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Ewald Arenz

Eine Urlaubsliebe

Erzählungen

ars vivendi

Einige der Erzählungen wurden bereits in früheren Bänden bei ars ­vivendi veröffentlicht: »Bücherliebe« in Meine wunderbare Buchhandlung, hrsg. von Dirk Kruse, Cadolzburg 2010; »Tod in Venedig« in To die or not to die, hrsg. von Thomas Kastura, Cadolzburg 2014; »Der Traum vom richtigen Leben« in Mein Song, hrsg. von Steffen Radlmaier, Cadolzburg 2005. »Der Teezauberer« erschien als eigenständige Erzählung 2003.

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage April 2020)

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

Covergestaltung: ars vivendi

Einbandfoto: © Jovana Rikalo / Trevillion Images

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

eISBN 978-3-7472-0157-2

Eine Urlaubsliebe

Inhalt

Eine Urlaubsliebe

Bücherliebe

Mittsommerliebe

Tod in Venedig

Maryllis

Der Traum vom richtigen Leben

Der Teezauberer

Der Autor

Eine Urlaubsliebe

Es war einer dieser klaren Tage, die es im Herbst nur im Süden geben kann. Die Stadt war still geworden, die meisten Touristen waren längst wieder zu Hause, und allmählich gehörten die Straßencafés und die Strandpromenade wieder den Einheimischen. Im Hotel war es angenehm ruhig, selbst wenn man nicht so früh aufstand wie ich und der graubärtige Herr, den ich jeden Morgen um die gleiche Zeit durch die Lobby kommen sah. Ich nahm an, dass er Maler war oder vielleicht Filmregisseur oder etwas mit dem Theater zu tun hatte. Es war so eine künstlerische Aura um ihn und seine schöne Frau, die meist etwas später zum Frühstück kam.

Er trat aus der Tür und nahm sein Handy heraus, als der kleine streunende Hund, der vorhin an meinem Tisch gebettelt hatte, wie der Blitz zu ihm hinüberschoss und an seinem Bein hochsprang. Ganz offensichtlich schien er sich zu freuen. Der Mann sah etwas unsicher lächelnd auf ihn hinunter, weil er das zwar sehr nett fand, der Hund aber andererseits nicht aufhörte, sich zu freuen. Der Mann tätschelte beruhigend den Kopf des Hundes, was den aber nur zu verstärkter Freude zu ermuntern schien. Um genau zu sein, freute sich der Hund jetzt ausgiebig und recht heftig. Der Mann schüttelte zaghaft sein Bein. Er wollte dem Hund nicht wehtun. Er tat dem Hund nicht weh. Der Hund war ganz im Gegenteil begeistert davon, dass das Bein seine Liebe zu erwidern schien. Der Mann versuchte, auf seinem verbliebenen Bein das Gleichgewicht zu halten und dabei nicht wie ein Clown auszusehen. Es funktionierte nicht gut.

»Aus jetzt!«, befahl er dem Hund wenig energisch. Der Hund sah verständnislos auf und verdoppelte dann seine Anstrengungen. Das mochte daran liegen, dass es ein italienischer Hund war, der vermutlich kein Deutsch verstand. Ich verbarg mein Lächeln hinter der Zeitung. Der Mann sah zu mir herüber und hob in einer hilflosen Geste die Hand, woraufhin der Hund sofort zurückschreckte und sich leise winselnd duckte. Offensichtlich war er schon oft geschlagen worden. Dem graubärtigen Herrn tat das Missverständnis so leid, als wäre der Hund ein Mensch gewesen. Spontan kniete er sich hin und murmelte Beruhigendes, was ich von meinem Sessel in der Lobby aus nicht verstehen konnte, aber der Hund kam zögernd zurück und leckte ihm zaghaft die Hand. Es war eine sehr sympathische Szene, die ich aber trotzdem bald wieder vergessen hätte, wäre nicht die schöne, weißhaarige Dame gekommen, um mit ihrem Mann zu frühstücken. Sie sah ihn vor dem Hund knien und ihn streicheln und kam quer durch die Lobby.

»Hast du einen neuen Freund gefunden?«, fragte sie mit einer weichen Stimme, die gut zu ihrem eleganten Aussehen passte.

Der Mann richtete sich auf, deutete auf den Streuner und sagte, während er sich Hundehaare von der Hose klopfte:

»Na, es sieht eher aus, als hätte er einen neuen Freund gefunden. Er liebt mein rechtes Bein.«

Die Dame ging in die Knie und streichelte den Hund.

»Ein kluges Tier«, sagte sie, »ich mag deine Beine auch.«

Der Mann lächelte.

»Ich weiß. Am Geld kann es nämlich nicht gelegen haben. Komm, wir frühstücken.«

Der Hund musste auch das missverstanden haben, denn er begleitete die beiden zum Frühstückstisch und wich auch dann nicht von ihrer Seite, als er reichlich mit Brötchen, Schinken und Wurst gefüttert worden war und eigentlich hätte satt sein müssen. Es schien, als hätten sich da wahre Freunde gefunden. Ich faltete meine Zeitung zusammen und seufzte. Ich kannte das. Die übliche Tragödie der Urlaubsflirts. Eine Woche Glück, und dann kamen die Tränen, sobald man nach Hause musste. Auch wenn es bei mir meistens keine Hunde gewesen waren, mit denen ich schöne Urlaubstage verbracht hatte: Der Blick der schönen, weißhaarigen Frau war unverkennbar gewesen. Sie hatte sich verliebt.

Der September schritt fort. Über die schon etwas staubige Landschaft Apuliens war ein hoher, herbstlich blauer Himmel gespannt. Mittlerweile wartete der kleine Streuner schon immer in der Lobby auf das deutsche Paar, das nun auch jeden Morgen zusammen vom Zimmer kam. Er strich auch vorher nicht mehr um die anderen Tische herum; es war, als wüsste er, dass er schon zu seinem Frühstück gelangen würde, wenn denn erst seine neuen Freunde kamen. Einmal warf einer der Brotfahrer einen Stein nach ihm, um ihn vom Eingang des Hotels zu verjagen; er traf ihn hart am Rücken, und winselnd floh der kleine Hund um die Ecke, nur um dann, eine ganze Zeit lang später, ein wenig hinkend und vorsichtig an den Tisch des graubärtigen Herrn und der weißhaarigen Dame zu traben.

Als ich an diesem Tag von einem langen Spaziergang am Spätnachmittag ins Hotel zurückkehrte, passierte ich die Terrasse des deutschen Paares. Den Hund konnte ich nicht sehen, aber anscheinend lag er zu Füßen der beiden, die eben Kaffee tranken, denn das Gespräch schien sich um ihn zu drehen.

»Wir können ihn nicht mitnehmen«, erklärte der Mann geduldig, »ich weiß, wie sehr du ihn magst. Aber vielleicht darf ich dich daran erinnern, dass wir zu Hause bereits einen Hund haben.«

»Aber er ist verletzt«, antwortete die Frau mit ihrer weichen Stimme. Ihr Gesicht tauchte nach unten. Wohliges Knurren drang durch die Hecke. Vermutlich wurde eben ein Hund ausgiebig gestreichelt.

»Verletzt und ein Rüde«, gab der graubärtige Mann zu bedenken, »aber nur die Verletzungen heilen …«

»Hm«, kam es nachdenklich von unter dem Tisch, »ich weiß. Aber er ist so ein schöner Hund …«

»Frauenlogik!«, knurrte jetzt auch der Mann, aber es klang nur wenig unfreundlicher als das Knurren von unter dem Tisch. Ich ging melancholisch lächelnd weiter. So liefen diese Geschichten immer. Es machte den Reiz solcher Urlaubslieben aus, dass man sich vorstellte, wie es wäre, wenn sie eben nicht nach zwei Wochen zu Ende gingen. Die Unmöglichkeit der Zukunft gab der Gegenwart diese wunderbare, unvergleichliche Süße.

Vielleicht lag es an den allmorgendlichen Begegnungen, vielleicht daran, dass mich diese Geschichte an eine längst vergangene Sommerepisode aus meiner Jugend erinnerte, und vielleicht auch ein wenig daran, dass der Hund zuallererst an meinem Tisch gebettelt hatte, aber irgendwie nahm ich mehr Anteil an dieser Geschichte, als ich eigentlich vorgehabt hatte. Der Tag meiner Abreise kam näher, und auch die unvergleichlichen Farben Apuliens begannen durchsichtiger zu werden. Der Herbst war da. Am vorletzten Tag schließlich kam zum ersten Mal seit einer Woche der Mann wieder alleine zum Frühstück. Er sah übernächtigt aus, und vielleicht hatte er sich mit seiner Frau gestritten, denn er grüßte nur mürrisch in meine Richtung. Bevor er sich setzte, sah er sich um. Richtig. Jetzt bemerkte ich es auch. Der Hund war nicht da. Der Mann stand tatsächlich noch einmal auf und ging vor dem Hotel auf und ab, doch der Hund war nirgends zu sehen. Als er zurückkam, zuckte ich teilnehmend die Schultern.

»Vielleicht hat er einen anderen Frühstücks­tisch gefunden«, versuchte ich ihn mit einem Scherz zu trösten, wie es Fremde eben so tun. Der Mann schüttelte den Kopf. Auf einmal sah er sehr traurig aus.

»Er ist immer gekommen«, sagte er bestimmt, »vielleicht ist er überfahren worden. War meine Frau schon hier?«, fragte er dann übergangslos.

Ich war überrascht.

»Oh«, sagte ich, »nein. Ich dachte, sie wäre vielleicht noch im Zimmer.«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er knapp, »wir … wir haben uns gestritten. Wegen des Hundes. Wäre wohl gar nicht mehr nötig gewesen.«

Er deutete auf den leeren Platz unter seinem Tisch, wo sonst der Hund lag. Ich hätte gerne etwas Aufmunterndes gesagt, aber er hatte sich schon abgewandt und ging auf seinen Tisch zu. Zum Glück hatte ich schon gefrühstückt, und deshalb brach ich gleich jetzt zu meinem letzten Ausflug über Land auf. Ich hatte keine Lust, mir die Stimmung durch das unglückliche Ende einer Dreiecksbeziehung verderben zu lassen, von der ich nicht einmal ein aktiver Teil war.

Spät am Abend kam ich zurück und sah im Vorbeigehen halb erleichtert, halb bedauernd, dass die Stühle der ­Terrasse bereits aufgeräumt waren und der Tisch hochkant gestellt war. Das Paar war wohl schon abgereist. Unter dem Tisch stand eine vergessene Untertasse, in der noch immer etwas Wasser war. Auf eigenartige Weise rührte dieses kleine Überbleibsel einer besonderen Urlaubsliebe mein Herz an wie ein Lied aus halb vergessenen Zeiten, und an diesem Abend trank ich an der Bar mehr als sonst.

Am nächsten Tag kam ich später in die Lobby als sonst. Obwohl es Samstag war und damit ein Tag des Bettenwechsels, war es doch sehr ruhig im Frühstücksraum. Ich aß ein wenig Toast, las zerstreut ein wenig Zeitung und sah viel aus dem Fenster. Abschied, dachte ich. Aber dann sah ich zu meinem großen Erstaunen meinen bärtigen Freund, wie er das Auto vorfuhr. Seine schöne, weißhaarige Frau wartete mit den Koffern am Eingang. Ich zögerte kurz, aber dann stand ich doch auf, um hinauszugehen. Wenigstens verabschieden wollte ich mich von ihnen.

Irgendwie hatte ich ja mit ihnen gefühlt und war über sie zu einem entfernten Freund des kleinen Streuners geworden, der jetzt wohl irgendwo in einem Straßengraben lag. Ich trat zum Auto.

»Gute Reise!«, wünschte ich der Dame.

»Danke«, sagte sie mit ihrer weichen Stimme, die ich so warm fand.

»Ich … es tut mir leid wegen des Hundes«, sagte ich noch schnell und sehr verlegen.

»Ach«, sagte sie lächelnd und hob einen großen Weidenkäfig hoch, aus dem ein müdes, aber wohlbekanntes Winseln zu hören war, »es geht ihm schon viel besser!«

Ich war vollkommen verblüfft. Ihr Mann hatte jetzt geparkt und war ausgestiegen. Er sah vergnügt aus und sehr viel besser als am Tag zuvor.

»Aber«, stotterte ich, »ich dachte …?!? Sie nehmen ihn mit? Sie nehmen ihn wirklich mit?«

Der Mann sah mich lachend an.

»Ja!«, sagte er, »meine Frau hat ihn kastrieren lassen. Gestern, statt mit mir zu frühstücken. Ein hoher Preis«, grinste er plötzlich bübisch, »den die beiden da bezahlt haben, damit er ein Zuhause bekommt. Und meine Frau ihren Don Corleone!«

»Don Corleone«, lächelte ich und beugte mich vor, um noch einmal zu dem kleinen Hund hineinzusehen und mich von ihm zu verabschieden.

»Scheint, als ob alle Verletzungen heilten«, murmelte ich ihm ins Ohr.

»Wie bitte?«, fragte die Dame etwas überrascht.

»Nichts«, sagte ich, »gute Reise!«

Und dann ging ich zurück an meinen Tisch. Ich hatte plötzlich einen gewaltigen Hunger.