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Band 223

 

Die Planetenmaschine

 

Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Teil I: Rätsel

1. Nirgendwo: Aus der Tiefe ans Licht

2. Luna: Entladung

3. Schwund

Teil II: Wege

4. Siga: Impfpflicht

5. Die Abberly-Protokolle I

6. Castorsystem, Olymp: Ungebetener Besuch

7. Die Abberly-Protokolle II

8. Siga: Mediengewitter

9. Die Abberly-Protokolle: III

10. Siga: Das Aalproblem

11. Siga: Gefährlicher Weg

12. Siga: Impulsverwirrung

13. Die Abberly-Protokolle IV

14. Siga: Bruchstücke

15. Die Abberly-Protokolle V

16. Siga: Impulsklarheit

17. Siga: Hinterher!

18. Die Abberly-Protokolle VI

19. Siga: Auf zum Schlund

Teil III: Die Maschine

20. Siga: Tiefenrausch

21. Die Abberly-Protokolle VII

22. Siga: Am Boden und darunter

23. Die Abberly-Protokolle VIII

24. Siga: Im Schlund

25. Die Abberly-Protokolle IX

26. Siga: Deep Noon

27. Die Abberly-Protokolle X

28. Siga: Das Ende

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Gut fünfzig Jahre nachdem Perry Rhodan auf Außerirdische getroffen und die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben sich terranische Siedlungen auf verschiedenen Welten entwickelt. Die Solare Union bildet die Basis eines friedlich wachsenden Sternenreichs.

Ende 2089 wird Rhodan mit dem Expeditionsraumschiff MAGELLAN erneut ins Imperium der Arkoniden entsandt. Dort sind beunruhigende Entwicklungen im Gange. Er erlebt mit, wie Herrscher aus ferner Vergangenheit die Imperatrice stürzen. Die neuen Machthaber werden mit Transformkanonen beliefert, einer Waffe, die jedes arkonidische Kampfschiff unüberwindlich machen könnte.

Perry Rhodan und seine Gefährten erreichen bei einer Mission die Welt Archetz. Ronald Tekener, einer von Rhodans Begleitern, muss durch einen Zeitbrunnen fliehen und gerät auf eine Welt im Aufruhr. Dort wird er in Ereignisse verwickelt, die neue Gefahren für die Menschheit und die Milchstraße heraufbeschwören – Tekener stößt auf DIE PLANETENMASCHINE ...

Teil I: Rätsel

 

 

1.

Nirgendwo: Aus der Tiefe ans Licht

 

Abrupt erlosch die Realität. So fühlte es sich an, als Ronald Tekener in den Zeitbrunnen eintauchte. Die Finsternis schlug über ihm zusammen wie eine Brandungswelle.

Dabei sieht das verdammte Ding aus wie ein schwarzer Spiegel, durch den man ins Nichts blickt, dachte er.

Die Welt ging in diesem Augenblick unter, aber weit, weit hinter ihm. Archetz, die Zentralwelt der Mehandor im Zentrum von M 13, war dem Untergang geweiht.

Tekeners Gedanken tauchten auf und verschwanden wieder wie in einem lichtlosen Labyrinth. Die Zeitbrunnen hatte er nie begriffen, nicht mal im Ansatz. Er glaubte, dass Leute wie Perry Rhodan oder Atlan mehr darüber wussten ... oder besser: ahnten.

Was ist das, worin ich mich bewege?, rätselte er. Angst machte sich in ihm breit. Bewege ich mich? Ist das Luft, die ich atme? ... Atme ich?

Das Gefühl, zu ersticken, kam, kaum dass der Gedanke vollendet war.

Bleib ruhig!, mahnte er sich. Obwohl er geglaubt hatte, laut zu sprechen, hörte er nichts.

Er tastete nach seinem Körper. Zu fühlen war kaum etwas. Da war nur eine vage Erinnerung an Fleisch, an Knochen, an Blut. Der Versuch, die kleine Notlampe zu finden, scheiterte. Zwar spürte er einen leichten Widerstand, wo Kleidung und Ausrüstung sein sollten, aber mehr nicht.

Was ist mit all den anderen?, dachte er panisch. Haben Perry Rhodan und Thora überlebt? Wer könnte das, wenn eine Welt untergeht? Bin ich der Einzige, der es geschafft hat? Habe ich es überhaupt geschafft?

Jessicas Bild drängte in den Vordergrund, verschwand gleich darauf wieder in der Finsternis und hinterließ Schmerz. Ein anderer, früherer Gedanke kehrte aus dem Dunkel des Labyrinths zurück.

Bewege ich mich? Worin? Und wohin ... oder ist die eigentliche Frage: nach wann?

In seinem geahnten Körper kribbelte es unangenehm. An diese Wahrnehmung erinnerte er sich sehr gut. Sie lag weit zurück.

So fühlte sich die Dunkelleben-Infektion an – ganz zu Beginn.

Lashat war wieder da, wie ein Albtraum, der nicht verschwinden wollte. Er glaubte, das körperliche Unbehagen wieder spüren zu können, obwohl er seinen Körper selbst kaum wahrnahm. Es verstörte ihn auf beängstigende Weise. Warum nur war ausgerechnet diese Erinnerung so frisch, so präsent?

Es ist ein Zeitbrunnen, überlegte er düster. Die Dinger heißen nicht von ungefähr so. Vielleicht nähere ich mich der Vergangenheit ja tatsächlich! Vielleicht wiederhole ich das, was damals mit mir geschah. Ist so etwas möglich? Oder ist der Grund ein völlig anderer?

Eine Ahnung beunruhigte ihn. Sie tauchte immer wieder mal auf, seit er auf Lashat am dortigen Zeitbrunnen gestanden hatte. Bevor Rhodan darin verschwand, um geheilt zurückzukommen. Es war das Gefühl, dass das eine mit dem anderen in irgendeinem Zusammenhang stand: die Zeitbrunnen und das Dunkelleben.

Auf Lashat hatte ihn das eigenartige, schwarze Rund beinahe magisch angezogen, und er war sich sicher, dass für Froser Metscho, der hineingetaumelt war, bevor er starb, dasselbe gegolten hatte. Rhodan hatte Ähnliches angedeutet. Tekener und der Protektor hatten das Gleiche gespürt: einen Sog, einen Strudel, schwarz wie das Universum, bevor das erste Licht freigesetzt wurde.

Und nun war er mittendrin – worin auch immer dieses beängstigende Ding bestehen mochte.

Bestand es aus Zeit? Oder aus Nicht-Zeit?

Ronald Tekener war kein akademischer Theoretiker, er war fest im Hier und Jetzt verwurzelt. Pragmatismus hielt ihn am Leben und bei Verstand. An eins aber erinnerte er sich sehr genau, vielleicht weil ihn diese Aussagen erschreckt hatten.

Er war kürzlich Zeuge einer Diskussion zwischen Sianuk und Bumipol na Ayutthaya gewesen. Die brillanten Physiker waren die wahrscheinlich hellsten Köpfe der Menschheit seit den Tagen von Eric Leyden. Sie hatten Tekener ignoriert. Dass er den beiden intellektuell nicht gewachsen war, wusste er ohnehin, und es störte ihn nicht. Aber eine Gesprächssequenz hatte ihn beunruhigt. Bumipol hatte eher nebenher erwähnt, dass man aus den Gleichungen, welche die Quantenebene beschrieben, die Zeit herauskürzen könne. Tekeners Erinnerungen an seine Schulzeit waren nicht sehr präsent, aber er wusste, dass das nur eins heißen konnte: Zeit existierte nicht wirklich, sondern war nur ein Konstrukt menschlicher Wahrnehmung und Denkvorgänge.

Zeit gibt es also nicht, ging es ihm durch den Kopf. Sie ist eine Illusion. Aber worin befinde ich mich dann ... genau jetzt?

Ebenso glaubte er sich zu erinnern, dass die Passage durch einen Zeitbrunnen angeblich zeitlos ablief, das Ein- und Auftauchen sollten direkt aufeinanderfolgen. Dafür dauerte all dies nun aber zu lange, viel zu lange.

Bedeutet das, dass sich Zeitlosigkeit so anfühlt ... so ewig?, dachte er. Die Vorstellung war beängstigend. Am Ende dieses Wegs lauerte wahrscheinlich der Wahnsinn.

Er wusste, dass hinter ihm eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes den Planeten Archetz zerstörte – wo und wann auch immer dieses »hinter ihm« sein mochte. Ein Experiment der Posbis, die auf der Mehandorwelt Transformkanonen produziert hatten, war infolge von höherdimensionalen Wechselwirkungen furchtbar schiefgegangen. Tekener hatte nur einen vagen Begriff von den dabei entfesselten Gewalten, aber ihm war klar, das Ergebnis würde mörderisch sein. Er hatte Archetz verlassen – und gleichgültig, wo er sich momentan befand, dort tobte die Hölle.

Jessica!

Seine Schwester war direkt hinter ihm gewesen. Sie musste den Zeitbrunnen Sekundenbruchteile nach ihm erreicht haben und in ihn eingetaucht sein. Umgeben von tiefster Dunkelheit, würde er ihre Gegenwart nicht mal dann wahrnehmen, wenn sie nur Millimeter von ihm entfernt war.

Die Schwärze wurde bei diesem Gedanken zu etwas anderem, zu einem Widersacher. Er hätte alles dafür gegeben, seine Schwester berühren zu können, sie zu hören oder nur zu riechen. Sie war immer ein Anker für ihn gewesen, sogar in Zeiten, wenn er das nicht hatte zugeben wollen.

Aber diesmal war da nichts. Im wahrsten Sinne des Wortes: nichts!

Die Angst in ihm nahm Gestalt an. Das Negativ seiner Schwester, ihr Nicht-Dasein.

Gleichzeitig spürte er etwas anderes.

Es war eine Präsenz, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Er war schon an vielen unschönen, gefährlichen und sogar entsetzlichen Orten gewesen. Auf Lashat hatte man ihn zu einem Versuchskaninchen degradiert, er hatte sich zeitweise nicht mehr als Mensch gefühlt. All das jedoch war nichts gegen die Gegenwart dessen, was sich ihm nun näherte.

Es war ein Lauern, vielleicht vergleichbar mit einem nachtaktiven Raubtier, das endlich seine Beute aufgestöbert hat und sich mit tödlicher Geduld heranpirscht.

Da waren Gier und Verlangen, aber auch eine unterschwellige Boshaftigkeit.

Alles in Tekener wollte fliehen. Jede Zelle seines Körpers wollte diesem Reflex nachgeben.

Die Spannung zerriss ihn förmlich.

Das Etwas tastete nach ihm, wie mit langen, nadelspitzen Fingern.

Das ist schlimmer, als Hondro im Kopf zu haben, dachte er panisch. Die Erinnerung daran, nur die Marionette eines fremden Willens zu sein, war wieder da, als sei sie niemals weg gewesen. Das Gefühl, versklavt zu werden, kannte er nur zu gut. Zuletzt hatte er sich auf Lashat daran erinnert, aber das war dieser Heimsuchung nicht vergleichbar.

Was auch immer da nach ihm tastete und gierte, es war anders. Es war größer, es war neugierig auf ihn, es wollte ihn haben; verschlingen, ganz und gar.

So muss sich ein Schwimmer fühlen, wenn er im Maul eines großen Weißen Hais steckt, wenn er die Zähne fühlt, den furchtbaren Druck. Wenn er genau weiß, dass er in einigen Sekunden zerrissen sein wird.

Etwas anderes gefiel ihm genauso wenig. Er empfand etwas wie ... Vertrautheit.

Neugier, ja, aber das Fremde schien zu wissen, wen es vor sich hatte. Ronald Tekener fühlte sich erkannt.

... und da war so etwas wie Sympathie! Etwas freute sich, ihn wahrzunehmen und zu spüren. Er wollte es nicht. Die Aufmerksamkeit klebte an ihm wie Magensäure, die ihn zerfressen würde, wenn er sie nicht loswurde. Es war kaum zu ertragen.

Tekener schrie stumm in die Stille hinein.

Er schrie.

Schrie.

Und schrie.

Und tauchte aus der Schwärze empor ins Licht.

Es blendete ihn. Zumindest für seine Wahrnehmung war die Schwärze des Transfers Realität gewesen. Stöhnend kniff er die Augen zusammen. Durch die Lider sickerte Rot.

Ich sehe mein eigenes Blut, dachte er müde.

Er hörte Wind. Es war ein stetig an- und abschwellendes Pfeifen. Er bekam den Eindruck einer weiten, flachen Ebene.

Er lag auf dem Rücken. Wie er sich aus dem Brunnen geschleppt hatte, konnte er nicht sagen. Alles in seinem Kopf drehte sich, als sei er schwer betrunken.

Ist das bei Aktivatorträgern genauso?, fragte er sich. Ich dürfte eigentlich nicht mehr am Leben sein, wenn ich richtig verstanden habe, was ein Zeitbrunnen tut. Warum also lebe ich?

Ein Antwort blieb aus; wer hätte sie ihm auch geben können?

»Ist da jemand?«, krächzte er mühsam. Mund und Hals brannten, und Magensäure stieg die Speiseröhre hinauf.

Dann endlich öffnete er die Augen. Über ihm glutete ein greller Fleck, eingebettet in feuriges Rot. Es war ein brennender Himmel, im wahrsten Sinne des Wortes.

Was für eine Sonne!, dachte er.

Anschließend wurde Ronald Tekener schwarz vor Augen.

2.

Luna: Entladung

 

Die Stimme aus den Akustikfeldern war laut und durchdringend. »Vorsicht. Schleusenvorgang der Priorität A. Evakuierung aller sicherheitsrelevanten Areale im Bereich des Schleusenkanals abgeschlossen. Schleusenvorgang läuft an.«

Ein penetranter Warnton signalisierte jedem Anwesenden, dass Sicherheitsstufe I galt. Grellgelbe Blinkleuchten tauchten die Umgebung in ein Lichtgewitter.

Katharina Gaborova fühlte sich unbehaglich. Sie hielt sich erst seit drei Wochen auf dem Mond auf. Dass sie bei einer Aktion wie dieser beteiligt wurde, war ungewöhnlich, aber ihre Qualifikation war außergewöhnlich gut. Ihren Abschluss in Hyperphysik hatte sie in Terrania gemacht – mit Auszeichnung. Davon hätte sie zu Beginn ihres Studiums in Jekaterinburg an der Uralischen Föderalen Universität noch nicht einmal träumen können. Dabei war die vor dreißig Jahren wiedereröffnete Universität eine gute Adresse. Obwohl sich dieser Tage das »Föderale« auf die Einbindung in ein internationales Wissenschafts- und Forschungsnetzwerk bezog und nicht auf staatliche Träger. Trotzdem: Die Akademia Terrania war und blieb das Ziel aller Wünsche – am Ende hatte sie es geschafft.

Und jetzt stehe ich hier!, dachte sie. Unwillkürlich wollte sie sich durch das kurze, weißblonde Haar fahren. Sie hatte sich längst nicht daran gewöhnt, dass einige Dinge auf dem Mond – und ganz besonders in NATHANS Umgebung – anders waren als auf der Erde. Sie trug einen leichten Raumanzug und fühlte sich ein wenig beengt; dabei war die Montur eine Maßanfertigung.

Gaborova war vor Ort, um einen gefährlichen Transport zu überwachen und abzusichern.

Nicht weit von ihr standen Leibnitz und Monade. Dass Leibnitz persönlich die Entladung der FANTASY leitete, bewies, wie wichtig die Angelegenheit für NATHAN war.

Welche Folgen die rechtswidrige Nutzung des Experimentalraumschiffs für Rhodan und die anderen haben würde, war längst nicht geklärt. Hinter den Kulissen brodelte es gewaltig, so wenigstens besagten es die Gerüchte.

Leibnitz sah aus wie immer: unausgeschlafen und ein wenig mitgenommen, als habe er eine mehrtägige Sauftour hinter sich. Der Eindruck täuschte jedoch. Leibnitz war intelligent wie wenige andere, und seine Beziehung zu einer Posbi sorgte sogar nach all den Jahren für Gesprächsstoff.

Leibnitz legte den Kopf in den Nacken, soweit der leichte Raumanzug das zuließ. Die Hallenanlage ringsum war gewaltig. Ignorierte man das eigenartige, metallische Material, aus dem vieles in NATHAN bestand, hätte es sich um eine beliebige Lager- oder Fertigungshalle handeln können.

So stellen sich die wenigsten NATHAN vor, dachte Gaborova amüsiert. Für die meisten Menschen war NATHAN etwas sehr Abstraktes. Wenn etwas über die Hyperinpotronik berichtet wurde und es in die unterschiedlichen Kanäle des Mesh schaffte, des unionsweiten öffentlichen Daten- und Kommunikationsnetzes, waren es meist Innenansichten aus kleinen Schaltzentralen. Nichts davon deutete auch nur an, wie riesig die lunaren Anlagen tatsächlich waren.

Sie erinnerte sich an ihren ersten Besuch und wie unzulänglich sie sich gefühlt hatte. Zwar war der Asmodeuskrater auf der erdabgewandten Seite des Monds unverändert das Zentrum NATHANS – besonders der Zentralberg. Aber die anorganische Intelligenz wuchs unablässig weiter. NATHAN war kein Roboter; er war sehr viel mehr. Das war weithin ebenso unbekannt wie seine wirkliche Größe. Beim ersten Anflug hatte Gaborova sich gefühlt, als steuere sie auf eine Großstadt zu. Die Anlagen breiteten sich über den Mond aus, und die unterlunaren Anlagen waren wahrscheinlich weitaus größer.

Vielleicht wollen die Menschen es gar nicht wissen, dachte sie.

Aus den Augenwinkeln sah sie Monade näher kommen. Die eiförmige Posbi begleitete Leibnitz immer. Dessen Gedächtnis war unzuverlässig, wie er selbst zugab. Damals, als Perry Rhodan und seine Gefährten Andromeda besucht hatten und mit den Meistern der Insel in Konflikt geraten waren, waren sie auf Leibnitz gestoßen. Die Menschen hatten ursprünglich nur nach Atlan gesucht, dem unsterblichen Arkoniden, aber sehr viel mehr gefunden. Nun verband die beiden größten Galaxien der Lokalen Gruppe sogar ein freundschaftliches Band, so groß die Entfernung auch war.

Zweieinhalb Millionen Lichtjahre, erinnerte sich Gaborova. Die Zahl war unglaublich, die Entfernung unfassbar. Dort haben sie Leibnitz aufgegabelt. Im System der Sonne Oomoph, auf dem vierten Planeten, dem »Andromeda-Basar«, war er Rhodan und seinen Leuten begegnet. Er hatte sich ihnen angeschlossen und war nach Hause zurückgekehrt, obwohl er diese Hoffnung eigentlich längst begraben hatte. Gaborova hatte sich über Leibnitz informiert, so gut es eben ging. Irgendwann hatte sie ihn dann gefragt und zu ihrem Erstaunen war er sehr offen gewesen. Sie mochte Leibnitz, nur Monade war ihr unheimlich.

Mittlerweile lebte und arbeitete er schon seit geraumer Zeit auf dem irdischen Mond, mitten in einer wachsenden, anorganischen Intelligenz, welche die Menschheit sozusagen als Eltern ansah. Monade begleitete ihn nach wie vor. Die Posbi sorgte dafür, dass es ihn als Individuum überhaupt gab.

Laura Bull-Legacy, die Tochter des amtierenden Protektors, die als NATHAN-Interpreterin einen wahrscheinlich ebenso exotischen Job ausübte wie Leibnitz selbst, hatte Monade einmal als »Persönlichkeitsschrittmacher« bezeichnet. Das war ziemlich treffend, denn die Posbi stimulierte bei Leibnitz all jene neuronalen Routinen, die im Gehirn seine Persönlichkeit ausformten. Das war kein Download, wie einige dachten, Monade half ihm vielmehr, überhaupt er selbst zu sein. Jeder Mensch, jeder Charakter war ein laufender Prozess. Monade hielt den von Leibnitz am Laufen.

Gaborova war im Laufe ihrer kurzen Zeit auf dem Mond immer wieder erstaunt gewesen, wie offen alle zu ihr waren. Ganz im Gegensatz zu den Geschichten über NATHAN, die man sich auf der Erde erzählte, war dies kein Gruselkabinett und kein Labyrinth, in dem Ungeheuer ihr Unwesen trieben.

Na gut, korrigierte sie sich. Es ist ein Labyrinth ... aber eben kein mystisches. Ganz und gar nicht.

»Frachtposition stabilisiert«, meldete die Überwachung. »Durchgang einleiten.«

Sie registrierte das Bereitstellungssignal und aktivierte die Entlüftung. Das weiche Blubbern der Atmosphärenpumpen klang merkwürdig. In der ganzen, riesigen Halle ein Vakuum herzustellen, dauerte. Allmählich wurde das Geräusch leiser und leiser.

Eine untersetzte Gestalt verließ eine der Personenschleusen und tappte auf Leibnitz zu.

»Doktor Brömmers«, sagte Leibnitz. »Ich hatte früher mit Ihnen gerechnet. Wo ist Ihr bizarres Scheinamphibium?«

Gaborova grinste verhalten. Doktor Eduard Brömmers war eine wissenschaftliche Kapazität, und wie viele hochintelligente Menschen hatte er jede Menge Macken. Er war mittelgroß, sein Bauchumfang war beachtlich. In der Montur war von seinem fransigen Bart nicht viel zusehen, ebenso wenig von seiner Vorliebe für knallbunte Hemden. Immer häufiger ersetzte er seine typische, dicke Brille durch modernste Kontaktlinsen mit positronischer Anbindung.

Brömmers schüttelte sich. Er fühlte sich im Raumanzug sichtlich unwohl. »Der Frosch wollte nicht mitkommen. Er hat ernsthaft behauptet, im Vakuum Blähungen zu bekommen. Glaubt man das? Aber ich kann ihn holen, wenn Sie wollen. Er mag Sie.«

Leibnitz lachte. Auf gewisse Weise war Gaborova enttäuscht. Brömmers Partner-Surrogat, ein Frosch mit der Farbe eines Erdbeerfröschchens und den Abmessungen eines anabolikasüchtigen Ochsenfroschs, war längst eine Legende. Das nanogestützte Hologramm mit implementierter Künstlicher Intelligenz war ein von Brömmers selbst erschaffenes Unikat, das ihm half, sich zu fokussieren. Zugleich hatte das Kunstwesen ein extrem loses Mundwerk.

Bizarr ist untertrieben, dachte Gaborova. Aber es gab schon früher eiförmige, technische Spielzeuge, die ein Haustier simulierten. »Tamagotchi« hießen die ersten dieser Dinger, wenn ich mich richtig erinnere. Seitdem wurde dieser Trend drei oder vier Mal neu aufgelegt. Alles unter dem Stichwort »Vintage«. Dieser Holofrosch ist eigentlich nichts anderes ... nur sehr viel anspruchsvoller.

Es war still. Die Halle lag nun im Vakuum, und dem Transport stand nichts mehr im Weg.

Leibnitz schien den Frosch nicht zu vermissen. Er schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Es sei denn, er wäre für die Einschleusung dieser besonderen Fracht hilfreich.«

»Ich bin immer hilfreich«, quakte es prompt.

Brömmers stöhnte. »Das hätten Sie nicht sagen sollen. Sie wissen doch, dass er sich sofort angesprochen fühlt.«

Der große, rote Frosch krabbelte auf Brömmers Schulter. »Zu wenig Luft hier!«, beschwerte das holografische Tier sich sofort. »Wie soll man denn da nicht platzen?«

Leibnitz grinste. »Tag auch«, sagte er. Monade glänzte wie mit Wasser übergossen. Sie amüsierte sich anscheinend ebenfalls.

»Tag«, antwortete der Frosch artig. »Und bei besonderen Vorhaben bin ich ganz besonders hilfreich. Obwohl Herr Brömmers das gern abstreitet ... wahrscheinlich Futterneid oder eine handfeste Profilneurose. Kann man übrigens behandeln lassen, Herr Brömmers. Das verstehen alle.« Er drehte sich. »Frau Doktor Gaborova: Guten Tag! Endlich mal eine ansehnliche Erscheinung. Nichts für ungut, Herr Leibnitz.«

Gaborova winkte. Dann gab sie das Startsignal. Leibnitz ignorierte den Frosch.

Zu hören war nichts, aber es waren Bodenvibrationen zu spüren. Weit über ihnen schob sich die mächtige Deckenschleuse auseinander. Schnell war der Spalt so groß, dass man die Sterne sehen konnte. Dann blendete etwas sehr Großes einige davon aus.

»Der Kreellblock«, sagte Leibnitz.

Gaborova war gespannt. Leibnitz wusste wahrscheinlich mehr über Kreell, Molkex und sonstige Fremdmaterie als die meisten, die auf dem Mond Dienst taten. Er war dabei gewesen, als man in Andromeda auf das gefährliche Material gestoßen war. Es stammte aus dem Creaversum, einem Kontinuum, das dem Einsteinuniversum anhaftete wie eine Krebsgeschwulst. Das bernsteinähnliche, bläulich schimmernde Kreell war nicht nur ein Energiefresser, es veränderte den Ablauf der Zeit. Wurde es älter, verwandelte es sich in einem Jahrtausende währenden Prozess in Molkex. Mit dem schwarzen, ultraharten Material hatten die exotischen Blues ihre Raumschiffe gepanzert. Von den Blues stammte zudem das einzige Mittel, mit der sich dieser Fremdmaterie beikommen ließ: Katlyk, ein von den Kindern der Blues produziertes Enzym.

»Und wir haben keinen einzigen Tropfen davon«, murmelte Leibnitz bedrückt.

»Sie reden vom Katlyk?«, fragte Dr. Brömmers, der zwar eigenartig aussehen mochte, aber einer der hellsten Köpfe war, über die die Menschheit verfügte. »Sie haben recht. Ich fürchte, wir werden den vieren nicht helfen können. Ich denke seit der Rückkehr der FANTASY an nichts anderes mehr.«

Gaborova hatte Schwierigkeiten, sich vorzustellen, dass Menschen in diesem unheimlichen Material eingeschlossen waren. Es war ein furchtbarer Gedanke.

Vier schwere Antigravaggregate stabilisierten den großen Kreellblock. Er war grob würfelförmig, mit einer Kantenlänge von mehr als vier Metern. Aus der aktuellen Entfernung waren die Eingeschlossenen in der teiltransparenten Substanz noch nicht zu erkennen: drei Menschen und ein Kater. Langsam senkte sich das Gebilde auf den Hallenboden herunter.

Ich kann tatsächlich nicht bestimmen, welche Masse der Brocken hat, dachte sie unruhig. Die Fremdmaterie aus dem Creaversum war ein Widerspruch in sich. Jeder, der damit zu tun hatte, wusste, wie gefährlich dieser Stoff war. Sie erinnerte sich an einen Vortrag von Eric Leyden, dessen Holoaufzeichnung sie studiert hatte. Der Hyperphysiker hatte Kreell einmal als das »Negativ einer Fusionsbombe« bezeichnet. Der Vergleich war originell und bizarr, aber typisch für Leyden.

Und jetzt steckt er selbst darin fest, dachte sie. Das ist keine Ironie mehr ... das ist Bösartigkeit. Sofern das Schicksal so etwas kennt.

»Fluglage stabil«, sagte Gaborova. Sie behielt die Messwerte genau im Auge. Wie sehr man sich auf diese Daten verlassen konnte, war eine andere Geschichte. Kreell hatte auf vielen Ebenen der Physik Auswirkungen, die häufig erratisch waren. Prognosen und Hochrechnungen lagen oft falsch. Für eine Physikerin wie Gaborova war das Albtraum und Faszinosum zugleich. »Wie können Lebewesen in so etwas hineingeraten?«, fragte sie leise.

»Immerhin leben sie noch«, sagte Leibnitz. »Haben Sie die Berichte und Analysen gelesen?«

»Hat er«, knarzte der Frosch. Da er ein nanogestütztes Hologramm mit der Fähigkeit zur Funkkommunikation war, drang seine Stimme aus den internen Akustikfeldern der Raumanzüge, als habe er normal gesprochen. »Und zwar ausgiebig. Herr Brömmers steht auf solche Rätsel. Kein Wunder, dass er keine Beziehung hat.«

»Ich hab ja dich«, spöttelte Brömmers.

Der Frosch warf ihm einen schrägen Blick zu. »Das ist erstens deprimierend, und zweitens würde ich das in normaler Gesellschaft besser nicht so formulieren. Das könnte zu falschen Assoziationen führen. Aber vielleicht sucht Doktor Gaborova ja einen Lebensabschnittsteilzeitgefährten?«

Brömmers wirkte übergangslos nervös. Gaborova grinste.

Grellrote Signallampen begannen zu blinken. Kleine LED-Leuchtturmlampen markierten das Areal, auf dem die Last fixiert werden sollte. Die Antigravaggregate senkten den Block langsam ab. Gaborova registrierte, dass der Energieverbrauch der massigen Geräte extrem hoch war. Das Kreell schluckte einen großen Anteil davon.

»Ich hasse dieses Zeug!«, äußerte Leibnitz mit Inbrunst. »Es kann zu jedem Zeitpunkt Schwierigkeiten machen ... und tut das auch.«

»Trotzdem wäre ich gern in der Eastside mit dabei gewesen«, murmelte Brömmers.

Leibnitz wackelte zweifelnd mit dem Kopf. »Ich weiß nicht. Es war keine Forschungsreise, wie Sie wissen. Und Feldeinsätze sind nicht unbedingt Ihre Sache, soweit ich informiert bin.«

»Das stimmt«, gab Brömmers zu. »Aber theoretisch ...«

»Die vier stecken nicht theoretisch in diesem Block, sondern ganz real«, stellte Leibnitz fest. »Dass man das verdammte Ding in der Southside der Galaxis gefunden hat, macht die Sache nicht besser. Die Daten, die uns die FANTASY von Gorrawaan mitgebracht hat, sind verwirrend. Außerdem ist der Block sehr viel älter als die dreißig Jahre, die das Leyden-Team verschwunden war. Doktor Gaborovas Frage ist in vielerlei Hinsicht berechtigt: Wie sind sie da hineingeraten?«

Er macht sich Sorgen um die vier, dachte Gaborova. Viele würden ihm das gar nicht zutrauen, aber ich habe ihn als sehr empathischen Menschen erlebt. Wie viel davon geht wohl auf Monade zurück? Wahrscheinlich weiß er das selbst nicht.

Direkt vor ihr arretierten automatische Greifer den Block sicher auf einer absenkbaren Plattform. Darauf würde der Kreellblock die Reise tief ins Innere des Monds antreten.

Gaborova war Wissenschaftlerin, aber als sie die fremdartige Materiemasse direkt vor sich hatte, spürte sie etwas. Ein Kribbeln in der Magengegend, eine diffuse Angst, die sie an die Prüfungspanik erinnerte, an der sie früher gelitten hatte. Alles in ihr schrie sie an, sich von diesem Ding fernzuhalten.

Wahrscheinlich war das alles nur Einbildung, aber die Fremdmaterie war tatsächlich gefährlich. Zumindest daran hatte sie keinen Zweifel.

Wenn schon ich mich so fühle – wie geht es wohl den Kollegen, die darin eingefroren sind?

»Ich aktiviere die Schwärme A und C«, kündigte Gaborova an.

144 kleine Schweberoboter erhoben sich, scannten den Block und sammelten sich dann in einem dicken Torus rings um ihn herum. Die Ergebnisse waren exakt so, wie Gaborova das erwartet hatte. Die Roboter würden nicht nur den Weitertransport des bläulichen Bernsteinbrockens überwachen, sie würden bei Problemen auch korrigierend eingreifen. Gaborova kannte die vorgesehenen Abläufe und die Spezifika von Kreell. Im Notfall würden die Roboter den Block isolieren und verhindern, dass die Fremdmaterie NATHAN schädigte.

Die spezielle Entwicklungsgeschichte der Hyperinpotronik machte NATHAN anfällig für Einflüsse, die aus dem Creaversum stammten. Die irdische Sonne hatte eines jener zwei Chasmen enthalten, die jeweils am Ende der Großen Ruptur lokalisiert gewesen waren. Durch den Dimensionsriss waren ungeheure Mengen Kreell und Halatium ins Einsteinuniversum gelangt. Nachdem im Jahr 2044 ein Posbi-Würfelschiff auf dem Mond havariert war, hatte sich Creaversum-Fremdmaterie exakt an diesem Absturzort gesammelt und war sozusagen zum Geburtshelfer von NATHAN geworden. NATHANS Vorsicht war demzufolge verständlich. So reizvoll, so vielversprechend die Forschung an diesem Block sein mochte: Die Gefahren lagen auf der Hand. Auf welche Weise das Kreell NATHANS Systeme und Strukturen beeinflussen konnte, war kaum vorherzusehen.

Die beiden Roboterschwärme würden den Block daher bereits beim kleinsten Anzeichen einer schädlichen Wirkung in ein inverses Hyper-D-Feld hüllen. Um nicht selbst von begleitenden Störimpulsen der Hyperinpotronik betroffen zu sein, agierten die Schweberoboter unabhängig und waren bewusst nicht mit NATHANS anorganischem Neuronat vernetzt.

»Schwärme in Position«, verkündete Gaborova.

»Anruf der Priorität A«, hörte sie eine Stimme aus den Akustikfeldern. »Stella Michelsen möchte Sie sprechen, Mister Leibnitz.«

Leibnitz gab sein Okay. Michelsen stand dem Unionsrat als Administratorin vor. Sie war ohne Frage eine der wichtigsten Personen im politischen Betrieb der Terranischen Union. Sie stand Rhodans geplanter Arkonreise zwar kritisch, aber grundsätzlich wohlwollend gegenüber. Dennoch würde der ehemalige Protektor einen schweren Stand haben, die anderen Koordinatoren zu überzeugen.

Gaborovas Sympathien lagen auf der Seite von Perry Rhodan, daraus hatte sie nie einen Hehl gemacht. Sie bewegte sich ein wenig zur Seite, aus dem Erfassungsbereich des Komholos hinaus. Sie wollte auf keinen Fall die politische Bühne betreten. Leibnitz musste das tun, sie selbst wollte mit dem Politzirkus nichts zu tun haben.

Leibnitz hatte ihre Reaktion bemerkt. Mit einem leichten Lächeln zog er sich ebenfalls etwas zurück. Während er die Verbindung aktivierte, übermittelte Gaborova die aktuellen Daten an Frascino Abberly, der die Absenkung des Blocks durch NATHANS Tiefetagen leiten würde. Sie erhielt lediglich eine knappe automatische Bestätigung. Sie war ein wenig irritiert. Aber wahrscheinlich hatte Abberly zu viel zu tun.