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Cristina Evans

Daydreamer – Hollywood Love Story

© 2020 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

info@plaisirdamourbooks.com

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg (www.art-for-your-book.de)

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-435-1

ISBN eBook: 978-3-86495-436-8

 

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses Buch darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

 

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Autorin

 

Kapitel 1

 

Ich war das Mädchen, das in der letzten Reihe im Klassenzimmer saß, aus dem Fenster starrte und von einem Märchenprinzen auf einem weißen Ross aus einem verwunschenen Schloss träumte.

Mit den Jahren wurde mir klar, dass ich gar nicht mehr vorhatte, mir Prinz Charming anzulachen. Ich bevorzugte mittlerweile eine Geschichte wie die von Belle und ihrem Biest. Ein Mann mit Ecken und Kanten sollte es sein. Aber bitte kein tätowierter Bad Boy und erst recht kein Christian Grey.

Ich vermisste die Zeit, in der ich in meine Tagträumerei versinken konnte und darüber Geschichten geschrieben habe. Die Tatsache, dass ich nicht mehr Mitte zwanzig und mittlerweile Mutter eines vierjährigen Sohnes war, machte mich auf dem Single-Markt nicht unbedingt zur ersten Anlaufstelle für all die Männer da draußen.

Eins hatte sich aber nicht geändert: Ich war nach wie vor nicht auf der Suche nach dem einen perfekten Märchenprinzen. Was ich mir an meinem zweiunddreißigsten Geburtstag vornahm, war größer und so viel besser als all die Prinzen aus den Disney-Geschichten zusammen: Ich würde mit meinem Sohn Matteo in die USA ziehen.

»Du musst heiraten, Liebes. Einen Mann finden, der deinem Sohn ein Vater sein kann und der für euch sorgt! So kann das nicht weitergehen.« Diesen und ähnliche Sätze hatte ich in den letzten Jahren nur zu oft gehört.

Die Braut, die sich nicht traut? Nicht ganz, denn ich war mittlerweile zu der Erkenntnis gekommen, dass es den perfekten Mann in Wirklichkeit schlicht und ergreifend nicht gab. Mein Lebensinhalt würde nicht aus einem Haus mit Hund und Garten bestehen. Das wusste ich jetzt.

Damals, bevor ich schwanger wurde und noch an die wahre und lebenslange Liebe glaubte, führte ich ein Online-Tagebuch, in dem ich meinen Traumvorstellungen über den perfekten Mann freien Lauf ließ. Besser gesagt: Lynns fantastische Welt, ein kleiner, unbekannter Blog, den ich unter einem Pseudonym führte. Die Einträge, die ich dort verfasste, schrieb ich ausschließlich auf Englisch, weil ich so mehr Leute erreichte. Kein Mensch aus meinem Bekannten- oder Familienkreis kannte diesen Blog und niemand durfte jemals davon erfahren. Lynns fantastische Welt war mein bestgehütetes Geheimnis. Dort war es einfach, die hoffnungsvolle Tagträumerin zu sein, die sich fragte, ob sie den Richtigen erkennen würde, wenn er eines Tages vor ihr stünde. Die zahllosen Beiträge waren unschuldig und romantisch.

Natürlich vergrub ich mich nicht nur in meiner kleinen geheimen Welt. Wie bei jeder jungen Frau stand das Ausgehen mit meinen Freundinnen weit oben auf der Must-To-Do-Liste für Singles. Das und die Abenteuer mit dem anderen Geschlecht – ich genoss die wilde Zeit.

Bis ich an meinem achtundzwanzigsten Geburtstag unverhofft von einem Typen namens Chris schwanger wurde. Einem One-Night-Stand, inklusive gerissenem Kondom natürlich – der Klassiker. Ein kurzer Moment, der mein ganzes Leben veränderte. Das pochende Herz meines Sohnes auf dem Ultraschallbild zu sehen, war alles, was ich brauchte, um zu wissen, was jetzt wirklich in meinem Leben zählen sollte. Ich war vollkommen begeistert, verliebt und voller Vorfreude darauf, dieses kleine Wesen kennenzulernen. Es sollte meine Berufung und Lebensaufgabe werden, ihm all die Liebe, Zuneigung und Kraft zu geben, die ich besaß.

Als ich mit Matteo schwanger wurde, ließ ich mein wildes Leben hinter mir. Ich war der Männergeschichten, Clubs und Partys müde. Außerdem hatte ich damals noch jemanden an meiner Seite. Chris. Wir wollten das Leben einer perfekten Bilderbuchfamilie führen, jedenfalls nahmen wir uns das vor. Hat es geklappt? Offensichtlich nicht.

Nach unserer Trennung wunderte ich mich mehr und mehr, wie sich mein Blick auf Männer schlagartig änderte. In der Zeit vor Chris und vor Matteo hatte ich nichts dagegen, mal von einem gut aussehenden Daddy angelächelt zu werden. Manche waren sogar ziemlich heiß. Doch Chris schaffte es, dass ich auf einmal in jedem Vater einen Mann sah, der mich und mein Kind im Stich lassen würde. Einer, der sich sowieso nicht um die Erziehung und Versorgung des Nachwuchses scherte.

Und wenn mich der junge Kerl im Getränkemarkt anlächelte, obwohl er sah, dass ich ein Kind bei mir hatte, war das die Bestätigung, nach der ich suchte, und die einzige, auf die ich ansprach. Als ausgelaugte und übermüdete Mutter fühlte ich mich nicht gerade begehrenswert. Doch der Sex mit diesem jungen Kerl im Lagerraum des Getränkemarkts an einem Montagmorgen, nachdem ich Matteo in den Kindergarten gebracht hatte, fühlte sich großartig an. Nennt mich verrückt, aber das war eben das Einzige, das mich an der Männerwelt reizte: Typen, die nicht auf eine Beziehung aus waren, weil ich sie nicht weiter als nur sexuell an mich heranlassen musste. Ich war in der Zeit sehr zufrieden und gut auf dieser Schiene gefahren, ungebundenen Sex zu haben. Mir fehlte es an nichts.

Für Matteo schaffte ich es jedenfalls, die beste Mutter und der beste Vater gleichzeitig zu sein. Ich brauchte keinen Mr. Right mehr an meiner Seite.

Doch kommen wir zu dem Schritt, wegen dem ich aufgeregter kaum sein könnte. Ich würde nach Amerika ziehen. Kein Scherz. Nach Los Angeles, den Ort, an dem die Stars und Sternchen lebten und liebten.

Wenn nicht jetzt, wann dann? Matteo hätte dort die besten Chancen, zweisprachig aufzuwachsen, um in zwei Jahren problemlos auf die amerikanische Elementary School zu gehen.

In den Wochen vor unserer Abreise war ich so aufgeregt, dass ich kaum geradeaus laufen konnte. Den Entschluss, Deutschland zu verlassen, hatte ich nach einer einzigen E-Mail gefasst.

 

Liebe Luisa,

 

der Probeartikel, den du für mich auf Englisch geschrieben hast, klingt gut. Ich habe gleich gewusst, dass du für mein Magazin die richtige Redakteurin bist! Dein Schreibstil liest sich flüssig. Hier und da müssen wir deinen seriösen Ton noch ein bisschen runterschrauben. Aber das bekommen wir hin, da bin ich mir sicher.

 

Ich würde dir für den Anfang gerne eins von unseren Apartments anbieten, in dem du wohnen kannst. Es liegt in Downtown und wäre genau das Richtige für dich und Matteo. Ganz in der Nähe befindet sich ein Kindergarten, und nach Santa Monica in mein Office, sind es keine dreißig Minuten.

 

Ich denke, du wirst viel von zu Hause aus arbeiten können. Doch wir sollten uns wöchentlich bei mir treffen, damit ich mit dir alle neuen Projekte besprechen kann. Alles Weitere sehen wir dann, wenn ihr hier seid. Bring deinen kleinen Windelpupser einfach mit. Die Mädels hier im Büro werden ihn lieben.

 

Bis bald, Liebes!

See you in L.A.!

Deine Toni

 

Antonia, die ich während des Studiums kennengelernt hatte, war eine meiner besten Freundinnen. War ihr bewusst, dass ein Kind mit vier Jahren nicht mehr in die Windel machte? Wie auch immer. Sie hatte damals, während unserer Studienzeit, einen dubiosen Typen im Internet kennengelernt und uns erzählt, er sei ein bekannter Promiagent aus Hollywood. Wir glaubten ihr kein Wort. Nicht weil wir ihr so einen offensichtlich reichen Typen nicht gönnten, doch es gab genug verrückte Menschen in der weiten digitalen Welt, die alles Mögliche von sich selbst behaupteten und in Wahrheit Freaks waren.

Ende der Geschichte: Toni heiratete diesen Typen, der tatsächlich ein Agent mit Rang und Namen in der Promiwelt war, führte jetzt ein kleines Modelabel in Santa Monica und ein glückliches, kinderloses Leben dazu.

Nun würde Toni zusätzlich zu ihrem kleinen Label auch ein Magazin herausbringen. Es sollte fancy sein, mit streng limitierter Auflage, und über alles rund um die Themen Mode und Lifestyle berichten. Dafür suchte sie Unterstützung, eine Redakteurin, die ihr beim Schreiben und Redigieren der Texte für die Homepage und die zukünftigen Print-Ausgaben behilflich sein sollte. Toni würde ebenfalls Artikel für das Magazin schreiben, doch da sie nebenher auch ihre Modekollektion betreuen musste, kam ich an dieser Stelle ins Spiel - ich war ein verdammter Glückspilz!

Ich kündigte meinen Job bei der Tageszeitung sowie das Mietverhältnis unserer Wohnung und sagte Toni zu.

Der Abschied von meinen zwei engsten Freundinnen, meinen Schwestern und meinen Eltern fiel mir schwer.

Doch schon in dem Moment, als sich das Flugzeug mit unseren wenigen Sachen in die Lüfte erhob, spürte ich ein aufgeregtes Kribbeln in meinen Adern. Etwas Neues wartete auf uns. Und es sollte gut werden. Es sollte richtig gut werden.

 

Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal Sonne auf meiner Haut gespürt hatte. Die Wintermonate und die Aufregung, die mit unserem Umzug einhergingen, hatten ihre Spuren hinterlassen. Meine Haut war blass, ich fühlte mich erschöpft und sah auch so aus.

Matteo trippelte neben mir an der großen Fensterfront entlang, die Richtung Gepäckausgabe führte.

Das Apartment, das uns Toni für den Anfang überließ, war vollständig möbliert. Unser Gepäck bestand also nur aus drei großen Koffern à dreiundzwanzig Kilogramm, meiner Handtasche und Matteos Lieblingsrucksack. Ich sah diesen Umzug als gute Chance, mich von meinem alten Leben in Deutschland zu trennen, indem ich nur das Allernötigste in diese Koffer packte.

»Ihre Schlüssel, Mrs. … Lorenz«, sagte der freundliche Mitarbeiter der Autovermietung wenig später hinter dem Tresen, wo wir auf unseren Mietwagen warteten.

»Mami, ich habe Durst«, hörte ich Matteo unter mir sprechen. Dabei tippte er mir an meinen Bauch.

»Gleich, Schatz«, murmelte ich auf Deutsch und sah zurück zum Servicemitarbeiter.

Wem wollte ich etwas vormachen? Mein Englisch war gut, weil ich auch nach dem Studium immer wieder damit konfrontiert wurde. Doch von heute auf morgen in einem Land zu leben, in dem ich diese Sprache sprechen musste, war definitiv eine neue Herausforderung.

Deswegen hatte ich mich entschieden, die Serien auf Netflix nur noch auf Englisch zu schauen, um die Sprache wieder ins Gehör zu bekommen. Leider wurde in der Serie, die ich vorhin im Flieger auf dem Tablet angeschaut hatte, Spanisch gesprochen - keine große Hilfe also, zumal die Untertitel deutsch waren.

Eigentlich hätte ich den Mann hinter dem Tresen gerne wegen der Versicherungen für das Mietauto befragt und wie genau er das vorhin mit der Tankfüllung gemeint hatte. Doch ich bekam es nicht über die Lippen. So bedankte ich mich freundlich, nahm die Schlüssel entgegen und lief mit unseren Koffern und Matteo an der Hand zu der beschriebenen Tiefgarage.

»Mama … ich habe immer noch Durst«, hörte ich meinen Sohn wieder sagen.

Ich beugte mich zu ihm herunter. »Entschuldigung, Spatz«, murmelte ich, nahm seine Trinkflasche aus dem Rucksack und füllte sie mit dem Wasser, das ich vorhin gekauft hatte. »Ich bin heute ein wenig müde.« Und aufgeregt, weil ich mich gleich in einem gemieteten Auto in den Großstadtverkehr werfen werde.

Das letzte Mal war ich vor sechs Jahren mit meinen Freundinnen in Amerika gewesen, als wir Toni besuchten. Damals war alles so unbeschwert und locker gewesen. Wir hatten zwei unvergessliche Wochen hier verbracht, sogar ein Wochenende in Las Vegas – Himmel, das waren Zeiten. Und jetzt - wenige Jahre später, bildete ich mir ein, reifer und pflichtbewusster geworden zu sein. Weil ich nicht nur für mein Leben, sondern auch für das meines Sohnes verantwortlich war.

Wir legten die ersten Meilen auf der Interstate problemlos zurück. Matteo schaute während der Fahrt aus dem Fenster und betrachtete in Gedanken versunken seine neue Umgebung.

Das Navi führte uns glücklicherweise sofort ans Ziel, und an der Lobby des Hochhauses, in dem sich das Apartment befand, überreichte uns ein Angestellter unsere Wohnungsschlüssel mit einer persönliche Nachricht von Toni.

 

Denk dran, dieses Apartment ist nur der Anfang. Ich weiß, es ist nicht das größte, aber schaut euch unbedingt die Pools im Innenhof an. Ich freue mich auf morgen!

xoxo, Toni

 

War das ein Witz? Dieser Wohnkomplex war der Wahnsinn! Außerdem war das hier L.A., großer Gott! Hier hätte sie mich sogar in einer Schuhschachtel unterbringen können.

Matteo war auf dem Rücksitz eingeschlafen. Da der Angestellte mir mit den Koffern half, konnte ich ihn aus dem Auto holen und in das riesengroße Boxspringbett legen, wo er seelenruhig weiterschlief. Als ich die Tür hinter mir schloss, sah ich mich zum ersten Mal bewusst in unserem neuen kleinen Zuhause um. Die Wohnung war tatsächlich kaum sechzig Quadratmeter groß, aber sie war gemütlich eingerichtet. Ein Schlafzimmer, das ich mir mit Matteo teilen würde, ein Wohnzimmer, ein Bad mit Dusche und eine Küche, die vielleicht etwas eng geschnitten war, wenn man bedachte, dass mir Matteo immer um die Beine herumschwirrte, wenn ich kochte oder aufräumte, aber es sollte uns für den Anfang reichen.

Der Blick aus dem Fenster in den Innenhof bestätigte mir, dass dort tatsächlich ein größerer und ein etwas kleinerer Pool vorhanden waren. So, wie Toni es erwähnt hatte. Daneben sah ich ein paar Sitz- und Liegemöglichkeiten sowie aufgespannte Sonnenschirme.

Ich ging zurück ins Schlafzimmer und betrachtete den schlafenden Matteo. Er atmete einmal tief und fest ein und leise wieder aus. Dabei kuschelte er sich weiter in die hohen Kissen und flauschigen Decken hinein und legte sich eine seiner zarten kleinen Hände schützend vors Gesicht. Lächelnd streichelte ich über sein lockiges Haar und gab ihm einen sachten Kuss auf die Stirn.

»Schlaf gut, kleiner Mann«, flüsterte ich und ging zu den Fenstern, die ich mit den Jalousien verdunkelte.

Ein wenig Schlaf würde auch mir nicht schaden. Wir hatten den ganzen Nachmittag vor uns und später noch genug Zeit, um das Nötigste einzukaufen und die Gegend zu erkunden.

 

Kapitel 2

 

Matteo tätschelte mir auf meinem Gesicht herum und kicherte dabei. Ich hörte mein Handy klingeln, aber bevor ich danach greifen konnte, rutschte Matteo vom Bett und griff nach dem blinkenden Display auf dem Nachttisch, welches das ganze Zimmer beleuchtete.

»Das ist Oma!«, rief er voller Freude, als er ihr Bild auf dem Smartphone sah.

Oh shit. Ich hatte mich gar nicht bei meinen Eltern gemeldet, nachdem wir gelandet waren. Matteo hatte das Handy längst in der Hand, nahm das Gespräch entgegen und quasselte ohne Punkt und Komma drauflos.

»Schatz, lass mich bitte mal mit Oma sprechen«, sagte ich und Matteo reichte mir breit grinsend mein Handy. »Mama. Entschuldige. Wir sind gut angekommen.«

»Es ist Mitternacht und ich habe noch kein Auge zugemacht, weil ich keine Ahnung habe, ob ihr gut angekommen seid!« Meine Mutter klang etwas besorgt und ich bekam ein schlechtes Gewissen.

»Es ist drei Uhr nachmittags, Mama. Bitte verwirre mich nicht mit euren Uhrzeiten.«

Ich stand völlig neben mir und nahm mir vor, mich später auch bei Toni zu melden, damit sie wusste, dass wir gut angekommen waren.

Matteo hingegen schien der Schlaf gutgetan zu haben. Fleißig fing er an, seine Spielsachen aus einem unserer Koffer zu ziehen.

»Wir müssen unbedingt noch einkaufen gehen, Ma. Kann ich dich später zurückrufen?«, fragte ich.

»Natürlich, Schätzchen. Geh nicht zu all zu spät auf die Straße. Man weiß nie, wer sich draußen herumtreibt, sobald es dunkel wird.«

Ich grinste. »Alles gut, Mama. Ich glaube, ich habe vorhin einen Laden gleich um die Ecke gesehen.« Irgendwie war es niedlich, wie sie sich um uns sorgte.

Wir legten auf, und ich hörte, wie mein Magen bereits knurrte. Es wurde Zeit, dass Matteo und ich eine richtige warme Mahlzeit zu uns nahmen, nachdem der ganze Tag nur aus Snacks und Keksen bestanden hatte.

Nachdem ich auch Toni kurz angerufen hatte, machten wir uns auf den Weg nach draußen, und obwohl es hier deutlich wärmer war als in Deutschland, fröstelte es mich am ganzen Körper. Matteo hingegen hüpfte vergnügt neben mir her und betrachtete aufmerksam die Schaufenster, an denen wir vorbeiliefen. Ich sollte mir dringend eine Scheibe von ihm abschneiden. Doch durch den Schlafmangel aufgrund der langen Reise und der Zeitumstellung konnte ich das Hier und Jetzt kaum bewusst wahrnehmen.

Zwei Straßenecken von unserer Wohnung entfernt fanden wir einen Lebensmittelladen. Wir standen vor einem der Regale, und ich hatte das Gefühl, als würde sich der Boden unter meinen Füßen bewegen. Völlige Erschöpfung lag mir in den Gliedern.

Heute Abend würde ich eine Tomatensuppe für uns kochen und ein paar Käsesandwiches dazu machen. Das übrige Brot könnten wir morgen zum Frühstück essen, bevor wir uns mit Toni zum Mittagessen trafen.

Erst als wir an den Keksregalen vorbeiliefen, breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus. Endlich! Oreos in den unterschiedlichsten Sorten, die man sich vorstellen konnte! Mein Herz ging auf.

»Ja, ja, ja … kommt her zu Mama«, murmelte ich leise und Matteo sah mich verwirrt an.

Ich musste mich zügeln, was mir deutlich schwerfiel. Eigentlich sollte ich ein Vorbild für meinen Sohn sein und nicht gleich all die Süßigkeiten in mich reinschaufeln, die ich hier in die Finger bekam.

Beim Bezahlen schäkerte die Kassiererin mit Matteo und fragte ihn, wie sein Name sei. Das war einer der wenigen Sätze, die ich ihm beigebracht hatte. Voller Stolz antwortete er darauf und ihr herzliches Lachen ertönte durch den gesamten Laden.

»Was für ein wundervoller Name!«, entgegnete sie auf Englisch, und Matteo lächelte breit, obwohl er sie nicht verstanden hatte.

Beim Hinausgehen stupste ich ihn an die Nase, öffnete eine der Oreo-Verpackungen, nahm zwei Kekse heraus, die wir auf dem Nachhauseweg futterten.

Es wurde Abend, und wir machten es uns, frisch geduscht und mit vollgeschlagenen Bäuchen, auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich.

»Love you to the moon and back«, flüsterte ich Matteo zu.

Er lächelte, denn das war ebenfalls einer der Sätze, die ich ihm beigebracht hatte. Wenige Minuten später schlief er auf meinem Schoß ein.

Ich schaltete den Fernseher ein und entdeckte zufällig die Live-Ausstrahlung der Oscar-Verleihung. Dabei musste ich schmunzeln. Diesmal würde ich nicht bis drei Uhr morgens wach bleiben müssen, um die Stars und Sternchen live über den roten Teppich laufen zu sehen.

Nachdem ich Matteo ins Bett gelegt hatte, ging ich zurück aufs Sofa, kuschelte mich mit meinen Lieblingskeksen in eine Decke und genoss den restlichen Abend mit den bekannten Academy Awards. Gerade heute, am Tag unserer Anreise, wurden ein paar Meilen von uns entfernt die Oscars verliehen. Hätte mir jemand gesagt, dass das schon das erste Omen war für das, was mir demnächst widerfahren würde, hätte ich es niemals für möglich gehalten.

 

»Guten Morgen, guten Morgen!«, rief uns Toni hochfreut zu, obwohl es schon längst zwölf Uhr mittags war. Ihre grelle Stimme hallte uns durch das ganze Restaurant, in das wir gerade hereinkamen, vergnügt entgegen. Dank des Navis im Auto hatte ich den Weg hierher gut gefunden.

Tonis Auftritt war einmalig. Sie sah wie immer aus – als wäre sie gerade von einer Beautyfarm gekommen. Ihre langen, blonden Haare waren perfekt gestylt. Voluminös, aber nicht zu übertrieben. Etwas gewellt, doch keinesfalls lockig. Ihr Pony war akkurat und direkt über ihren Brauen gestutzt, und ihre wachen Augen strahlten uns unter der dick aufgetragenen schwarzen Mascara hervor.

Matteo versteckte sich hinter meinen Beinen, als sie auf uns zulief und laut quiekte.

»Oh. Mein. Gott! Wie lange ist das her!«, sagte sie und zog mich in ihre Arme.

 Dann löste sie sich von mir und beugte sich zu Matteo hinunter.

»Und dich habe ich das letzte Mal gesehen, als du ein kleines Baby warst!«, sagte sie und streichelte mit ihren manikürten Fingern über sein Haar.

Das letzte Mal, als Toni in Deutschland gewesen war, war Matteo vier Monate alt. Wir hatten uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.

»Kommt! Lasst uns etwas essen!«, rief sie vergnügt und ließ sich von einem Kellner an den Tisch führen, den sie für uns reserviert hatte.

Es war ein schickes Restaurant mit hohen Decken. Ich wäre von mir aus vermutlich niemals hierhergekommen, schon gar nicht mit einem vierjährigen Kind. Doch als ich unseren Platz erblickte, atmete ich erleichtert auf. Wenige Meter neben unserem Tisch sah ich ein kleines Spieleparadies für Kinder. Danke, Toni! dachte ich mir. Sie hatte die richtige Wahl bezüglich des Restaurants getroffen.

Während Matteo sein Glück kaum fassen konnte und sich gleich Richtung Rutsche begab, setzten wir uns an unseren Platz.

»Jetzt erzähl mal. Ist das Apartment okay für euch? Fühlt ihr euch wohl? Was hast du überhaupt mit deinen Haaren gemacht? Sie sind länger geworden seit dem letzten Mal, als wir uns live gesehen haben, und so voluminös. Hast du irgendetwas dafür genommen? Sie sind heller als sonst. Hast du sie blondiert oder kommt das nur von den Strähnen?« Sie plapperte so schnell, dass ich gar nicht wusste, welche Frage ich zuerst beantworten sollte. »Muss ich jetzt auch schwanger werden, ein Kind auf die Welt bringen und es über ein Jahr lang stillen, damit ich irgendwann solche Haare habe?«, scherzte sie und ich schüttelte lächelnd den Kopf.

»Du redest ohne Punkt und Komma! Jetzt hol erst einmal Luft«, antwortete ich und wir kicherten gleichzeitig los.

»Es tut mir leid. Aber Cole ist wieder auf Geschäftsreise, die Mädels im Office sind total beschäftigt mit der neuen Kollektion und meine anderen Freundinnen sind immer unterwegs, sodass ich niemanden habe, mit dem ich einfach mal plaudern kann.« Dann legte sie ihre Hand auf meine. »Ich bin so froh, dass du da bist, Luisa. Das bin ich wirklich!«

Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und atmete tief durch. Heute fühlte ich mich deutlich besser als gestern. Der Schlaf hatte gutgetan, genauso wie die Tatsache, dass ich nach dem Frühstück gleich alle Koffer ausgepackt hatte. Nachher würde ich mit Matteo noch in eine Shopping Mall gehen, um uns neu einzukleiden.

»Was denkst du, Liebes, wann können wir unser Magazin starten? Ab wann kann ich mit dir rechnen?«, fragte sie und kam somit gleich zum geschäftlichen Teil.

»Ich werde einen Kindergarten für Matteo finden müssen. Solange ich keinen habe, kann ich nur abends für dich schreiben. Wir können uns aber zwischendurch bestimmt auch mal tagsüber treffen, so wie heute. An einem Ort, wo er beschäftigt ist, so wie hier.«

»Das klingt gut! Ach ja, bevor ich es vergesse. Ich habe bereits meine Beziehungen spielen lassen und einen Kindergarten ganz bei euch in der Nähe gefunden. Matteo könnte in zwei Wochen schon hingehen!«

»Wow!«, sagte ich erstaunt. »Das ging ja schnell.«

»Zu schnell?«, fragte sie gleich, weil sie meinen etwas besorgten Gesichtsausdruck sah.

»Nein, nein, das ist in Ordnung. Ich möchte ja so bald wie möglich für dich arbeiten.« Ging es mir wirklich nicht zu schnell?

»Wenn ihr euch eingelebt habt, Matteo gut untergebracht ist und wir eine Babysitterin gefunden haben, werde ich dich abends auch mal auf ein paar Partys mitnehmen. Glaub mir, die Leute hier in Los Angeles musst du erlebt haben!«

Ich wackelte schmunzelnd mit dem Kopf. Doch das Wichtigste im Moment war, dass Matteo gut versorgt war und er sich dabei wohlfühlte. Erst dann hätte ich einen klaren Kopf für alles andere. Dass ich für Toni arbeiten würde, war selbstverständlich, deswegen war ich ja hierhergekommen. Doch sie sprach jetzt schon von Partys und Veranstaltungen, Kindergärten und Babysittern. Ich war gestern erst gelandet und wusste nicht, wo mir der Kopf stand.

Ich denke nicht, dass ich auf die VIP-Partys, auf die Toni anspielte, passte. Ich war und würde nie so sein wie Toni. Meine Haare waren durch die zahlreichen Strähnen zwar relativ hell, aber lange nicht so samtig weich und akkurat frisiert wie ihre. Sie waren lockig, mal mehr und mal weniger, denn meistens glättete ich sie. Was nicht unbedingt besser aussah. Auch war ich seit der Schwangerschaft nie wieder auf High Heels gelaufen, weil ich es einfach nicht für nötig hielt, und ich bezweifelte, dass ich auf diesen Partys mit meinen bequemen Boots auftauchen dürfte. Ich war nicht zu groß und nicht zu klein und fühlte mich in meinem Körper wohl, auch wenn ich die zusätzlichen fünf Kilo nach Matteos Geburt immer noch auf den Hüften hatte. Aber das lag daran, dass ich ungern auf gutes Essen verzichtete.

Matteo kam wieder zu mir gerannt und schmiss sich auf meinen Schoß. »Ich habe Hunger!«, rief er laut und Toni kicherte.

»Wann bist du eigentlich so unglaublich süß geworden, kleiner Mann?«, fragte sie und er grinste verschmitzt. Dabei versteckte er sich hinter der Speisekarte, die er verkehrt herum hielt.

»Wir suchen etwas ganz Leckeres für dich aus«, versicherte ich ihm und er nickte freudig.

Während des Essens unterhielten wir uns über alte Zeiten. Als Toni dann unsere Erlebnisse in Las Vegas erwähnte, hielt ich Matteo an einigen Stellen die Ohren zu, obwohl er mittlerweile angefangen hatte, in seinem Malbuch herumzukritzeln.

»Das fehlt mir«, gab Toni irgendwann zu.

»Was?«

»Die Zeit mit euch Mädels. Ausgehen, Partymachen …«

»Tanjas Tochter ist jetzt zwei und Julia erwartet ihr erstes Kind. Es wird noch ein paar Jährchen dauern, bis wir alle wieder auf Tour gehen können«, sagte ich.

»Ich weiß doch. Ich weiß«, gab sie zu. »Aber eins musst du mir versprechen: In zwei Monaten findet die bekannte und vor allem berüchtigte Wild Sea Beach Party in einer Villa am Malibu Beach statt. Zu dieser Party müssen wir zusammen gehen. Okay? Versprich es mir!«

»Ich verspreche dir, dass ich es versuchen werde, ja?«, antwortete ich lächelnd.

»Deal!«, rief sie entzückt und klatschte zufrieden in ihre Hände.

 

Kapitel 3

 

Ich saß draußen vor dem Kindergarten, bei dem ich sicher war, dass Matteo in den besten Händen war. Doch heute war der erste Tag, an dem ich nicht nur den Raum verlassen, sondern für ein oder zwei Stunden hinausgehen sollte. Einen Kaffee trinken, etwas in der Nähe erledigen. Sie würden mich sofort anrufen, wenn er sich unwohl fühlen oder vehement nach mir fragen würde. Doch ich hatte schon in den letzten Tagen mit großer Freude beobachtet, wie er sofort mit den anderen Kindern interagierte und sich problemlos mit den Betreuerinnen beschäftigte. Eine von ihnen war Emily, die er etwas besser kannte, da ich sie gern als zukünftige Babysitterin einstellen wollte und sie uns deshalb schon ein paarmal besucht hatte.

Hier saß ich nun, auf einer Bank vor diesem Kindergarten. Die warmen Sonnenstrahlen schienen auf mein besorgtes Gesicht, aber ich war nicht in der Lage loszulassen. War es die richtige Entscheidung, ihn nach wenigen Wochen in Amerika schon woanders unterzubringen? Mutete ich ihm nicht vielleicht zu viel zu? War es überhaupt richtig gewesen, mit ihm hierher gezogen zu sein? Weit weg von seinem gewohnten Umfeld, weg von meinen Eltern, die nach mir die wichtigsten Bezugspersonen für ihn waren, und in ein Land, in dem er die Sprache kaum verstand?

Ich hielt mein Handy wie gebannt in den Händen und starrte es an, als müssten mich die Betreuerinnen jede Sekunde anrufen. Sollte ich vielleicht doch wieder hineingehen?

Hör auf! Hör jetzt auf, es geht ihm gut. Er liebt es hier, ermahnte ich mich selbst.

Laut und fast zittrig atmete ich die Luft ein und wieder aus und sah auf den kleinen Platz, der vor mir lag. Auf ihm standen ein paar Bäume, die von Steinbänken umgeben waren. Überall saßen Menschen mit Sonnenbrillen und bester Laune. Etwas weiter weg plätscherte das Wasser eines Brunnens.

»Ist alles okay?«, hörte ich plötzlich jemanden mit einem unüberhörbaren Akzent auf Englisch fragen.

Ich drehte mich in Richtung der Stimme um. Kaum zwei Meter von mir entfernt stand ein Mann, der anscheinend extra stehen geblieben war, nur um mich nach meinem Befinden zu fragen. Sah ich so mitgenommen aus? Offenbar schon.

Beim Versuch zu lächeln, scheiterte ich kläglich. »Ja, danke. Alles in Ordnung.«

Plötzlich sah er die Aufschrift des Gebäudes, vor dem ich saß, und nickte wissend mit dem Kopf, als würde ihm jetzt einleuchten, warum ich, besorgt und auf das Handy starrend, hier draußen saß.

»Als ich das erste Mal meine Kinder in fremde Hände gegeben habe, konnte ich den ganzen Tag an nichts anderes denken. Das Witzige ist, dass die Eltern meistens mehr leiden als ihre Kinder«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln und lief zwei Schritte auf mich zu.

Er trug eine Sonnenbrille und hatte schwarze, volle Haare, die ihm etwas in die Stirn fielen. Sein Bart war ein wenig länger als ein Dreitagebart. Vor allem um seine Lippen herum wuchs er stärker als seitlich an den Wangen. Sein Lächeln war freundlich und doch irgendwie zurückhaltend.

»Ist es euer erster Tag hier?«, fragte er und setzte sich unaufgefordert neben mich.

Ich war verwirrt. Ob wegen ihm oder generell, weil mir hier jemand plötzlich Gesellschaft leistete, wusste ich nicht. Eigentlich hätte ich jetzt gern allein Trübsal geblasen.

»Es ist der erste Tag, an dem ich den Kindergarten verlassen habe, ja«, antwortete ich.

»Oh, ja. Ein großer Schritt.« Seine Stimme klang an gewissen Stellen manchmal ein wenig rau. Jetzt zum Beispiel, bei seinem Oh und ja. Als würde er das, was er sagte, mit der rauchigen Betonung unterstreichen.

Er war charismatisch, und die gute Laune, die er an den Tag legte, wirkte fast ansteckend.

»Du siehst jedenfalls so aus, als könntest du ein wenig Ablenkung gebrauchen«, stellte er fest und es hörte sich ausnahmsweise mal nicht wie eine billige Anmache an.

Jetzt konnte ich ein breites Lächeln nicht mehr zurückhalten. »Ist das so?«

»Ja.« Wieder dieser rauchige Unterton in der Stimme. »Definitiv.«

Er stand auf und winkte mich mit einer Hand zu sich. »Um die Ecke ist ein Café. Sollte ein Anruf kommen, bist du in zwei Minuten wieder hier.«

Ich versuchte, hinter seine Sonnenbrille zu schauen, weil ich gern seine Augen gesehen hätte. An den Fältchen hinter seiner Brille sah ich, dass er mit seinen Augen lächelte.

»Fein. Ein Kaffee wird wohl drin sein«, gab ich zu und stand auf.

Wir liefen mit einem halben Meter Abstand nebeneinander her, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass er einen guten Kopf größer war als ich. Er musste also um die eins achtzig sein. Sein dunkelblaues Jeanshemd lag eng an seinem Oberkörper an, die Ärmel waren hochgekrempelt. Und er trug – warum auch immer – eine Art Anzughose dazu. Aber sie passte zum Gesamtbild und die schwarzen Sneakers lockerten das ganze Outfit wieder auf.

Wir kamen an einem klitzekleinen Lokal an. Die Fassade des Hauses war aus blankem Beton, und grüne Ranken wuchsen daran empor. Wir stellten uns an der Theke an und er fragte mich, wie ich meinen Kaffee trinke.

»Nur mit Milch«, sagte ich und zog mein Portemonnaie aus meiner Handtasche.

Als er das sah, drückte er meine Hand mit der Geldbörse darin wieder nach unten. Ich erschrak über die plötzliche, unerwartete Berührung und konnte nicht aufhören, auf die Stelle zu schauen, wo sich unsere Hände gerade berührt hatten.

Während er zwei Kaffee bestellte, nahm er seine Sonnenbrille ab. Beim Anblick seines Gesichts stockte mir der Atem. Großer Gott! Mit einem Mal erkannte ich ihn oder sagen wir: Das konnte doch nicht wahr sein! Handelte es sich hier ernsthaft um diesen Schauspieler, den ich erst zuletzt täglich auf Netflix gesehen hatte? Ich war schockiert.

Die Bedienung reichte ihm die zwei Tassen mit Kaffee, und nachdem er sie entgegengenommen hatte, sah er mich an.

Ich schaute sofort auf mein Handy, als wäre es in der Lage, mir durch Telepathie irgendwelche Antworten über seine Person zu liefern. Jetzt hätte ich gern Google nach ihm suchen lassen, denn ich kannte zwar sein Gesicht und die Rolle, die er spielte, doch ich hatte keine Ahnung, welcher der zahlreichen bekannten Namen im Vorspann seiner war.

Warum hatte ich ihn nicht schon vorher erkannt?

Er sah mich immer noch fragend an, und ich hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes sagen sollte. Mit einem Mal hatte es mir die Sprache verschlagen.

Er hob eine Augenbraue und nickte in Richtung eines kleinen Tisches, an den wir uns setzten. Dort reichte er mir dann den Kaffee.

»Danke«, murmelte ich nur und konnte ihn kaum noch ansehen.

»Wie heißt du?«, fragte er mich schließlich.

Gewiss merkte er, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ja, mit mir stimmte etwas ganz gewaltig nicht. Hatte ich meine Zunge verschluckt?

Reiß dich gefälligst zusammen!

»Ich heiße Luisa«, antwortete ich und versuchte, selbstbewusst zu klingen. »Und du?«, platzte ich dann heraus. Echt jetzt?

Mit einem Mal lächelte er wieder, und mir fiel auf, warum ich ihn nicht gleich erkannt hatte. In der Serie spielte er einen mexikanischen Drogenboss, mit dem nicht zu spaßen war. Wenn ich mich recht erinnerte, gab es keine einzige Folge, in der er so gelächelt hatte wie in den letzten zehn Minuten.

»Ich heiße Diego«, antwortete er immer noch schmunzelnd.

Jetzt, wo er seinen Vornamen genannt hatte, sah ich plötzlich den dazugehörigen Nachnamen aus dem Vorspann vor mir aufblitzen.

»Lopéz«, führte ich aus.

Er nickte. »Und du?«

»Lorenz«, antwortete ich mit deutscher Betonung, ohne das R amerikanisch auszusprechen.

»Klingt … anders. Aber sehr ähnlich wie mein Nachname«, stellte er fest. »Woher kommst du?«

»Aus Deutschland.«

Er nickte wieder. Vermutlich hatte er schon an meinem Akzent gemerkt, dass ich nicht von hier kam.

Es war nicht zu glauben, dass ich dabei war, ein ganz normales Gespräch mit einem bekannten Schauspieler zu führen!

»Wir leben seit drei Wochen hier«, erzählte ich ihm, ohne dass er danach fragte. »Eine Freundin hat mir einen Job angeboten, den ich nicht ablehnen wollte.«

»Ein mutiger Schritt. Wie alt ist dein Kind?«

»Er ist vier. Sein Name ist Matteo.« Warum erzählst du ihm das?

»Ein schöner Name.«

Ich lächelte. Sollte ich ihm dieselben Fragen stellen? Ich wusste ja rein gar nichts über ihn, also nahm ich mir vor, mit offenen Karten zu spielen.

»Diego … Ich möchte ehrlich zu dir sein. Ich kenne dich aus deiner aktuellen Netflix-Serie. Doch dein Nachname ist mir gerade erst zufällig eingefallen. Im Moment weiß ich tatsächlich mehr über deinen fiktiven Charakter als über dich.« Das schlechte Gewissen in meinem Ton war kaum zu kaschieren.

Jetzt lachte er ein herrliches Lachen. »Luisa, das verüble ich dir nicht im Geringsten. Es ist sogar interessant, jemanden kennenzulernen, der meinen Lebenslauf nicht schon vorher kennt.«

Er wollte mich kennenlernen?

»Also von vorne, damit wir auf demselben Stand sind. Ich heiße Diego Lopéz, bin neununddreißig Jahre alt, habe zwei Kinder. Meine Tochter ist acht und mein Sohn wird demnächst zehn. Ich bin geschieden und lebe in Mexico City«, zählte er auf und ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen.

Oh … Er hatte sogar zwei Kinder und war … geschieden. Na wunderbar. Was ich aber hier und jetzt zugeben musste, war die Tatsache, dass er sehr sympathisch wirkte, obwohl er nicht zu der Kategorie von Mann gehörte, die in mein Raster fiel. Außerdem war er die beste Ablenkung, die mir heute widerfahren konnte, nachdem ich so nervös war, weil ich Matteo das erste Mal allein im Kindergarten lassen musste.

»Ich werde dich später so oder so googeln, ich hoffe, du weißt das«, scherzte ich und er lachte.

Verstohlen blickte er mich aus seinen tiefbraunen Augen an. »Das kann ich dir kaum verübeln.«

Wie schaffte er es nur, in einer Serie zehn Folgen lang so ernst, ja fast bitter rüberzukommen und im wahren Leben so unglaublich freundlich und vor allem so reizend zu sein? Es war kaum zu glauben.

»Deine Rolle als Drogenboss hast du absolut glaubwürdig gespielt«, stelle ich fest.

»Ja? Warum das?«

»Ich habe dich bis gerade eben wirklich nicht erkannt«, offenbarte ich und er grinste.

»Damit kann ich leben, Luisa.« Er sprach meinen Namen besonders aus. Exotisch, mit einer spanischen Note.

Er nahm einen Schluck von dem Kaffee und ich konnte kaum wegsehen. Seine Lippen waren schmal und ein wenig Kaffeeschaum sammelte sich an dem Bart seiner Oberlippe. Er leckte sich darüber und holte sein Handy aus der Gesäßtasche, um es auf den Tisch neben sein Portemonnaie zu legen. Dann lehnte er sich zurück und faltete seine Hände auf dem Schoß.

»Und wie gefällt es euch bisher in Los Angeles?«, fragte er und sah mich dabei ehrlich und offen an.

Ich räusperte mich. »Es ist warm, deutlich wärmer als bei uns. Matteo und ich haben ein schönes Apartment, zehn Minuten von hier entfernt, die Leute hier sind sehr freundlich. Das Essen ist gut und auch sonst können wir uns bisher nicht beschweren.«

Er lächelte, während ich sprach, und hörte mir aufmerksam zu. »Was machst du beruflich?«, fragte er.

»Ich schreibe für das Magazin des Modelabels meiner Freundin.«

»Du bist von der Presse?«, fragte er bestürzt und presste seine Hand auf seine Brust. Im nächsten Moment lächelte er und zwinkerte mir zu.

Lachend schüttelte ich meinen Kopf. »Nein. Nein, nicht so. Mit dieser Presse habe ich nichts zu tun.«

»Schon gut. Ich glaube dir«, antwortete er mit einem weiteren Zwinkern.

»Und was machst du in L.A., wenn du eigentlich in Mexiko lebst?«, fragte ich diesmal.

Er hob eine Augenbraue. »Du bist wirklich nicht von der Presse?«, hakte er nach und wir lachten beide. »Ich mache nur Spaß. Ich bin seit gestern wieder hier. In letzter Zeit bin ich das sogar sehr oft. Andauernde Gespräche mit meinem Agenten, andere Termine für neue Projekte.«

Dann sah Diego auf seine Armbanduhr.

»Shit, und jetzt verpasse ich gleich meinen nächsten Termin!«, sagte er, griff nach seinem Handy und Portemonnaie, stand er auf und steckte beides zurück in die Gesäßtasche.

Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, nahm er mein Handy und entsperrte das Display, was nur möglich war, da ich keinen Code eingegeben hatte. Ich beobachtete, wie er seinen Namen und eine Telefonnummer eintippte und sie speicherte.

»Es tut mir leid, dass ich dich nicht länger ablenken konnte. Aber vielleicht holen wir das bald nach?«

Auch ich stand auf. »Danke, Diego. Du hast mich heute gerettet.«

Er streichelte mir einmal sanft über meinen Oberarm. Seine Berührung war kurz, doch markant, und ich spürte sie auch noch, nachdem er mich schon wieder losgelassen hatte. »Es war mir eine Freude. Bis bald, Luisa.«

Sein nächstes Lächeln beinhaltete etwas Neues, doch ich konnte es nicht zuordnen.

Als er davonlief, sah er nochmals zurück, hob seine Hand zum Abschied und verschwand aus meinem Blickfeld.

Wow! Das nannte ich mal eine nette Begegnung.

Was ich heute den ganzen Abend lang im Internet tun würde, sobald Matteo schlief, war klar. Ich musste mehr über diesen Mann erfahren.

Kapitel 4

 

»Nein … nein, nein. So habe ich es mir wirklich nicht vorgestellt!« Tonis Stimme hallte bis zu dem Flur, durch den ich ging.

Okay, meine Freundin konnte sich wie eine Furie benehmen, wenn sie wollte. Als ich ihr Atelier betrat, standen ihr drei verängstigte junge Frauen gegenüber.

Als Toni mich sah, erhellte sich schlagartig ihr Gesicht. »Luisa! Schön, dass du da bist. Setz dich schon mal in mein Büro, ich bin gleich bei dir!«

Sie zeigte in die Richtung und ich bewegte mich mit zügigen Schritten dorthin. Ihre Mitarbeiterinnen sahen nicht einmal auf. Sie waren von Tonis Ansprache vollkommen eingeschüchtert. Aus einem Instinkt heraus ließ ich die Tür von ihrem Büro hinter mir zufallen, da ich das Gefühl hatte, sie würde mit der Abreibung ihrer Mitarbeiterinnen länger beschäftigt sein. Und ich behielt recht. Trotz der geschlossenen Tür hörte ich, dass Toni sich darüber aufregte, dass die Entwürfe lange nicht das waren, was sie sich vorgestellt hatte, sie jetzt wieder so viel Zeit verloren hatten und ja sowieso schon so spät mit allem dran waren.

Ich lief unterdessen zu den großen Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten. Tonis Atelier und Büro lag in einem Haus direkt am Strand von Santa Monica. Der Ausblick war atemberaubend. Schon als ich das letzte Mal mit Matteo hier gewesen war, kamen wir beide aus dem Staunen nicht heraus.

Die Tür hinter mir öffnete sich und Toni kam herein.

»Alles okay?«, fragte ich sie, während sie sich auf ihrem Stuhl niederließ.

»Nein, nicht wirklich. Aber lass uns über schönere Dinge sprechen.«

Sie beobachtete mich dabei, wie ich zu ihrem Schreibtisch hinüberlief. »Mein Ausblick hat es dir angetan …«, stellte sie fest.

»Angetan? Er ist phänomenal. Ich werde nie genug davon bekommen. An so einem Arbeitsplatz kann man ja nur kreativ sein!«

»An Kreativität mangelt es mir momentan nicht. Dafür umso mehr an der Umsetzung …«, sagte sie und spielte wieder auf ihre Mitarbeiterinnen an.

»Sei nett zu ihnen.«

Sie schaute mich mit einem Blick an, der aussagte, dass das wohl ein schlechter Scherz sein sollte. »Ich bin nett zu ihnen. Das gerade eben war sogar sehr nett

Ihr Kommentar ließ mich schmunzeln. Toni war schon immer die Lautere von uns beiden gewesen. Ich war eher jemand, der seine Emotionen nicht gern nach außen trug.

»Jetzt erzähl schon! Wie läuft es mit den Texten für das Onlinemagazin?«, wollte sie schließlich von mir wissen, und ich legte ihr meine Mappe hin, die ich, zusammen mit dem Fotografen, der auch für sie arbeitete, extra für sie vorbereitet hatte.

Sie lehnte sich zurück und blätterte alles in Ruhe durch, dabei umhüllte uns eine ungewohnte Stille. Man hörte nur ein paar Stöckelschuhe den Flur draußen entlanglaufen und das leise Surren der Klimaanlage.

»Gefällt mir sehr, Luisa«, sagte sie plötzlich und ich erschrak. Meine Gedanken hatten wieder begonnen, abzuschweifen.

Toni bemerkte das sofort und lächelte. »Was ist los?«

Ich schüttelte nur den Kopf und blickte hinab auf meine ineinander verschlungenen Finger.

»Was? Was ist passiert?«, hakte sie weiter nach. »Hat dir die Zusammenarbeit mit Luke besonders gut gefallen?«

Luke war der Fotograf. Klar, er sah gut aus. Und er ist genau dein Beuteschema, jung und nicht auf eine Beziehung aus. Generell hatte Kalifornien bisher ein paar gut aussehende Männer zu bieten gehabt. Aber wenn meine Gedanken die letzten Tage immer wieder abschweiften, dann aus einem anderen Grund.

Ich hob eine Augenbraue. »Luke? Nein. Er sieht zu gut aus, das ist sein Problem.«

Toni nickte mir zustimmend zu. »Das ist wahr. Aber wenn es nicht an ihm liegt, was ist es dann? Dich beschäftigt doch irgendetwas, das merke ich sofort.«

Die kurze Kaffeepause mit Diego Lopéz lag jetzt drei Tage zurück. Zwar hatte ich seine Telefonnummer, doch ich hatte mich nicht getraut, ihn anzurufen.

»Ich habe möglicherweise … jemanden getroffen, der sehr nett zu sein scheint«, fing ich an.

Dabei war nett die Untertreibung des Jahrtausends. Nach unserem Kaffee hatte ich den ganzen Abend damit verbracht, ihn zu googeln, mir weitere Filme, Serien und Interviews von ihm anzusehen und gefühlt zigtausend Online-Artikel zu lesen. Dabei ging meine Fantasie mehr als einmal mit mir durch. Vor allem, weil manche Filme aus seinen jüngeren Jahren Szenen beinhalteten, die … einiges von ihm preisgaben. Ganz … gewisse Details. OKAY, es gab einen Film mit einer Nacktszene, die wirklich nichts mehr verhüllte. Und … eventuell habe ich bei dieser Stelle mehrmals zurückgespult und auf Pause gedrückt, um etwas ganz Bestimmtes genauer zu betrachten … Gott, Luisa, du bist nicht mehr ganz dicht.

»Nein! Echt jetzt?«, fragte mich Toni gespannt. »Wen denn? Erzähl mir mehr!«

»Hmm … Wie erkläre ich das am besten …«, sagte ich schmunzelnd. Ich vermutete, dass sie ihn kannte, denn Toni kannte jede Berühmtheit aus Hollywood. Nach meinem Stalker-Abend wusste sogar ich mehr über ihn, als mir lieb war. Zum Beispiel die Namen aller Frauen, mit denen er nach seiner Scheidung zusammen gewesen war.

Doch all das waren nicht die Gründe, die mich ins Grübeln brachten.