Sonnenlicht wie verwunschen vor sich hindöste.

Es war weit und breit das einzige Gebäude, das halbwegs unbeschädigt war. Sonst gab es nur ausgebrannte Ruinen. Und zwischen den Ruinen war nichts, was lebte. Kein Baum, kein Strauch, keine Blume, kein Grashalm, kein Vogel. Nur Sand, Steine und Gerümpel.

„Kaum zu glauben, dass ich hier viele Jahre gelebt habe“, dachte der Commander. Der Anblick seines total heruntergekommenen Elternhauses mit den kaputten, an leere Augenhöhlen erinnernden Fensterscheiben, machte ihn traurig.

„Kannst du dir vorstellen“, fragte er, „dass dies einmal einer der schönsten Villenvororte Sydneys war? Mit blühenden Gärten, Swimmingpools und und und.“

David konnte kaum etwas sehen, denn der durch die Ruinen fegende heiße Wüstenwind hatte ihm trotz des Schutzanzuges feinen salzigen Sand in die Augen geblasen. Er rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte er, „das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Wann war das denn?“

„Warte mal, lass mich nachdenken“, antwortete der Commander. „Ich war knapp zwölf, als wir von Berlin nach Sydney zogen. Das heißt, es war vor ca. 33 Jahren.“

„Und weshalb seid ihr nach Sydney gezogen?“

„Mein Dad bekam in Sydney einen gut bezahlten Job“, antwortete der Commander. „Außerdem war damals in Australien das Wetter viel schöner als in Deutschland.“

„Als du noch ein Kind warst“, fragte David weiter, „hattest du da eigentlich viele Freunde?“

„Wie kommst du denn jetzt darauf?“, fragte der Commander.

„Ich weiß nicht“, antwortete David, „das ist mir so eingefallen. Findest du nicht, dass Freunde sehr wichtig sind?“

„Da hast du recht“, antwortete der Commander, „gute Freunde sind verdammt wichtig. Sie sind aber sehr selten. Ich hatte eigentlich nur drei wirklich gute Freunde.“

„Und wie hießen die?“

„Denise, Nils und Ilay.“

„Komisch“, sagte David, „meine besten Freunde heißen auch Denise und Nils. Nur einen Ilay habe ich nicht. Wo sind deine Freunde heute?“

„Wo Nils und Denise abgeblieben sind, weiß ich nicht“, antwortete der Commander. „Die habe ich leider aus den Augen verloren, nachdem wir nach Australien ausgewandert waren.“

„Und Ilay?“

Der Commander schluckte. „Ilay ist im Weltraum verschollen“, sagte er bekümmert.

„Weshalb machst du denn plötzlich so ein trauriges Gesicht?“, fragte David.

„Ich bin traurig“, antwortete der Commander, „weil Ilay der letzte Jugendfreund aus meiner Berliner Kindheit war.“

„Bitte erzähle!“

„Als wir nach Australien auswanderten, blieb Ilay wie Denise und Nils in Berlin. Ich habe ihn aber später als Student wiedergetroffen. Wir studierten an der gleichen amerikanischen Uni Astrophysik und Raumfahrtkunde. Anschließend gingen wir gemeinsam zur Raumflotte, machten dort Karriere und wurden fast gleichzeitig mit der Führung eines Raumschiffes betraut. Ilay wurde Commander der Explorer XL 13 und ich Commander des XL 12. Seit unseres Studiums haben wir eigentlich alles gemeinsam gemacht, bis dass…“

Der Commander schluckte erneut und verstummte dann.

„Bis was?“, drängte David.

„Ja, bis dass Ilay im Weltraum verschwand.“

„Wie ist denn das passiert?“, fragte David. „Im Weltraum verschwindet man doch nicht so einfach.“

„Keine Frage, mein Sohn“, antwortete der Commander, „niemand verschwindet so mir nichts dir nichts im Weltraum. Das wäre ja schlimm. Aber du vergisst, dass Ilay wie ich Commander eines Raumschiffs ist. Vor einem Jahr startete er mit der Explorer XL 13 zu einem Routinekontrollflug in den Weltraum. Knapp fünf Stunden nach dem Start riss die Funkverbindung zu der Explorer XL 13 plötzlich ab, und wenig später verschwand die Explorer von allen Bildschirmen der Bodenleitstelle. Weshalb das geschah, ist bis heute unbekannt.“

„Heißt das etwa“, rief David. „dass Ilay mit der Explorer XL 13 seit einem Jahr völlig verlassen im Weltraum herumkreist? Das ist ja grauenhaft!“

„Grauenhaft ist gar kein Ausdruck“, antwortete der Commander. „Für mich ist das Allerschlimmste, dass Ilay damals in den Weltraum gestartet ist, nur weil er mir einen Gefallen tun wollte.“

„Wieso?“, fragte David verwundert.

„Eigentlich hatte die Weltraumbehörde die Explorer XL 12, also mich, für den Kontrollflug eingeteilt. Dann bekam aber deine Mami, du erinnerst dich vielleicht, eine so schwere Grippe, dass ich sie nicht alleine lassen wollte. Deshalb bat ich Ilay, für mich zu fliegen. Und diese Bitte hat er mir nicht abgeschlagen.“

David wurde kreidebleich.

„Du bist also nur deshalb hier bei mir und nicht im Weltraum verschollen, weil Mami krank war?“, fragte er stotternd.

„Ich befürchte ja“, antwortete der Commander bedrückt.

„Habt ihr denn nicht nach Ilay gesucht?“, fragte David.

„Was denkst du denn? Klar haben wir das gemacht“, antwortete der Commander, „aber leider nicht lange genug.“

„Nicht lange genug, was heißt das?“, fragte David.

„Aus Kostengründen hat die Weltraumbehörde die Suche bereits nach einem halben Jahr abgebrochen. Das war viel zu früh, wenn man bedenkt, wie groß das Weltall ist. Ein Raumschiff ist da wie ein winziges Sandkorn in der Wüste. Und versuche einmal, ein in der Wüste verschwundenes Sandkorn zu finden. Dafür braucht man Jahre.“

„Haben die von der Weltraumbehörde das nicht gewusst und hast du denen das nicht gesagt?“, fragte David.

„Mehr als das“, antwortete der Commander. „Ich habe wie wild protestiert. Aber vergeblich. Die Bürokraten von der Weltraumbehörde haben meinen Protest kalt abgeschmettert. Sie behaupteten, die Chancen, die Explorer noch zu finden, seien gleich null. Man könne es deshalb nicht verantworten, weitere Gelder für die Suche auszugeben.“

„Und, stimmt das mit den Nullchancen?“, fragte David.

„Nein“, antwortete der Commander, „ich jedenfalls glaube nach wie vor, dass es noch Chancen gibt. Aber mit absoluter Sicherheit weiß das niemand.“

„Sind eigentlich schon viele Raumschiffe verschollen?“, fragte David weiter.

„Zum Glück, nein”, antwortete der Commander. „Verschollen bedeutet ja auch nicht unbedingt, dass die Besatzung tot ist. Ich hoffe immer noch, dass die Explorer XL 13 wieder auftaucht. Was gäbe ich dafür, Ilay noch einmal wiedersehen zu dürfen!“

David war wie am Boden zerstört. Was mache ich nur, überlegte er, wenn die Explorer XL 12 mit meinem Dad verschwindet und die geizige Weltraumbehörde kein Geld für die Suche hergibt. Und er fragte sich auch, wie jemand nur so grausam sein kann, aus Sparsamkeit ein verschollenes Raumschiff im Stich zu lassen.

Schließlich gab sich der Commander einen Ruck. „Wir sollten aufhören, über Dinge nachzugrübeln, die nicht zu ändern sind“, sagte er mit fester Stimme. „Jetzt will ich dir zeigen, wie wir früher gewohnt haben.“

Bis zu der baufälligen Villa waren es nur wenige Schritte. Der Commander klingelte. Das war zwar Quatsch, denn wer sollte da noch wohnen. Natürlich meldete sich niemand. Das Haus war nicht abgeschlossen. Es genügte ein leichter Schubs mit dem Fuß, und die Haustür fiel quietschend aus den verrosteten Angeln. Vorsichtig – der Commander voran – tasteten sie sich in das Haus. Muffige Luft schlug ihnen entgegen. Es roch, wie Häuser riechen, die ungelüftet lange leer gestanden haben: miefig.

Was sie sahen? Spinnenweben, kaputte Möbel, Gerümpel. Jeder Schritt wirbelte große Staubwolken auf. Es knirschte und knackte aus allen Ecken, als würde es in dem alten Haus spuken.

David war bei Gott kein Feigling. Trotzdem bekam er jetzt weiche Knie. Erst als er die Hand des Vaters auf der Schulter spürte, kehrte sein Mumm zurück.

„Mit Daddy an meiner Seite kann mir nichts passieren“, sagte er sich.

„Da oben, die Treppe zum Obergeschoss hinauf, dann gleich rechts, da war mein Kinderzimmer!“, rief der Commander.

David rannte die Treppe hoch.

„Langsam, Junge, nicht so stürmisch“, rief ihm der Commander hinterher, „sonst reißt du das ganze Haus ein und wir werden unter den Trümmern begraben!“

David war jedoch nicht mehr aufzuhalten. Er stoppte erst, als er in dem Raum war, den der Vater als sein Kinderzimmer bezeichnet hatte.

„Mannomann!“, rief David enttäuscht, „Hier sieht es ja schlimm aus. Nur Dreck und Gerümpel. Wer hat denn hier gehaust?“

Als er schon umkehren wollte, entdeckte er unter einem in der Ecke stehenden klapprigen Tisch eine Kiste voller Bücher.

„Daddy, komm schnell her!“, rief er. „Sieh mal, was ich gefunden habe!“ David griff in die Kiste und holte ein vergilbtes, total verstaubtes Buch heraus.

Kapitel 2

Ein versiegelter Brief führt uns in eine andere Welt.

Dem Commander fielen vor Überraschung fast die Augen aus dem Kopf, als er sah, welches Buch David in der Hand hielt. Es war „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“.

„Junge“, rief er aufgeregt, „das ist bestimmt das einzige Harry-Potter-Buch, das es noch gibt. Sei um Gottes Willen vorsichtig. Das Buch ist sehr alt. Es zerbröselt, wenn du es fallen lässt.“

David sah seinen Vater fragend an. So aufgeregt hatte er ihn noch nie erlebt.

„Die Harry-Potter-Bücher waren vor 30, 40 Jahren absolute Knaller“, erklärte der Commander. „Ich habe sie alle gelesen, ja richtig verschlungen.“

„Nur keinen Stress“, erwiderte David. „Deinem komischen Buch wird schon nichts passieren.”

Mit dem Buch in der Hand ging David auf seinen Vater zu. Dabei stolperte er und verlor das Gleichgewicht. Um nicht zu stürzen, ließ er das Buch los. Es polterte die Treppe hinunter und landete direkt vor den Füßen des Commanders.

„David“, schrie der Commander, „wo hast du nur deine Augen gehabt? Ich habe doch klar und deutlich gesagt, dass du vorsichtig sein sollst!“

„Was macht Daddy bloß für einen Aufstand?“, dachte David. Er tut ja gerade so, als sei das Buch irgendetwas Überirdisches. Dabei ist es doch nur ein Bündel verstaubtes Papier.

Das Buch überstand den Sturz unbeschädigt. Es fiel weder auseinander noch zerbröselte es. Aber etwas passierte doch: Das Buch öffnete sich und ein mit knallrotem Lack versiegelter Brief rutschte heraus.

„Was ist denn das?“ fragte David erstaunt.

„Dies ist ein versiegelter Brief“, erklärte der Commander. „Früher versiegelte man Briefe mit besonders wichtigen Nachrichten.“

„Und wie machte man das?“, fragte David.

„Das war ganz einfach“, antwortete der Commander. „Man schmolz Lack über eine Kerze, steckte den Brief in den Umschlag, und klebte den Umschlag mit dem geschmolzenen Lack zu. Bevor der Lack kalt und hart wurde, drückte man sein persönliches Siegel in den weichen Lack. Anhand des Siegels konnte man dann den Absender erkennen und – vorausgesetzt, das Siegel war unbeschädigt – man wusste, dass kein Unbefugter den Brief geöffnet und heimlich gelesen hatte.“

Seltsamerweise befand sich auf dem Siegel kein Namenszug. Aber unter dem Siegel hatte jemand etwas hingekrakelt. Das sah fast so aus, als wäre ein Vogel mit schmutzigen Krallen über den Brief gelaufen.

„Sehr eigenartig“, dachte der Commander, „ein versiegelter Umschlag, und dann so ein Gekrakel.“

Er las vor: »An die Mitglieder des R-Teams. Höchstpersönlich und vertraulich.«

„Was heißt das schon wieder?“, fragte David.

Versonnen starrte der Commander auf den vergilbten Umschlag und flüsterte kaum hörbar, so als befände er sich in einer anderen Welt:

„Das R-Team, das waren doch ich und meine Berliner Freunde. Vor 30 Jahren. Was mag es nur bedeuten, dass heute in dieser Geisterstadt ein versiegelter, an das R-Team adressierter Brief auftaucht?“

„Was ist mit dir, Daddy?“ fragte David besorgt. „Ist dir nicht gut?“

„Mach dir keine Sorgen, mein Sohn“, antwortete der Commander, „mit mir ist alles okay. Aber als ich auf dem Umschlag das Wort ‚R-Team‘ las, glaubte ich plötzlich, ich sei wieder der Schuljunge, der ich vor 34 Jahren war.“

„Was war das für ein Team, das R-Team?“, fragte David. „Etwa ein Fußballteam?“

„Nein“, antwortete der Commander, „kein Fußballteam. Aber es war ein ganz besonderes Team. Wenn du willst, werde ich dir seine Geschichte auf dem Rückflug erzählen.“

„Klar will ich das!“, rief David. „Aber du musst mir vorher wenigstens verraten, was ‚R-Team‘ bedeutet“.

„Einverstanden“, antwortete der Commander, „damit du nicht vor Neugierde platzt. R-Team steht für Raben-Team. Und zum R-Team gehörten neben mir meine Freunde Denise, Ilay und Nils, mein Bruder Calum und Max.

„Und weshalb hieß das Team ‚Raben-Team‘?“, fragte David. „Was hatte das Team mit einem Raben zu tun?“

„Richtig, das kannst du nicht wissen“, antwortete der Commander. „Das wichtigste Teammitglied war nämlich Max, ein weißer Rabe, und der war unser Freund, Coach und Schutzengel.“

„Du willst mich wohl verkohlen“, sagte David. „Bereits das kleinste Kind weiß, dass Raben schwarz sind. Und Schutzengel, die gibt es nur im Märchen.“

„Genau das habe ich auch geglaubt“, antwortete der Commander. „Aber nur so lange, bis ich auf den weißen Raben gestoßen bin oder der auf mich.“

„Und – wo ist dein weißer Rabe heute?“, fragte David. „Ich wette, ‚weißer Rabe‘ ist nur der Spitzname eines deiner Jugendfreunde.“

„Nein, mein Sohn“, antwortete der Commander, „auf Ehre und Gewissen, der weiße Rabe war ein echter Rabe aus Fleisch und Blut. Nur nicht schwarz, sondern eben schneeweiß. Außerdem konnte er sprechen und viele andere Dinge, von denen wir Menschen nur träumen.“

„Und wann war das mit deinem weißen Raben?“, fragte David.

„Geduld, Junge“, antwortete der Commander, „all das erzähle ich dir auf unserem Rückflug.“

„Aber weshalb machst du nicht endlich den Umschlag auf?“, fragte David weiter. „Willst du denn gar nicht wissen, was da drin ist? Du bist doch Mitglied des R-Teams, oder?“

„Mensch, das habe ich vor lauter Aufregung ganz vergessen!“, rief der Commander. „Klar will ich, nein, muss ich wissen, was in dem Umschlag ist.“

Der Commander ging äußerst vorsichtig vor, denn es konnte ja sein, dass der Umschlag irgendetwas Gefährliches enthielt: Ein Kontaktgift, das jeden tötet, der es berührt. Oder gar eine Briefbombe, die beim Öffnen des Umschlags explodiert.

Es passierte jedoch nichts. Der Commander zerbrach das Siegel, öffnete den Umschlag und zog einen etwa 4 x 4cm großen quadratischen Zettel heraus, auf dem Folgendes stand:

Freunde, macht euch keine Sorgen. Ich bin nicht wirklich weg. Wenn es an der Zeit ist, komme ich zurück.

„Das ist die Schrift des weißen Raben“, erklärte der Commander. „Wenn der etwas zu schreiben hatte, tat er dies mit einem Kuli im Schnabel. Deshalb ist die Schrift so unleserlich. Auch die Nachricht ist typisch, nämlich rätselhaft.“

„Ich verstehe nur Bahnhof“, sagte David, „das musst du erklären.“

„Später“, antwortete der Commander, „jetzt müssen wir erst einmal schnell zurück zum Shuttle-Terminal. Wir wollen doch nicht, dass das Shuttle ohne uns nach Berlin startet.“

Die für die EURAU Shuttle-Flüge eingesetzten Fluggeräte sahen wie ovale umgedrehte Untertassen auf sechs dünnen Beinen aus. Angetrieben wurden sie von einem mit Sonnenenergie gespeisten batterieähnlichen Aggregat. Nur für den Start wurde ein Methan-Sauerstoff-Gemisch eingesetzt. Das trieb das Fluggerät auf einem gewaltigen Feuerstrahl 5000 Kilometer hoch in den Himmel. Dort erreichte es in der Spitze die fünffache Schallgeschwindigkeit.

Der Commander tippte einen Geheimcode in sein Handy. Zwei Minuten später hörte man ein Geräusch, als ob eine Hummel auf einen zufliegt. Und vor ihnen landete ein vollautomatisches High-Speed-Flugtaxi. Diese Flugtaxis können senkrecht starten und landen. Deshalb brauchen sie weder Start- noch Landebahn. Sie fliegen mit Schallgeschwindigkeit. Ihre maximale Flughöhe beträgt 1500 m.

Nachdem sie in das High-Speed-Flugtaxi eingestiegen waren, stellte der Commander den Navigator auf „Terminal Sydney“ und drückte den Starter. Das Taxi stieg senkrecht in die Höhe. Zehn Minuten später landete es auf dem Shuttle-Terminal. Es war allerhöchste Zeit. Der Shuttle nach Berlin war startklar. Schnell zogen die beiden ihre Schutzanzüge aus und setzten sich auf die für sie reservierten Plätze.

„Was bin ich froh, dass wir die Geisterstadt bald hinter uns haben!“, stöhnte der Commander. „Wenn man sieht, was aus Sydney geworden ist, fragt man sich, weshalb die Menschen früher alle Warnungen der Klimaexperten in den Wind geschlagen haben und einfach nicht begreifen wollten, dass wir für den Zustand der Erde verantwortlich sind.“

„Was willst du damit sagen?“, fragte David.

„Das, was mit Sydney und vielen anderen Städten und Landstrichen passiert ist, war durchaus vermeidbar“, antwortete der Commander. „Ich erinnere mich noch ganz genau, dass unabhängige Klimaexperten bereits um die Jahrtausendwende gefordert haben, endlich damit aufzuhören, ohne Sinn und Verstand, Energie und Wasser zu verschwenden, hemmungslos Millionen Tonnen Kohlendioxid in den Weltraum zu pusten, die Luft mit Auto- und Industrieabgasen zu verpesten und die Flüsse, Seen und Meere mit giftigen Abfällen zu verseuchen. Sie warnten auch vor den Folgen der Zerstörung der für ein gesundes Klima so wichtigen Regenwälder. Jedenfalls ergab sich aus den Berechnungen der Klimaexperten, dass es ohne Änderung unserer Lebensweise immer wärmer werden würde, mit fatalen Folgen für uns alle, auch für die Tiere und die Pflanzenwelt.

Leider dachten die meisten Menschen ausschließlich an die Aufrechterhaltung ihres Lebensstandards und betrachteten die Warnungen als wichtigtuerische Schwarzmalerei. Deshalb trat ein, was die Klimaexperten vorausgesagt hatten. Auf der Erde wurde es immer wärmer. In den Böden verdunstete das Wasser, und die im Boden zurück bleibenden salzigen Mineralien verwandelten fruchtbares Land in unfruchtbare Salzsteppen. Da wo früher Mais, Getreide, Kartoffeln und Gemüse angebaut worden war, wuchs bald nichts mehr. Als Folge wurden die Lebensmittel knapp und Millionen Menschen verhungerten. Durch die Erderwärmung schmolzen die Gletscher, mit der Folge, dass die Meere überliefen und unzählige Inseln und Küstenregionen überschwemmten. Viele Millionen Menschen mussten umgesiedelt werden. Hinzu kamen sintflutartige Regengüsse, Hurrikans und Tsunamis, die tausende Dörfer und Städte verwüsteten.“

„Sind die Menschen heute immer noch so dumm wie früher?“, fragte David bestürzt.

„Nein“, antwortete der Commander, „wir haben aus unseren Fehlern eine ganze Menge gelernt. Aber ob genug, das steht in den Sternen. Außerdem hat die Natur ein Elefantengedächtnis und vergisst nichts. Ich hoffe nur, dass sie uns das, was wir ihr angetan haben, wenigstens ein kleines bisschen verziehen hat.“

„Wie kann die Natur denn etwas verzeihen?“, fragte David.

Der Commander schwieg und sah David nachdenklich an.

„Was ist eigentlich mir dir?“, fragte er schließlich, „tust du etwas für den Schutz unserer Umwelt?“

„Was soll ich als Kind schon groß tun können?“, wiegelte David ab.

„Jeder kann etwas machen“, sagte der Commander, „auch Kinder. Du könntest zum Beispiel das Licht ausknipsen, wenn du dein Zimmer verlässt, auch deinen Computer, wenn du ihn nicht mehr brauchst. Und wenn du einkaufst, könntest du den Verkäufern sagen, dass du keine Plastiktüten haben möchtest. “

„Hmm“, brummte David.

„Ich weiß“, fuhr der Commander fort, „viele Menschen behaupten, dass solche Dinge nichts anderes als Tropfen auf den heißen Stein sind, die schnell verdampfen. Diese Menschen vergessen aber, dass es viele Kinder gibt und dass, wenn jedes Kind mitmachen würde, der Natur gewaltig geholfen wäre. “

„Und was ist mit den Erwachsenen?“, fragte David.

„Die müssen natürlich auch mitmachen“, antwortete der Commander.

David begriff das alles nicht so richtig. Außerdem – im Augenblick interessierte ihn nicht die Umwelt, sondern nur der weiße Rabe und das R-Team.

„Bitte, Daddy, fang endlich mit der Rabengeschichte an!“, drängelte er. „Ich bin wahnsinnig gespannt auf deinen Raben.“

„Ich verstehe dich ja“, antwortete der Commander, „aber bitte keine Hetze. Wir sind noch nicht einmal gestartet. Bis Berlin haben wir mehr als genug Zeit. Jetzt gib mir erst einmal einige Minuten, damit ich mich ein wenig entspannen kann.“

Kapitel 3

Der Commander berichtet über seine erste Begegnung mit dem weißen Raben und über die Gründung des R-Teams.

Über ein in die Armlehne des Sitzes eingebautes, an den zentralen Servicecomputer des Shuttles angeschlossenes Mikrofon bestellte der Commander einen Apfelsaft für David und für sich einen Whisky. Der Whisky hieß zwar „Whisky“ und schmeckte wie Whisky und der Apfelsaft hieß „Apfelsaft“ und schmeckte nach Äpfeln. Der Whisky enthielt aber keinen einzigen Tropfen Alkohol und der Apfelsaft nicht die Spur eines Apfels. Alkoholische Getränke waren grundsätzlich verboten, und Äpfel waren – Apfelbäume gab es nur noch in botanischen Gärten – zu selten geworden, um daraus Saft zu machen. Die bestellten Drinks bestanden aus sterilisiertem Wasser, welches mit Mineralien, Vitaminen, künstlichen Aromen und Geschmackstoffen versetzt war. Sie schmeckten eigentlich recht gut. Trotzdem hätte der Commander nach dem deprimierenden Besuch in seiner alten Heimatstadt nur all zu gerne einen echten Whisky getrunken. Den gab es aber nur – und das sündhaft teuer – auf dem Schwarzmarkt.

Nachdem ein Flugbegleiter – dies waren hierfür programmierte Service-Roboter – die Drinks und eine Auswahl leckerer Soja-Chips zum Knabbern gebracht hatte, stellt der Commander die Sitzlehne bequem zurück, nahm einen großen Schluck „Whisky“, schloss, um sich besser konzentrieren zu können, die Augen und begann zu erzählen:

„Das erste Mal traf ich den weißen Raben, als ich gerade acht Jahre alt geworden war. Wir wohnten mitten in London. Ich hatte da noch keine Freunde, denn wir waren erst kurz zuvor – mein Dad arbeitete damals bei Microsoft und war versetzt worden – von Dublin nach London gezogen. Und ganz ohne Freunde in einer fremden großen Stadt, das war verdammt langweilig. An einem der vielen öden Spätnachmittage saß ich auf einem Baumstumpf vor unserem Haus und wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich beobachtete die Wolken und die langsam vom Himmel rutschende Sonne. Ich dachte an nichts und wartete eigentlich nur auf das Abendessen. Danach durfte ich nämlich immer eine Stunde mit meinem Gameboy spielen. Das war damals meine Lieblingsbeschäftigung. Doch dann passierte etwas Merkwürdiges, etwas, was ich mir bis heute nicht erklären kann. In meinen Beinen zwickte und kribbelte es plötzlich. Es fühlte sich an, als steckten meine Beine in einem Ameisenhaufen. Ich stand auf und streckte und schüttelte die Beine. Aber das half nichts. Das Zwicken und Kribbeln hörte nicht auf. Im Gegenteil, es wurde sogar heftiger. Dann, ohne, ja sogar gegen meinen Willen, begannen die Beinen zu traben. Erst gemütlich im Schritttempo, dann aber schneller und schneller. Ob ich wollte oder nicht, ich musste mit, denn ich war ja an den Beinen angewachsen. Ich überholte Fußgänger, Radfahrer und ließ sogar Autos hinter mir. Im Sekundentakt wurden meine Schritte länger. Erst einen Meter lang, dann drei, dann neun, dann siebenundzwanzig Meter. Schließlich waren die Schritte keine Schritte mehr, sondern Sprünge, und zwar so gewaltige Sprünge, dass ich mit ihnen bei den Olympischen Spielen bestimmt die Goldmedaille im Weitsprung gewonnen hätte. Bald berührte ich kaum noch die Erde. Ich lief nicht, rannte nicht und sprang nicht, sondern ich flog. Ich flog in rasender Geschwindigkeit über Häuser, Städte, Berge, Wüsten und Meere und überholte Adler, Wildgänse, Kraniche und – du wirst es nicht glauben – sogar Flugzeuge.“

„Halt, stopp, Daddy!“, unterbrach David seinen Vater. „Jetzt habe ich dich echt erwischt. Du versuchst, mir ein Märchen unterzujubeln. Kein Mensch, selbst du nicht als Commander der intergalaktischen Raumflotte, kann ohne Fluggerät über Städte, Berge, Wüsten oder Meere fliegen. Willst du mir etwa auch noch aufbinden, dass dir Flügel gewachsen waren?“

„Bitte unterbrich mich nicht“, entgegnete der Commander verärgert, „sonst verliere ich den Faden. Und sei auch nicht so verdammt schnell mit deinem Urteil. Ob ich dir Märchen erzähle oder über ein wirkliches Erlebnis berichte, kannst du doch erst entscheiden, wenn du alle Fakten kennst. Und willst du etwa behaupten, dass du bereits alle Fakten erfahren hast? Ich bin jedenfalls erst am Anfang der R-Team-Geschichte.“

„Nein, Daddy“, entschuldigte sich David, „ich werde dich nicht mehr unterbrechen. Das verspreche ich dir. Bitte erzähl weiter.“

Insgeheim sagte sich David: Irgendwie muss ich die Zeit bis zur Landung in Berlin ja hinter mich bringen. Selbst wenn Daddy Märchen erzählt, ist dies immer noch interessanter, als nur blöd aus dem Bordfenster zu starren.

Der Commander fuhr fort: „Plötzlich endete der rasende Flug. Ohne jede Vorwarnung plumpste ich auf die Erde und lag da, platt wie eine Flunder. Der Schädel brummte und mein Herz donnerte wie wild. Ich war total durcheinander. Da ich weder wusste, was mit mir geschehen, noch, wo ich gelandet war, hatte ich auch eine ganze Menge Angst. Zuerst wagte ich noch nicht einmal, die Augen zu öffnen. Wenn ich die Augen nicht aufmache, dachte ich, bleibt es stockdunkel und wenn es stockdunkel ist, kann mich niemand sehen, auch keine Räuber oder wilden Tiere. Ein bisschen hoffte ich auch, dass alles nur ein Traum war, der verschwinden würde, wenn ich nichts tue und einfach abwarte.

Es war aber kein Traum, denn ich hörte eine seltsam krächzende Stimme. Ob es die Stimme eines Menschen, eines Tieres oder gar eines Monsters war, konnte ich nicht erkennen. Allerdings wusste ich natürlich nicht, wie sich Monster anhören, denn ich hatte noch nie ein Monster erlebt und glaubte auch nicht so richtig an Monster. Nach einigen Minuten hatte ich die Nase voll. Ich sagte mir, Nichtstun hilft überhaupt nichts, nahm all meinen Mut zusammen und rief: ‚Hallo, ist da jemand? Kann mir einer sagen, wo ich bin?‘

‚Hey, Kleiner‘, krächzte die seltsame Stimme, ‚mach endlich deine Augen auf, du komisches Menschenkind!‘

Weshalb nennt der mich komisches Menschenkind, dachte ich, ich bin doch ein ganz normaler Junge. Aber eigentlich hat der ja recht, der da spricht. Wenn ich die Augen weiter zukneife, wie soll ich dann herausfinden, was mit mir passiert war und wo ich bin?

Erst öffnete ich das linke Auge, sah aber nur den Himmel und ein paar kleine Wolken. Dann öffnete ich auch das rechte Auge. Nun sah ich den Himmel, eine Menge Wolken und am Horizont die fast untergegangene Sonne. Sonst aber nichts.

‚Wer bist du?‘, rief ich. ‚Und wo steckst du? Zeige dich doch bitte! Ich habe mich verlaufen und weiß nicht, wie ich nach Hause komme.‘

‚Hier bin ich‘, kam es von irgendwo hinter mir.

Ich hob den Kopf, stützte mich auf die Ellenbogen und drehte den Oberkörper mit dem Kopf ganz vorsichtig nach hinten, um zu sehen, wer da ruft.“

David rutschte mit seinem Hintern unruhig hin und her. Am liebsten hätte er seinen Vater noch einmal unterbrochen. Weshalb erzählt der nur so umständlich?, fragte er sich. Wenn das so weitergeht, wird er nie fertig.

David unterbrach seinen Vater jedoch nicht, denn er hatte ja versprochen, sich die Geschichte bis zum Ende anzuhören. Und versprochen ist versprochen.

„Und dann“, erzählte der Commander weiter, „dann entdeckte ich den, der da gerufen hatte. Es war ein Rabe, beinahe so groß wie ein Huhn. Und der Rabe war total weiß. Ausgenommen die dünnen Beine und die Krallen, die gelb waren. Sein riesiger krummer Schnabel war hingegen schwarz. Der Rabe hatte nur ein Auge. Da, wo sich normalerweise das zweite Auge befindet, trug er eine schwarze Augenklappe. Es war eine Augenklappe, wie sie Piraten tragen, denen man ein Auge ausgestochen hat.”

Das kann doch alles nicht wahr sein, dachte ich. Erst der wilde Flug und dann ein sprechender weißer Rabe mit einer schwarzen Augenklappe.

Obwohl ich den seltsamen Vogel mit allen Einzelheiten vor meinen Augen hatte, war ich mir immer noch nicht sicher, ob ich nicht doch nur träumte.

Es war aber kein Traum, auch kein Spuk. Ich war hellwach und der weiße Rabe hatte tatsächlich zu mir gesprochen. Heiser zwar, aber eindeutig in meiner Sprache, nämlich deutsch.

‚Bleib cool, kleiner Mensch‘, rief der weiße Rabe. ‚Hab keine Angst. Weshalb sollte ich dir etwas antun? Außerdem, du bist doch viel größer und stärker als ich. Gegen dich hätte ich doch nicht die geringste Chance. Und wenn du glaubst, dass ich ein Spuk bin, fass mich einfach an. Dann wirst du merken, dass ich echt bin.‘

Um Himmelswillen, den merkwürdigen Raben auch noch anfassen, nein, das wagte ich nicht. Aber um zu zeigen, dass man mich nicht so einfach beeindrucken kann, rief ich mit dem Mut der Verzweiflung:

‚Es gibt keine weißen Raben. Raben sind schwarz. Das weiß doch jeder. Außerdem können Raben nicht sprechen und tragen keine Zylinder. Und da das so ist, kannst du krächzen so viel du willst. Du bist gar nicht da. Du bist nur ein Spuk. Verschwinde endlich!‘

‚Was redest du für einen Schwachsinn?‘, antwortete der weiße Rabe verärgert. ‚Weshalb willst du nicht akzeptieren, was du siehst? Und du siehst mich doch, oder?‘

‚Und wenn schon‘, erwiderte ich. ‚Das bedeutet überhaupt nichts. Auch im Traum oder im Fernsehen sieht man Sachen, die es nicht wirklich gibt.‘

‚Papperlapapp‘, krächzte der weiße Rabe. ‚Wozu hast du einen Kopf? Der ist nicht nur dafür da, deine Ohren und Haare spazieren zu tragen. Im Kopf wohnt der Verstand. Setze deinen Verstand ein. Denke endlich einmal richtig nach! Wenn du mich siehst, dann kannst du doch nicht mehr ernsthaft behaupten, dass es mich nicht gibt. Ich bin genau das, was du siehst. Ich bin ein weißer Rabe, und weil ich weltweit der einzige weiße Rabe bin, bin ich DER weiße Rabe.‘

‚Aber weshalb bist du weiß?‘ fragte ich. ‚Alle anderen Raben sind doch schwarz.‘

‚Okay, diese Frage verstehe ich‘, antwortete der weiße Rabe. ‚Woher solltest du auch wissen, dass früher, viele tausend Jahre vor deiner Zeit, alle Raben weiß waren. Damals waren wir die Kundschafter oder, wie man heute auch sagt, die Spione des griechischen Sonnengottes Apollon. Und weil der äußerst neugierig war und es damals weder Zeitungen, noch Fernsehen, noch das Internet gab, waren wir für ihn sehr wichtig. Unsere Kundschaftertätigkeit war nicht ungefährlich. Apollon wollte nämlich nur gute Nachrichten hören. Bei schlechten Nachrichten wurde er wütend und flippte aus. Wie aber zwischen guten und schlechten Nachrichten unterscheiden? Was für den einen eine gute Nachricht ist, kann für den anderen eine schlechte Nachricht sein. Eines Tages beging einer meiner Rabenkollegen einen verhängnisvollen Fehler. Er meldete Apollon, dass ihn Koronis, seine Geliebte, betrügen würde. Wahnsinnig vor Eifersucht schoss Apollon daraufhin einen ganzen Köcher Pfeile auf seine Geliebte ab, bis sie tot war. Und den Raben, der ihm die schlechte Nachricht überbracht hatte, färbte er zur Strafe schwarz. Als sich dann wenig später herausstellte, dass die Geliebte doch nicht fremdgegangen war – mein Kollege hatte sie verwechselt – wurde der Sonnengott erneut wütend. Ungerecht, wie Götter manchmal sind, färbte er jetzt alle Raben tiefschwarz. Ich konnte mich damals verstecken. Deshalb bin ich der einzige Rabe, der weiß geblieben ist.‘

‚Und wie kommt es, dass du meine Sprache sprichst?‘, fragte ich weiter.

‚Irrtum‘, erwiderte der weiße Rabe. ‚Ich spreche nicht deine Sprache, sondern du verstehst meine Sprache, genauso wie ich deine Sprache verstehe. Das ist einfach, wenn man richtig zuhört, nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit dem Herzen.‘

Ich begriff nur die Hälfte von dem, was der weiße Rabe so klug krächzend von sich gab. Mir war es auch völlig schnuppe, ob der Rabe schwarz oder weiß war und weshalb er eine Augenklappe und einen Zylinder trug. Es gab nur eines, was mich interessierte: Wie komme ich nach Hause?

‚Okay‘, rief ich, ‚wenn du meine und ich deine Sprache verstehe, kannst du mir bestimmt auch sagen, wie ich nach Hause komme.‘