Dieses Buch ist

meinen Eltern in dankbarer Erinnerung gewidmet

und für Peter in Liebe geschrieben:

Ohne ihn wäre diese Zeitreise

nach vierzig Jahren

nicht denkbar

gewesen.

2012

H. S.

 

 

›Verurteile niemanden, eh du nicht zehn Meilen in seinen Mokassins gegangen bist.‹

(Indianisches Sprichwort.)

PROLOG

Friedels Traum

Am Anfang war? – Die Bilderbibel:

Daniel in der Löwengrube,

Schlangengewimmel um Moses in der Wüste,

und jene Schlange – extra teuflisch – die im Paradies!

1944. Ich bin noch nicht vier Jahre alt.

Sitz' ich am Boden vor solchen Bildern, etwas verwirrt

– mit Madenwürmern im Po!

So – die Diagnose:

Schon eine Weile versteckt hinter mittelbraunen,

von dunklen Mäandern umrandeten,

vom Ausziehtisch herunterhängenden Kamelhaardecken

spielen mein kleiner Freund und ich samt Schlenkerpuppe Lotti

ganz versunken Vater, Mutter, Kind‹,

als seine und auch meine Mutter

abrupt uns aus der Butze ziehen.

Ehe Verdutztheit in Geheul übergehen kann, liegen wir weit oben nebeneinander auf dem mit jenen Kamelhaardecken gepolsterten Esstisch.

Resolut streift man uns die selbst gestrickten Gamaschenhosen samt Unterhöschen herunter, berät sich kurz, macht besorgte Gesichter

und beginnt, unsere kleinen Popos doppelt und durchaus nicht blind nur allzu gründlich auf verdächtige Anzeichen hin zu untersuchen.

Dann schreitet man zur Tat:

Die hochnotpeinliche Tortur ist vermutlich positiv verlaufen, zumindest sicherheitshalber. Und uns wird verordnet,

rote Möhren roh zu knabbern: »Schön brav – wie die Häschen!«

Auch ein dunkles Arzneifläschchen aus der Apotheke

mit Pergament-Hut überm beigegelben Korken

ist nach und nach zu leeren:

›Oleum Ricini‹ (handgeschrieben in Sütterlin):

So lesen die Erwachsenen ab vom weißen Etikett.

Doch, die aufgedruckte, um einen Stab gewickelte Schlange

leuchtet uns Kleinen ein: »Für … nämlich gegen die Würmer

Rigoroser Beschluss der Mütter:

»Ab jetzt gibt's jeden Tag einen Teelöffel davon – bis alle ›alle – alle‹ sind!«

Das zähflüssige Öl schmeckt eindeutig scheußlich. Und zum kaum möglichen Schlucken des Zeugs gibt's Malzkaffee der Marke ›Zunz, selige Witwe‹. Vermutlich der Geschmack allein bewegt juckende Darmbewohner – wie oft auch uns selbst – sich schleunigst zu verziehen.

Kalter Kaffee – klar – schmeckt Jahre noch danach mir wie durchmischt mit Rizinus… Weitere Risiken und Nebenwirkungen: Um nackte Körper sich windende,

zu Knäueln sich schlingende Vipern aus der alten Bilderbibel verfolgen mich fortan noch lange durch die Kindheit, ringeln sich samt längst vertriebenen Würmern hinein in meine Träume.

Träge Nattern wälzen sich im Halbdunkel undeutlich auf meiner Bettdecke.

Und im Traum kriecht bleiches Gewimmel aus all' meinen Poren bis endlich jemand mich weckt, weil ich schreie.

Irgendwann aber beginne ich – träumend – dem Alb zu entrinnen:

Stürze hinaus, laufe voll Angst in den Garten,

renne den endlosen Sandweg entlang,

flieh' vor Verfolgern aus Büschen und Bäumen…

Schon auf der Hut vor Wurm oder Made in Beere und Pflaume

vermute ich nahe den Äpfeln noch mehr: Hängt nicht 'ne Schlange auf Lauer vom Baum – ganz wie bei Adam und Eva!?

Errettung vom Alb verspricht – endlich – im Traum das ruhige Flüsschen am Ende des Gartens. Den Garten begrenzt – vielfarbig von Wicken umrankt Maschendraht wie eine Hecke.

Rhabarberblätter breiten sich weit und bedecken den Boden davor.

Erschöpft erreich' ich die eiserne, eigentlich nur

unter Quietschen sich öffnende Pforte vorm Ziel!

Klopfenden Herzens durchstürz' ich

die seltsamerweise mir offen stehende Tür,

betrete den schmalen, nicht durch Geländer gesicherten Steg

aus klapprigen Bohlen…

Frei von sonst noch vor Angst aufsteigendem Schwindelgefühl

atme ich auf und lasse mich

fast ohne Zögern

vom Brückenrand fallen:

Endlich erlöst! – Wunderbar weich, warm und grünlich umgibt

mich die Tiefe. Dennoch erkenn' ich die Sonne!

Durchs Wasser hindurch – wie durch Glas.

… Und bin erwacht!

Inhaltsverzeichnis

Überblick

Wir beginnen das Jahr 1972 in einem altmärkischen Dorf in der DDR, im Elternhaus dreier Töchter.

Vater Hinrich (59) – auch Vati oder Ati genannt – muss als evangelischer Pastor ständig mehr Dörfer betreuen und ›nebenberuflich‹ als Landwirt zum Lebensunterhalt beitragen.

Mutter Edith (58) – auch Mutti oder Mutz genannt – fühlt sich oft überfordert. Sie hat einst als Hausdame und durch einen längeren England-Aufenthalt ihren Blickwinkel auf jüngere Geschichte wie auch gelegentliche Enge innerhalb der Kirche erweitert.

Um in schwieriger Lage nicht zu verzweifeln, führt sie, soweit die Kräfte reichen, eine rege Korrespondenz.

Seit vielen Jahren begleitet sie damit auch ihre erwachsenen Kinder: Friedel (31), die älteste Tochter, arbeitet nach Republikflucht und Studium in Westdeutschland nun als Apothekerin in Westberlin.

Evi (24), die mittlere Tochter, arbeitet als Krankenschwester bei ›VEB Erdöl‹ – im gleichen Betrieb wie ihr Mann Paul (28).

Beider Söhnchen Moritz (fast 3) erscheint recht pfiffig.

Liz (20), die jüngste Tochter, steckt mitten im Medizinstudium in Magdeburg. Ebenso ihr Freund Georg (22).

Im Sommer des Jahres lernt Friedel einen jungen Mann kennen:

Rolf (34) stammt aus Sachsen, hat in Westberlin Elektrotechnik studiert und ist soeben Abteilungsleiter in einer Firma am Ort geworden. – Seine drei verheirateten Geschwister wohnen in Sachsen – wie die enteigneten Eltern – und nehmen gelegentlich an der regelmäßigen Kommunikation zwischen Rolf und seiner gut ›managenden‹ Mutter Lotte (61) – genannt Muttchen – teil.

Dies Familiengeflecht zwischen Ost und West wird über Briefe zusammengehalten, die von Freud und Leid aus dem Umfeld erzählen und zeittypische Geschehnisse wie zum Beispiel Postverzögerung, Paketverlust und erschwertes Reisen kritisch beleuchten und kommentieren.

Mehmek, Sonnabend 1. Januar 1972

Meine liebe Friedel!

Da steht sie nun – die ungewohnte Jahreszahl!

Wie wohl unsere Familie aussieht, wenn wir ›1973‹ schreiben?

Wir schliefen hinein ins neue Jahr, wachten nur kurz auf, als der Küster um Mitternacht läutete.

Münchner Kabarettisten zum Lachen und zum Schießen hatten uns entspannt.

Relativ munter, keineswegs übersättigt von achtzehn Häppchen West-Konfekt, begannen wir den Januar. – Endlich wischte ich reichlich Feiertagsstaub von Möbeln und von Dielen und saugte den Teppich.

Nach zehn Menschen im Silvester-Gottesdienst rechneten wir heute mit niemandem mehr. Auch die Molkerei hielt Ruhe – wohl zum einzigen Termin des Jahres. Selbst gegen elf sah ich ringsum Jalousien heruntergelassen und Fensterläden geschlossen. Doch: Zu unserer Freude waren um diese Zeit noch einige Besucher in der Kirche! Dass Else L. kam, kam so:

Tagelang ließ sich ein fremdes schwarzes Kätzchen partout nicht vertreiben. Geschimpft hab ich kaum. Da nahm es mein: »Ach geh!« wohl überhaupt nicht ernst. Ich bestaunte sein unermüdliches Betteln und Streben in Richtung Katzennapf. Und das kleine Biest siegte natürlich.

Gestern nahm ich es auf den Arm, streifte durch die Nachbarschaft und fragte, ob jemand es vermisse. Ein ärgerliches »Nein! – Hier hat es sich auch schon rumgetrieben!«, hörte ich da nur.

Zum Glück wollte man es schräg gegenüber aber gern:

Der Hofhund tut Katzen nichts. Und ›Frauchen‹ hat ›Miezchen‹ sofort gefüttert. Eilig und mit flinker Zunge schleckte es seine Milch, gewöhnt sich nun an Haus und Hof.

Else L. sprach nach dem Neujahrs-Gottesdienst hell begeistert über das hübsche Tier. Und Vater predigte – zuvor – besonders konzentriert.

Kurz darauf musste er zu einer vermutlich ›diskreten‹ Haustaufe in einer ganz neuen Villa am Nachbarort. Erinnerst Du Dich? Vor Jahren hatte der Schmied dort uns eingeladen, Dias von der Konfirmation seines Sohnes anzusehen.

Der Konfirmand von einst – inzwischen Ingenieur – stieg quasi auf zum ›Fabrikherrn‹ des einzigen privaten ›Rüstungsbetriebs‹ der DDR: Man baut Getränke-Behälterwagen und Gulaschkanonen für die Volksarmee! Ein Kind des Chefs wird also getauft. Und Vater darf zur Festtafel bleiben.

Ich selbst genieße den freien Tag: Mittagessen – Nebensache!

Hab leider zugenommen über die Weihnachtszeit und briet mir nur zwei Eier.

Bin durchaus nicht böse, wenn Vater bis zum Abend bleibt.

Da kann ich noch Atem schöpfen, eh morgen wieder Besuch kommt:

Erst morgen gibt's die zweite Hälfte Weihnachtsputer.

Froh war ich über zwei Briefe von Dir, die endlich im Flur lagen:

Kondoliere zum defekten Fernsehapparat! Zu mehr Luxus, zu einem in Farbe möchte man Dich überreden?

Übrigens, Adolf N. aus der Nervenheilanstalt adressierte seinen Brief:

›An das Pfarramt Mehmek – für das Christkind J.‹

(Den Umschlag warf ich ins Feuer.)

Inliegende Karte mit ›frommem‹ Spruch:

›Gott, der heilige Vater, weiß, wie es nun weitergehen soll!‹

brachte ich rüber zum Nachbarhof und fragte Adolfs Frau,

ob ich sie dem Kind geben dürfe.

Die Mutter saß – breit die Ellenbogen auf den Tisch gestützt – aß und aß und schniefte ein bisschen: »Hab nichts dagegen.«

»Schreib mal deinem Vati ein paar Worte«, sagte ich zur Kleinen. Geantwortet hat sie nichts – wohl aus Hilflosigkeit.

Meine neuen Hausschuhe halten wunderbar warm.

Liz sagt zwar ›Oma-Puschen‹ dazu: Schadet aber nichts!

Bin neugierig, wie es Evi geht.

Vom Verlauf ihres Weihnachtsabends erwähnte sie am Telefon kein Wort. Mit Leuten oben im Haus hatten sie ins neue Jahr hineinfeiern wollen. Der Nachbar ist irgendetwas Militärisches, Endvierziger. – Ich wundere mich: Evi erzählte bisher eher Negatives von dessen Familie…

Gleich höre ich noch die Kinderstunde im Radio.

Sei von Herzen gegrüßt, liebe Friedel,

XXX Deine Mutti

***

Mehmek, Donnerstag 6. Januar 1972

Meine liebe Friedel!

Vier Tage nicht geschrieben zu haben – empfinde ich als lange Pause. Doch ich war wie gelähmt: Wie geht es Dir? – Ich fühle mich außerstande, auf Jens' Verlobungsanzeige zu reagieren. Das soll Vater übernehmen!

Zehn Tage brauchte ein Brief der alten Frau von R. an uns.

Sie wohnt inzwischen beim Sohn in Westdeutschland. Wenn mich ihr Stil etwas befremdet, muss ich wohl abrechnen, was mir selbst im Wege steht: Ob ich »ein Kind Gottes« sei, fragte Opa Koral Vater, eh wir uns verlobten…

Ich sollte mich inzwischen weniger stoßen an so überbetonter Christlichkeit: Nach 1945 aus ihrem ›Paradies‹ vertrieben, musste Frau von R. fremder Leute Wäsche waschen – sie, die vorher als ›Gnädige Frau‹ etliche Bedienstete dirigiert hatte. – Dass sie Hilfe im Glauben und in der Kirche fand, müssen wir ihr wohl abnehmen. Und wenn der Adel in hiesigen Schulen undifferenziert diffamiert wurde, musste sie ihre Kinder trösten:

»Eure Vorfahren waren nicht besonders schlechte Menschen!«

Mit gemischten Gefühlen erwarte ich Tante Agnes zum Wochenende. Auch da ist mir wieder, als wolle man meine Frömmigkeit testen.

Liz bleibt dann lieber im Studentenheim, weil sie bei Besuch hier kaum lernen kann.

Eben – ein Anruf von Evi:

»Mutti, hast du noch Stollen? Den Hauptteil vom mitgenommenen aß Paul. Und als wir am Sonntag nach Hause kamen, hatte Moritz Hunger. Ich setzte ihn auf den Topf. Er futterte den Rest – bis auf einen Happen, den ich probierte, nur um zu merken: Schmeckt ja wunderbar!«

Hier am Kaffeetisch hatte Evi nicht ein Stück davon angerührt.

Na, nun fühle ich mich sehr geehrt durchs Kompliment und will morgen einen ganzen Stollen absenden. Wir haben ja noch drei.

Ich fragte, wie's ihr gehe. – Evis Antwort: »Mir geht's gut!« Am Ende aber kam: »Oh, mir läuft die Nase; hab mich so in Magdeburg erkältet.«

Und Liz schreibt, es sei ganz nett gewesen bei Georgs Eltern in Eisenach. Am Neujahrstag hätten sie und er sogar den Bischof gehört, sich aber von so viel ›du sollst‹ und ›du musst‹ wie niedergeknüppelt gefühlt: Vater auf der Kanzel hätte ihnen vermutlich besser gefallen, meint Liz. Nun schwitzt sie wieder vor der nächsten Prüfungsarbeit.

Für morgen hoffe ich auf Deinen Brief. – Liz freute sich, in Magdeburg einen von Dir vorzufinden. Sie schrieb: ›Ich kann mir nach dem Silvestertief vorstellen, wie Friedel zumute ist, wenn sie selbst am Heiligen Abend solo sitzt.‹ – Froh bin ich: Die Festzeit ist vorüber, wo ich immer so in Traurigkeit verfiel, wenn ich an Dich dachte…

XXX Deine Mutti

***

Mehmek, Sonnabend 8. Januar 1972

Liebe Friedel!

Das Wetter schwankt zwischen Schnee- und Nebelnässen!

Und das Elektrizitätswerk spart Strom – schon seit einer Stunde.

So wird die Sakristei nie warm bis zum Konfirmandenunterricht.

Ich atme auf:

Gute Mahlzeiten im Blick auf Tante Agnes’ Besuch sind gesichert.

Auf Muschelschälchen soll’s Ragout vom Weihnachtsputer geben.

Kaum zu fassen, was noch dran war am Gerippe!

Vater hat eine sehr zarte Soße dazu gezaubert.

Beinahe gratis meinen wir ein Staatsessen zu servieren.

Stollen ist aufgeschnitten. Und für morgen steht eine Kirschtorte bereit.

Bereit hängt auch mein Rock, den ich Schneidermeisterin Agnes vorführen will mit der Bitte, ihn mir enger zu machen – für die eventuelle Reise!

Ich sitze am Tisch in der Herd-Ecke – mit Beleuchtung durch den Adventskranz. Ehe ich den fort tue, dürfen die Kerzen drauf noch abbrennen.

Vater hat beste Laune, freut sich auf seine Schwester und vierzehn Tage Urlaub ab morgen.

Das Gute an Gästen: Man sorgt vorm Besuch für Ordnung.

Kommt nie jemand, lässt man gern alle fünfe grade sein. –

Liz rief an. Sie bereitete uns vor auf einen ›weinerlichen Brief‹, den wir nicht zu ernst nehmen sollten. Ihr sei eben so gewesen.

Da geht’s uns allen gleich: Wir können nicht über unseren Schatten springen.

Liz steht stark unter Lerndruck.

»Friedel hat ganz munter geschrieben«, meinte sie aber.

Das tröstet mich, denn gestern kam nichts:

Frau Soltau trug schwer an ihrer Posttasche voll Kassenauszüge von der BHG, der ›Bäuerlichen Handelsgenossenschaft‹, wollte wohl erst nur die austragen und hob Privatpost auf – für heute.

Meine liebe Friedel!

Dein Brief vom 2.1. ist hier.

Zu Jens’ Verlobung hast du ja wunderschön in diversen Dialekten gratuliert! – Und ich konnte einfach nicht schreiben, weil ich dachte, er habe Dir Schmerz bereitet.

Schön, dass Dir momentan die Hochbahn nicht am Fenster vorüberrattert!

Wie ähnlich es doch Vater und mir geht:

Noch mit 58 Jahren höre ich im Kopf Pippi Langstrumpfs Ohrwurm:

›… ein Haus, ein kunterbuntes Haus, ein Äffchen und ein Pferd dreimal drei ist neune das schaut zum Fenster raus ‹ Das Zwischenstück verwirrt sich mir. Und will ich die Melodie summen, fehlt mir leider ’ne Portion!

Christenlehre-Kinder summten ›Mummy blue‹, eine bestrickende Melodie. Ich wüsste gern, wie der Text richtig heißt, und wer mit ›Mummy blue‹ gemeint ist. Diese Melodie hat Vater ständig im Ohr. Laut will sie ihm – wie mir – nicht kommen.

Schon monatelang wartet im Bad ein Karton mit Feuerholz auf den Badeofen. Aber ich benutze lieber Deine Westseife am Waschbecken in der angewärmten Küche – wie eh und je mit heißem Wasser aus dem Pfeifenkessel oder dem großen Emailletopf vom Herd.

Liz meint danach meist: »Muttalein, du riechst so fein!«

Sie umarmt mich manchmal und will leise hin und her gewiegt werden, steckt wohl in einer Phase, wo sie ahnt, es geht nicht in alle Ewigkeit so weiter.

Ich staune: Auch sie versucht’s mit Frömmigkeit – mit einer, die nicht viele fromme Worte braucht.

Gestern kamen Vater und ich an einen kritischen Punkt:

Streit gab’s nicht, nur ein unbehagliches Gefühl. Auf irgendeinem Haus-Boden hatte der Elektriker eine zweihundert Jahre alte Postille gefunden und sie Vater übergegeben. Der brachte sie mit. Und natürlich guckte auch ich da hinein:

Wohl gedacht für Leute, die grade eben lesen und schreiben konnten, gab‘s Bibelabschnitte mit Fragen samt Antworten dazu – nach Art von Fritz Reuters literarischer Karikatur ›Die sokrat’sche Methode‹ – ungefähr so:

»Welcher Strom fließt bei Hamburg? – Na? Na? – Nu zähle mal!«

»Neune, zehne, elfe « »Siehste! – Sagste einfach ›Elbe‹ statt elfe, dann hast’ es!«

Von der ›guten alten Zeit‹ träumt man gern, man habe damals in seiner Einfalt zufriedener gelebt, weil kaum erst vom ›Baum der Erkenntnis‹ gegessen

Aus dem Schluss der Postille wollte ich vorlesen, was da Grauenhaftes stand zur ›Zerstörung Jerusalems‹. Doch Vater kannte die Geschichte bereits. Auch in alten Gesangbüchern soll sie zur Abschreckung vor Gottlosigkeit gestanden haben. Erzähl ich’s jetzt nicht, fragst Du:

»Na, was war denn nun?«

Wurde doch von einer Mutter berichtet, die aus Hunger ihr eigenes Baby briet. Abscheulich! (Aber Vater gestattete mir meine Empörung nicht so ganz.)

Schnell was anderes!

Von Herrn Sperber kam Post. Ohne Kommentar zitiert er:

Bei einer Evangelisation in den USA sei eine junge Frau mit verkürztem Bein auf den Prediger zu gehinkt. Der habe um Kraft gebetet, sie mit Gottes Hilfe heilen zu können, und ihr die Hände aufgelegt:

Das kranke Bein sei auf normale Länge gewachsen.

(Etwa ›stante pede‹?)

Meine liebe Friedel, jetzt hör ich erst mal auf.

Sei von Herzen bedankt für den beruhigenden Brief.

XXX Deine Mutti

***

Mehmek, Dienstag 11. Januar 1972

Liebe Friedel!

Wir hatten ein ruhiges Wochenende. Trotz des Besuchs.

Tante Agnes hat sich offenbar wohl gefühlt.

Erleichternd war: Vater musste keine Predigt vorbereiten und Liz nicht mit verständlicher Nervosität ums Lernen dazwischen sitzen.

So konnte Tante Agnes viel erzählen:

Anne gehört nun naturgemäß zur eigenen kleinen Familie. Da schließt sich deren jüngere Schwester Irma mehr und mehr der Tante an. – Annes Mann, der frischgebackene Pappi, ist bemüht um seinen kleinen Sohn und sieht ungern, wenn die mit im Hause wohnende Sippe sich um den kleinen ›Prinzen‹ schart.

(Er selbst lernte wenig Elternhaus kennen: Die Mutter gab ihn, als er fünf war, zu einem nach bürgerlichem Gesetzbuch nicht verheirateten Paar.)

Für März ist Umzug der kleinen Familie in eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit Fernheizung geplant! – Ich muss lachen:

Beim Wort ›Fernheizung‹ griff ich unwillkürlich zur Zigarette, während ich an Evi dachte, an deren kalte Küche und ihren ollen Kanonenofen in der Stube.

Tante Agnes kriegt ›Appetit‹ auf einen eigenen Fernseher.

Die Familie drum herum schaltet ihr zu häufig um – vom ersten aufs zweite Fernsehprogramm und zurück.

Als wir am Sonntag beim Spielfilm saßen, fuhr ein Auto vor. Dem entstiegen Onkel Siggi und Tochter Irma. Sie – in einem schicken von der Tante genähten Hosenanzug, erstaunlich elegant, fast wie ein Mannequin! Hab ihr meine Bewunderung nicht verhohlen, was ihr natürlich wohl tat.

Wir schalteten den Fernseher aus. Die Kerzen am Weihnachtsbaum brannten herunter. Und Vater las Deine Dialekt-Gratulationen für Jens vor. Tante Agnes kannte die schon vom Vortag, ermunterte Vater aber:

»Ja, lies doch noch mal.«

(Als Vater nachmittags aus Exupérys ›Der kleine Prinz‹ vorlesen wollte, merkte er gar nicht, dass sie dabei eingeschlafen war.)

Und als ich meinen ›zu weiten‹ Rock anprobierte, stellte sie fest:

»Passt prima!« O wirklich! Bin inzwischen ›hineingewachsen‹, hab etwa fünf bis sechs Pfund zugenommen – nicht gerade zu meiner Freude.

Aber Tante Agnes braucht nun nicht mehr an die Nähmaschine.

Ehe der Besuch aufbrach, zeichnete Onkel Siggi sich den Grundriss unserer getischlerten Fußschaukel auf Packpapier. Das Ding gefiel sehr. Und ›Tatort‹ sahen wir auch – auf allgemeinen Wunsch.

Gestern, am Montag ›quackelte‹ Vater. Weshalb, weiß er selbst nicht so genau. Vielleicht durch Umstellung auf allzu grauen Alltag?

Und ich hörte einen Radiobericht – ›Interview mit Löwen‹:

Interessant, aber grausig. Tierforscher lockten wilde Löwen an – mit deren Stimmen vom Band. Bei ›Simbas‹ gelten strengste Gesetze:

Jeder Löwe markiert die Grenzen seines Jagdreviers durch Duftspuren.

Je nach Rang oder Stärke des ›Eigners‹ bemisst sich dessen Revier. Im Beuteschlagen sind Löwendamen geschickter (oder fleißiger?) als Löwenherren. Die Erfolgreichste bestimmt, wo eine Schwächere fressen darf. Sie beansprucht auch die ach so beliebten Innereien.

Auf Band waren Geräusche festgehalten – vom Schlagen eines Büffels bis hin zum Zerreißen. – In einiger Entfernung sammelten sich Hyänen und Schakale zu fürchterlichem Gekreisch. (Die durften natürlich bloß zusehen.)

Kriegen Löwenmänner Wind von der Beute, lassen Damen ab vom Fraß, setzen sich in Positur und machen artig Platz. – Löwenkinder dürfen nicht kommen, ehe denn Vater, dann Mutter und Tanten sich satt gefressen haben. Drängen sie zu früh zum Schmaus, kriegen sie eins mit der Tatze verpasst.

Da geht’s also total autoritär zu.

Gestern Abend erwachten in Vater doch einige Lebensgeister:

Zu ›Na, denn prost!‹, einem plattdeutschen Hörspiel, wo es sowieso nie ohne Prosten abgeht, machte er sich Bratkartoffeln. Und gegen zehn hatte er noch Lust, etwas über anti-autoritäre Erziehung zu sehen. Vater ist dafür. Als ich fragte: »Was, wenn Klein-Moritz auf den Tasten unseres Klaviers herumtanzte?«, antwortete Vater nichts. Es gibt ganz sicher Unterschiede zwischen Theorie und Praxis, wenn eigene Belange berührt sind. Ohne Zügel geht’s doch im ganzen Leben nicht. Oder?

Heute gegen elf geht’s weiter. – Vater ließ sich anregen, im Wald zu arbeiten. Bin froh drum: Draußen wird der Kopf uns wieder klarer. Liz’ Brief vom Freitag brauchte bis heute. – Wer beäugt denn da so lange?

Auf ganz bequeme Art habe ich den nadelnden Weihnachtsbaum nach Rezept der Tante beseitigt. Ich schnitt alle Zweige ab und zerkleinerte sie per Gartenschere in einen Korb. Dann trugen Vater und ich den kahlen Stamm wie eine kurze Bohnenstange nach draußen. Auf die Idee bin ich in all den Jahren nicht gekommen

Von Dir kam eine lustige Karte: Der Igel am Kanonenöfchen rotbackige Äpfel bratend, während es draußen schneit. – Immer, wenn Dir nicht gut ist, nimmst Du eine erfreuliche Ansichtskarte. Hoffentlich geht’s Dir inzwischen wieder besser.

Evi meldete sich – stark erkältet und krank geschrieben.

Auch Moritz liegt mit Anflug einer Lungenentzündung im Bett, kriegt erneut Penicillin und hat irgendwelche Flecken im Mund, die Evi als Vorzeichen von Masern deutet. Unser Gespräch wurde abrupt durch Paul unterbrochen. Er kam und schimpfte: »Rabenmutter!«, weil der Kleine allein in der Wohnung lag, während Evi oben im Haus mit uns telefonierte.

Liebe Friedel, möchte es Dir gut gehen

XXX Deine Mutti

***

Mehmek, Freitag 14. Januar 1972

Meine liebe Friedel!

Zehn Grad weniger verändern das Leben gewaltig – jedenfalls bei uns im Haus und in unserm Alter.

Vater steckt in Diesdorf, um Pressfaserplatten zu holen, die er unter der Treppe nach oben im Flurkabuff anbringen will, damit die Kartoffeln dort nicht erfrieren.

Er baut so leicht ja nicht vor und musste deshalb beim gestrigen Kälteeinbruch schon den Scheunengang, wo gefährdete Futterrüben lagern, mit Stroh einpacken.

Ach ja, von Jahr zu Jahr seufzen wir mehr. Nimm’s nicht tragisch:

Bei diesem Wetter gratuliere ich Dir zur Wohnung mit Zentralheizung. Und bei Sommerhitze kannst Du uns zum luftig-kühlen Refugium hier gratulieren

Gestern ging ein Baumkuchenpäckchen an Dich fort.

Und wir waren in Beetzendorf.

Der Superintendent wollte von Vater Literatur über Buddhismus ausborgen. – Im HO-Kaufhaus besorgte ich mir neues Garn für mein unentwegtes Decken-Stricken. Die Verkäuferinnen standen auch frierend herum.

Zurück fuhren wir kurz einen Umweg, um Fräulein Kirsch zum 65. Geburtstag zu gratulieren. In der kleinen, sehr kalten Küche saßen sechs Frauen am weiß gedeckten Tisch. – Mir war heilsam, zu erleben, wie viel mehr noch als wir man der Kälte ausgesetzt sein kann. Abends beim Fernsehen klopfte jemand ans Fenster und fragte, ob Vater als Nachbar von Frau Zoll morgen zu deren Beerdigung am Sarg mit tragen könne:

»De Mile und de Trude sind da.« (Verwandte, jetzt aus dem Westen.) Alle an der Pflege von Frau Zoll beteiligten Frauen haben sich etwas ›in der Wolle‹. Spielt wohl mit: Wer erbt die Hinterlassenschaft der Verstorbenen?

Der Superintendent erzählte ganz nebenbei, er würde am kommenden Sonntag hier im Nachbardorf predigen. Seltsam: Die ›Ältesten‹ von dort haben Vater nichts davon gesagt! – Der Sup. möchte sicher gern mal die frisch und freundlich restaurierte Kapelle sehen. Dagegen ist nichts zu sagen.

Aber warum das Schweigen?

Tante Elfi schreibt etwas matt von Erlebnissen um Weihnachten und Neujahr. Ihr Sohnemann wurde zu einem Siebzehnjährigen gerufen – nach dessen Selbstmordversuch. Der Patient hängt an ihm und hört auf ihn. Doch von den Therapiegesprächen fühlt Fred sich schon wie ausgelaugt.

Mich tröstet, wenn Tante Elfi mal nicht bloß Positives berichtet.

Sie habe sich aber wieder ins Gleichgewicht geschlafen, meinte sie am Schluss. – Nach starken Erlebnissen gibt es eben leicht Krisen.

Morgen mehr, liebe Friedel, XXX Deine Mutti

***

Mehmek, Sonnabend 15. Januar 1972

Meine liebe Friedel!

Heute früh haben wir zum Glück nicht zehn, sondern ›nur‹ sieben Grad minus.

Liz kam schwer erschöpft nach Hause.

Mit Wärmepulle auf dem ›Sonnengeflecht‹ schlief sie ein, obwohl sie sich so auf den Freitagskrimi gefreut hatte. Nachher soll ich sie wecken. Lernen und Prüfungsdruck scheinen endlos.

Du kennst das ja und musstest allein damit fertig werden.

Fast hätte Liz zu Jahresbeginn in Eisenach geheult. Trost kam erst, als sie das Bett aufschlug und auch dort eine Wärmflasche vorfand, hineingelegt von Georgs Oma, obwohl Liz nicht übers lange Frieren in der vorhergehenden Nacht geklagt hatte.

Übrigens: Der mit Liz’ Stubengenossin aus dem Studentenheim frisch Verlobte meinte – zu Georg gewandt: »Meine Verlobung tut mir schon leid!« – Was Liz eine mögliche eigene Bindung noch skeptischer sehen lässt.

Evi rief kürzlich an, sie sei krank. Da telegrafierte ich der Liz: ›E. kommt nicht.‹ Sie sollte nicht erneut eine Sportstunde zu eigenen Ungunsten schwänzen. Den beiden bleibt sowieso kaum eine halbe Stunde Zeit fürs Treffen.

Vater war gegen meine Nachricht. Aber ich wollte Liz Ärger ersparen, war selber beruhigt und dachte nicht mehr dran. – Am anderen Morgen, kurz vor acht, blitzte urplötzlich der Gedanke auf: ›Jetzt hat sie’s!‹ – Tatsächlich:

Einige Minuten vor acht war das Telegramm bei ihr angekommen! Da gab es wohl zusätzlich drahtlose Verbindung. – Ob Telepathie auch zwischen Dir und mir, zwischen hier und Berlin, funktioniert? Wenn Dir nicht gut ist, spür ich’s, mein’ ich, manchmal schon.

Liz saß den gesamten Tag am Zimmerofen in Klausur. Was sie zu lernen hat, bleibt mir ›böhmisch‹. – Irgendwann guckte sie raus, weil ein gut hörbares Selbstgespräch sie fortwährend störte – in wechselnder Lautstärke das Wort: »Sch!« Ich hörte das auch, horchte kurz von der Küche her, machte aber die Tür sofort wieder zu, um mich nicht mit runterziehen zu lassen: Vater nagelte mühsam Spanplatten unter unsere Treppe zum Dachboden – gegen den Frost: Eine allerdings nicht eben angenehme Arbeit!

Heute musste Vater mit dem Arzt und einem anderen Nachbarn als Sargträger fungieren. – Der katholische Pater sprach bei der Trauerfeier schrecklich lange, las ständig das Gleiche vor: Vom Leben nach dem Tode. Selbst Vater bekam zu viel – und den Eindruck, sein ›Stiefbruder im Geiste‹ habe Angst, mehr zu sagen als nur, was er schwarz auf weiß in die Hand bekommen hatte.

Liz fand meine kritischen Fragen an Vater zu Hause völlig in Ordnung.

Der Pater hatte wieder und wieder den ›Heiligen Paulus‹ zitiert

Ich: »Wenn Paulus fordert, wir sollen Rechenschaft ablegen vom eigenen Glauben – zum ›Leben nach dem Tode‹ könnte ich ehrlicherweise nicht viel sagen. – Allerdings denke ich häufig an längst Verstorbene, als wären die noch hier.« Liz erklärte mir, das sei eine Vermischung von Lang- und Kurzzeitgedächtnis. Aber jene – die vor uns waren, sind ja Glieder einer Kette – ebenso wie wir.

Sonntag früh halb sechs

Weil ich nicht schlafen konnte, bin ich besser aufgestanden. – Minus vierzehn Grad! Die armen Hühner müssen schon den vierten Tag im Stall bleiben.

Liz’ Gesicht ist richtig klein geworden. Sie lernt wie versessen:

Morgen, Montag, will eine Mitstudentin Lernmaterial von ihr erben. Trotzdem hat sie mich getröstet, sie habe im März keine Prüfungen: Da könnte sie Vater um Ostern herum unterstützen, falls ich bei Dir bin.

Wenn also niemand uns Steine in den Weg wirft, und wir gesund bleiben, dürften wir den Tag nach Palmsonntag ins Auge fassen (Stell Dir das mal bildlich vor!)

Die Finger werden mir klamm beim Schreiben obwohl das Herdfeuer prasselt und die Heizsonne mir zu Füßen steht. Doch Frl. Kirsch hat’s ja viel kälter Gut, dass Vater den Raum unter der Treppe abgedichtet hat!

Wir erkundigten uns telefonisch nach Evis und Moritz’ Ergehen.

Penicillin schlug nicht an. Da bekam der Lütte ein anderes Medikament.

Liz kannte den Namen und meinte: »Starkes Geschütz!«

Paul ist beruflich unterwegs. Am Dienstag hat er Geburtstag. Evi bat uns, ihm eine Karte zu schicken. Das fällt mir schwer: Er gratulierte ja auch nicht zu Vaters 59. und meinem 58., als er kurz darauf hier war! Vielleicht bringt Liz da noch etwas zustande?

Mach Dir nicht Gedanken, was es geben soll, falls ich Dich besuchen darf. Gut vier Pfund zu viel – von den Feiertagen her – drücken im Rockbund.

Biet mir Obst, Hackbällchen und frisch geriebene Mohrrüben an.

Davon schwärme ich. Und so was kann ich beißen!

(Na, als Greisin will ich mich doch noch nicht vorstellen.)

Zurzeit bin ich übrigens ganz abgekommen vom Quark.

Das Winterdunkel bedrückt uns wohl alle.

Deine Fausthandschuhe – innen gefüttert – gönne ich mir. Herrlich! Du fragst nach Wünschen. Wir dürften so kurz nach Weihnachten eigentlich noch keine wieder haben Feinwaschmittel, eventuell noch ›Ajax flüssig‹, vielleicht Appretur und – Hustenbonbons? Danke, liebe Friedel.

Jetzt muss ich im Gemeinderaum schnell noch ein bisschen Staub wischen, weil doch heute die ›westlichen‹ Angehörigen der verstorbenen Frau Zoll kommen. – Liz will ab acht wieder lernen und vorher ihre Haare waschen.

(Die Abflussrinne draußen ist leider bereits halb voller Eis.)

Liebe Friedel, schlaf recht viel! Sei von Herzen gegrüßt. Wünschen wir uns gegenseitig, dass ich in zwei Monaten ans Kofferpacken denken darf!

Dass Du nicht mehr als meine paar Brocken Englisch gelernt hast, wo Ihr das hier in der Schule nicht ›hattet‹, muss Dich doch nicht bedrücken.

Mit Englisch ist man auch nicht glücklicher, obwohl ich meine Englandzeit nicht missen möchte

XXX Deine Mutti

***

Steintal, 15. Januar 1972 Sonnabend nachmittags

Liebes Schwesterlein

Seit Weihnachten ist dies der vierte Anlauf zum Brief an Dich.

Oft hatte ich fast eine Seite voll, wurde unterbrochen oder – der Faden war weg.

Entschuldige bitte! – Eine Woche war ich krank, fällt mir weiter zur Verteidigung ein. Jetzt ist Moritz krank, schläft hoffentlich noch ein Weilchen.

Paul steckt vermutlich nahe Salzwedel. Er wusste gestern Abend selbst nicht, wo. – Am Telefon meinte er: »Ist doch alles dunkel, wir sind von da und da nur immer geradeaus gefahren.«

Weil morgens zu lange im Bette, musste ich vorhin noch den Hausflur wischen. Ich hatte allerdings bis Mitternacht gebügelt.

(Meine schlechte Arbeitseinteilung ›Abends werden die Faulen fleißig ‹)

Heute ist ›Oma Apenburgs‹ Geburtstag und am Dienstag schon Pauls. – In der nächsten Woche will sie uns besuchen. Da bin ich mit Moritz noch zu Hause.

Oh, es klingelt:

Uschi G. von oben, jetzt auch Mutter eines Sohnes, holte mich ans Telefon. – Liz rief von zu Hause aus an und erkundigte sich nach Moritz’ Befinden.

Als ich runter kam, heulte der schon, war inzwischen aufgewacht.

Nun ist er angezogen und mault vor seinem Spielzeug rum. Auf meine Frage: »Was hast Du denn?« – »Gar nichts!«

Und er stellte sich freiwillig von einer Ecke in die andere

Mutti sagte, Du dächtest, ich sei böse.

Nein, da hätte wohl eher ich Grund, zu denken, Du seiest böse.

Kann leider oft nicht schreiben: Ist Paul da, fällt mir nicht ein einziges Wort ein.

Hab also endlich ganz, ganz vielen Dank für die Weihnachtspakete! Wir haben uns natürlich riesig gefreut! Das Schönste war oder ist immer noch Euer Waschmittel. Mit dem geht wirklich alles raus. Toll! Sogar Kleckerpullis waschen sich damit – fast völlig von allein.

Moritz spielt viel mit den Bausteinen.

Einen kleinen Wagen draus kann er seinem großen Auto anhängen. Das Buch von ›Fisch (= Plisch) und Plum‹ musste ich ihm schon einige Male vorlesen. – Er bekam zu Weihnachten viele Holztiere, von denen er begeistert ist, und mit denen er genau so ausdauernd spielt wie mit Ost- und West-Legosteinen.

Gerade hat er sämtliche Tiere, Bausteine und Autos gleichmäßig auf dem Fußboden verstreut selber auf dem Bauch – als kleiner König mittendrin.

Das klingt so gar nicht nach krankem Moritz. Tatsächlich hat er auch kein Fieber mehr. Angina und krankes Ohr sind schon überstanden.

Nur blieb ihm immer noch eine gegen Penicillin resistente Bronchitis. Wir gehen täglich zum Inhalieren einer mit Ultraschall verteilten Sole.

Ich selbst war noch nicht wieder beim Arzt, weiß nicht den Röntgenbefund. Seit fast zwei Wochen geht es mir aber gut. Drei Wochen war mal die längste Zeitspanne, nach der es leider erneut losging Die kleine Pause mit Moritz zu Hause tut richtig wohl.

Hetzerei im Beruf macht einen fix und fertig. Meine Chefin allerdings hält die Luft an – bis ich wiederkomme. Da geht’s erst mal drunter und drüber.

Ich brauche dann meistens vier Wochen, bis alles wieder im Gleis liegt.

Dabei ist die Arbeit sowieso schon zu viel für einen allein.

Von meinen Freundinnen lässt sich zurzeit keine sehen. Wir wohnen hier am A der Welt. Dahin kommt niemand gern; schon gar nicht im Winter.

Schon hundert Jahre will ich mir einen Plattenspieler kaufen für meine vielen einsamen Stunden. Leider ist es einfach zu weit bis dort. Und nach der Arbeit ist es zu spät. Moritz kann oder will nicht so weit laufen usw.

Gut, dass dieser Brief schon so weit gediehen ist!

Auch wenn Paul nicht da ist, überfällt mich oft Unfähigkeit, irgendetwas zu tun oder zu denken. – Ich sitze apathisch herum und friere, wenn nicht Muss dahintersteckt…

Zum Glück fordert der Sohn ja laufend was, sodass ich nicht völlig absacken kann. Ich sollte energisch dagegen angehen.

Ja, ja. »Erblich vorbelastet!«, sagt mein lieber Mann.

So, Moritz hat gerade einen ›Hühnerstall‹ gebaut, ringsherum mit Glas, toll! Solche Wohnung wünsch ich mir! Hab heute schon vier Eimer Kohlen verheizt.

Hier höre ich erstmal auf. Hoffentlich bist Du nicht enttäuscht.

Nochmals vielen Dank für alles.

Tausend Xe und Grüße von Evi und Moritz

***

Mehmek, Dienstag 18. Januar 1972

Meine liebe Friedel!

Liz brachte zu Pauls Geburtstag ein paar Zeilen auf halber Briefkarte zustande; und Vater malte auf die freie Seite ein kleines Aquarell: Ansicht des Dorfes vom Hügel her gesehen. Ehe dieses Problem gelöst war, lag ich gestern ›flach‹.

Für Deinen lieben Brief vom 11.1. hab Dank! – Wir gratulieren zum neuen teuren Fernsehapparat. Hoffentlich hast Du viel Freude daran! Bessert sich die Gesichtsrose Deiner Chefin? Oma erzählte mal, Uroma habe damit kaum gucken können und lange im abgedunkelten Zimmer liegen müssen.

Evis Nachbarn hatten Bruder und Schwägerin des Hausherrn zu Besuch. Die fand Evi angenehm. Und die Silvesterfeier endete erst nachts gegen zwei. Hab schon vergessen, was Evi erzählte. Mich wundert nur, wie lange sie dort ausgehalten hat.

Bei vierzehn Grad minus bewältigte ich heute alle Außenarbeiten allein: Vater musste mit dem Auto nach Diesdorf zur Werkstatt.

Bis zwölf – erst dann gab’s Frühstück – lief ich sehr ›zünftig‹ kostümiert herum: Winterbluse unterm richtig dicken Pullover, Trainingsjacke und Trainingshose drüber – und darüber ’ne alte weite Kittelschürze, zudem einen Wollschal um den Kopf. – Gut, dass Ihr mich nicht als ›Maruschka‹ habt sehen können! – Ob russische ›Puppen in der Puppe‹ durch ähnliches Übereinander bei Kälte angeregt worden sind?

Wir heizen zurzeit neben Küche, Gemeinderaum und Wohnzimmer auch noch den Badeofen – nicht etwa, um zu baden! Selbst in der Waschküche, doch zwischen Küche und Bad gelegen, lag über eingeweichter Wäsche eine leichte Eisdecke.

Ach, Ihr habt ja, als Oma noch mit Euch im Kinderzimmer schlief, selbst erlebt, wie sie morgens das im Wasserglas eingefrorene künstliche Gebiss vor sich her in die Küche trug als: »Zähne in Aspik!«

Und auch Ihr fandet oft gefrorenen Atem als Reif oder ›Schnee‹ am Oberteil des Federbetts vor Mund und Nase…

Der Nachtspeicherofen schafft hier gerade mal neun Grad ›Zimmertemperatur‹. Abends sind es dann noch sechs. – Aber die armen, armen Viecher erst

Vater bekam im Urlaub ein kleines Ölgemälde fertig. – Ich mag es: Im Vordergrund eine leichte Anhöhe mit knorriger Eiche und ein paar grünen Tannen, dann eine Art Strom, dahinter blaue Berge. Vater nennt das seine ›Fernweh-Landschaft‹.

Liz war am Sonntag reichlich nervös. Selbst das bedächtige Ticken von Omas altem ›Regulator‹, der Wanduhr, war ihr zu laut. Sie hielt das Pendel an.

Frau Zoll junior widmete uns nach der katholischen Trauerfeier drei Stunden von ihrer genehmigten Einreisezeit. Sie kam mit Tochter Trude.

Bald drauf klingelte es. Liz öffnete und führte ›Kitty‹ M. ins Zimmer. Der hatte Trude gesucht, um sie zu entführen; und die musste mächtig lachen, als sie ihn sah, ging aber mit.

Die Mutter erzählte, Kitty sei ein hartnäckiger Verehrer ihrer Tochter gewesen. »Heirate keinen Mann ohne Glauben!«, habe sie gewarnt. Und wenn er die Tochter abends vors Haus gelockt hatte, sei sie bald hinterhergegangen: »Nun ist’s aber genug!«

Frau Zoll war stolz drauf, im Westen noch doppelte Buchführung gelernt und vierzehn Jahre gearbeitet zu haben. Mit der Schwester zusammen konnte sie bauen: Der Bruder habe gemauert und jede Schwester in der Freizeit drei Jahre Handlanger gespielt. Nun wohnen sie tatsächlich im eigenen Haus. – Frau Z. wirkte sehr herzlich. (Friedels Kommentar: Kein Wunder! Mutti hatte Frau Z. einst nachts per Rad zu einem weit entfernten Bahnhof begleitet und die Fahrkarte nach Berlin für sie gekauft – zur ›Republikflucht‹.)

Mit Nachbarn der Verstorbenen hatte es Missklang gegeben.

Ob Wahres ist an der Beschuldigung, kann ich nicht beurteilen: Geld fehle – und ’ne goldene Taschenuhr. – Der Bürgermeister hatte die Schwiegertochter sofort drauf hingewiesen, dass sie nichts mit in den Westen nehmen dürfe. (Die wollte ohnehin nichts – außer einigen Fotos.)

Seltsam: Die alte Frau Zoll starb am Geburtstag ihres gefallenen Sohnes und acht Wochen nach ihrem Mann. – An solchen Gedenktagen ist die Bereitschaft, ›hinterher‹gehen zu wollen, offenbar besonders stark.

Ziege Schneechen hat einen dicken Kopf: ›Ziegenpeter‹? Vater hängte ihr einen kleinen elektrischen Heizstrahler in den Stall. Vielleicht hilft’s ja.

Auf der Herdplatte ›zieht‹ ein Töpfchen Hagebuttentee. Und Abendbrot für Vater wartet auf dem Tisch. Mir selbst stellte ich nur ein Ei hin.

Das Außenthermometer zeigt minus vierzehn Grad.

»Das russische Hoch ändert sich nicht«, meinte der Wetterbericht. Hoffentlich geht es Dir gut, liebe Friedel. – Die kranke Chefin wird froh sein, Dich als Vertretung zu haben.

Sei herzlich gegrüßt

XXX Deine Mutti

P. S. Mittwoch früh, acht Uhr

Du musst vermutlich zum Dienst.

Bei uns sieht es aus – Du machst Dir keinen Begriff! – Gestern vorm Schlafengehen hatten wir im Vorratsstübchen fünf gesprungene Eier entdeckt. Vater kennzeichnete die sofort mit einem Kreuz.

Heute früh – aufgetaut in der Küche – waren sie tatsächlich nur noch dank Kennzeichnung als gesprungen zu identifizieren.

Nach dieser Entdeckung ließen mir Einweckgläser im Eckzimmer keine Ruhe. Dort zeigte das Thermometer ebenfalls etwa sechs Grad Minus. In Nachthemd und Mantel gewandet trugen wir die kleinen ›Eisblöcke‹ auf den Küchentisch, um sie vorm Platzen zu bewahren.

Ich selbst habe die ganze Nacht über nicht warm werden können – trotz Wärmestein im Bett. Jetzt habe ich mich getröstet und mir eingeheizt mit drei Spiegeleiern, ›Not-gebratenen‹, da ja vorher erfrorenen.

Hoffentlich wird es bald milder!

Ich jammere. Doch wie mag es erst bei Frau Steffen aussehen? – Schon vor Weihnachten wirkte deren Stube wie ein kalter Hundestall.

Und bei Evi schließt das Schafzimmerfenster nicht richtig

***

Mehmek, Sonnabend 22. Januar 1972

Meine liebe Friedel!

Heute vor elf Jahren, an Opas Geburtstag, stürzte Vater mit dem Motorrad und holte sich eine Gehirnerschütterung!

Solche Daten sitzen mir meist allzu fest im Gedächtnis.

Als ich vorhin Deinen Brief vom 18.1. öffnete und oben in der Ecke Wilhelm Buschs ›Onkel Fritze‹ mit den Maikäfern sah, dachte ich: ›Ei, ein heiterer Brief!‹ Beim Lesen merkte ich leider: Vergleichsmotiv ist das ungemütliche Liegen im Bett.

Am Schluss war zum Glück zu lesen, dass Du endlich anderes als nur Brei essen wolltest, wir also von Deiner Grippe erst im Perfekt gehört haben. Verwöhnt bist Du ja nicht als kranke Selbstversorgerin.

Bei mir ging es in den letzten zwei Wochen auch dauernd auf und ab.

Am Donnerstag brachte ich es fertig, Frau Grans zum Geburtstag zu besuchen. Vater wollte unterdes zum alten Herrn Fisch. Dort war alles abgeschlossen. Seine Tochter saß bereits im Kuhstall beim Melken. – So kam Vater mir nach, fühlte sich aber zwischen sechs ›Weibern‹ nicht so recht wohl. (Ich – ja!)

Schade, dass Vaters Stimmung auch meine trübte! Ich war den ganzen Tag so aufgelebt gewesen, weil’s Wetter sich geändert hatte. Über Nacht – plötzlich ein Grad plus: Das erschien wie Frühling!

Leider wurde der Wetterumschwung Ursache für ein schweres Unglück in der Nähe: In Dähre sollte eine Beerdigung stattfinden, und die Trauerfamilie holte Westbesuch vom Beetzendorfer Bahnhof ab. Die Straßen verwandelten sich innerhalb von Minuten in spiegelglatte Flächen. Und kurz vorm Ort überschlug sich das Auto.

Es gab Verletzte, sogar einen Toten unter den angereisten Verwandten.

›Es kann vor Nacht leicht anders werden, als es am frühen Morgen war

Am Folgetag erholten wir uns nur recht schweigsam von alledem.

In meiner hässlich-provisorischen Kleidung klopfte ich gründlich den Teppich, auf dem wir seit Weihnachten gewohnt hatten. – Dann bohnerte ich den Fußboden – immer noch in nicht für die Öffentlichkeit bestimmter Aufmachung.

Doch etwas ordentlicher ist es zumindest drinnen wieder.

Die Post muss sehr, sehr langsam arbeiten! Oder woran liegt es, dass Du meinen Brief vom 6. erst am 16. hattest? – Ich schrieb doch jede Woche zwei- bis dreimal! Aber das ist wohl ohnehin ungewöhnlich. Lore A., so hörte ich, schreibe lediglich zwei Briefe im Jahr nach Hause!

Vater sitzt am ovalen Küchentisch, ich am runden. Auf einem ausrangierten Hemd zum Schutz der weißen Wachstuchdecke hat Vater jetzt Ölsachen, Pinsel und ein Stück Pressfaserplatte vor sich liegen. Er malt sein schon fertiges Aquarell noch mal in Öl, meint, das sei leichter als mit Wasserfarben.

Gestern, am stummen Tag, saß Vater im Sessel – Block und Kohle in der Hand – und wollte sich vom Spiegel abzeichnen. Doch erkannte er sich in der Kohlezeichnung selbst nicht wieder. – Ich fand’s auch nicht besonders ähnlich. Ärgerlich auf sich wirkte Vater wie geistesabwesend.

Liz hat ihre bisherigen Klausuren zu Anfang der Woche gut überstanden.

Am Mittwochabend sahen wir ›Stress in Bonn‹.

Dann sang Iwan Rebroff so wunderbar: ›Wenn ich einmal reich wär‹ aus dem Musical ›Anatevka‹.

Ob Du das auch gesehen hast?

Dass Willi Brandt eine Ohrfeige hinnehmen musste, ist ja unglaublich. Ich bestaune, wie er über diese Frechheit so scheinbar gelassen hinweggehen konnte. In Frau Brandts Haut möchte ich auch nicht stecken.

Höre eben, Premierminister Heath sei in Brüssel mit Tinte beworfen worden

Heute haben wir schnell das milde Wetter genutzt und die Sakristei geputzt. – Da gibt’s für mich einen ›Anklagepunkt‹ weniger.

Trotz Vaters Urlaub kamen am Mittwoch drei Konfirmandinnen.

Weil die Sakristei so kalt war und wir sie nicht fortschicken mochten, unterrichtete er sie vorn im Gemeinderaum, der ja auch für uns von der Küche her beheizt ist. Die Mädel interessierten sich lebhaft für die hübschen Leutchen überm Fernseher, die von Dir gebastelten Kiefernzapfen-Püppchen!

Heute früh im Schulfunk hörten wir nach Aischylos (etwa 400 v. Christus): ›Xerxes und die Schlacht von Salamis‹: Da wurden die mächtigen Perser von den listigen Griechen geschlagen.

Und beim Frühstück wälzte Vater dazu gleich eine ›Weltgeschichte‹ aus dem Bücherschrank.

Mein Brief kommt heute nur langsam voran. – Und Vater hat das Ölbild fertig. Ihm geht’s damit wie mir mit meinen ewigen Strickdecken.

Das heißt: Zurzeit stricke ich Fausthandschuhe für Vater; aus anthrazitfarbener Wolle von Dir.

Hoffentlich hast Du einen erholsames Wochenende. Ich freu mich, wenn Du Dich wohl fühlst.

Sei von Herzen gegrüßt

XXX Deine Mutti

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Mehmek, Dienstag 25. Januar 1972

Meine liebe Friedel!

Vater ist fort zu einer Tagung.

Und ich hatte heute schon zwei mal ›Spaß‹ wie ihn das Sprichwort meint:

›So kann man auch mit kleinen Sachen Beamtenkindern Freude machen!‹

Als ich in der Frühe das Herdfeuer mit Buschholz und Papier anlegen wollte, ließ sich die Heizungsklappe partout nicht öffnen.

Plötzlich hielt ich das Porzellanteil vom Griff lose in der Hand. Und die letzte von drei Schrauben kullerte auf dem Boden herum. – ›O weh!‹, dachte ich – ›wenn ich jetzt nicht heizen kann ‹ Von oben her hätte ich Feuer legen können. Doch zu jedem Nachlegen hätte ich Eisenringe aus der Platte heben müssen: Qualm und Ruß wären in die Küche entwichen! – Ich bemühte mich per Zange – ohne Erfolg. Hilflose Situationen empfinde ich immer als besonders schlimm!

Kurz nach sieben klingelte ich beim Nachbarn gegenüber. Herr Brumm war gleich bereit zu helfen, obwohl er bald zur Arbeit musste. Ich lief ihm voraus, um die Haustür zu öffnen. Dabei stolperte ich fürchterlich und dachte einen Moment, das linke Bein täte es nicht mehr. Doch vorsichtig und langsam geht’s. – Erste Freude: Fuß nicht gebrochen, sondern nur leicht verstaucht!

Herr Brumm hantierte – wie zuvor ich – vergeblich mit der Zange, stieß dann aber von oben her innen gegen die Feuerungsklappe: Da sprang sie auf!

Ich – total verkeilt im Kopfe – (Mrs. Skinner hätte gesagt: blockheaded) war nicht darauf gekommen! – Der Griff ist noch ab. Doch kann ich heizen.

Das war meine zweite Freude! Gut, dass ich morgens um sieben die Küche so einigermaßen in Ordnung hatte! Neulich, ich kaufte im ›Konsum‹ ein und Vater malte hier in Öl, als die Postbotin erschien: Da sah’s bestimmt zum Schämen aus!

Vaters Sachen, angefangen vom Nachthemd bis zum Mantel, habe ich heute gewaschen, geklopft oder gebürstet: Immer, wenn Vater fort ist, räume ich auf in seinem Kabuff. Die ›Ordnung‹ dort ist sagen-haft

Ein Glück, dass momentan fürs Wäschewaschen erträgliches Wetter herrscht! Nur minus drei Grad. – Nebenher zergeht mir eine Tablette auf der Zunge – zur Vorbeugung. Mein Kopf ›munkelt‹ ein bisschen. Vor seiner Abreise hat Vater hier ’ne Kellerfalle entschärft, indem er in den Küchenschrank (bei Zucker, Mehl usw.) eine Vorrichtung montierte, die zu weites Aufgehen der Schranktür mit möglicher Blockade der nahen Kellertür verhindert.

Am Sonntagmittag hatten beide Türen sich wieder innig ineinander verhakt: Ich saß im Keller fest. Zum Glück war Vater in der Küche. Wir malten uns aus, ich könnte da bei Frost einige Tage im Keller eingesperrt sitzen – wie kurz – bei allerdings angenehmer Kühle im Sommer, als Onkel Gerd mich befreit hat…

Am Sonntag gegen zwei klingelte es. Noch ehe ich öffnete, dachte ich: Evi! Und ich hatte recht. Klein-Moritz schien stiller als sonst, aber nicht krank.

Evi gab bei Frau Trumpf zum Maschinenstricken ein Kleid in Auftrag. Aber ihre Wolle, ein Weihnachtsgeschenk von 1969, hätte dafür nicht gereicht. So rückte ich achthundert Gramm cognacfarbene, meine stille Reserve, für sie heraus.

Paul interessierte es, ob ich in diesem Jahr zu Dir fahren wolle, und wann.

Da kamen wir auf Vaters Sechzigsten zu sprechen. Ich hatte festgestellt, dass der 19.11. auf einen Sonntag fällt: Wir könnten uns hier unsichtbar machen…

Draus könnte ein Urlaubstag werden – mit Dir am Ostbahnhof.

Ich lud Evi dazu ein. Sie kehrte aber alles um: »Da kann Paul uns doch fahren. Wohnen könnten wir (sie und ihre ›Männer‹) bei Pauls Freund Salle.«

Paul schien Feuer und Flamme. – Ich stimmte sogar zu. Jetzt, nachträglich, gerate ich in Zweifel. Aber bis dahin fließt ja noch viel Wasser durch die Spree.

Und Moritz wollte eigentlich hier bleiben! Zu ›Pippi Langstrumpf‹ saß er bei mir auf dem Schoß und verfolgte, was die so alles anstellte. Morgens, vor diesem Besuch, kam außer uns nur noch Frau Otto zur Kirche. Sie wollte nach dem Streit um Frau Zolls Erbe » nun aber nie und niebis