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Komtesse Helene.

Eine Kriminalgeschichte von Hans Wachenhusen

Neufassung und Digitalisierung von Peter Frey. Die Neufassung nimmt leichte Veränderungen am Originaltext vor, die der Lesbarkeit und der Übertragung in die heutige Zeit geschuldet sind. Ziel ist es, den Charakter des Originals so weit wie möglich zu erhalten. Peter Frey arbeitet als Publizist und Autor in Süddeutschland.

Copyright © 2017 Peter Frey

Herstellung und Verlag

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783743108295

Inhalt

Zum Autor

Hans Wachenhusen wurde 1823 in Trier geboren und starb am 1898 in Wiesbaden. Er arbeitete als Reise- und Romanschriftsteller.

Erstes Kapitel

Himmel und Hölle, ich habe keine Wahl mehr! Und ist das, was mir zuweilen warnend ins Ohr raunt, die Stimme der Vernunft, so gibt es keinen Ratgeber, der seine Sache so verkehrt führte, wie gerade sie! Warum sprach sie nicht früher, als es noch Zeit war; warum sagte sie nicht damals zu mir: Dieses Weib da, dessen Handschuh du in der Loge von San Carlo auffingst, das dir so kalten Dank sagte, als du ihn ihr im Zwischenakt überbrachtest - dieses Weib ist ein Brander, der jeden Abend um Sonnenuntergang auf der Promenade zum Posilipp dahinfährt, um alle zündbaren Geister der Gesellschaft in Flammen zu setzen, gefährlicher als der Vesuv, dessen glühende Ströme, wenn sie zurückkehrt, ihr Auge mit so viel verwandtschaftlichem Interesse bewundert! Dieses Weib ist eine jener fessellosen Abenteurerinnen des Highlife, die in unweiblicher Selbstständigkeit trotzig ihre großen Bahnen wandelnd und, unempfänglich für die geräuschlosen Freuden des Familienlebens, nur Genüge für ihre Eitelkeit in dem Phosphorglanz finden, den ihre Schönheit inmitten einer kosmopolitischen, ihnen fremden Gesellschaft ausstrahlt ... Damals war es Zeit, ja selbst damals noch, als ich, immer wieder sie suchend, ihr täglich auf der Riviera begegnete und sie von mir kaum mehr Notiz nahm als von all den Übrigen, die, wie ich, unter ihren Augen bluteten ... Damals fand ich sie eben nur schön, anbetungswürdig schön, aber meine Bewunderung war absichtslos und eine einzige Dazwischenkunft hätte mich sie vergessen lassen. Von dem seligen oder unseligen Moment ab jedoch, wo sie mir gestattete, ihre Hand zu küssen, wo ihr Auge mir durch einen einzigen Blitz verriet, dass dieses allgemein empfindungslos gehaltene Weib ein - Weib sei, und dass unter all den Kavalieren, die durch ihre Schönheit zu den größten Tollheiten getrieben wurden, ich, der Nüchternste unter ihnen, bestimmt sei, um ihretwillen den Verstand zu verlieren ...

»Es ist zu spät, seitdem, und sage ich mir auch tausendmal, ich wäre glücklicher gewesen, hätte sie einen anderen bevorzugt, der bloße Gedanke, dass dies der Fall hätte sein können, bringt mich zur Raserei, ja ein einziger ihrer Blicke, der jetzt nicht mir gehört, reißt mich zu einer Tobsucht gegen mich selbst hin, vor deren Folgen ich zittere, je mehr ich mich hilflos gegenüber der Gewalt erkenne, die ein Weib über einen der ehedem ruhigsten und vernünftigsten Menschen zu üben vermag! ... So könnte es geschehen, dass ich, der ich bisher sorglos durch die Welt ging wie durch einen Garten, voll von Blumen, mein Leben vergiftet sehe, seit ich es wagte, mich einer einzigen derselben zu nähern! ...«

Anatole Montague hielt diesen Verzweiflungsmonolog, während er in einem der reizendsten, mit raffinierter Koketterie ausgestatteten Empfangssalons stand, die Arme über der Brust kreuzend, durch die spinnwebfeinen Gardinen auf die vornehmste Lebensader von Paris, auf die Avenue der elysäischen Felder, blickte und teilnahmslos den Reitern und den Phaethons zuschaute, die als Vorposten der beginnenden Saison um Mittag ins Bois hinauseilten.

Ermüdend in seiner Ungeduld, mit der Hand über die Stirn fahrend, wandte er sich ins Zimmer zurück. Zerstreut schweifte sein Blick über all die Nippes und Chinoiserien, die Urnen und Basen, die Alabasterstatuetten auf graziösen Postamenten und die hunderterlei Petits riens, welche dem Salon einer Dame von Welt nicht fehlen dürfen. Lauschend haftete dieser Blick auf der Mitte des weichen, grünen Teppichs, auf welchem eine Amorettengruppe im Gras zu spielen schien. Aber kein Geräusch endet seine Ungeduld.

Er ließ sich in einen der seidenen Fauteuils sinken, stützte die Stirn in die sorgsam gepflegte Hand, erhob die Erstere wieder und starrte gegen seinen Willen auf ein über der Causeuse hängendes Ölgemälde, aus dessen mit einer Grafenkrone geschmücktem, reichem Barockrahmen ein junges Weib in Lebensgröße, einen dunklen Vorhang zurückschiebend, herauszutreten schien.

Wie Verklärung leuchtete es plötzlich auf dem bleichen, abgespannten Antlitz des jungen Mannes, die Schatten einer Nachtwache verjagend; sein Auge weitete, seine Lippen öffneten sich beim Anschauen des Bildes; mit einem entzückten Lächeln erwiderten seine müden Züge das dieses reizenden Frauengesichtes.

Jedem anderen, der den Vorzug genoss, hier einzutreten, galt freilich das Engelslächeln der lauschend hinter dem Vorhang Hervortretenden gerade so wie ihm; und gerade wie er musste jeder andere, frappiert durch die Lebenswahrheit der Attitüde, die Plastik der ganzen Gestalt, durch die Wärme der ideal schönen Züge, beim ersten Anblick betroffen dastehen, aber auch verführt, hingerissen durch die Anmut dieses Lächelns, dasselbe erwidern.

Nicht jeder indes hatte, wie Anatole Montague, den beneideten Vorzug, dieses Lächeln wie eine persönliche Huld zu betrachten. Diesen heitern, fast schelmischen und doch in seiner Wirkung bewussten Ausdruck zeigten die Züge des Originals überall, auf der Promenade, im Theater, im Salon; jeder hatte das Recht, diese Sonne zu bewundern, ohne dass er sich rühmen konnte, es gehöre ihm auch nur ein Strahl davon. Jeder hatte auch, wo sie öffentlich erschien, das Recht, die hohe, imponierende Gewalt ihrer Schönheit zu bewundern, wenn sie ernst und sinnend erschien, denn sie liebte diesen Wechsel, weil sie wusste, dass Licht und Nacht die Langeweile eben durch ihren Wechsel verhüten; aber Anatole war der Einzige, der den Letzteren hervorbringen konnte, wenn sie ernst oder verstimmt war – und jetzt, wie er eben dasaß, verfinsterte sich dennoch plötzlich sein Antlitz wieder. Er legte die Hand über das Auge, als sei es ihm zu viel der Sonne, und, fast über sich selbst erschreckend, wandte er sich ab, erhob sich und trat wieder ans Fenster, um auf das bleiche Licht hinabzuschauen, das einer der ersten heiteren Frühlingstage über die um diese Zeit so langweilige Avenue breitete.

Auch Anatole Montague langweilte sich; noch mehr, ihm verursachte das Alleinsein im Zimmer ein furchtsames Unbehagen. In der ganzen Wohnung war es mäuschenstill; er glaubte den hohen, weichen Plüsch des Teppichs unter seinen Füßen seufzen zu hören. In ihm herrschte das nüchterne Morgengefühl nach durchschwärmter Nacht, wenn die Seele noch nicht zum neuen Tagwerk erwacht und die Gemütsbewegungen dieser Nacht warfen noch ihre Schatten in das Morgenlicht hinein.

Ein leichtes Hüsteln ließ ihn in seinen Gedanken zusammenfahren. Er wandte sich ins Zimmer zurück. Unter der schweren Brokatportiere stand das reizendste Soubrettenfigürchen, das je die Schwelle einer schönen Dame bewacht, mit brandblonden, eigensinnig krausen Löckchen auf beiden Schläfen, einem Paar listiger, brauner Augen über dem kecken, mokanten Stutznäschen und etwas sinnlichen, erdbeerfarbigen Lippen – ein Figürchen wie von Tragant, bewusst kokett, herausfordernd und übermütig, als sei sie selbst stolz auf das Dutzend Sommersprossen in ihrem weißen Teint; dabei die Reize ihrer zierlichen Gestalt so absichtlich hervorhebend, als habe sie den ganzen Tag Muße, über alle diese einzelnen Vorteile und ihre Wirkung nachzudenken.

Zoe lächelte, wie sie, beide Hände in den Falten ihrer Robe versteckend, dastand. Sie lächelte über Anatoles Erschrecken und sein heute so bleiches Gesicht und doch lag etwas von Protektion in diesem Spott.

Anatole griff nach dem auf einem Gueridon stehenden Hut und trat ihr einige Schritte entgegen.

Zoe schüttelte abwehrend das Köpfchen. Anatole hielt befremdet inne.

Zoe, die eine Hand noch immer in der Falte ihres Kleides versteckend, legte die Finger der anderen auf die frischen Lippen, und schien ihre Freude an der Erregtheit des jungen Kavaliers zu haben.

»Nun, was ist, Zoe?«, fragte Anatole mit halber Stimme.

»Die Gräfin ist unwohl!«, flüsterte sie. Der Schelm in ihr sah dabei nicht ungern, dass Anatoles zerstreute Blicke Interesse für die jugendlich frischen Details ihrer schlanken, kleinen Gestalt fanden und in unbewusster Anerkennung von einem zum anderen bis auf die kleinen Füßchen hinabirrten.

»Unwohl!«, wiederholte er enttäuscht und mit neuem Schatten auf der Stirn.

Die Zofe musterte ihn seinerseits jetzt schnippisch.

»Die Gräfin kann das Bett noch nicht verlassen, aber ...«

Zoe hielt inne, als mache es ihr Spaß, Anatole zu foltern. Als gewandte Zofe wusste sie indes genau zu berechnen, wo sie die Grenze des ihr Erlaubten zu finden habe. Ihre rechte Hand löste sich aus der Falte, sie hob zögernd ein Billett:

»Hier! Die Komtesse sendet Ihnen dies!«

Anatole griff hastig danach, öffnete das Billett und las:

»Schonung, Anatole! Ich fühle mich zu ermattet, Sie zu empfangen. Wir sehen uns heute Abend in der Oper.«

Als er die Stirn wieder hob, war Zoe verschwunden. Dieselbe tiefe Stille herrschte um ihn her. Schweigend, mit düster umwölkter Stirn, steckte er das Billett in die Brusttasche, fuhr sich zerstreut mit der Hand über den Scheitel, schöpfte tief Atem, und kaum verriet ein leises Geräusch der Außentür, dass auch er sich entfernt. Gleich darauf jagte er in seinem Américain zum Triumphbogen hinauf um draußen in der frischen Luft die Gespenster der schlaflosen Nacht und andere Schatten zu verscheuchen, die in seiner Seele spukten.

Zweites Kapitel

Eine Stunde darauf saß Anatole Montague an seinem gewohnten Platz im Café Anglais, um sein Frühstück einzunehmen.

Die Habitués dieses Etablissements am Boulevard des Capucines in Paris sind immer reiche Leute oder arme Verschwender fremden Geldes nämlich Schuldenmacher. Anatole ist Mitglied des Jockeyklubs, und zwar eines der illustresten, dessen Auftreten unter der lebenslustigen Jugend tonangebend. Er hat die kostbarsten Pferde, und seine Farben sind auf dem Turf geachtet. Er hat die vorzüglichsten Diener in glänzenden Livreen und bewohnt ein reizendes kleines Hotel in der Nähe des Trocadero. In seinem ganzen ›Train‹ ist der feinste Stil, sein Hotel ist nach dem tadellosesten Geschmack eingerichtet; seine Pferde fressen aus Krippen von demselben Marmor, aus welchem man Götter und Göttinnen schafft.

Leute, die ihn näher kennen, wissen sich keiner jener Rohheiten an und in ihm zu erinnern, in welchen die Jugend des Jockeyklubs ihr Genüge sucht. Er ist Lebemann vom reinsten Ton, Genussmensch, jedoch mit edlem Takt in seinen Genüssen wählend; von äußerster Freigebigkeit, ohne Wert auf diese zu legen oder Dank dafür zu erwarten, verschwenderisch sogar, wo andere großmütig sind, und hat hierzu alle Ursache. Er ist dreifacher Erbe, nachdem er bereits das Vermögen seiner verstorbenen Eltern verzehrt, und unmöglich ist es selbst den Eingeweihten, die Zahl der Millionen zu berechnen, welche ihm die noch bevorstehenden Erbschaften bringen werden, nachdem er die erste derselben schon mit der sicheren Aussicht angetreten, mit ihr fertig zu werden. Ihn langweilt nur eins an diesen beiden letzten Erbschaften, dass er nämlich genötigt sein wird, um sie in wahrscheinlich naher Zeit zu erheben, nach Westindien zu reisen.

Der Überdruss im Genuss und das Übermaß mit welchem ihn das Schicksal an irdischen Gütern gesegnet, hat in Anatoles von Natur mehr ernstem Charakter eine gewisse Gleichgültigkeit gegen beides hervorgebracht. Mit dreißig Jahren hat er alles durchgekostet ohne an irgendetwas Geschmack zu finden, vielmehr den Geschmack für alles verloren, ohne blasiert zu sein. Er hat sein Hotel geschlossen, ist auf Reisen gegangen, und der Zufall ließ ihn auf dem Dampfer von Palermo nach Neapel einer wunderbar schönen, aber krankhaft bleichen Dame begegnen, die, am Seeübel leidend, nur am Abend nach Sonnenuntergang einmal ihre Kajüte verlassen zu haben schien, um Luft zu schöpfen, und dann wieder verschwand.

Sonderbarerweise dachte Anatole zum ersten Mal seit diesem flüchtigen Begegnen ernstlich über ein Weib nach.

Bei der Ankunft in Neapel sagte ihm der Schiffsarzt, die schöne Dame sei, soviel er beim Embarkieren in Palermo gehört, eine Russin. Übrigens sei sie von der Seekrankheit so angegriffen, dass sie um die Erlaubnis gebeten habe, erst eine Stunde später das Schiff verlassen zu können.

Anatole debarkierte und bezog sein Hotel. Erst nach acht Tagen begegnete er der schönen Reisenden, die er bereits zu vergessen begann, auf Santa Lucia. Er sah sie wieder und wieder auf der Promenade zum Posilipp, die ihr Lieblingsausflug zu sein schien; aber sie war schöner noch, als sie ihm auf dem Dampfer erschienen, zum Niederknien schön, und ihr Antlitz hatte einen Reiz so eigentümlicher, unnachahmbarer Natur, ihre Haltung, ihr Auftreten hatten etwas so besonders Graziöses und doch Imponierendes, dass Anatole es für der Mühe wert hielt, sich nach ihrem Namen erkundigen zu lassen.

Komtesse Sostaniew hieß sie. Das wussten alle übrigen Elegants von Neapel viel früher als Anatole, dem sie nicht allein aufgefallen sein konnte. Sie sollte aus Russland sein, wie schon der Name vermuten ließ.

Anatole begegnete ihr täglich, ohne dass sie mehr Notiz von ihm nahm als von den übrigen Bewunderern, denen die Stunde ihrer Promenade schnell geläufig geworden war. Er sah dieses tief ernste, vornehme Antlitz von leicht angehauchter Marmorfarbe, diese wunderbaren, geheimnistiefen, dunklen Augen, diesen aristokratisch geschlossenen schönen Mund, dieses Bewusstsein einer Königin, wenn sie in einfacher, aber kostbarer Toilette im Hotelwagen vorüberfuhr. Und wiederum sah er, wie dieses ernste, schöne Antlitz, wenn es mit der Begleiterin sprach, so verführerisch, so glücklich lächeln konnte – mit demselben Lächeln eines klugen Kindes freilich, das den Eindruck, die Wirkung desselben vollkommen kennt. Aber dieses Lächeln war hinreißend, es drang wie Sonnenschein in die Seele dessen, der es sah, und Anatole, wenn er ihr begegnete, wusste nicht, ob er wünschen solle, sie ernst oder lächelnd zu sehen, denn sie war immer unsagbar schön.

Als er in der dritten Woche im Theater San Carlo saß, verwünschte er den Zufall, der ihm eine Loge unter ihr, anstatt ihr gegenüber angewiesen. Er beobachtete sie im ersten Zwischenakt von drüben und beneidete einige junge Freunde, die das Glück hatten, von der gegenüberliegenden Loge aus die schönste der Frauen belorgnettieren zu können.

Da fiel ein Handschuh von der oberen Loge vor ihn, auf die Brüstung der seinigen, als gerade Manrico eine seiner schönsten Nummern sang. Anatole starrte den Handschuh bleich und bebend an. Nur ihr konnte er gehören; er war beschädigt, durch das Applaudieren vielleicht, denn man applaudiert in Neapel mit einer gewissen Phrenesie. Anatole hatte gesehen, wie sie diesen reizenden Gegenstand im Zwischenakt von der Hand gezogen und auf die Brüstung gelegt.

Warf ihm sein bisheriges Lebensglück hier den Handschuh hin, so war es jedenfalls einer der zierlichsten, der nur ihrer Hand würdig. Der Akt ging zu Ende und Anatole war zu einem Entschluss gekommen. Er betrat die Loge der Fremden und brachte ihr mit einer verbindlichen Floskel den Handschuh.

Die Fremde wusste anfangs nicht, ob sie annehmen, dann nicht, ob sie danken solle. Sie tat beides mit ernster, aber artiger Miene und verabschiedete ihn kalt. Anatole hatte nichts gewonnen, als dass er in nächster Nähe sich überzeugte, um wie viel sie wirklich schöner, als sie ihm auf der Promenade erschienen, und dass er aus diesem Zufall das Recht herleiten könne, sie beim nächsten Begegnen zu grüßen, ohne für zudringlich gehalten zu werden.

Taumelnd erreichte er seine Loge wieder. Nach der Oper trieb es ihn in das Café di Europa. Er wählte eines der oberen Kabinette, ließ sich die Austern aus dem See von Fusaro servieren, mit denen einst Lukull seine Gäste bewirtet, leerte eine ganze Flasche Champagner, und der sonst gegen die Frauen so gleichgültig gewordene Mensch erhitzte seine Gedanken bis zu dem Grad, dass er sich vorstellte, die schöne Fremde sitze ihm gegenüber und er trinke aus dem Glas, dessen Rand ihre Lippen berührt.

Liebes- und champagnertrunken kehrte er an dem Abend in sein Hotel zurück. Er dachte die ganze Nacht an sie, und wie er seine Erinnerung auch hin und her kehrte, er musste ohne Eitelkeit doch immer wieder darauf zurückkommen, dass sie ihn zwar sehr ernst und fast strafend in der Loge empfangen, dass sie ihn allerdings auch sehr kühl entlassen, dass sie aber doch keinen entschieden ungünstigen Eindruck von ihm empfangen habe.

Um dies festzustellen, bedurfte Anatole eine ganze Nacht! Am nächsten Morgen, als er über die Piazza schlenderte, begegnete ihm bei der Foresteria ein junger Mann, der, wie er, planlos durch die Welt lief, seit einiger Zeit aber seiner kranken Lunge wegen in Neapel leben musste.

»Haben Sie über Ihren Tag nicht bestimmt, so lade ich Sie ein, mit mir nach Pompeji zu fahren!« Herr von Rostoff, ein junger Russe, sprach das mit nervöser Stimme, asthmatisch nach Luft schnappend.

Anatole bedurfte der Zerstreuung. Beide traten auf dem Toledo in eine Trattorie, um nach mäßigem Frühstück die Totenstadt zu besuchen.

Der Himmel hatte sich leicht bedeckt; es lag ein mattes, schleierartiges Dämmerlicht über der dächerlosen Römerstadt, an deren zum Teil noch gut erhaltenen Mosaikböden die Sonne sonst ihre Kraft zu prüfen pflegt. Der drohende Regen mochte die Fremden in der Stadt zurückgehalten haben, an denen es in Pompeji niemals fehlt. Es war unheimlich still, wie beide in den engen und krummen Römerstraßen auf dem schmalen Bürgersteig dahinschritten und teilnahmsvoll mit den Augen den Spuren folgten, welche die Gefährte der seit achtzehnhundert Jahren verschütteten Kampanier in dem Gestein der Straße zurückgelassen.

»Mir ist, als müsste uns jedes Mal, wenn wir um eine dieser Straßenkrümmungen biegen, ein edler Römer in seiner Toga, zum Forum schreitend, begegnen und mich, mir einen guten Tag wünschend, mit meiner lateinischen Sprache in Verlegenheit bringen ... Ist Ihnen eine Papiros gefällig, Herr von Montague? ... Wie schade, dass die Römer den Genuss des Tabaks noch nicht kannten, wenigstens erzählt uns Plinius nichts davon!«

»Dafür tranken sie vermutlich ihre edlen Vesuvweine noch unverfälscht, während wir uns beim Eremiten oder drüben im Wirtshaus, wenn wir ermüdet zurückkehren, eine Flasche Lacrymä Christi oder einen Syrakuser vorsetzen lassen müssen, der selbst jenen berühmten Tyrannen zum Erbarmen gebracht haben würde.«

»Wie unendlich schöner war doch mein erster Besuch hier in Pompeji – Verzeihung, wenn ich ungalant gegen Ihre liebenswürdige Begleitung erscheinen sollte«, fuhr Herr von Rostoff fort. »Wir saßen in Neapel beim Diner, eine recht lustige Gesellschaft, und kamen auf die Idee, Pompeji zur Nachtzeit bei Fackelbeleuchtung sehen zu wollen. Die Fackeln waren schnell besorgt, ein paar Körbe Champagner in den Wagen gepackt. Drei reizende Frauen schlossen sich uns an; es stand uns also ein märchenhafter Genuss bevor. Es dunkelte bereits, als wir vor Pompeji anlangten. Die Nacht fiel schnell über uns herab. Der Posten - damals herrschten noch die Bourbonen - wies uns zurück und erklärte, der Eingang zur Totenstadt sei schon um Sonnenuntergang geschlossen ... Was beginnen? Der Kommandant war nicht mehr zu sprechen; er hatte sich mit den Hühnern schlafen gelegt, was ihm nicht zu verdenken, da die Toten keine unterhaltende Nachbarschaft sind. Da kam einer von uns auf die rettende Idee, dem Posten vorzustellen, ich, der ich der Längste der Gesellschaft war, sei ein fremder Prinzipe, die übrigen seien mein Gefolge. Da nun der Fürst, nämlich ich, erst am Mittag eingetroffen und am zweiten Tag schon vom Heiligen Vater in Rom erwartet werde, so lasse er den Kommandanten höflichst um die Gunst des Eintritts ersuchen. Das wirkte. Ein Unteroffizier musste die Schlüssel bringen und uns begleiten. Bei Fackelschein durchzogen wir die Straßen, traten wir überall zu den Penaten der längst zu Asche Gewordenen. Hier und da flog eine Eule aus den Spalten und Rissen der offenen Gebäude und erschreckte die Damen, die nicht anders glaubten, als es umflattere sie der aus seiner Ruhe gestörte Geist eines Pompejaners. Es war wunderbar! Das Herrlichste aber war, als wir drüben in der Villa des Diomed zu rasten beschlossen. Der Champagner wurde herbeigeschafft, die Korken flogen, die reizenden, frischen Lippen unserer Damen kredenzten uns den Sekt, und die eine ging sogar so weit, dass sie in klassischer Begeisterung und als Dank für eine von mir in furchtbarem Küchenlatein dem toten Gastfreund Diomedes gehaltene Rede mir diese Lippen zum Kuss bot ...«

Beide waren eben plaudernd durch die Vorhalle in das Atrium eines pompejanischen Edlen getreten. Anatoles Auge ruhte auf dem halbzerbröckelten Mosaik des Bodens. Rostoffs plötzliches Innehalten zog seine Aufmerksamkeit ab. Er folgte dem Blick seines Begleiters und sah zwei Damen in dunklen Gewändern den Bogengang daher auf das Atrium zuschreiten.

Während Rostoff dastand und die Damen überrascht, vielleicht auch ein wenig verlegen anstarrte – denn der helle Schall zwischen den Mauern musste ihnen seine leichtfertigen Worte zugetragen haben – trat Anatole bescheiden zur Seite. Die jüngere und größere der beiden Damen zog eben den Schleier über ihr Gesicht, doch zu spät, um noch unerkannt vorüberschreiten zu können. Ihr dunkles Gewand rauschte über den Steinboden vor Anatole vorüber. Dieser zog in freudigem Erschrecken mit einer respektvollen Verbeugung den Hut.

Eine knapp höfliche Bewegung des Kopfes dankte ihm. Kein Blick traf ihn durch den Schleier; von der älteren Dame gefolgt, rauschte die überraschende Erscheinung in die Vorhalle und verschwand.

Rostoff starrte Anatole fragend an.

»Donnerwetter, das war ja meine schöne, unnahbare Landsmännin!«, flüsterte er, als die Damen schon die Straße erreicht haben mochten.

Anatole stand noch in sprachloser Überraschung da, den Blick ihnen nachgewendet. Sein Herz pochte so laut, dass er darüber Rostoffs Worte kaum verstand.

»Und Sie kennen sie, während sie von uns Russen, ihren Landsleuten, nichts wissen will?«

»Wenn hier in diesem Atrium die einstige Herrin des Hauses leibhaftig, von ihren Sklavinnen umgeben, erschienen wäre, ich hätte nicht mehr ...«

»Aber Sie kennen sie!«, unterbrach Rostoff seinen Freund. »Wie kommen Sie dazu? Beantworten Sie doch meine Frage!« Dabei legte er dringlich die Hand auf Anatoles Schulter.

»Durch einen Zufall! ... Lassen Sie uns gehen!«

Anatole kam erst jetzt zu dem klaren Bewusstsein, dass ihm nichts erwünschter sein könne, als den Damen zu folgen, und zog seinen Freund mit sich fort. Mit zerfahrenem Blick schaute er nach beiden Richtungen der Straße; er eilte nach rechts, schaute um die Krümmung der engen Gasse - Rostoff atemlos hinter ihm - er rannte nach links und tat dasselbe, Rostoff wieder hinter ihm. Dann lief er aufs Geratewohl diesem voraus, aber von den Damen war keine Spur.

»Aber sie war es doch! Sie war es! Ich erkannte sie!«, rief Anatole vor sich hin, während Rostoff sich auf dem schmalen Trottoir an seine Fersen heftete.

»Allerdings war sie es – die schöne Sostaniew!«, rief er aus. »Ich hätte sie durch zehn Schleier erkennen wollen!«

»Sie kann doch nicht in den Himmel gefahren, nicht in die Erde gesunken sein!«

»Auch sehe ich keinen Aschenregen, der sie plötzlich hätte verschütten können, wie das hier bekanntlich schon früher passiert ist!«, bestätigte Rostoff, mit der Nase in der Luft, indem er keuchend folgte.

Vergeblich war alles Suchen. Offenbar mussten die beiden Damen, die sich mit Zurücklassung des Fahrers in das Labyrinth der Totenstadt gewagt, furchtsam in einem der Häuser Schutz gesucht haben. Ihre Spur war verwischt, und mutlos hielten die beiden Herren auf dem Forum inne, um sich hier gegenseitig zu versichern, dass sie keine Gespenster gesehen.

»Welch eine herrliche Gelegenheit wäre es gewesen, mich ihr hier durch Sie vorstellen zu lassen, lieber Montague!«, rief Rostoff in etwas sarkastischem Ton, sich auf einer umgestürzten Säule niederlassend. »Wie wäre es, wenn wir uns an den Ausgang postierten, wo wir jedenfalls ihren Wagen finden werden?«

»Unmöglich! Ich wünsche das Glück, ihr flüchtig bekannt geworden zu sein, nicht durch eine Taktlosigkeit zu verscherzen!«