Für meine Mutter,
die Singapur so gerne gesehen hätte

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2. überarbeitete Auflage

Cover: Stephanie Schönberger

© 2014 Schrimpf, Isabel

Satz, Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7357-1617-0

Inhalt

Vorwort

In den Aufzug zu pinkeln kommt 400 Dollar billiger als einen Kaugummi auf die Straße zu spucken. So fasst unser Sohn, zehn, seine Erkenntnisse aus diversen Singapur-Reiseführern zusammen. Wir haben unseren Kindern gerade eröffnet, dass wir für einige Jahre dort hinziehen würden.

Ja, Spötter tun sich leicht: »fine city«, »Asien für Anfänger« oder »Disneyland mit Todesstrafe« sind die geläufigen Attribute für Singapur. »Steril« und »seelenlos« nennen es die, die hier das malerische Elend anderer asiatischer Großstädte vermissen.

Wer sich aber auf Singapur einlässt, sieht auch hinter die glatten Spiegelfassaden des Central Business District. Im muslimischen Viertel um die Joo Chiat Road, zum Beispiel, räumten wir gerade unseren Tisch in einem kleinen Lokal und bahnten uns unseren Weg durch wartende Gäste und zierliche Vietnamesinnen, die gerade ihre Schicht in der zwielichtigen Tanzbar nebenan begannen. Da erschreckte uns ein lauter Knall. Noch einer. Revolverschüsse? Aber niemand duckte sich unter die Tische, die Damen stöckelten weiter die Straße hinab, an der Moschee vorbei. Wir traten hinaus, Räucherstäbchenschwaden umfingen uns. Durch den Dunst sahen wir auf einem halbleeren Parkplatz ein paar Männer hin- und herlaufen. Sie hatten sich Pferde aus Bambus um die Hüften geschnallt, wie Kinder, die Ritter spielen. Ihr Meister ließ eine Peitsche knallen – das waren die vermeintlichen Schüsse –, die Tänzer galoppierten wild durcheinander, und taumelten dann, offensichtlich in Trance, auf die wenigen Umstehenden zu, um sich von ihnen mit glühenden Zigarettenstummeln füttern zu lassen. Es war ein ritueller javanesischer Tanz, eine mystische Begegnung inmitten der Großstadt. Kaum sechs Kilometer von der Helipad-Bar auf dem Hubschrauber-Landeplatz des Swissôtel entfernt, auf dem die zwanzigjährigen Investment Banker gerade ihre letzten Deals mit Champagner begossen.

Traditionell, modern, spirituell, konsumbesessen, offen, skurril, kleinkariert, bunt, vielfältig und gegensätzlich, das ist Singapur. Eine faszinierende, funktionierende, feinjustierte Mischung verschiedenster Kulturen. Innerhalb weniger Wochen feiern die Singapurer das muslimische Zuckerfest, Weihnachten, das hinduistische Thaipusam und Chinese New Year. Kirchen, Moscheen, buddhistische, taoistische und hinduistische Tempel liegen nur wenige Schritte voneinander entfernt. Sonntag morgens sitzen Inderinnen mit rotem Bindi auf der Stirn in ihren prachtvollen Saris in der katholischen Messe. Abends wartet unsere Nachbarin, eine Muslimin mit hüftlangem schwarzem Haar, in Hotpants am Grill darauf, dass endlich die Sonne untergeht – Ramadan.

Es ist eine Nation zwischen Ahnenkult und Fortschrittsglaube, kindlicher Pietät und Kinderlosigkeit, staatlichem Paternalismus und darwinistischer Eigenverantwortung,ein ewiger Zwischenstopp und eine Heimat, die sich täglich verändert. Singapur erstaunt: Wie konnte es dieser »little red dot« in wenig mehr als einer Generation von einem Malaria-Sumpf zu einem der fortschrittlichsten Staaten der Welt bringen? Wie gelingt es, dass hier die verschiedensten Volksgruppen auf engstem Raum zusammenleben? Was ist der Preis für die »Singapore solution«? Dieses Buch ist eine Annäherung an Singapur aus einer europäischen, deutschen, persönlichen Perspektive, geprägt durch Erlebnisse und Erfahrungen, die die Autorin fasziniert, befremdet, verblüfft haben.

Singapore condensed

Stoppover, eine Stunde Zeit für Singapur – was tun? Im Raffles Hotel an der Long Bar einen Singapore Sling schlürfen, dabei lässig die Erdnussschalen auf den Boden schnippen? Rauf auf das Marina Bay Sands in den 57. Stock, den Blick über den Infinity Pool gleiten lassen, vorne die glitzernde Skyline der Millionenstadt, hinten tausend mächtige Tanker in der südchinesischen See? Hinunter zum majestätischen Fullerton Hotel an der Mündung des Singapore River, der Wiege der heutigen Metropole? Kann man alles machen.

Wer jedoch etwas vom wirklichen Singapur mitbekommen will, geht zum Essen. Auf nichts sind die Singapurer so stolz wie auf ihre Kulinarik. Essen gehen ist ihre liebste Freizeitbeschäftigung, noch vor dem Shoppen. Dass sich alles nur um das eine dreht, merkt man gleich bei der ersten Taxifahrt. »Haben Sie schon gefrühstückt?«, begrüßt einen der Taxifahrer. Keine Angst, es ist keine Aufforderung, von seinem dampfenden Nudelgericht in der Styroporbox auf dem Beifahrersitz zu probieren. Eher eine freundliche Frage nach dem Befinden. Denn mit etwas im Bauch kann es einem ja nicht schlecht gehen. Die Hungersnöte der chinesischen Vorfahren schlagen sich auch heute noch in der Sprache nieder.

Ganz besonders stolz sind die Singapurer auf ihre Hawker, Straßenküchen eigentlich. Allerdings, Singapur ist eben Singapur. Hier parken nicht wie sonst in Asien fahrende Garküchen wild am Straßenrand. Singapur, hervorragend organisiert in jeder Hinsicht, hat »Hawker Centre«, wie Salzgitter eben »Shopping Center« hat. Und nichts verkörpert Singapurs Essenz besser als diese.

»Echte« Hawker, also »fahrende Köche«, gibt es in Singapur seit den 60er-Jahren nicht mehr. Damals führte die Regierung Lizenzen für dieses Gewerbe ein und schickte Inspektoren los, um die mobilen Garküchen zu überprüfen und gegebenenfalls zu konfiszieren. Flüchtende Straßenverkäufer und hinterher sprintende Beamte müssen ein vertrauter Anblick in Singapurs Straßen gewesen sein. Diese Verfolgungsjagden hatten nicht selten veritable Verwüstungen zur Folge, etliche andere Buden wurden dabei über den Haufen gerannt, von Passanten ganz zu schweigen. Auf Hokkien, dem gebräuchlichsten chinesischen Dialekt in Singapur, hießen die Inspektoren deshalb bald nur noch di gu – »Erdbeben« zu deutsch.

Um diesem Treiben ein Ende zu setzen und die noch in den 70er-Jahren grassierende Cholera einzudämmen, wurde also die moderne Form des »Hawker Centre« ins Leben gerufen. Singapurs Patriarch und erster Premierminister Lee Kuan Yew holte mehr als 5.000 fahrende Essensverkäufer von der Straße, steckte sie in winzige aneinandergereihte Buden, ließ ein Dach darüber anbringen und die Köche dafür Miete zahlen. Das nahmen die Besitzer der Garküchen seiner Partei, der People’s Action Party (PAP), noch Jahrzehnte später übel. Inzwischen gibt es längst eine Steigerungsform der Hawker Centre: die klimatisierten Food Courts in den großen Shopping Malls der Stadt.

Grob erinnert so ein Hawker Centre an einen bayrischen Biergarten, etwa den am Viktualienmarkt in München: Gleich neben den Marktständen mit Obst und Gemüse, Fisch und Fleisch wird aufgekocht. Es herrscht eine bunte Mischung an Besuchern, quer durch alle Gesellschaftsschichten. Bauarbeiter in Gummistiefeln und Leuchtweste sitzen am Tisch neben Bankern mit Fliege und Gemmen an den weißen Manschetten. Dazwischen zierliche Asiatinnen in High Heels, die mit je einem Pfund Glitzersteinen besetzt sind, aus Gründen der Statik vermutlich. Jeder holt sich in Selbstbedienung, was er mag. Statt einer Maß allerdings stemmt man in Singapur junge Kokosnuss, und naja, ganz so "griabig" wie unter schattigen Kastanienbäumen ist es auf den im Boden verankerten Plastikstühlen unter der Neonbeleuchtung auch nicht. Andererseits, dass Bierbänke gemütlich sein sollen, bildet man sich auch erst nach der zweiten Maß ein. Urig ist ein Hawker Centre auf jeden Fall. Und so vielfältig wie kaum ein anderer Platz auf der Welt.

Drei Viertel der Singapurer haben chinesische Wurzeln, jeweils ungefähr jeder Zehnte ist malaiischer beziehungsweise indischer Abstammung. Aufgrund der großen regionalen Unterschiede innerhalb ihrer Herkunftsländer ist der Mix beim Hawker aber noch weitaus bunter – bei Gästen wie bei Speisen. Jede erdenkliche asiatische Küche ist dort vertreten: aus Malaysia, Punjab, Kerala, Kanton, Sichuan, Hainan, Thailand, Vietnam, Korea oder Java, um nur einige zu nennen. Die Leuchtreklametafeln über den Büdchen locken mit Laksa, Nasi Lemak, Pattay Nudeln, Roti Prata, Char Kway Teow, Chicken Rice, Yong Tau Fu und Dutzenden anderer Gerichte. Wenn Kollegen mittags zum Essen gehen, kann also jeder nach seiner Fasson glücklich sein: Inder, Malaien, Chinesen, aus welcher Region sie auch kommen, und sogar ang mos, »die Rothaarigen«, wie die Weißen hier wegen der einstigen, oft rotschopfigen britischen Kolonialherren seither genannt werden.

So faszinierend die Vielfalt der Speisen im Hawker Centre auch ist, für unbedarfte Westler sei ein Wort der Vorsicht an dieser Stelle erlaubt: Lassen Sie sich nicht von allzu blumigen Namen verführen!

»Buddha hüpft über die Mauer« zum Beispiel, ein Gericht, dessen Name Erleuchtung und durchtrainierte Oberschenkel gleichermaßen anklingen lässt, ist nichts anderes als ein hochgegriffener Euphemismus für einen Seegurken-Eintopf. Diese vom Meeresboden geklaubte Delikatesse aus der Familie der Stachelhäuter liegt in allen Schattierungen von mittelbraun bis blauschwarz in den Auslagen Chinatowns und erinnert stark an mumifizierte Penisse. Optisch wie geschmacklich durchaus eine Herausforderung für einen ang mo.

Vorsicht ist auch bei einem Dessert mit dem poetischen Namen »snow jelly« geboten. So bezeichnet, weil sich Chinesinnen von der Nachspeise und ihrem hohen Kollagengehalt eine schneeweiße Haut versprechen. Was es ist? Gelee aus dem Eileiter-Gewebe von Ochsenfröschen. Die Nachfrage nach Hashima, so der Fachbegriff für die Kröten-Innereien, explodiert jedenfalls gerade dermaßen, dass sich das an Land so knappe Singapur sogar eine eigene Frosch-Farm leistet. Wenigstens brauchen Frösche weniger Platz als anderes Nutzvieh.

Immerhin, beim Nationalgericht »fish head curry« weiß man, was man bekommt. Auch wenn dessen Hauptbestandteil, Fischkopf eben, in Deutschland eher unter Biomüll als unter Mittagstisch läuft. Eine andere Spezialität sind die tausendjährigen Eier, mit britischem Understatement »century eggs« genannt, was allerdings immer noch etwas hochgestapelt ist. Heutzutage werden dafür rohe Enteneier drei Monate lang eingelegt – nicht in einem Eimer Pferdeurin wie oft behauptet, sondern in einem Brei aus Sägespänen, gebranntem Kalk und Holzasche, fein abgeschmeckt mit Anis, Sichuanpfeffer, Teeblättern, Piniennadeln und Fenchelkörnern. Der Überlieferung nach fiel einem chinesischen Bauarbeiter dereinst sein Brotzeit-Ei in eine Kiste mit frisch angerührtem Mörtel. Nach drei Jahren fand es jemand – offenbar ließ man sich beim Hausbau etwas Zeit – probierte, und stellte fest: Es ist immer noch genießbar. Solche Snacks waren gesucht in China. Zumal sich durch die lange Fermentierung das Eiklar in eine glibbrige, dunkelgelbe Masse verwandelt, während das Eigelb eine quarkige Konsistenz in grünem Kolorit annimmt. Beides trifft offenbar genau den chinesischen Geschmack.

Aber nicht nur was, sondern auch wie die Singapurer essen, ist in seiner Vielfalt ein Spiegel der ganzen Nation. Die einen fischen gekonnt in der Suppe und zwirbeln die herausgeangelten Glasnudeln elegant um die Stäbchen. Andere machen es sich leicht und greifen zu Gabel und Löffel – Messer kennt und braucht man als Essbesteck bei Hawkern nicht. Dass in der asiatischen Küche alles kleingeschnippelt wird – meist übrigens mit einer Haushaltsschere –, ist nüchterner Kostenrechnung zu verdanken: Fleisch und Gemüse wird in kleinen Stückchen schneller durch, das sparte früher Feuerholz. Und selbst heute noch sind die Hawker-Gerichte sehr günstig.

Aber nicht nur Messer sind verzichtbar, auch Gabeln und Löffel. Wozu hat man schließlich Finger? Reis und Curry werden händisch auf einem Bananenblatt zu kleinen Kegeln zusammengehäufelt, bevor man sich die Happen mit der Hand in den Mund schiebt. Die rechte, und nur die rechte Hand zu benutzen, ist dabei entscheidend. Die linke ist hygienischen Verrichtungen vorbehalten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es gar nicht so einfach ist, Naan oder Dosai-Fladen einhändig zu zerteilen. Ang mos wird eine unauffällige Hilfestellung durch die zweite Hand zum Glück verziehen. Sich nicht an der Tischkultur des Gegenübers zu stören, gehört im Vielvölkerstaat zur gelebten Toleranz.

Das war denn auch eine der ersten Lektionen für uns in Singapur, als wir sahen, woran unser Tischnachbar weithin vernehmbar zuzelte. Bis auf die Farbe hatte es nichts gemein mit Weißwürsten, der einzigen Mahlzeit, die in Bayern kniggekonform gezuzelt werden darf. In seinem Fall handelte es sich um Hühnerfüße. Bleiche, hartgummiartige Hühnerfüße. Auch von ihnen versprechen sich die Chinesen, offenbar auch die männlichen, einen zarten, vornehmen Teint. Die Knochen aus dem restlichen Hendl spuckte der Herr kurzerhand auf den Tisch. Er war nicht etwa ungehobelt, das ist durchaus Usus. Wegen dieser Sitte sind die Tische in chinesischen Lokalen häufig mit einem riesigen Müllsack statt mit einer Tischdecke überzogen. Ist man mit dem Essen fertig, kippt die Kellnerin die Reste vom Teller zum schon daneben befindlichen Gebein, rafft das Ganze zusammen, wirft sich den Plastiksack über die Schulter und bringt ihn außer Sichtweite. Soviel nur zu Singapurs Sterilität.

Um aber ihrem Ruf gerecht zu werden, kontrollieren Singapurs Behörden regelmäßig die Garküchen. Wie beim Punktekatalog in Flensburg kann der Koch seine Lizenz verlieren, wenn er es auf die entsprechende Anzahl an Minuspunkten bei der Reinlichkeit bringt. In jeder Bude muss für das Publikum gut sichtbar ein Hygiene-Zertifikat mit der entsprechenden Note A bis D hängen. Die A-Küchen sehen rein optisch nicht viel einladender aus als die anderen. Ein D vielleicht, ein C jedoch schreckt niemanden. Im Gegenteil, diese Garküchen sind wegen ihrer besonderen »Würze« oft umso beliebter.

Nicht nur was Organisation, Vielfalt und Sauberkeit anbelangt, sind Hawker Centre typisch für Singapur, auch die Art und Weise, wie sich Gäste ihren Plastiktisch reservieren, dürfte ziemlich einzigartig sein auf der Welt. Analog zum teutonischen Handtuch auf der Liege am mallorquinischen Hotelpool wurde früher ein Päckchen Taschentücher mittig auf dem Tisch platziert, den man sich frei halten wollte. Aber alles unterliegt dem Wandel, die Technisierung schreitet unaufhaltsam voran. Auch beim Hawker wird zunehmend von Papier auf Elektronik umgestellt. Heute wird per iPhone reserviert. Der Singapurer liebstes Spielzeug wird dazu ostentativ auf den Tisch gepflanzt, bevor man sich in die längste Schlange einreiht – das muss ja wohl der beste Hawker sein, sonst stünden dort nicht so viele Leute an. In kaum einer anderen Stadt würden die Leute ihr persönlichstes und wichtigstes Gut, Statussymbol und Schlüssel zu sozialem Leben, so bedenkenlos herum liegen lassen. Ein eindrucksvolles Beispiel für die viel gepriesene Sicherheit der Stadt, die sich dank flächendeckender Videoüberwachung und drakonischer Strafen einer der niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt rühmt.

Das Merkmal, das vielleicht am meisten über Singapur aussagt, findet sich in den Hawker Centern an einem speziellen Ort: an den Waschbecken, die locker zwischen den Sitzgruppen verteilt sind. Dort hängen didaktisch aufbereitete Plakate, auf denen Comicfiguren nicht nur darauf hinweisen, dass man sich die Hände waschen soll, sondern auch, veranschaulicht in einer Fotostrecke von sechs Bildern, wie man das am besten bewerkstelligt. Ist das staatliche Fürsorge in den Nachwehen von SARS? Einmischung? Bevormundung? »Government oder Gouvernante?«, wie das Magazin Der Spiegel frotzelte. Kann man daraus schließen, dass Singapurs Regierende ihren Bürgern nicht allzu viel zutrauen? Es ist dieser wohlmeinende, aber penetrante Paternalismus, der den allgemeinen Umgangston zwischen ubiquitärem »nanny«-Staat und Bürgern bestimmt.

Was den Mikrokosmos Hawker Centre als Abbild Singapurs jetzt noch abrundet, ist das spirituelle Element: ein Altar, meist in der hintersten, zweckmäßig gekachelten Ecke, in der das Reinigungspersonal Wischmopps und Gummistiefel zum Trocknen abstellt. Eben hier thront Guang Gong mit seinem roten Kopf und seinem imposanten schwarzen Vollbart. Er war eine historische Persönlichkeit aus dem zweiten Jahrhundert, ein General der Han Dynastie, der wegen seiner ausgesprochenen Tapferkeit als Kriegsgott verehrt wird. Deshalb seine leuchtende Gesichtsfarbe, die nicht etwa für Beschämung, sondern für Heldenmut steht, wie auch die roten Masken in der Chinesischen Oper. Da Guang Gong außerdem für seine unerschütterliche Loyalität berühmt war, ist er interessanterweise zugleich Schutzpatron der Polizisten wie der chinesischen Triaden. Courage und Treue sind eben universelle Tugenden.

Von den Inhabern der Garküchen wird Guang Gong aber nicht so sehr als Kriegsgott verehrt, sondern eher in seiner weiteren Eigenschaft, als Gott des Reichtums. Wer würde ihm da nicht mit Orangen und Räucherstäbchen huldigen? So primitiv die zwei Quadratmeter großen Küchen mit ihrem riesigen Alutopf, der Plastikschüssel für den Abwasch und dem abgewetzten Melamingeschirr auch wirken, so lukrativ können sie für Insider als Venture Capital-Anlage sein. Der Lieblings-Prawn-Noodle-Soup-Shop eines hochrangigen Juristen erfreute sich jedenfalls einer beträchtlichen Einlage seines treuen Kunden, der sein Geld im Vertrauen auf den Verkaufserfolg seines Leibgerichts in die Garküche investierte und stiller Teilhaber wurde.

Die Altäre dienen aber nicht nur der Umsatzsteigerung der Budeninhaber. Sie haben auch für die Kundschaft einen positiven Nebeneffekt: Die Duftwolken der Räucherstäbchen übertünchen – sofern entsprechend positioniert – den Gestank der Durians, die bei den Viktualien im Marktbereich, dem wet market nebenan, angeboten werden. »Wet market« heißt er übrigens deshalb, weil das Eis, das den Fisch frisch halten soll, in der Singapurer Hitze so schnell schmilzt, dass der Boden schon am Vormittag eine einzige Wasserlache ist.

Durians, die stacheligen »Könige der Früchte«, nach denen im Volksmund die ebenso stacheligen Konzerthallen der Esplanade benannt sind, polarisieren stark. Den einen, meist Asiaten, sind sie ein Hochgenuss. Die anderen, meist Westler, finden sie grauenerregend. Unbestritten ist ihre olfaktorische Extravaganz: sie stinken dermaßen, dass ihr Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln und Taxis verboten ist. Angeblich kann man auch Tage nach dem Transport einer Durian kaum den Kofferraumdeckel heben, ohne aus den Schuhen zu kippen. Will man eine mit nach Hause nehmen, muss man also entweder ein eigenes Auto besitzen, was in Singapur ein sehr ansehnliches Einkommen voraussetzt, oder man schleppt sie durch die Schwüle zu Fuß nach Hause.

Da können sich all diejenigen glücklich schätzen, vor deren Wohnung ein Durianbaum steht und die so frei Haus Zugang zu dieser Köstlichkeit haben. Da Durians allerdings nicht gepflückt werden, sondern man für eine volle Geschmacksentfaltung warten muss, bis sie vom Baum fallen, erfordert diese Art der Beschaffung einiges an Geduld. In der Durian-Saison verharren deshalb die uncles, betagte Chinesen, meist im luftigen Unterwäsche-Look, stundenlang reglos auf einem Plastikstuhl unter dem Baum der Begierde und warten stoisch auf das dumpfe Aufschlagen der Delikatesse.

Wie man sich vorstellen kann, verläuft das Einbringen der Ernte nicht immer ganz harmonisch. Schließlich kommt auf einen solitären Durianbaum in der Regel mindestens ein Dutzend Wohnblocks mit jeweils mehreren Hundert Wohneinheiten. Und ähnlich den Fallobst-Fällen, mit denen sich die deutschen Jura-Erst-Semester herumschlagen, sind Durians nicht selten Auslöser unschöner, lautstarker und bisweilen handgreiflicher nachbarschaftlicher Auseinandersetzungen, die die Einschaltung professioneller Mediatoren oder gar der Justiz notwendig machen.

Jetzt, wo Sie wissen, welche Emotionen diese Früchte entfesseln, sollten Sie auf jeden Fall einmal Durian probieren. Kein Singapur-Aufenthalt wäre sonst komplett. Wenn man weiß, was auf einen zukommt, ist es auch nur halb so schlimm. Stellen Sie sich gedanklich ein auf Bukett und Geschmack überreifen Camemberts in Zwiebelsoße, was übrigens auch Konsistenz und Farbe ziemlich genau trifft. Sie werden aus diesem Abenteuer gestärkt hervorgehen. Wenn Sie sich das nicht zutrauen und sich langsam herantasten wollen, versuchen Sie es erst einmal mit Durian-Pfannkuchen. Die gibt es zum Beispiel gleich neben den Rolltreppen in Singapurs ältestem Plattenbau, dem markant giftgrün-kanariengelb gestreiften People’s Park Complex in Chinatown, der allein schon wegen seiner Hässlichkeit einen Besuch wert ist. Sie können sich der Königsfrucht aber auch in Form von Eis am Stiel nähern. Die Eis-Theken Singapurs warten überhaupt mit für Westler recht ungewohnten Geschmacksrichtungen auf: Den heimatlichen Standardsorten Vanille, Erdbeer, Schokolade entspricht in Singapur das Dreigespann Durian, rote Bohnen und – immerhin – Mais. Auch das Ice Kacang, ein Berg zerstoßener Eiswürfel, der mit Sirup in allen Farben des Regenbogens begossen wird und als »surprise« in seinem Innern ein paar schmackhafte Hülsenfrüchte bereithält, ist ein eher optisches als kulinarisches Highlight.

Die stilvollste Art, die Stinkfrucht kennenzulernen, bietet jedoch mit seinen Durian-Petit Fours das feudale Goodwood-Park-Hotel, der ehemalige »Teutonia Club«. Der erste Deutsche Club Singapurs eröffnete im Jahr 1900 mit einem rauschenden Ball, zu dem 500 Gäste in das mondäne viktorianische Anwesen geladen waren. Mit Beginn des ersten Weltkrieges waren die Deutschen aber auch in Singapur nicht mehr wohl gelitten und mit dem Teutonia Club war es vorbei.

Überhaupt erstaunlich, auf wie viel Deutsches man in Singapur stößt. Der Trend zum Fachwerkhaus, der in der Bukit Timah-Gegend Einzug gehalten hat, kam vielleicht über den Umweg aus Qingdao mit den chinesischen Immigranten aus der ehemaligen deutschen Kolonie hierher. Weißwürste, tiefgefrorene Brezen und original »King Ludwig Sauerteigbrot« bekommt man jedenfalls problemlos, nicht nur im German Market Place. Man kann sich zum »Martinsgans-Essen unter Tropenhimmel« im Schweizer Club einfinden oder sich in Lokalen mit so anheimelnden Namen wie »Brotzeit« oder »Stammtisch« an einer Schweinshaxe laben – wahlweise mit oder ohne Stäbchen. Letztes Jahr habe ich zum ersten Mal in meinem Leben selbst einen Adventskranz gebunden, im Sommerkleid unter Palmen, eine Affenhorde sah mir dabei zu. Schnee, oder was die Singapurer dafür halten, rieselt in der Vorweihnachtszeit täglich von 19.45 bis 20.00 Uhr vor der Tanglin Mall herab. Philippinas führen rotbraune Kurzhaardackel, Inbegriff des Deutschtums, Gassi bis zum nächsten Mangobaum. Schwarzwälder Kirschtorte liegt in der Auslage der malaiischen Konditorei neben rot-blau-grün-gelb gestreiftem kueh lapis und kugeligen onde ondes. Erübrigt sich zu erwähnen, dass Singapur auch ein Oktoberfest hat und im klimatisierten Bierzelt mindestens so eine Stimmung herrscht wie im Münchner Augustiner. Maßkrüge gibt es allerdings nicht. Den Asiaten fehlt ja bekanntlich ein Enzym zum Abbau des Alkohols, also nur Halbe.

Keine Sorge also, für Langnasen gibt es auch anderes als ewig nur Kokosnuss und Lychee-Saft. In Singapur findet der Westler alles, was sein Herz begehrt, von der Molekular-Küche in Reagenzgläsern bis zur Helipad-Bar auf dem Hubschrauberlandeplatz des Swissôtel. »Moules frites« mit »mort subite«, um nur eines von mehreren Hundert belgischen Bieren zu nennen, die hier im Verkauf sind. Paella, Gyros und Pizza gibt es wie Sand am Meer.

ang mo