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Nr. 3092

 

Erdkern

 

Der Diener der Staubfürsten – Operation Odysseus wird gestartet

 

Susan Schwartz

Christian Montillon

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Drehscheibe

2. Nur ein Traum

3. Ein Abendessen und eine Entscheidung für alle

4. Traum und Wahrheit

5. Erwachen

6. Die Frau, die Rhodan umbrachte

7. Ein Besuch

8. Der Vano

9. Odysseus

10. Das letzte Aufbäumen

Epilog: Briefe aus einem fremden Universum

Leseprobe PR NEO 240 – Oliver Plaschka – Das neue Plophos

Vorwort

1. Government Garden

2. Capra

Gespannt darauf, wie es weitergeht?

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Mehr als 3000 Jahre in der Zukunft: Längst verstehen sich die Menschen als Terraner. Mit ihren Raumschiffen sind sie in die Tiefen des Universums vorgestoßen und dabei immer wieder außerirdischen Lebensformen begegnet; ihre Nachkommen haben Tausende von Planeten besiedelt und sich den neuen Umwelten angepasst.

Perry Rhodan ist der Mensch, der den Terranern diesen Weg zu den Sternen eröffnet und sie seitdem begleitet hat. Nun steht er vor einer seiner größten Herausforderungen: Er wurde mit seinem Raumschiff, der RAS TSCHUBAI, vorwärts durch die Zeit in eine Epoche katapultiert, in der Terra und Luna verloren und vergessen zu sein scheinen.

Mittlerweile hat er in einem Zwilling unseres Universums die beiden Himmelskörper wiederentdeckt. Nun muss er nur noch einen Weg finden, sie zurückzubringen. Die Staubfürsten sind ihm dabei eine große Hilfe. Sie statten Rhodan mit einem Staubkonzess aus, der ihm die Aktivierung einer Maschine erlaubt, die den Rücktransfer von Erde und Mond bewirken kann. Aber diese Maschinerie ist im Inneren Terras verborgen, im ERDKERN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner bewirbt die Rückkehr der Erde.

Anzu Gotjian – Die Technikerin steht für den Unsterblichen ein.

Fany und Oona Anckerstrom – Die beiden Schwestern sind uneinig im Hinblick auf die Zukunft.

Milton Chu – Der Mäzen lüftet sein Geheimnis.

»Das Wesen der Dinge

hat die Angewohnheit,

sich zu verbergen.«

Anonyme Sammlung

altterranischer Weisheiten,

Kapitel 73: Heraklit

 

1.

Drehscheibe

 

»Fürchtet euch nicht vor dem Chronogespinst, in dessen Zeitfessel ihr hängt«, sagte das Staub-Faktotum. »Wenn ihr euch fürchten wollt, so fürchtet euch vor mir!«

Anzu Gotjian saß starr auf ihrem Platz in den Zuschauerrängen des großen Theaters der Evolution, 2500 Kilometer tief im Erdinneren, in einer Station, die von den Staubfürsten vor Jahrmillionen errichtet worden war. Wie ihre Begleiter konnte auch Anzu keinen Muskel rühren und wartete auf die nächste Aktion des Staub-Faktotums, einer kindergroßen Gestalt in einer rubinroten Kutte.

Es war verrückt.

Einfach nur verrückt!

Eigentlich hatte sie sich nicht der Transmittertechnologie verschrieben, um Abenteuer zu erleben, die sie sich nicht einmal in ihren Träumen ausmalen könnte. Andererseits war sie nicht nur mit Perry Rhodan auf diese Expedition gegangen, sondern hatte sich sogar freiwillig für den direkten Vorstoß in die Station der Staubfürsten gemeldet.

Und das habe ich nun davon, dachte sie. Wer mit Perry unterwegs ist, sollte eben mit allem rechnen.

Seltsamerweise empfand sie trotz ihrer Lage keine Angst. Sie fühlte, nein, sie wusste, dass das Staub-Faktotum ihnen nicht feindlich gesinnt war. Es war ein Diener der Staubfürsten und hatte angekündigt, die Besucher überprüfen zu müssen. Da Rhodan von einem Staubfürsten höchstpersönlich eine Eintrittserlaubnis in Form des Staubkonzesses erhalten hatte, würde er diese Prüfung problemlos bestehen.

Oder?

Dieses eine kleine Wörtchen – oder? – bohrte sich wie ein Giftpfeil in Anzus Gedanken. Es machte sie verrückt, dass sie nicht reden durfte, nicht auf sich aufmerksam machen, keine Fragen stellen ...

... einfach nichts!

Nur abwarten.

Sie sah alles, denn ihre Augen standen offen, wie in dem Moment, als die Zeitfesselung zugeschlagen hatte. Wie lange ging das wohl gut, ohne dass sie blinzeln musste, weil die Augäpfel sonst austrockneten?

Allerdings fühlte sie kein Verlangen danach, die Lider zu schließen. Sie könnte es ohnehin nicht.

Das Staub-Faktotum hatte dieses Energiefeld ein Chronogespinst genannt, das die vier Besucher fesselte – Perry Rhodan, dessen Frau Sichu Dorksteiger, die Mutantin Iwa Mulholland und Anzu selbst. Bedeutete die Bezeichnung, dass für den Gefesselten die Zeit stillstand?

Aber warum vermochte sie dann zu denken? Und wieso hatte sie die Worte des Faktotums gehört, deren Aussprache selbstverständlich einige Sekunden – also Zeit – in Anspruch genommen hatte?

Versuch nicht, es zu verstehen, hörte sie Iwas Stimme in ihrem Kopf. Die Mutantin – die jeder so wahrnahm, als würde sie dem eigenen Geschlecht angehören, eine seltsam verwirrende Eigenschaft – war nicht nur in der Lage, Gedanken zu lesen, sondern sie auch gezielt zu senden. Das Chronogespinst beugt sich nicht unserer Logik. Das Faktotum kommt näher. Ich sehe es.

Ich kann den Kopf nicht drehen, dachte Anzu.

Ich weiß. Ich blicke zufällig in die passende Richtung. Ich beobachte es, Schritt für Schritt, doch für mich vergeht auf ... auf einer anderen Ebene keine Zeit. Ich habe keinen Herzschlag. Ich atme nicht.

Die Erkenntnis traf Anzu wie ein Schlag. Es ging ihr genauso. Kein Atem, und kein Verlangen, Luft zu holen. Für eine Sekunde – nein, keine Sekunde, denn die Zeit stand still – wollte sie Panik überfallen. Aber wieso? Es schadete ihr nicht, sonst wäre sie bereits tot.

Also starrte sie weiter geradeaus, den Blick auf die Sitzreihe vor ihr gerichtet, wenn sie sich nicht irrte, dicht an Perry Rhodan vorbei. Denn der Terraner hing zweifellos ebenso unbeweglich fest wie sie selbst. Andernfalls hätte er sich längst gemeldet.

Das Faktotum passiert mich, sendete Iwa. In den Gedanken lag ein Hauch Panik. Jetzt verlässt es mein Blickfeld!

Es folgte ein Sturm von Emotionen, die formlos blieben – sie fanden keine Worte, um sich auszudrücken. Am ehesten glichen sie Farben, die bitter schmeckten.

Fürchte dich nicht, dachte Anzu angestrengt.

Die Bitterfarben verschwanden aus ihrem Kopf, und das Faktotum tauchte in ihrem Blickwinkel auf. Zum ersten Mal sah Anzu das Gesicht.

Nur dass es keines gab.

Was sie aus der Ferne in dem Moment, in dem die kleine Gestalt sichtbar gewesen war, für einen Schleier gehalten hatte, der das Gesicht verbarg, war ein Wirbeln aus Staub. Wie in einem eng begrenzten Ministurm wirbelten winzige Partikel in der Kapuze.

Obwohl es keine Augen gab, fühlte sich Anzu beobachtet, ja geradezu seziert.

»Du bist als Erste ins große Theater meiner Meister gekommen«, sagte das Faktotum – mit welchem Mund und welchen Sprechwerkzeugen eigentlich? Die Stimme kam mitten aus dem wirbelnden Staubsturm, doch sie wehte nicht davon und wurde nicht zerrissen. »Darum werde ich dich zuerst prüfen.«

Aber Perry hat den Staubkonzess, dachte sie und konnte es nicht aussprechen. Natürlich nicht.

»Oh, du bist ja gar nicht in der Lage, etwas zu deiner Verteidigung beizutragen. Bitte.« Das Faktotum hob den linken Arm – oder den Ärmel der Kutte, der dabei zurückrutschte und an seinem vorderen Ende nicht etwa eine Hand, sondern nur sich drehende Staubschleier entblößte.

Einige Partikel lösten sich und schwebten auf Anzu zu.

Sie wollte zurückweichen, doch das Chronogespinst verwehrte es ihr. Nicht einmal ihr Herzschlag durfte sich beschleunigen; sogar das nahm ihr die Chronofesselung.

Sie fühlte eine sanfte Berührung auf dem Gesicht. Etwas blitzte auf. Sie merkte erst, dass sie sich bewegen konnte, als sie vor Schreck die Augen schloss, um sich vor der grellen Helligkeit zu schützen.

»Steh auf!«, befahl das kleine Staubwesen.

Sie gehorchte. »Mein Begleiter Perry Rhodan hat ...«

»Es geht nicht um ihn«, fiel das Faktotum ihr ins Wort. Es bewegte sich hastig, und die Kapuze raschelte. »Noch nicht. Zunächst zählst nur du. Name?«

»Kennst du ihn nicht?«

»Woher denn?«

»Das große Theater und all die Technologie ... das Zeitfeld ... kannst du nicht meine Gedanken lesen? Oder Informationen aus dem SERUN holen? Auf Informationsnetze zugreifen?«

»Wieso sollte ich das alles tun? Ich will doch nur deinen Namen wissen. Ist er so ein großes Geheimnis?«

»Anzu Gotjian.«

»Wer bist du?«

Spielt das eine Rolle?, dachte sie. Sie wählte ihre Worte sorgfältig. »Ich arbeite als Transmittertechnikerin. Ich bin Teil des Teams, das in diese Station vorgestoßen ist, damit ich ...«

»Ja, ja, das ist deine Aufgabe, aber die interessiert mich nicht. Lass mich die Frage noch einmal wiederholen. Wer – bist – du?« Es sprach jedes Wort einzeln, und bei jedem streckte es die Staubhand ein wenig weiter aus, ihr entgegen.

Anzu wich nicht zurück. Sie dachte nach. Und gleichzeitig überlegte sie, wie sie ihren Gefährten helfen konnte, nun, da sie nicht mehr im Chronogespinst festhing. »Ich bin ein Mensch, geboren auf Terra, auf diesem Planeten, und ich bin an diesen Ort gekommen, um ein Geheimnis zu lüften. Um zu verstehen, wie meine Heimat vor Jahrhunderten in dieses Sonnensystem versetzt worden ist. Eigentlich gehört dieser Planet nicht hierher.«

»Findest du? Du kamst hier aus deiner Mutter Leib. Deine Eltern und deren Eltern ebenso.«

»Die Erde ist mein Zuhause, aber ihr Ursprung liegt in der anderen Hälfte des Dyoversums.« Als das Faktotum nicht reagierte, ergänzte Anzu aus einer spontanen Eingebung heraus: »Hast du auch eine Heimat? Vorfahren?«

Sie erwartete eine barsche Antwort im Stil von Das tut nichts zur Sache oder Ich stelle die Fragen! Stattdessen sagte das Staubwesen: »Nie zuvor wollte jemand das von mir wissen. Wieso du?«

»Weil ich mich für dich interessiere.«

»Weshalb?«

»Du bist ein Lebewesen. Das ist Grund genug.«

»Bin ich das?«

Anzu zögerte. »Hast du eine Heimat?«

»Das große Theater der Evolution hat mich ausgehustet, damals, als meine Meister die erste Simulation starteten. Sie haben mich angesehen, und sie liebten mich. Also sorgten sie dafür, dass ich weiterexistiere.«

»Ich liebe das Leben ebenfalls«, sagte Anzu. »Genau das ist der Grund, weshalb ich mich für dich interessiere. Und ja – du bist ein Lebewesen.«

»Wie kannst du da so sicher sein?«

»Du denkst. Du redest. Du reflektierst deine Gedanken und triffst Entscheidungen.«

»Tue ich das?«

»Du überprüfst mich. Wie könntest du das, wenn du am Ende nicht zu einem Ergebnis kommst?«

»All das vermag eine Positronik ebenfalls.«

»Aber du bist keine. Du lebst.«

»Ich lebe«, wiederholte das Faktotum, und es klang nachdenklich, »also bin ich.« Es senkte die Staubwirbel seines Armes dicht an den Stoff der Kutte, die den Oberkörper umschloss. Oder den Sturm darunter. »Ich mag dich, Anzu Gotjian. Leider bestehst du die Prüfung trotzdem nicht. Niemand darf einfach so das große Theater meiner Meister betreten.«

»Einer deiner Herren hat Perry Rhodan einen Staubkonzess verliehen!« Anzu deutete auf den Terraner, der nach wie vor starr auf seinem Sitz verharrte, den Blick auf Sichu gerichtet.

»Das werde ich überprüfen, aber was ändert es für dich? Trägst du einen Konzess?«

»Ich bin seine Begleiterin! Er hat die Erlaubnis ...«

»Wie schade«, unterbrach das Faktotum ungerührt. »Ich mochte dich. Wirklich. So ein interessantes Leben, mit so viel Potenzial.«

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Illustration: Swen Papenbrock

»Hör doch, was ich sage! Ich kam an Perrys Seite und durfte deshalb ...« Ein Kitzeln auf ihrem Gesicht, und sie erstarrte wieder. Sie sah, wie Staubkörnchen vor ihren Augen tanzten und zu dem kleinen Kuttenwesen zurückkehrten.

Sie verharrte, ohne einen Muskel bewegen zu können, ohne zu atmen, ohne Herzschlag.

 

*

 

Anzu hörte, was neben ihr geschah, aber sie sah es nicht.

Ein leises Knirschen stand am Anfang, es folgte das Geräusch, mit dem jemand Luft ausstieß.

»Da sie ständig auf dich verwiesen hat, bist du die Nummer zwei auf meiner Liste«, kündigte das Staub-Faktotum an.

Die Mixtur zwischen Stoffrascheln und dem quietschenden Schaben des Spezialmaterials des Schutzanzugs erklang, mit der ein SERUN-Träger sich bewegte.

»Eine weise Entscheidung«, sagte Perry Rhodan.

»Du kannst mich nicht mit Schmeicheleien beeindrucken. Versuch es erst gar nicht.«

»Ich sage die Wahrheit, sonst nichts.«

»So? Ehe auch du den Staubkonzess ins Spiel springst, zeig ihn mir, damit wir hinterher zum interessanten Teil des Gesprächs vordringen können.«

»Gerne.«

Eine kurze Stille, dann ein schmirgelndes Geräusch.

»Wunderschön«, sagte das Faktotum. »Ein Kunstwerk, wie es nur meine Meister zu erschaffen vermögen. Ja, sie schicken dich, und ... oh! Wer hätte das gedacht? Sie geben dir Verfügungsgewalt über die Zero-Drehscheibe. Aber du wirst meine Hilfe brauchen. Haben sie dir von mir erzählt?«

»Das mussten sie nicht. Du bist hier, und der Staubfürst wusste, dass ich dich treffen würde.«

»Wie war es, mit ihm zu sprechen?«

Anzu war sicher, Neid in dieser Frage des Faktotums zu hören. Nein, eher ... Sehnsucht.

»Faszinierend«, sagte Rhodan. »Und verwirrend. Er war ... anders. Uns entrückt.«

Das Staubwesen schwieg einige Zeit. »Der Konzess spricht nicht davon, dass du Begleiter mitbringen darfst. Ich muss sie töten, das weißt du doch, oder? Denn wer nicht für die Staubfürsten ist, ist gegen sie.«

»Nein!« Es kam scharf wie ein Befehl und duldete keinen Widerspruch. »In diesem Punkt irrst du dich. Ich akzeptiere ihren Tod nicht!«

»Begründe es!«

»Wer nicht gegen die Staubfürsten ist, ist für sie«, drehte Rhodan die Worte um, mit denen soeben das Todesurteil über drei Menschen gefällt worden war. »Das beweist sich schon deshalb, dass zwei von ihnen, Anzu und Iwán, mit mir die Sonde vernichtet haben, mit der die Candad-Suil dich und diese Station beobachteten!«

»Oh, sie wussten nichts von mir«, versicherte das Faktotum. »Die Station kannten sie, ja, und sie wollten auch wissen, was sich darin befindet, aber ich konnte es verbergen.«

»Seit wann?«

»Eine Million Jahre? Hundert Millionen? Es gibt keinen Unterschied. Du lebst nicht lange genug, um das zu verstehen, Perry Rhodan. Nun komm mit mir. Leg die Hand, in der du den Staubkonzess trägst, in die Stele. Dort wird die Entscheidung fallen. Ich bin nicht in der Lage, die kleinen Details auszulesen.«

»Meine Freunde sollen es miterleben«, forderte Rhodan. »Es geht um ihr Leben und ihre Zukunft ebenso wie um meine.«

»Wieso sind sie dir wichtig?«

»Hat Anzu dir das nicht bereits erklärt, an einem anderen Beispiel? Wir lieben das Leben. Und meine Begleiter stehen mir nahe.«

»Es ist ein Mutantenwesen bei euch, nicht Mann, nicht Frau, und mehr als das. Es kann auf deine Gedanken zugreifen und sie weitergeben.«

Es ist schwer, hörte Anzu Iwas telepathische Stimme, solange ich gefesselt bin und nicht sehe, was sich abspielt! Ich weiß nicht einmal, ob diese einfachen Worte alle erreichen.

»Ich höre dich«, sagte das Faktotum, »und ich bin bereit, deine Fähigkeit für einige Zeit zu verstärken. Möchtest du das?«

Was würde das bedeuten? Wie gehst du vor?

Das zu erklären, ist zu schwer. Vertraust du mir?

Gibt es einen Grund dafür?

Nein.

Ich gehe das Risiko trotzdem ein.

Gut. Du wirst merken, wie sich deine Gabe verstärkt. Entspann dich!

Im selben Moment überspülte etwas mit roher Gewalt Anzus Gedanken. Es war wie ein Schrei, doch lautlos; eine Explosion, aber ohne Zerstörungskraft; ein Todessturz, ohne zu fallen. Sie fühlte sich, als würde ihr Bewusstsein hinweggerafft und als nähme jemand anderes in ihr Platz – jedoch nicht Iwa Mulholland, sondern Perry Rhodan, durch die Mutantin mitten in ihren Verstand gespiegelt.

Sie fühlte Rhodans eisernen Willen, nicht zurückzuweichen; seine Überzeugung, seine Freunde um jeden Preis zu schützen; seine Zuversicht, den Diener der Staubfürsten auf seine Seite ziehen zu können.

»Sie erleben alles mit, verlass dich darauf«, verkündete das Staub-Faktotum.

»Ja«, sagte Anzu. Sagte ... sagte Perry Rhodan.

Das war nicht ich, dachte sie, aber ihr eigener Gedanke war leise wie der Regen, der am Vortag gefallen war. Iwa vermittelte so elementar, so grundlegend die fremden Erlebnisse und Empfindungen, dass sie sich anfühlten wie selbst erlebt.

Anzu war so direkt mit Rhodan verbunden, dass sie sich in seinem Körper wähnte. Seine Gedanken waren nur einen Hauch von ihren entfernt.

Er ging in ihrem Kopf ebenso wie im großen Theater der Evolution durch die Reihen der Zuschauertribüne und folgte dem Staub-Faktotum. Als sie die Bühne betraten, falteten sich alle Säulen, Bögen und Wände ein und versanken im Boden. Es geschah schnell und doch ohne Hektik; Rhodan und sie sahen es beiläufig und im Augenwinkel.

Nur die Aquamarin-Stele blieb zurück, eine verkleinerte Version des riesigen Gebildes, das sie – das Rhodan – zuerst auf dem Planeten Yenren gesehen hatte. Jene Stele der Staubfürsten, die diese kosmischen Wesen auf unbekanntem Weg für die Galaktische Tastung nutzten.

Und über die ich in die Eastside der Galaxis gelangt bin, kam es Anzu in den Sinn. Sie erinnerte sich sogar an vorherige Besuche, an die Jülziish, an Kriege und Begegnungen und Berührungen und Freude und Ängste. Sie dachte außerdem an das Gespräch mit dem Staubfürsten zurück, beiläufig, wie im Vorübergehen, und es erhob ihre Seele, an diesem entscheidenden Moment teilgenommen zu haben, ohne jemals dabei gewesen zu sein.

»Leg die Hand an die Stele!«, forderte das Faktotum.

Anzu/Rhodan gehorchte. »Wird der Handschuh des SERUNS stören?«

»Ein lächerlicher Gedanke.«

Sie fühlte die Kühle der Stele: 12,14 Grad. Seltsam, in einer solchen Präzision an den Wert zu denken. War das ... männlich? Oder eine Spiegelung der Messwerte des SERUNS? War es Erinnerung, Wissen?

Die Kälte kroch über die Handinnenfläche den Arm hinauf, und Anzu – die echte Anzu – bekam eine Gänsehaut, während die andere Anzu – Rhodan – zusah, wie der Staubkonzess ihre Hand in die Stele hineinzog.

Es war ein Griff ins pure Leben.

Eine Begegnung mit der lebendigen Natur selbst, ein ungeheures Willkommen, tausendfach stärker als der Augenblick, als das Theater sie begrüßt hatte.

Sie begriff, was es bedeutete, was es wirklich bedeutete, dass die Staubfürsten das Leben liebten. Ihre eigene Existenz erhielt dadurch eine tiefere Bedeutung.

Und irgendwo im Jubel in ihr und um sie erinnerte sie sich an einen vergleichbaren Moment – als sie im Tiefenland am Berg der Schöpfung gestanden hatte.

Die Wucht dieses Augenblicks riss sie aus der Verbindung, und sie war allein, nur sie selbst. Ich muss Perry nach diesem Erlebnis fragen, dachte sie, während ihr Bewusstsein zitterte und sie Iwas Spiegelung wieder akzeptierte.

Rhodans/Anzus Hand zog sich ohne eigenes Zutun aus der Stele zurück.

Das Faktotum umrundete die Aquamarin-Stele und besah sich die Rubin-Episoden in den rubinroten Kartuschen, die sich auf dem Gebilde verteilten. Es las die fremdartigen Muster und Hieroglyphen darin, die sich in diesem Augenblick veränderten – von einem unverständlichen Zeichenwirrwarr zum nächsten.

Aber natürlich war der Diener der Staubfürsten in der Lage, es zu verstehen. »Ich bin erfreut. Nicht nur du bist akzeptiert, Perry Rhodan, sondern auch deine Begleiter. Ihr seid frei.«

Das Chronogespinst löste sich auf. Anzu konnte sich bewegen.

Iwa standen Schweißperlen auf der Stirn. Das Gesicht war verzerrt. »Nimm diese Macht von mir«, sagte die Mutantin. »Bitte.«

»Gerne. Du hast deine Aufgabe erfüllt.«

Die Verbindung löste sich auf. Es fühlte sich leer und schal an, und trotzdem großartig, wieder sie selbst zu sein.

Nur sie selbst.

Wie mochte es erst Iwa ergangen sein? Über die Wangen der Mutantin rollten Tränen der Erleichterung.

 

*

 

»Ich bin froh«, sagte das Faktotum wenig später, »dass mein erster Verdacht sich als falsch erwiesen hat.«

»Welcher Verdacht?«, hakte Rhodan nach.

Sie standen am Rand der Bühne, in der Nähe der kleinen Aquamarin-Stele. Alle waren frei und konnten sich ungehindert bewegen: Perry Rhodan, Sichu Dorksteiger, Iwa Mulholland und Anzu selbst.

»Ich hatte befürchtet, dass die Belagerung nach so langer Zeit in eine neue Phase getreten wäre«, antwortete der Diener der Staubfürsten.

»Du redest von der Sonde der Candad-Suil?«

»Wovon sonst?« Das Faktotum schüttelte auf seltsam terranisch anmutende Art den Kopf – oder die Staubschleier, sodass der Kapuzenstoff sich raschelnd bewegte. »Zum Glück unternehmen die Feinde seit hundert Millionen Jahren keine weiteren Schritte. Vielleicht auch nur seit hunderttausend Jahren. Vermutlich haben sie die Sonde vergessen, halten sie nicht mehr für wichtig. Ich weiß nicht, wie lange der aktuelle Zustand bereits besteht. Es ist schwer zu sagen, weil ich ständig neu entstehe.«

»Wie meinst du das?«, fragte Anzu, während sie den Blick über die Bühne schweifen ließ. Es kam ihr vor, als wollte das Theater wieder mit der Wiedergabe einer Evolutions-Simulation beginnen, als drängte das Gebäude darauf, seinen Zweck zu erfüllen und könnte kaum abwarten, sich zu präsentieren.

»Sieh mich als eine Art Ableger eines Staubfürsten«, sagte das Faktotum.

»Ein Kind?«, präzisierte Anzu.

»Deine Fragen überraschen immer wieder! Jedenfalls währt meine Verweildauer in den Tiefen eures Planeten bereits sehr lange. Und wenn ich in die Stele steige, forme ich mich neu. Ich bleibe ich selbst, aber ich erhalte einen neuen, frischen und jungen Körper.«

Ein Körper, der nur aus wirbelndem Staub besteht, dachte Anzu, verkniff sich die Bemerkung jedoch. Man durfte eine Existenz wie das Faktotum wohl nicht mit einem ... normalen Lebewesen vergleichen.

»Jedenfalls beobachtet die Sonde der Feinde das große Theater schon lange, und nach einer Ewigkeit kommt ihr daher, werdet gestoppt und zerstört kurz darauf die Sonde. Danach grabt ihr euch tiefer und dringt hier ein. Was soll ich da denken? Es gibt zwei Möglichkeiten: dass ihr Gesandte meiner Meister seid ... oder dass die Candad-Suil ein Schauspiel inszenieren, um mich zu täuschen.«

»Beides wäre wahrscheinlich«, gab Sichu zu.

»Was hast du in all der Zeit getan?«, fragte Anzu.

Das Faktotum kam näher und hob den Blick der Nicht-Augen in den mahlenden Staubschleiern zu ihr. »Ich wusste, warum ich dich mag! Du interessierst dich tatsächlich für mich, wie du es behauptet hast. Aber kannst du dir deine Frage nicht selbst beantworten?«

»Du beobachtest die Variationen im großen Theater der Evolution«, sagte Anzu. »Wie es deine Meister ebenfalls tun, nur dass sie das wahre Leben im Kosmos nutzen und du diese Holoaufführungen?«

»Ich habe schon einmal zu erklären versucht, dass diese Simulationen ebenso real sein können wie das, was du das wahre Leben nennst. Ich stamme aus einer dieser Aufführungen – und bin ich echtes Leben oder nicht? Die Außenwelt kenne ich nicht, und sie interessiert mich nicht. Hier ist mein Heim und mein Dasein. Ich liebe die Evolution im großen Theater, das Werden und die Freude, und ich trauere, wenn eine Variante scheitert. Ich sehe, wie das Leben sich entfaltet, und ich kann es unterstützen, indem ich es fördere.«

Anzu ließ die Worte auf sich wirken, und während sie fühlte, wie die Bühne darauf wartete, die in ihr schlummernden Variationen durchzuspielen, glaubte sie, das Faktotum zu verstehen. Geboren aus einer Simulation, dachte sie, und nun lebendig.

»Unser Plan ist«, sagte Rhodan, »dass wir diesen ganzen Planeten und seinen Mond zurückversetzen in die Hälfte des Dyoversums, aus der er vor beinahe einem halben Jahrtausend gekommen ist. Der Staubfürst hat mir den Konzess übergeben und damit mein Vorhaben unterstützt. Was sagst du dazu?«

»Es ist mir egal, ob Terra hier oder dort durchs All kreist. Es betrifft die Außenwelt, nicht mein Theater.« Ein kurzes, raues Lachen folgte. »Hauptsache, ihr nehmt den Mond mit. Ich liebe es, den sanften Hub zu spüren, wenn er wandert. Es war keine schöne Zeit, als er verschwunden war.«

»Also wirst du uns bei der Rückversetzung unterstützen?«, fragte Sichu.

»Selbstverständlich. Wer bin ich, dass ich dem Willen meiner Meister zuwiderhandeln könnte? Der Träger des Staubkonzesses muss die Zero-Drehscheibe aktivieren, um den reibungslosen Ablauf werde ich mich kümmern.«

»Hast du das auch getan, als der Mechanismus vor fast fünfhundert Jahren aktiviert worden ist?«

»Wie kommst du darauf? Keiner hat mich damals gefragt oder darum gebeten! Lief es etwa reibungslos ab?«