Die Autoren

Bushra al-Maktari – Foto © Lina Malers
Bushra al-Maktari (geb. 1979) ist Schriftstellerin und Journalistin und lebt in Sanaa. Im Arabischen Frühling 2011 führte al-Maqtari im Jemen Proteste gegen den Autokraten Ali Abdallah Saleh an. Daraufhin verhängten konservative Religionsführer eine Fatwa über sie und forderten ihren Tod. Sie hat bereits eine Prosasammlung und einen Roman verfasst und 2013 den Françoise Giroud Award for Defence of Freedom and Liberties in Paris und den Leaders for Democracy Prize des Project on Middle East Democracy in Washington erhalten.
Constantin Schreiber – Foto © Hans Scherhaufer

Constantin Schreiber (*1979) moderiert die »Tagesschau« und das ARD-»Nachtmagazin« sowie das NDR-Medienmagazin »zapp« und berichtet vertretungsweise als ARD-Korrespondent aus dem Studio Kairo. Er spricht fließend Arabisch. Einen Namen gemacht hat er sich als Moderator von arabischen TV-Sendungen, zum Beispiel in Ägypten. Für die deutsch-arabische Talkshow »Marhaba – Ankommen in Deutschland«, in der er Geflüchteten das Leben in unserem Land erklärt, wurde er 2016 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Schreiber arbeitete nach Abschluss seines Jura-Studiums mehrere Jahre als Reporter in Beirut und Dubai. Er ist Herausgeber der Schriften des saudischen Bloggers und Sacharow-Preisträgers Raif Badawi, der wegen freier Meinungsäußerung inhaftiert ist. Mit seiner 2019 gegründeten Deutschen Toleranzstiftung setzt er sich für unterkulturellen Austausch im In- und Ausland ein.

Das Buch

Sakher erzählt, wie sein kleiner Bruder im heimischen Wohnzimmer von einem Scharfschützen ermordet wurde. Nassiba ist traumatisiert vom Tod ihrer Tochter, die auf dem Weg zum Krämerladen von Granatensplittern getroffen wurde. Eine Rakete schlägt in ein Wohnhaus ein und tötet die Bewohner: Zu entsetzlich sind solche Nachrichten, als dass wir sie begreifen könnten. Doch jetzt lässt uns die Autorin Bushra al-Maktari den Schmerz der Überlebenden in ihrer Heimat Jemen ermessen.
Sie hat die Schicksale ihrer Landsleute aufgeschrieben und über vierzig ihrer Geschichten in einem beeindruckenden Buch versammelt, ein winziger Bruchteil der erschütternden Realität des Krieges im Jemen.

»Für mich ist das Schreiben eine Form des Widerstands, Widerstand gegen Mörder und Kriegsverbrecher, Widerstand gegen meine eigene Resignation. Ich schreibe, weil die Opfer nicht in Vergessenheit geraten dürfen.«
Bushra al-Maktari

Bushra al-Maktari und Constantin Schreiber

Was hast Du hinter Dir gelassen?

Stimmen aus dem vergessenen Krieg im Jemen

Aus dem Arabischen
von Sandra Hetzl

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

ISBN: 978-3-8437-2302-2

© Bushra al-Maktari, 2018
© der deutschsprachigen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
© für Vorsatzkarte: Peter Palm, Berlin
Autorenfoto: © Lina Malers
Lektorat: Silke Pachal, Berlin
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Widmung

Die, hinter denen sie sich verstecken
sie sind es, die Bäume verbrannten
die Vögel und Kinder verbrannten
die Wasser verbrannten
zwischen einem blühenden Reispflänzchen
und einem Schmetterling.
Jannis Ritsos

Allen Dank meiner lieben Freundin, der Autorin und Journalistin Monika Bolliger, ohne deren Glauben und
Beistand es vermutlich nie zu dieser deutschen Ausgabe meines Buches gekommen wäre.
Bushra al-Maktari

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Ich traf Bushra al-Maktari zum ersten Mal Ende 2018 in Beirut, als sie ihr Buch präsentierte, das damals auf Arabisch erschienen war: 43 Protokolle von Hinterbliebenen von Kriegsopfern aus dem Jemen. Zusammen mit einer Kollegin saß ich der damals 39-jährigen Journalistin und Schriftstellerin in einer Hotellobby zum Interview gegenüber. Gebannt hörten wir ihr zu, dieser unerschrockenen Chronistin des Krieges im Jemen, die so mädchenhaft wirkte und die mehr gesehen hatte, als viele von uns in einem ganzen Leben sehen.

Sie redete, als wäre ein Damm gebrochen, eine Flut schmerzvoller Erinnerungen brach aus ihr heraus. Einmal musste sie das Gespräch unterbrechen, weil sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Sie leide unter dem Gewicht der Geschichten, gestand sie. Aber die Opfer dürften nicht in Vergessenheit geraten. Deshalb höre sie nicht auf. »Schreiben ist für mich eine Form des Widerstands«, sagte Bushra. Gegen das Vergessen, gegen die Gleichgültigkeit.

In der Erinnerung leben die Toten weiter. Wenn wir die Geschichten der Hinterbliebenen aufzeichnen, geben wir ihnen eine Stimme, wir leihen ihnen unser Gehör und erkennen ihr Leid an. Wir würdigen die Verstorbenen und schreiben dagegen an, dass sie als bloße Zahlen in einer Statistik vergessen werden. Wenn Menschen durch ein Verbrechen ums Leben gekommen sind, ist das Andenken an sie auch an die Forderung nach Gerechtigkeit geknüpft, nach Wiedergutmachung und danach, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden müssen. Für all das stehen die Protokolle, die Bushra al-Maktari gesammelt und aufgezeichnet hat, und die jetzt in deutscher Übersetzung aus dem arabischen Original vorliegen. Es sind erschütternde Berichte, in feiner, einfühlsamer Sprache protokolliert, mit einer Nähe zu den Gesprächspartnern, die eine besondere Gabe des Zuhörens offenbart. Jede Geschichte ist auf ihre Art einzigartig, und doch ist ihre Tragik, ihr Leid von universaler menschlicher Gültigkeit.

Der Jemen-Konflikt heißt ja oft »der vergessene Krieg«, weil in den Medien so sporadisch über ihn berichtet wird. Das Land am südlichen Ende der arabischen Halbinsel ist für uns weit weg. Es kommen kaum jemenitische Flüchtlinge nach Europa, weil es schlicht keine Fluchtrouten gibt. Der Konflikt, in dem viele Parteien – lokale und internationale – mitmischen, ist sehr kompliziert. Für ausländische JournalistInnen ist es schwierig bis unmöglich, überhaupt ins Land zu gelangen. Auch das ist ein Grund, weshalb wir in Europa kaum davon hören, was dieser Krieg für die Menschen vor Ort bedeutet. Bushra al-Maktaris Buch füllt diese Lücke.

Angehen tut uns dieser Krieg sehr wohl etwas: Die führenden ausländischen Kriegsparteien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, sind Verbündete westlicher Mächte – und Käufer westlicher Waffen. Dass ein öffentlicher Aufschrei etwas bewirken kann, hat der Mord am saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat von Istanbul im Herbst 2018 gezeigt. Der unverfrorene Mord an Khashoggi, vermutlich von höchster Stelle in Riad angeordnet, versetzte die Welt in Empörung. Plötzlich schauten alle auf Saudi-Arabien. Und damit rückte vorübergehend auch der Krieg im Jemen in den Fokus, wo bereits Zehntausende ums Leben gekommen waren, ohne dass die Welt bisher groß Notiz davon genommen hatte.

In Stockholm einigten sich die Konfliktparteien wenige Monate später auf eine lokale Waffenruhe für die umkämpfte jemenitische Hafenstadt al-Hudaida. Viele Beobachter sind der Meinung, dass der westliche Druck auf Riad nach der »Affäre Khashoggi« dabei eine wichtige Rolle spielte. Verschiedene europäische Länder begannen, ihre Waffenexporte nach Saudi-Arabien zu revidieren.

Von den anderen Kriegsparteien war aber weiterhin kaum die Rede, etwa von den Emiraten, die neben ihrer Beteiligung an den Luftangriffen im Jemen radikale Salafisten bewaffnet und Häftlinge in geheimen Gefängnissen gefoltert hat. Oder von den Huthi-Rebellen auf der Gegenseite, die mit Mörsergranaten Wohnviertel bombardiert und unzählige Zivilisten getötet haben. Bushra al-Maktaris Protokolle sind ein vernichtendes Urteil über die Kriegsführung aller Beteiligten. Die Zeugenaussagen in diesem Buch zeigen mit unmissverständlicher Deutlichkeit: Keine der kriegführenden Parteien nimmt Rücksicht auf die Zivilbevölkerung.

Es ist der Autorin ein zentrales Anliegen, dass ihr Buch nicht von einer Seite instrumentalisiert wird. Deshalb stammen die hier veröffentlichten Zeugenaussagen immer abwechselnd von Opfern der einen oder der anderen Seite. Diese Nichtparteinahme ist eine besondere Leistung in einem polarisierten Kriegsgebiet, wo Neutralität als »Verrat« beschimpft wird, und wo viele Intellektuelle sich von der einen oder anderen Seite im Konflikt haben einspannen lassen. Nicht so Bushra al-Maktari. Mit diesem Buch stellt sie die Opfer in den Vordergrund, ohne dem Versuch zu verfallen, deren Leid mit den politischen Forderungen einer der Kriegsparteien zu verknüpfen. Aus diesem Grund hatte sie übrigens große Schwierigkeiten, im arabischen Raum, wo es kaum eine freie und unparteiische Presse gibt, überhaupt einen Verlag für ihr Buch zu finden.

Für ihre Prinzipientreue verdient Bushra al-Maktari allen Respekt. Ebenso für ihren Mut. So hat sie sich bis heute standhaft geweigert, ihr Zuhause in Sanaa für ein sicheres Leben im Exil zu verlassen. Im Arabischen Frühling von 2011 war sie eine Anführerin der Demokratiebewegung, die sich gegen das damalige Regime von Ali Abdullah Salih auflehnte. Sie ließ sich von niemandem einschüchtern, weder von der brutalen Repression des Regimes Salih noch davon, dass konservative Kleriker eine Fatwa gegen sie erließen, weil ihnen ihre politische Aktivität missfiel. Für dieses Buch hat sie gefährliche Recherchereisen in Kauf genommen. Sie fuhr inkognito durch ihr Land, passierte Kontrollposten der Kriegsparteien und Milizen, um den Hinterbliebenen von Kriegsopfern zuzuhören, ihre Geschichten aufzuschreiben. Inspirieren ließ sie sich dabei von den Afghanistan-Protokollen der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Von 400 gesammelten Protokollen hat sie 43 für die Publikation ausgewählt. (Eine Liste von allen 400 gesammelten Fällen findet sich im Anhang des Buches.)

Aber wie kam es überhaupt zu diesem Krieg? Ursachen gibt es viele. Manche der Konflikte gehen Jahrzehnte zurück. 2011 war jedoch ein Jahr, in dem viele Weichen gestellt wurden. Saudi-Arabien war damals federführend bei der Initiative des Golfkooperationsrates, die als Reaktion auf die Proteste des Arabischen Frühlings einen demokratischen Übergangsprozess für Jemen einleitete. Der seit Dekaden amtierende Präsident Ali Abdullah Salih musste zurücktreten. Doch die Übergangsordnung ließ viele Probleme unberücksichtigt. Alte Konflikte, die Salih in der Vergangenheit je nach Bedarf für seine Machtsicherung angeheizt oder erstickt hatte, traten an die Oberfläche.

Darunter war der Konflikt der Regierung mit den Huthi, einer religiös-politischen Bewegung aus einem Gebiet im nördlichen Gebirge Jemens. Im September 2014 stürmten Huthi-Kämpfer die Hauptstadt Sanaa, ausgerechnet mithilfe von Salih, der einst als Präsident gegen sie gekämpft hatte. Salih hatte im Gegenzug für seinen Rücktritt 2012 Immunität erhalten. Jetzt erhoffte er sich ein Comeback. Salih und die Huthi hatten ein leichtes Spiel, denn die Übergangsregierung von Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi war korrupt und unbeliebt. Hadi und seine Gefolgschaft mussten aus Sanaa fliehen. Damit begann der Bürgerkrieg.

Wenige Monate später, Ende März 2015, begann die saudisch geführte Militärintervention im Jemen unter dem Titel »Operation Decisive Storm – Operation entschlossener Sturm«. Das erklärte Ziel war es, die Regierung Hadi zurück an die Macht zu bringen. Saudi-Arabien sieht in den Huthi einen verlängerten Arm von Iran und will diese in seinem Nachbarland zurückdrängen. Es gab aber auch innenpolitische Gründe: Der Krieg im Jemen war eine Art Feuertaufe für den damals neu ernannten jungen Verteidigungsminister Muhammad bin Salman, der heute als Kronprinz weitgehend die Geschicke Saudi-Arabiens lenkt.

Was Iran und die Huthi angeht, so erhalten die jemenitischen Rebellen tatsächlich Unterstützung aus Teheran, und zwar je mehr, je länger der Krieg andauert. Der Ursprung der Huthi liegt indes nicht in Iran, sondern im Jemen. Die Bewegung aus der nördlichen Gebirgsregion Saada ist benannt nach ihrem Gründervater Hussein Badreddine al-Huthi und gehört zu einem lokalen schiitischen Zweig des Islam, Zaidiya genannt. Die Huthi-Bewegung – sie gehören zur einstigen Dynastie der Imame Jemens, die 1962 nach jahrhundertelanger Herrschaft mit der Einführung der Republik entthront und aus der Politik ausgeschlossen wurden – entstand aufgrund politischer Marginalisierung einerseits, als Reaktion auf die saudisch finanzierte Missionstätigkeit von (sunnitischen) Salafisten in ihrem Gebiet andererseits, wodurch sie sich in ihrer zaiditischen Identität bedroht sah. Ironischerweise eint die Huthi vieles mit ihren saudischen Gegnern: So sind sie wie die saudischen Herrscher Monarchisten, und auch sie legitimieren ihre Herrschaft religiös. Nur gehören sie zu einem schiitischen Zweig des Islam. Das saudische Königshaus ist sunnitisch.

Die Huthi kontrollieren heute die bevölkerungsreichsten Gebiete Jemens, einschließlich der Hauptstadt Sanaa. Ihren einstigen Verbündeten Salih haben sie nach einem Zerwürfnis Ende 2017 getötet. In ihren Gebieten herrschen sie mit eiserner Faust. Sie propagieren ihre religiöse Ideologie, pressen die Menschen mit Steuern und Abgaben aus und lassen jeden im Gefängnis verschwinden, der sich kritisch gegen sie äußert.

Die Gebiete der international anerkannten Regierung von Präsident Hadi sowie der sie unterstützenden Militärkoalition machen eine weit größere Landfläche aus. Doch das Gebiet ist weniger dicht bevölkert und politisch wie militärisch fragmentiert. Das liegt daran, dass die Huthi-Gegner eine bunt gemischte Allianz von Gruppen sind, die außer der Feindschaft gegen die Huthi wenig eint. Unter ihnen sind regierungstreue Fraktionen der Armee, südjemenitische Separatisten, Funktionäre des alten Staatsapparates und politische Parteien, Stammesverbände mit föderalen Interessen, Anhänger der Muslimbrüder, Salafisten und so weiter. Manchmal bekämpfen sich gar die Huthi-Gegner untereinander, was für Instabilität in ihren Gebieten sorgt. Und auch dort verschwinden Menschen in Gefängnissen. Die Regierung von Hadi weilt unterdessen wegen der chaotischen Sicherheitslage in »ihren« Gebieten seit Jahren mehrheitlich im Exil in Riad.

Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate dominieren die Militärkoalition, die aufseiten der Regierung Krieg führt, wobei die Emirate im Jahr 2019 begonnen haben, ihr Engagement zu reduzieren. Die Anti-Huthi-Koalition erhält militärische Hilfe von den Vereinigten Staaten und Großbritannien in Form von Geheimdienstinformationen und modernen Präzisionswaffen oder durch das Auftanken saudischer Bomber. Doch die Überlegenheit in puncto Rüstungsgüter, Geld und internationaler Unterstützung hat nicht zum Ziel geführt. Der »schnelle Krieg«, der nach saudischen Ankündigungen »wenige Wochen« dauern sollte, zieht sich nun schon fünf Jahre hin, und ein Ende ist nicht in Sicht.

Je länger der Krieg dauert, umso komplexer werden die Allianzen. Rivalitäten zwischen den verschiedenen benachbarten Golfstaaten wirken sich auf den Krieg im Jemen aus. So haben sich im Südjemen Separatisten mit Unterstützung der Emirate gegen saudisch unterstützte Truppen von Präsident Hadi erhoben. Qatar und Oman versuchen, der Militärkoalition Steine in den Weg zu legen, um sich gegen die saudische Dominanz in der Region zu wehren. Unterdessen wird das Bündnis zwischen Iran und den Huthi immer stärker. Das zeigte sich spätestens mit dem Angriff auf die saudischen Ölanlagen von Aramco im August 2019, den die Huthi für sich beansprucht haben, der aber mit größter Wahrscheinlichkeit mit Iran koordiniert war – als Antwort auf die amerikanischen Sanktionen gegen iranische Ölexporte. Der Krieg im Jemen hat längst den Charakter eines Stellvertreterkrieges, und das vertieft und verlängert die bestehenden lokalen Konflikte.

Den horrenden Preis für den fortdauernden Krieg zahlt die Zivilbevölkerung. Längst hat sich gezeigt, dass keine Seite die andere bezwingen kann. Aber es will auch niemand dem Gegner den Sieg lassen oder neu gewonnenes Einflussgebiet aufgeben. Es wird weitergekämpft, weil zu viele ein Interesse daran haben: Warlords und Kriegsgewinnler, Waffenlieferanten, ausländische Mächte mit ihren geopolitischen Spielen.

Die humanitären Folgen sind katastrophal. Nicht nur sind Zehntausende durch Luftangriffe oder Mörsergranaten getötet worden. Millionen leiden unter den indirekten Folgen des Krieges, müssen hungern wegen rücksichtsloser Blockadetaktiken der Kriegsparteien. Viele haben keinen Zugang zu medizinischer Behandlung. Das Gesundheitssystem ist praktisch zusammengebrochen, ebenso das Bildungssystem. Lehrer und Ärzte erhalten keine Löhne, den Spitälern fehlt es an Medikamenten und Strom, Eltern können es sich nicht mehr leisten, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Plündernde Milizen machen das Land unsicher. Für all das sind die kriegführenden Parteien verantwortlich.


Bushra al-Maktari fordert uns mit ihrem Buch auf, hinzuschauen und uns nicht der Gleichgültigkeit zu ergeben. Sie leistet auch einen wichtigen Beitrag zur Dokumentierung der Kriegsverbrechen im Jemen, in der Hoffnung, dass eines Tages die Verantwortlichen Rechenschaft ablegen müssen. Ihr Buch ist ein »Dorn im Auge der Mörder«, wie sie selbst schreibt. Damit die Verbrechen schwarz auf weiß bezeugt sind, damit niemand sagen kann, man habe nichts davon gewusst.


Zürich und Amman, im Februar 2020
Monika Bolliger

Intro
Irgendwo, im Süden dieser Welt

Bushra al-Maktari

In meinen Träumen schweigt der Krieg. Keine Bomben, keine Luftangriffe, kein Tod, kein Hunger, keine Angst, kein Hass. Aber tauche ich aus meiner Traumwelt wieder auf, wütet er ununterbrochen, so wie seit seinem Ausbruch vor fast fünf Jahren: Luftangriffe lassen den Nachthimmel über Sanaa taghell aufleuchten, die Sirenen der Rettungswagen zerreißen die Stille der Nacht. Was soll ich schreiben in Zeiten wie diesen?

Lange schon ist der Krieg durch die Jahre gewandert, bis er schließlich auch bei uns ankam. So ein Krieg bricht schließlich nicht überraschend aus, sondern er nimmt sich viel Zeit. Eine volle Geschichtsumdrehung. Jahre, Jahrzehnte sogar brauchte er, um plötzlich vor unserer Tür zu stehen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie sein scheußliches Haupt unverkennbar auf uns zutrieb. Es war in den ersten Märzwochen des Jahres 2015. Wir sahen nicht richtig hin. Oder vielleicht sahen wir hin, wussten aber nicht, dass wir schon die Vorboten des Krieges sahen. Zwar waren auf den Straßen Huthi-Milizen zu beobachten. Doch verglichen mit dem einige Monate zuvor erfolgten »Fall von Sanaa« war die Situation überschaubar.1 Nach Einbruch der Dunkelheit rollten Panzerwagen an und mit ihnen kamen die Kämpfer, Clan-Mitglieder in Armeekleidung. Diese Truppen bewegten sich auf denselben Landstraßen vorwärts, über die auch der Verkehr mit all den Pendlern lief. Ich weiß noch, dass ich die Militärlaster über die Landstraße von Sanaa nach Aden rollen sah. Langsam schoben sie sich über den Berggrat vorwärts und blockierten den zivilen Verkehr. Sie trugen Panzer, die frisch aus der Lagerhalle zu kommen schienen. Dann folgten in langer Reihe Raketenwerfer und Maschinengewehre, bewacht von erschöpften Soldaten. Und wieder Militärlaster und auf ihren Rücken noch mehr zusammengepferchte Soldaten. Manche von ihnen grinsten die bürgerlichen Peugeot-Fahrer dämlich an. Und schließlich die Wagen der Militärpolizei. Sie eskortierten die Armee auf ihrem Weg in den Süden des Jemens.


In der zweiten Märzwoche war ich in Aden. Bomben ließen die Stadt von ihren Rändern her erzittern, Huthi-Milizen schossen auf den Präsidentenpalast im Viertel Ma’aschiq,2 Militärpanzer rollten über die Hauptstraßen. Bei den Bewohnern Adens weckten die Kanonenschüsse bittere Erinnerungen an den Krieg im Sommer 31994. Sie ahnten noch nicht, dass ein neuer, viel blutigerer Krieg sie erwartete. Am 23. März 2015 war klar, dass er vor der Tür stand. Diplomaten und international tätige Angestellte verließen Sanaa. Ausländische Botschaften schlossen und evakuierten ihre Staatsangehörigen. Ebenso verließen die jemenitischen Parteispitzen mit ihren Familien das Land. Von einigen verabschiedete ich mich noch persönlich. Voller Zuversicht, dass wir uns bald wiedersehen würden. Ich war überrascht, dass sie, die den Krieg schon witterten, es vorzogen, sich ins Ausland abzusetzen – und die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen.

Damals war ich der festen Überzeugung, dass uns die zivilisierte Welt nicht einfach dem Irrsinn von Politikern und Kriegsgenerälen zum Fraß vorwerfen würde. Ich dachte, die Welt würde nicht einfach tatenlos zusehen bei all der Zerstörung, die auf uns zukam. Ganz sicher war ich, sie würde einschreiten, diese Welt. Dabei konnte ich gar nicht genau definieren, was sie für mich umriss. Doch ich war sicher, vielleicht schon heute oder morgen, aber spätestens übermorgen würde diese Welt damit aufhören, uns wie Lemminge in den Abgrund rennen zu lassen.

Plötzlich durchbrachen die Kampfjets der Militärkoalition4 den Himmel von Sanaa. Am Donnerstag, den 26. März, nachts um zwei Uhr wurde der Krieg Wirklichkeit. Besonders eingeprägt hat sich mir nicht etwa das Dröhnen der Explosionen oder der unheimliche Lärm der Kampfjets, als sie die Schallmauer durchbrachen. Nicht die Lärmkulisse des Krieges, die uns mittlerweile fast schon vertraut ist. Vielmehr war es mein Erschrecken über die plötzliche Gegenwart des Krieges und über das schlagartige Zusammenbrechen allen normalen Lebens. Mit einem Mal war er da, der Krieg. Mit einem Mal war sie da, die erniedrigende Schmach des Hungerns. Die große Enttäuschung unserer Generation, als die Generäle beschlossen, in den Krieg zu ziehen. Als sie beschlossen, die Bevölkerung in zwei verfeindete Lager zu teilen und die meisten von uns zu Opfern zu machen. Zu stimmlosen Wesen.


Ich habe nicht vor, hier die politischen Fakten des Krieges aufzuführen. Vielmehr finde ich es angemessener, im Vorwort dieses Buches die Eindrücke vom Leben im Krieg zu beschreiben, die sich mir am stärksten eingeprägt haben. Als Versuch eines Resümees dessen, was ich sah und verinnerlichte. Eine Auswahl an Bildern, die das schrittweise Verschwinden allen normalen Lebens zeigen. Bilder des Krieges. Eine Darstellung meiner Welt, in der Warlords jeglichen Patriotismus, alle Souveränität und die nationale Einheit unter ihren schweren Springerstiefeln zertrampelt haben. Nur wie könnte ich unser Leben im Schatten dieses Krieges beschreiben, eines Krieges, der alles vereinnahmt?

Eines weiß ich gewiss: Der Krieg hat uns zurückgeworfen in vorzivilisatorische Zeiten. In sämtlichen Städten ist der Strom ausgefallen.5 Wie einst unsere Großeltern tasten wir uns im Schein von Kerzen und Gaslampen durch die Dunkelheit. Als sämtliche Gasvorräte aufgebraucht waren, begannen wir, Bäume zu roden, als Brennholz für die Öfen. Trinkwasser gibt es vielerorts auch keines mehr. Alltäglich wurde der Anblick von Kindern und alten Menschen, die Schlange stehen, um leere Plastikflaschen an Wassertankwagen aufzufüllen, die irgendein Wohltäter gespendet hat. Wo immer das Auge hinblickt, herrscht Armut: Menschen, die ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt6 verloren haben. Menschen, die so verarmt sind, dass sie nicht einmal mehr nach dem Sinn dieses Krieges fragen, der sie derartig entseelt hat. Frauen und Kinder ernähren sich von Abfällen. Familien schlafen unter freiem Himmel, weltvergessene Vertriebene leben in elenden Flüchtlingslagern am Rand der Städte. Die Menschen wurden ihrer Bürgerrechte beraubt. Von den verschiedenen Kriegsparteien und Staaten, die im Jemen militärisch agieren, werden sie belagert. Und seitdem die Spitze der saudischen Militärkoalition sämtliche Meereszugänge, Landwege und den nationalen Luftraum abgeriegelt hat, sitzen Tausende jemenitische Staatsbürger im Ausland fest. Dass diese Militärkoalition den Internationalen Flughafen Aden mittlerweile wieder geöffnet hat, bedeutet längst kein Ende der Blockade. Auch jetzt noch dürfen Passagierflugzeuge den jemenitischen Luftraum nur mit einer Genehmigung der Koalitionsspitze verlassen. Freunde berichten mir von schweren Demütigungen, die sie am Flughafen von Bisha7 über sich ergehen lassen mussten. Polizeihunde durchschnüffelten ihr Gepäck, als seien sie Verbrecher. Ihre Bürgerrechte wurden von einer anderen Staatsmacht missachtet. Im August 2016 schloss die Militärkoalition auch noch den Flughafen von Sanaa, was die Blockadesituation weiter verschärfte.


Inmitten dieses großen Elends, in dem wir leben, entstand zeitgleich eine völlig andere Welt: neue Villen mit Betonschutzwällen, die sich über mehrere Straßenzüge erstrecken. Protzige Hochhäuser funkeln in staubigen Nebengassen. Nagelneue Tankstellen, Wechselstuben, private Krankenhäuser und Schulen8 – alles aus geplünderten Staatseinnahmen finanziert. Dies ist die Welt der neuen Kriegsreichen, der Kriegsgewinnler, der Schwarzmarktmoguln, der Anverwandten von Huthi-Milizen und von Ex-Präsident Ali Abdullah Salih. Dies ist die Welt der Machthaber. Von uns unbemerkt ist die glamouröse Welt des Krieges emporgewachsen. Mittlerweile hat sie sich sogar auf Metropolen im Ausland ausgeweitet. Zum Beispiel nach Riad, wo ein Großteil der Minister der offiziellen Regierung lebt sowie ihre Botschafter und Stellvertreter. Eliten, die sich auf Kosten der Millionen von hungernden Menschen im Jemen bereichern. Genau daher ist ihnen so viel daran gelegen, dass dieser Krieg möglichst lange andauert. Ebenso wie denen, die sie bekämpfen.


Sie alle leben in einer anderen Zeit. Einer Zeit, die außerhalb der Zeit derer liegt, die täglich bei Luftangriffen, durch Granaten und Minen ums Leben kommen. Außerhalb der Zeit derer, die in dunklen Gefängniszellen sterben oder einfach verschwinden, weil ihre Mörder all ihre Spuren verwischen. Sie leben außerhalb der Zeit derer, die vor Hunger sterben oder an Pest und Cholera9 zugrunde gehen. Sie leben außerhalb der Zeit derer, denen der Krieg all ihre Träume nahm. Genau dies aber ist unsere Zeit. Dies ist die Zeit, in der unser Leben stattfindet. Wir leben in dem steten Bewusstsein, von für uns unsichtbaren Kräften beherrscht zu sein, deren Gesetzmäßigkeiten nur uns allein determinieren. Immer sind es die kleinen Leute, die den Preis für einen Krieg zahlen müssen. Dies ist ein sinnloser Krieg, und wir sind mittendrin.

Einmal, im April des ersten Kriegsjahres, war ich gerade mit meinem Mann unterwegs zum Damran-Einkaufszentrum. Es war ungefähr vier Uhr am Nachmittag. Der Krieg war noch ganz frisch auf den Straßen der Stadt. Die Geschäfte waren geschlossen, die Tankstellen, vor denen in Schlangen Autos parkten, waren außer Betrieb. Kriegsflugzeuge warfen Bomben über verschiedenen Vierteln von Sanaa ab. Obwohl sie nah klangen, ignorierte ich das Dröhnen der Explosionen. Als aber plötzlich der Berg Attan10 und das Damran-Einkaufszentrum von Rauch umgeben waren, traf mich die Erkenntnis bis ins Mark: Dies ist Krieg. Natürlich kam es auch später immer wieder zu solchen Momenten; bei Luftangriffen oder beim Granatenbeschuss durch die Huthi. Aber die stärkste Erinnerung habe ich an diesen Moment am Berg Attan. Vielleicht liegt es daran, weil mir kurz danach mein Freund Mohammad al-Yemeni,11 der dieses Bombardement mit Fotos dokumentierte, vorwurfsvoll schrieb: »Was gehst du denn auch zum Berg Attan! Du hättest sterben können!« Einige Monate später starb er selbst, durch eine Patrone der Huthi. Mit der Zeit wurde die Liste der Todesopfer in meinem Umfeld immer länger und länger: Nachbarn, Freunde, Verwandte, Eltern – alle Zivilisten, alle sinnlos getötet.


Jetzt schreibe ich wieder im Kerzenschein, wie damals, zu Kriegsbeginn. Das Dröhnen der Explosionen schwillt an, die Fenster meiner Wohnung klirren. Wieder zerspringt unsere Qamariyya, das typisch jemenitische bunte Mosaikfenster, das wir doch erst kürzlich nach einem Luftangriff der Militärkoalition repariert hatten. Die Explosionen, die die Menschen aus ihrem Schlaf reißen – und nicht selten aus ihrem Leben –, bilden den Soundtrack meines Schreibens über die Opfer des Krieges. Als wäre die Zeit stehen geblieben, seit ich begonnen habe, an diesem Buch zu schreiben, um als Hinterbliebene Zeugnis über die Kriegsopfer abzulegen.

Ich tauche ein und erinnere mich an den Gestank verkohlter Menschenhaut, an die Reste verbrannter Haare auf dem staubigen Boden des Fabrikgeländes nach einem Luftangriff der saudischen Militärkoalition auf die Al-Aqel-Lebensmittelwerke in Sanaa.

Oder an meine Heimatstadt Taizz, wo die Misere besonders eklatant ist. Die Huthi haben eine Blockade über die südjemenitische Stadt verhängt. Allein die Strecke, die ich zurücklegen musste, um überhaupt dort hinzukommen, war eine Qual: Zunächst musste die Stadt einmal komplett umfahren werden, dann ging es über Berge und durch Dörfer im Umland, um endlich in die Stadt hineinzugelangen.

Bereits bei der Stadteinfahrt war der Lärm der Gefechte zwischen Huthi-Milizen und den lokalen Anti-Huthi-Widerstandskämpfern unüberhörbar. Überall registrierte ich Szenen der Zerstörung: zerbombte Häuser, dazwischen Zeltlager, wo diejenigen hausen, die von den Huthi aus ihren Dörfern vertrieben worden sind. Kaum zu ertragen ist die Verzweiflung in den Augen der Menschen, die sich auf die unzugänglichsten Bergpässe zurückgezogen haben, beispielsweise nach Taluq,12 um der Blockade zu entfliehen.

Mitten in der Stadt begegneten mir Bewaffnete der Anti-Huthi-Widerstandstruppen, die sich gegenseitig bekämpfen. Den unberechenbar durch die Luft fliegenden Schüssen fallen tagtäglich Unschuldige zum Opfer. Und inmitten dieser düsteren Kulisse vegetieren diejenigen, die von den Mächtigen ignoriert werden.


Zusammen mit meiner Freundin fuhr ich nach al-Hudaida und verbarg mein Gesicht hinter dem traditionellen Gesichtsschleier jemenitischer Frauen. Dorthin zu fahren bedeutet, sich großer Gefahr auszusetzen, weil die Huthi jeden Journalisten von außerhalb gefangen nehmen. Als wir ankamen, erwarteten die Bewohner der Stadt gerade den Einmarsch der Koalitionstruppen.

Die Krankenhäuser quollen über vor Opfern. Zivilisten, die bei den Luftangriffen verwundet worden waren. Mit eigenen Augen konnte ich sehen, was eine Splitterbombe einem armen Fischhändler angetan hatte. Konnte sehen, was Hunger mit den Körpern von Männern, Frauen und Kindern angerichtet hatte, die knochig und ausgemergelt waren. Konnte die Angst in den Augen der Menschen sehen, die eines ungewissen Schicksals harrten. Dutzende von ihnen sollten später unter Folter sterben. Dabei bildet al-Hudaida in diesem Riesengefängnis namens Jemen keine Ausnahme. Das vielleicht größte Leid im Land verursachen die willkürlichen Festnahmen und das Verschwinden unliebsam gewordener Personen. In Taizz wurden Schulen zu Gefängnissen umfunktioniert, in denen Unschuldige verschwinden und nie zurückkehren.13 Aber auch in den südjemenitischen Städten sterben etliche Gefangene in Haft.14


So vieles bliebe zu sagen über den Krieg in diesem Land. Ein Land, das nicht mehr uns, sondern den Kriegsmächten gehört. Was es heißt, fremd im eigenen Land zu sein, habe ich am eigenen Leib erfahren, als uns eine Gruppe Bewaffneter aus dem Südjemen in der Nähe der Stadt al-Dalea stoppte – einfach nur, weil wir aus dem Norden stammen. Erst als die Truppen der Emirate ihr offizielles Einverständnis gaben, ließ man uns weiterfahren. In Aden etwa ist ein Nebenkrieg um die Souveränität über die Stadt ausgebrochen. Ihn führen lokale Milizen mithilfe der »Befreier«, sprich: Saudi-Arabien und die Emirate. Die Kämpfer der südjemenitischen Separatistenbewegung kämpfen gegen die Truppen der Präsidentengarde, während die Luftwaffe der Vereinigten Arabischen Emirate den Internationalen Flughafen Aden bombardiert. So wurde mir bewusst, wie absolut symmetrisch und ähnlich sich Gegner sein können.


Im Grunde genommen gibt es nur Opfer in diesem Krieg, der nun in sein fünftes Jahr geht. Der Staat wurde ausgehöhlt und das Land zerteilt. Die Zahl der Toten beläuft sich auf mehrere Zehntausend. Trotzdem scheint der Krieg bei den meisten Intellektuellen im Land kaum moralische Fragen aufzuwerfen. Fast niemand scheint sich zu fragen, was dieser Krieg tatsächlich für uns alle bedeutet. Was es bedeutet, dass Flugzeuge anderer Länder Luftangriffe auf unsere Städte fliegen. Was es bedeutet, dass so viele Unschuldige ums Leben kommen.

Manchmal versuche ich mir das mangelnde Gewissen unserer Kulturelite als Folge des Terrors durch die Kriegsmächte zu erklären. Aber wenn ich länger darüber nachdenke, wird mir klar, dass diese Intellektuellen, Medienleute, Journalisten und Menschenrechtler als Trägermedien des Terrors fungieren, weil sie sich auf die eine oder die andere Seite geschlagen haben.

Einige davon waren sogar meine Freunde. In Friedenszeiten sprachen wir miteinander über unsere Träume – es waren die gleichen. Jetzt aber haben sie uns denunziert, ihre Generäle gegen uns aufgehetzt und sind mitunter selbst zu blutrünstigen Jagdhunden geworden. Sie schnüffeln den Spuren unserer Texte hinterher, verraten uns und erklären uns für vogelfrei.


Als Jagdhunde schlagen sie an, wann immer sich ein jemenitischer Intellektueller gegen den Krieg ausspricht, gegen die Ermordung Unschuldiger, durch egal welche Kriegspartei, gegen unsere Verelendung und Auszehrung, gegen die Hypotheken des Krieges für die nächsten Generationen.

So gab es zum Beispiel eine breite Hetzkampagne gegen diejenigen, die einen Friedensaufruf an alle Kriegsparteien unterzeichnet hatten. Sie wurden verfolgt und als Verräter verschrien. Die Zeitung »Al-Hawiya«15 veröffentlichte ihre Namen unter der Überschrift: »Die Neunte Kolonne – Agenten und Söldner der saudischen Aggression«. Auf die gleiche Weise diffamieren von den Huthi finanzierte Zeitungen16 alle Journalisten, die sich gegen den Krieg positionieren. Der Journalist Nabil Sabia17 wurde von Bewaffneten angeschossen, der Journalist Mohammad al-Absi wurde ermordet.18 Yahya al-Dschubaihi wurde unter der Anklage »Nachrichtenaustausch mit dem Feind« von einem Huthi-Gericht zum Tode verurteilt.19 Dabei liegt das Monopol für mediale Hetzjagden und Inquisitionsgeschrei keineswegs bei den Huthi-Milizen. Jeder wird von regierungsnahen Journalisten, Menschenrechtlern und Medienleuten zur Zielscheibe erklärt, der die Ermordung von Zivilisten durch die saudische Militärkoalition verurteilt, die Korruption der offiziellen Regierung kritisiert oder gar zum Frieden aufruft. Gleich werden dann Vorwürfe laut, man sei der »Neutralität« schuldig oder gehöre zum »weichen Netzwerk des Putsches«. Die Speerspitze dieser Hetzkampagne bilden die Moderatoren und Moderatorinnen des Senders »Balkis«.20 So beschuldigte die berühmte Balkis-Moderatorin Aussan Shaher im Interview einen Aktivisten, er sympathisiere mit den Huthi in Taizz. Daraufhin umstellten Kämpfer des Anti-Huthi-Widerstands sein Haus.21 Die Ironie dabei: Immer sind diese Hetzer entweder Nutznießer der jeweiligen Kriegsmacht, oder sie leben in irgendeiner Metropole im arabischen oder europäischen Ausland – weit entfernt vom Krieg, der in ihrem Heimatland wütet. Was sie keineswegs davon abhält, weiterhin Noten für Patriotismus an diejenigen zu verteilen, die im Jemen ausharren und letztlich die von ihnen gesäten Stürme werden ernten müssen.


Wieder eine Explosion. Die Kerze schmilzt. Bald geht sie aus, aber sie hinterlässt eine Spur auf dem Sofatisch. Ich soll mich erinnern: Hier ist etwas verbrannt. Die Spuren des Krieges lassen sich nicht einfach beseitigen. Sie bleiben in unseren Seelen, in unserem Gedächtnis. Sie sind lebendig in der Erinnerung all derer, die den Krieg und seine Zerstörungskraft erfahren und ihre Liebsten verloren haben. Nur weil die Welt sich entschieden hat, vor uns den Vorhang fallen zu lassen, die Zahl und das Schicksal der Opfer zu vertuschen und die Kriegsverbrecher zu hofieren, können wir das Grauen dieses Krieges noch lange nicht vergessen.

Die Stimmen dieser Augenzeugen wurden festgehalten als ein Dorn im Auge der Mörder und der abgerichteten Jagdhunde, hinter denen sie sich verstecken. Sie sind eine Form des Widerstands gegen das Vergessen, gegen Ignoranz und Gleichgültigkeit. Aber auch eine Form des Trauerns und des Gedenkens an die Seelen der vielen Menschen, die getötet wurden und deren Liebsten nichts weiter blieb als Erinnerungen.

Dieses Vorwort habe ich 2018 für die arabische Ausgabe verfasst. Der Krieg tobt aber noch immer, und noch immer fallen ihm täglich Jemeniten zum Opfer.


Bushra al-Maktari
Sanaa, im Februar 2020