Matthias von Saldern (Hrsg.)

Meisterung des Ichs

Budo zur Gewaltprävention?

Books on Demand

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© 2011 Matthias von Saldern

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7322-1111-1

ISSN 0944-5366

GEIST – TECHNIK – KÖRPER

Schriften zu den Hintergründen der Budôkünste

herausgegeben von

Matthias v. Saldern

Band 8

Hinweise

  1. Zweck der Schriftenreihe Geist – Technik – Körper besteht im Aufarbeiten der Hintergründe der Kampfkünste.
  2. Zu den Hintergründen gehören historische, philosophische, systematische, theoretische und sportwissenschaftliche Arbeiten.
  3. Die Schriften können Monografien ebenso wie Sammelbände sein.
  4. Bitte beachten Sie die Inserenten am Ende des Bandes.

Vorwort

10 Jahre Geist – Körper - Technik.

Nunmehr liegt der achte Band der Reihe Geist-Körper-Technik vor. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass diese Buchreihe so überlebensfähig ist? In erster Linie liegt dies an den Autoren und Herausgebern, die mit viel Engagement für die notwendige Qualität sorgten.

Band 1 läutete die Diskussion ein mit einer Analyse, was eigentlich Bushido ist. Dieser Band ist – nachdem er vergriffen war – in neuer, stark erweiterter und veränderter Auflage wieder erschienen.

Der zweite Band (herausgegeben von E. Liebrecht) entfachte eine Diskussion, die bis heute nicht beendet ist: Budo/Kampfsport und Gewaltverhalten. Auch der vorliegende achte Band führt diese Diskussion weiter.

Der dritte Band war eher philosophieorientiert und wurde im fünften Band von Wolfgang Brockers, der auch im siebten Band seine autobiographischen Notizen vorlegte, fortgesetzt.

Der vierte Band von Jörg Möller war der Geschichte der Budokünste vorbehalten.

Der sechste fasste die Ergebnisse des des ersten Budo-Symposiums auf deutschem Boden zusammen, das in Teilen auch als Video vorliegt.

Allen Beteiligten sei an dieser Stelle sehr gedankt.

Ein kleiner Wermutstropfen bleibt dennoch: Um den Preis nicht zu stark steigen zu lassen, haben wir umgestellt von Hardcover auf Paperback. Dafür sind wir nun, nachdem wir von zwei Universitätsverlagen betreut wurden, bei einem “richtigen” Verlag, der Produktion und Vertrieb übernimmt. Bisher war dies zeitraubende Handarbeit.

Der Herausgeber

Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung

Matthias von Saldern

Dieses Buch setzt die Diskussion um ein vermutetes Paradoxon fort: Kann Budo der Gewaltprävention dienen? Es verdichten sich die Hinweise auf der Basis einer zunehmende Anzahl empirischer Untersuchungen. Eine Garantie scheint es aber dafür nicht zu geben – Aufforderung genug, weiter zu forschen und zu publizieren.

In seinem ersten Beitrag geht Matthias von Saldern auf den Begriff „Budo“ ein. Er definiert ihn, stellt den geistigen Hintergrund heraus und beschreibt die Rolle des Meisters in der Kampfkunst.

Es folgt ein alter Text von Jigoro Kano, der als Vater des Judo bekannt ist. Als Mitglied des Oberhauses und Leiters der Japanischen Nationalen Olympischen Komitees hatte er einen großen Einfluss.

Matthias von Saldern setzt sich dann mit kulturellen Hintergründen des japanischen Denkens auseinander, ohne die das Budo nicht zu verstehen ist. Er konzentriert sich dabei auf den Konfuzianismus als eine Quelle kulturellen Denkens.

Der Beitrag von Günther Bitzer und Human Unterrainer steht stellvertretend für die inzwischen zunehmende Zahl empirischer Untersuchungen. Die Autoren untersuchten bei Karatemenschen Resilienz, Kohärenz sowie das religiös-spirituelle Befinden mit besonderer Beachtung des höheren Lebensalters.

Ob Kampfkunst gewalttätig macht, dieser Frage nähert sich Matthias von Saldern in einem weiteren Beitrag. Durch die Darstellung einschlägiger Untersuchungen kommt er zum Ergebnis, dass positive Wirkungen, die aber abhängig vom Meister/Trainer und den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen des Übenden sind, empirisch festzustellen sind.

Die Kernthese des Essays von Peter-Ulrich Wendt lautet: Die Aspirationen seitens Jugendförderung in Bezug auf die Möglichkeiten von Kampfkunst als Strategie der Gewaltprävention sind unter- oder überentwickelt. Das Ergebnis seiner Untersuchung stellt überskeptische (Budo stellt eine Verlängerung des Gewaltthemas in die Jugendarbeit hinein), bzw. übereuphorische (Budo ermöglicht eine gänzlich neue Perspektive der Jugendarbeit) Haltungen fest. Ein „realistisches Mittelwegszenario“ ist selten anzutreffen. Der Autor deutet das Ergebnis in Richtung des Bedürfnisses der in der Jugendförderung Tätigen, nach Orientierung über die Möglichkeiten und Grenzen der „Methode Budo“ in der Jugendarbeit.

Das Sound-Karate hat sich bislang ausnahmslos positiv in der Praxis bewährt. Ralf Brünigs Beitrag offeriert neben konzeptionellen Hinweisen auf die vielen erfolgversprechenden erzieherischen Effekte dieses Ansatzes.

Über seine langjährigen Erfahrungen mit Kampfkunst in der Behindertenpädagogik berichtet Martin von den Benken. Er kommt zum Ergebnis, dass positive Aspekte sowohl im sozialen Lernen als auch in der Neigung zu Gewalttätigkeiten durch den Einsatz von Judo erreicht werden können.

Es folgt der Beitrag von Olaf Zajonc, der in der offenen Jugendarbeit und Schulen der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover und Umgebung Selbstbehauptungs-Trainings und Kampfkunst-Angebote unterbreitet. Der Autor wirft einen kritisch-realistischen Blick auf das Diskussionsfeld.

Der Sammelband endet mit einem Beitrag von Matthias von Saldern über den Beginn der Diskussion über den Zusammenhang zwischen Kampfsport und Gewalt.

Budo – was ist das?

Matthias von Saldern

1Vorbemerkung

Die Erforschung dessen, was budo eigentlich bedeutet, ist schwer. Dies hat mehrere Ursachen:

Der Japanologe Jörg Möller schreibt (1998) dazu: "Die bislang unzureichende Darstellung der Geschichte der Kampfsportarten Japans ist zu einem großen Teil durch die Quellenlage in Japan selbst bedingt. Zum einen wurden Techniken und Besonderheiten der einzelnen Schulen weitgehend unabhängig von schriftlichen Aufzeichnungen weiter vermittelt, zum anderen hatte fast jede Ryû1 ihre eigenen Aufzeichnungen, die seit ihrer Gründung sorgsam aufbewahrt wurden. Ein großer Teil dieser alten Schriftrollen wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Zudem sind die meisten erhaltenen Dokumente immer noch in Privatbesitz und werden von den Ryû nur einem kleinen Kreis ausgesuchter Schüler zugänglich gemacht, die bestätigen müssen, Stillschweigen über den Inhalt zu wahren. Besonders streng ist hierbei die Tenshinsho Den Katori Shintô Ryû, in der die Schweigepflicht noch heute mit dem Blut des Schülers bestätigt wird."

2Der Begriff Budô

Im Alltagsgebrauch wird Budô (武道) verstanden als Oberbegriff der ostasiatischen Kampfkünste. Dies ist nicht ganz richtig, weil Budô sich auf die japanischen Kampfkünste bezieht. So gehören z. B. kung fu (china) oder Taek Won Dô (Korea) im engeren Sinne nicht dazu, schon gar nicht andere martial arts wie Kickboxen etc. Unglücklich ist deshalb nach Friday & Humitake (1997, S. 5 und S. 192, Anm. 12) z. B. die Verwendung des Begriffes Martial Arts, weil hier erstens nur die ostasiatischen Kampfformen gemeint seien, wobei keine Differenzierung innerhalb Ostasiens erfasst wird, und der Begriff sogar ausgeweitet wird auf Vollkontakt etc.

Günstig ist es, vom Begriff selbst auszugehen: Budô setzt sich zusammen aus dô () und bu (). Bu wiederum enthält zwei Ideographen, nämlich Speer () und Stop ( ; Friday & Humitake, 1997, S. 64), wie in der folgenden Abbildung zu sehen ist.

Bu bedeutet also: Stoppe den Speer, beende den Konflikt. Friday & Humitake vertreten die Auffassung, dass dieser Zusammenhang der beiden Ideographen in der Geschichte des Kanji (chin./jap. Schriftzeichen) noch nicht nachzuweisen ist. Ihrer Ansicht nach handelt sich es um eine taoistische Interpretation des Kanji. In der altchinesischen Tierknochen-Orakelschrift (14.-1. Jahrhundert v.u.Z.) hieß vermutlich „Fuß“, was zur heutigen Übersetzung „stehen bleiben“ gut zu passen scheint. Das chinesische wu kann daher interpretiert werden als Fußsoldat. Die Sinologie selbst geht von einem Bedeutungswandel aus: „das Bild eines nach oben gerichteten Fußes wird heute geschrieben und erlangte schließlich Bedeutungen wie „stehenbleiben“, „aufhören“ oder „zum Stillstand bringen“.2

Abbildung 1: Ideographen des Begriffes Budô

Wann sich der Bedeutungswandel vollzog, ist noch unklar. Vielleicht ist diese Veränderung in der Interpretation parallel gelaufen wie der Wandel des Begriffes Bujutsu zu Budô: Bujutsu ist die reine Technik und wurde zu Budô, als es die Bedeutung einer Entwicklung des Selbst (Selbstrealisierung) bekam (Friday & Humitake, 1997, S. 7 und S. 163).

3Geistiger Hintergrund

Meister Asai (Großmeister im Kendô) hat auf dem Budô-Symposium 1998 in einer Diskussion Folgendes gesagt: „In Europa existieren Fechten und Säbel sowie Bogenschießen, wie überall auf der Welt Werkzeuge vorhanden sind, um Menschen zu töten. Man muss sich aber fragen, warum es in Japan nicht bei der reinen Technik geblieben ist? Auch in Europa muss es verschiedene Künste gegeben haben, die den Kampfkünsten entsprechen.“3 Genau dieser Frage soll hier nachgegangen werden.

Eine erste Analyse lieferte Sonoda (1998). Er geht von der These aus, dass der geistige Gehalt des Budô genährt wurde durch die Anforderungen an den japanischen Ritter, die erst dem Shintoismus, dann dem Zen-Buddhismus und schließlich dem Konfuzianismus entlehnt wurden.

a. Shintoismus

„Die Krieger befolgten auch die shintôistische Ethik, deren Kardinaltugend natürlich Loyalität war. Sogar das eigene Leben soll man aufgeben können, um den Herrn zu schützen. Hochachtung gegenüber den Eltern, gegenüber den Vorfahren, gegenüber den Lehrern muss man lernen. Dann die Ehre: seine Ehre, die Ehre der Familie und der Sippe auf Kosten seines Lebens zu wahren, war die schönste Tugend. Was von einem Mononohu, also einem Ritter gefordert wurde, war nicht nur die Tapferkeit im Kampf, sondern diese feudalen Tugenden und die selbstlose Reinheit des Herzens. Schwert und Spiegel, die in jedem Shintôschrein als Heiligtum aufgestellt sind, versinnbildlichen die Tugend der Ritterschaft.“ (Sonoda, 1998)

b. Zen

Sonoda umschreibt den Einfluss des Zen-Buddhismus wie folgt:

c. Konfuzianismus

Yamaga Sokô (1622-85), ein konfuzianistischer Gelehrter dieser Zeit, zählt die vom Bushi geforderten Tugenden wie folgt auf: 1. Loyalität und die Hochachtung gegenüber den Eltern, 2. die Gerechtigkeit und die Redlichkeit, 3. die Ursache und Herkunft der Sache klarzumachen und 4. sich mit Dichtung und Wissenschaft zu beschäftigen. Ein anderer Gelehrter, Daidôji Yûzan (1639-1730) nennt 1. Elternverehrung, 2. die Gerechtigkeit und 3. die Tapferkeit. Tapferkeit wird immer noch als Tugend aufgezählt. „Wir sehen aber, dass diese Tapferkeit nicht mehr die im Kampf, sondern vielmehr die der Sittlichkeit oder die moralische Tapferkeit bedeutet“ – so deutet Sonoda den Wandel an: vom Schlachtfeld auf das Feld der allgemeinen Tugenden.

4Budô und Politik

Mit Budô oder auch Bushidô ist allerlei Verklärung miteinander verbunden. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Tugendkataloge politisch ge-, wenn nicht auch missbraucht wurden. In Deutschland ist z. B. die Zahl der Publikationen über Bushidô im Dritten Reich sprunghaft angestiegen. Japan war Kriegspartner, die alten Tugenden Japans durchaus relevant für den arischen Krieger.

Aber auch innerhalb Japans wurde Budô/Bushidô überhöht. Hoff (1998) umschreibt diesen Sachverhalt wie folgt: „Die Geschichten über Budô, seien sie nun heroisch oder eher anekdotisch, geben solche Ziele vor und sind nicht frei von politisch gewollten Bestimmungen. Die Heldenlieder des frühen Japans dienten nicht zuletzt der Samurai-Klasse dazu, für sich aber vor allem gegenüber den anderen Ständen ein Bild zu entwickeln, das half die Behauptung zu stützen, der erste Stand im Lande zu sein.

In der Meiji-Zeit wurde der Kriegerstand gewissermaßen säkularisiert und es bedurfte neuer, zeitentsprechender Argumentationen. Das alte Verhältnis von Samurai und Lehnsherr war politisch unerwünscht. Um den Zuspruch der Bevölkerung für das neu geschaffene allgemeine Heer – immerhin oder nicht zuletzt – ein Machtinstrument pro Meiji-Tenno und gegen die alte Ordnung unter den Tokugawa, wurde der "Geist des Bushidô" und seine Loyalitätsforderungen nunmehr zu Gunsten des Meiji-Tenno und des großjapanischen Reiches umgedeutet.

Zur Zeit der Militärdiktatur wurden Gedanken und Praxis des Budô für eine Erziehung der Jugend genutzt um Nationalismus und Kriegsbereitschaft zu stärken, ein Umstand, der bekanntlich zum vorübergehenden Verbot des Budô nach dem Zweiten Weltkrieg führte. In verschiedenen Gesprächen mit alten Budôlehrern über ihr Verständnis als Erzieher und Vorbild in der Zeit vor dem Weltkrieg habe ich leider erfahren, dass auch dieser Personenkreis wohl weniger dem eigenen Sinn als dem Strom der Zeit mit den verordneten Sinngebungen gefolgt ist.“ Am bekanntesten sind die Wiedererweckungsideen z. B. durch die Kamikaze-Flieger4 oder Mishima, dem bekanntesten japanischen Schriftsteller, der die alten Tugendkataloge wieder in Kraft setzen wollte.

Nun darf man aber durch den Missbrauch sich nicht verleiten lassen, die Auseinandersetzung mit und Fruchtbarmachung durch Budô gänzlich abzulehnen. Dies wäre deshalb ein Fehler, weil jedes Normensystem dem Missbrauch unterliegen kann. Es gilt nach wie vor ernsthaft zu prüfen, was im Westen sinnvoll übernommen oder zumindest modifiziert übertragen werden kann.

5Dô – der Weg

Einer der entscheidenden Wortbestandteile von Budô ist Dô (). Dô ist der Weg (sinojap.; michi, jap.). Dô ist das zentrale Element des Budô. Bereits Musashi schrieb im Epilog des Buches der Erde: Übe dich unablässig darin, dem Weg zu folgen. "Um den richtigen Weg zu finden, musst du suchen so lange du lebst." So steht es im 1. Buch des Hagakure 5

In der Heian-Periode (794-1185) wurden Experten als "Personen des X-Weges" bezeichnet (___no michi no hito; _の道の人). Erst im Mittelalter kam der Bedeutungswandel, genährt von Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus (Friday & Humitake, 1997, S. 16) auf, wie oben geschildert.

Ursprünglich kommt dô vom chinesischen tao. In Unger (2000) über altchinesische Grundbegriffe heißt es: "Das Wort bedeutet ganz konkret "Weg". Da jeder Weg zu einem Ziele führt, ist die Bedeutung "Weg zu etwas“ = Methode schon präfiguriert. Die Überhöhung des Begriffs, als "Weg schlechthin" ergibt bei den Konfuzianern die Vorstellung "der Rechte Weg". (...). Somit stehen sich in der Chan-kuoh-Zeit das ethische Tao der Konfuzianer und das metaphysische der Taoisten gegenüber. Diese Kontrastierung ist freilich nur einer jener schrecklichen Vereinfachungen. Auch in konfuzianischen Texten gibt es Belege für ein Tao im Sinne eines absoluten Weltprinzips." Der Weg ist daher sozusagen mehrfach philosophisch abgesichert.

Kitayama schreibt 1942 dazu: „Den Japanern wird kein Himmel versprochen, auf ihnen ruht nicht die rettende Hand Gottes, ihnen ist nur ein Weg zugesprochen, den sie mühsam suchen und finden und um dessentwillen sie oft wie ein Mönch allem Irdischen entsagen, oft auch wie ein herrenloser Ritter, der trotz Not und Hunger nie seine Ehre aufgibt, mit Tod und Teufel kämpfen.“

Wie ist der Weg nun bei den Kampfkünsten zu finden? Er erschließt sich keineswegs sofort. Man kann sich das als Phasenaufbau vorstellen (Draeger, 1973):

gyoMan betritt das DôjôMan sieht die Hand.
shugyoSelbstdisziplinMan sieht den Finger
jutsuMan lernt die Technik.Man merkt, dass der Finger auf was zeigt
Man sieht den WegMan merkt, wohin der Finger zeigt

Man sieht also, dass bis zur Stufe des jutsu, der Technik, Kampfsport und Kampfkunst das Gleiche sind. Der Weg offenbart sich erst nach längerem Üben. Erst dann erschließt sich auch das Hinübergleiten von der reinen Technik zur geistigen Auseinandersetzung. Im Japanischen gibt es zwei Begriffe dafür: vom Äußeren (,omote) zum Inneren (奥伝,okuden).

Dies wird auch deutlich bei den Graduierungen (kyu oder dan).

mudanshaohne MeistergradNicht-Schwarz
yudanshatechnische MeistergradeSchwarz, 1.-4. Dan
kodanshahohe, geistige Meistergradeab 5. Dan

Auch die untere Schwarzgurtgruppe wird noch differenziert:

1. DanDer Suchende
2. DanAm Anfang des Weges
3. DanDer Anerkannte Schüler
4. DanDer Technische Experte

In der oberen Schwarzgurtgruppe ist in manchen Budôarten nicht die schwarze Farbe maßgeblich, sondern manchmal die rote.

Die geistige Entwicklung ist dabei ein dreistufiger Weg:

shuDer Geist des Anfängers, Bewahren, Gehorchen
haFormenfreiheit; Hinterfragen und Überschreiten von Formen
riWahrheit, Prinzip, Formenfreiheit

Ein letztes Prinzip, auf das hier hingewiesen werden soll, ist dôkan, der Weg ist ein Kreis. Dies bedeutet, dass man am Ende des Weges dort ist, wo man am Anfang war. Äußeres Kennzeichen dafür ist, dass ein 10. Dan in manchen Budô-Arten wieder einen Weißgurt trägt. Er hat damit Weisheit erlangt und damit die Naivität eines Anfängers.

Abbildung 2: Dôkan – der Weg ist ein Kreis

Damit wird deutlich, was einen Kampfsport von einer Kampfkunst unterscheidet: Im Budô wird seit langer Zeit der geistige Weg in das Gesamtkonzept integriert.

Dies alles bedeutet auch: Budô lernt man nicht in einem Wochenendkurs. Es ist eine lange Auseinandersetzung mit sich selbst. Die Technik wird zum Bindeglied zwischen Geist und Körper (Sasaki, 2009).

6Die Rolle des Meisters

Erst durch den Begriff des dô und der damit angezielten Schulung des Geistigen wird der Begriff des Meisters/der Meisterin mit Inhalt gefüllt (siehe auch den Beitrag von Neumann in diesem Band). Der Begriff Meister wird oft missverstanden. Ein Meister im japanischen Sinne ist ein Begleiter auf dem Weg (). Gibt jemand nur die Technik (jutsu, ) weiter, dann würde der Begriff des Trainers weit besser treffen. Ein Meister ist auf dem gleichen Weg, aber schon weiter. Er (oder sie) kennt die Hindernisse auf diesem Weg.

Dies alles erschließt sich bereits aus der Zerlegung des Kanji dô. Es sind drei Ideographen wie in der folgenden Abbildung zu sehen.

Abbildung 3: Das Schriftzeichen Dô

Hashiru () steht für voranschreiten, sich bewegen, fließen, sich entwickeln, gehen. Kubi () bedeutet Kopf, Haupt, Hals und beinhaltet das Gesicht (men, ).

Die Rolle des Meisters wird allerdings erst später im Leben des Schülers eingenommen. Ein Meister ist für einen Anfänger durchaus nur der Trainer. Wie oben setzt die geistige Entwicklung und Schulung ja erst später ein. Man beginnt immer mit der Technik. So macht man zuerst Kampfsport, später dann Kampfkunst.

Daher ist auch das Verhältnis zwischen Meister und Schüler (deshi) einem Wandel unterworfen: Erst steht die klare Unterweisung. Später wird der ältere Schüler (senpai) durch den Meister nicht mehr direkt unterwiesen. Er wird – heute würde man vielleicht sagen – zum Coach.

Abbildung 4: Rollenwechsel des Meisters (Friday & Humitake, 1997, S. 100)

Insbesondere in dieser zweiten Phase, wenn die Unterweisung abgelöst wird durch das Suchen-helfen, kommt die sog. Beziehung von Herz-zu-Herz (ishin-denshin). Ziel ist es, zu lehren, ohne zu lehren. Dies klingt paradox. Aber wenn man weiß, dass dies ein Gedanke aus dem Zen-Buddhismus ist, dann wird deutlich, was hier gemeint ist. Diese Form des „Unterrichts“ verlangt vom Schüler Beobachtung und Analyse und vom Meister großes Einfühlungsvermögen.

7Ethik

Mit Budô wird häufig auch ein Regelwerk für das alltägliche Verhalten verbunden. Dieses wird angelehnt an die Forderungen an die Bushi, die japanischen Ritter. Viele der Forderungen wurden von Budô-Meistern weitergeführt.

Inshi charakterisierte den bushi (Krieger) wie folgt: „Im Handeln des bushi spiegelt sich die Ordnung der Welt, sie entscheiden darüber, was gut und schlecht, falsch und richtig ist und haben die Aufgabe, danach Belohnung und Strafe zu bestimmen: ohne Prunksucht, ohne auf die Schmeicheleien zu hören und ohne Lob zu begehren, weihen sie ihr Leben dem Land – kokka – , und fördern Loyalität – chu – und befolgen die Gesetze der Kindesliebe – ko. Noch der geringste unter den samurai wird richtig handeln, die Pflicht zum Höchsten erheben und ohne Eigensucht auch in seiner Gesinnung nichts außer Loyalität und Kindesliebe kennen.“ (zit.n. Hirner, 1979, S. 23). Was ist also ein bushi – aus ethischer Sicht betrachtet? Im Werk bushi kokoroe no koto aus dem Jahre 1825 steht: Ein bushi ist, „wer für sich selbst Gut und Böse, Schlecht und Richtig entscheidet“ (zit. n. Hirner, 1979, S. 183).

Fasst man – bei aller Vorsicht – die Tugenden aus unterschiedlichen Quellen zusammen, dann kommt man zu den folgenden sieben Anforderungen:

giRechtschaffenheit
yuCourage, Mut
jinGüte, Milde
reiHöflichkeit
makotoWahrheit, Aufrichtigkeit
meiyoEhre
chiyugiTreue

Schon auf den ersten Blick ist die Herkunft erkennbar, zumindest fällt die Parallele zu den fünf Tugenden im Konfuzianismus auf:

JinGüte, Menschlichkeit etc.
GiGerechtigkeit
ReiSitte, Anstand, Formgefühl usw.
ChiWeisheit, Scharfsinn, Intelligenz
ShinEhrenhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit

8Die Budô-Charta

Was Budô eigentlich soll, wird man am besten diejenigen Meister fragen, die aus dem Kulturkreis stammen. Hoff (1998) leitet die Budô-Charta wie folgt ein: „Am 23. April 1987 wurde die Budô-Charta (Budô Kensho) vorgelegt. Der Text, bestehend aus einer Präambel und sechs Paragraphen, wurde verfasst – so der Wortlaut in der Widmung – um ´die Mitgliedsverbände der Japanischen Budô Vereinigung zu einer angemessenen Entwicklung des Budô zu ermutigen."

PRÄAMBEL

Budô, verwurzelt im Geist der Krieger des alten Japan, ist ein Aspekt seiner traditionellen Kultur, in der sich in einer über Jahrhunderte dauernden historischen und sozialen Entwicklung die Kriegskünste vom "jutsu" zum "dô" entwickelt haben.

Der Grundidee folgend, nach der Geist und Technik eine Einheit sind, wurde Budô zu einer Form entwickelt und verfeinert, in der durch Disziplin, Ernsthaftigkeit, Etikette, Training von Technik und Körperkraft die Einheit von Geist und Körper angestrebt wird.

Das moderne Japan hat diese Werte geerbt und sie spielen eine wesentliche Rolle bei der Bildung des japanischen Persönlichkeitscharakters. Im modernen Japan ist der Budô-Geist eine Quelle mächtiger Energie und trägt zur Befriedigung des Einzelnen bei.

Heute ist Budô in der ganzen Welt verbreitet und genießt internationales Interesse. Vernarrtheit in eine ausschließlich technisch orientierte Ausbildung und ein Gewinnenwollen „um jeden Preis" sind jedoch Beispiele dafür, dass die Essenz von Budô bedroht ist.

Um eine Pervertierung der Kunst zu verhindern, sind wir aufgefordert, uns fortwährend zu prüfen und uns zu bemühen, dieses nationale Erbe zu bewahren und zu vervollkommnen.

In der Hoffnung, dass die grundlegenden Prinzipien des traditionellen Budô erhalten bleiben, wurde diese Budô-Charta verfasst.

ARTIKEL 1: ZWECK

Der Zweck von Budô besteht darin, den Charakter zu kultivieren, die Fähigkeiten zur Beurteilung und Entscheidung zu erweitern und an der physischen und geistigen Ausbildung durch die Kampftechniken teilzunehmen.

ARTIKEL 2: KEIKO

In der täglichen Übung muss man beständig den Regeln des Anstandes folgen, muss den Grundlagen treu bleiben und der Versuchung widerstehen, ein ausschließlich an technischen Fähigkeiten orientiertes Training zu betreiben, anstatt die Einheit von Geist und Technik anzustreben.

ARTIKEL 3: SHIAI

In einem Wettkampf und bei der Ausführung von Kata muss sich der Budô-Geist offenbaren. Strengen Sie sich auf das Äußerste an! Siegen Sie mit Bescheidenheit, nehmen Sie Niederlagen bereitwillig an und zeigen Sie stets eine angemessene Haltung!

ARTIKEL 4: DÔJÔ

Das Dôjô ist ein geheiligter Ort für die Ausbildung unseres Geistes und Körpers. Hier müssen Disziplin, richtige Etikette und Förmlichkeit herrschen. Der Übungsort muss eine ruhige, reine, sichere und ernsthafte Atmosphäre bieten.

ARTIKEL 5: UNTERRICHTEN

Um beim Unterrichten ein wirksamer Lehrer zu sein, muss ein Budô-Meister stets danach streben, den Charakter und die Fähigkeiten seiner SchülerInnen zu kultivieren und die Beherrschung von Geist und Körper zu fördern. Er/Sie sollte durch Gewinnen oder Verlieren nicht wankelmütig werden, keine Arroganz bei überlegener Fähigkeit zeigen, sondern stets eine Haltung zeigen, die als Vorbild geeignet ist.

ARTIKEL 6: VERBREITUNG

Beim Verbreiten von Budô soll man den traditionellen Werten und dem Wesentlichen des Trainings folgen sowie das Äußerste dazu beitragen, um diese traditionellen Künste zu erforschen und zu erhalten, mit einem Verständnis für internationale Sichtweisen.

Hoff (1998) schließt den Abdruck die folgt: „Auch wenn die Präambel und die 6 Artikel der Budô-Charta zweifellos vieles offen lassen und uns in der Formulierung fast naiv erscheinen mögen, so finde ich diesen Text doch in mehrfacher Hinsicht durchaus beachtenswert:

Zum Schluss noch ein bemerkenswerter Satz von Hoff: „Die Budô-Charta, verfasst von der Autorität der Sensei aus vielen Verbänden im Mutterland sollte uns vor allem darum Richtschnur sein, um das Budô von zweifelhaften Sinnzuschreibungen, deren Stärke oft nur aus Ahnungslosigkeit entspringt, freizuhalten. Statt dessen könnte es gelingen in aufrichtiger Weise vom Wissen vieler Generationen für das Leben in der heutigen Zeit zu profitieren um – wie es Prof. Horst Tiwald einmal formulierte – "von einer bloßen Bewegungs-Kultur zu einer humanen Bewegungs-Natur zu gelangen".

Zuletzt sei noch auf das Bubishi verwiesen. Der Artikel 15 des Bubishi6 lautet:

9Literatur

Draeger, D. F. (1973). Classical budo: The martial arts and ways of Japan. Boston: Weatherhill.

Friday, Karl F. mit Seki Humitake, Legacies of the Sword: The Kashima-Shinryû and Samurai Martial Culture, Honolulu, University of Hawaii Press, 1997.

Kitayama, Junyu (1942): West-Östliche Begegnung. Berlin: de Gruyter

Möller, J. (Hrsg.).(1998) Geschichte der Kampfkünste. Landau: Verlag der Universität

Hoff, F. (1998) Über den Sinn des Budô und Bushidô in der heutigen Zeit. In: M.v.Saldern (Hrsg.) Budô in heutiger Zeit. Lüneburg: Verlag der Universität.

Sasaki, T. (2009). Budo (the Martial Arts) as Japanese Culture: The Outlook on the Techniques and the Outlook on the Human Being. In W. J. Cynarski (Hrsg.), Martial arts and combat sports – humanistic outlook (Biblioteka Lykeion, S. 12–19). Rzeszów: Wydawn. Uniwersytetu Rzeszowskiego.

Sonoda, M. (1998) Bushodô und seine geistigen Hintergründe. In: M.v.Saldern (Hrsg.) Budô in heutiger Zeit. Lüneburg: Verlag der Universität.

Unger, U. (2000). Grundbegriffe der altchinesischen Philosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft.

www.budoweb.de


1 ryu (流) heißt Schule, historisch meist gebunden an eine Familie

2 http://www.univie.ac.at/Sinologie/repository/ueS151_ChinSchriftUSprache/hyjc1-15hanzi.pdf

3 abgedruckt in v. Saldern (Hrsg.) Budô in heutiger Zeit. Lüneburg, 1998.

4 Kami-kaze (神風): Götter-Wind

5 'Verborgen im Laub‘; ein Werk des Samurai Yamamoto Tsunetomo (1659-1719). Er gehörte zu den Samurai des Enkels von Nabashima (Nähe Nagasaki). Das Hagakure wurde von Tsuramoto Tashiro nach dessen mündlichen Bericht niedergeschrieben.

6 Dieses Buch zur Vorbereitung für die Kriegskünste (white crane und monk fist quanfa; kempo) kam aus China über Okinawa nach Japan, vermutlich zur etwa gleichen Zeit, in der das Hagakure geschrieben wurde. Beides hat nichts miteinander zu tun. Das inzwischen 200 Jahre alte Bubishi war einst geheim, im chinesischen Fujian Dialekt verfasst und existiert heute in mehreren Fassungen, weil es von Hand abgeschrieben worden war. Eine davon ist von McCarthy 1995 in Englisch publiziert worden. Wie Bubishi nach Okinawa kam, ist weitgehend unklar.

Der Beitrag des Judo zur Erziehung

Jigoro Kano

Der Zweck dieser Zeilen ist, Ihnen in den Hauptzügen zu erklären, was Judo ist.

In unserer Ritterzeit gab es viele militärische Übungen wie Fechten, Bogenschießen, Speerwerfen usw. Unter diesen wird eine Jiu-Jitsu genannt, eine zusammengesetzte Übung, hauptsächlich bestehend aus den Arten des Kampfes ohne Waffen, wobei gelegentlich aber auch Dolche, Schwerter und andere Waffen, benutzt wurden. Die Arten des Angriffs waren meist Werfen, Schlagen, Würgen, Stoßen oder Treten des Gegners, den Gegner niederhalten, Arme oder Beine des Gegners biegen oder verdrehen, um Schmerzen oder Bruch zu verursachen. Der Gebrauch von Schwertern und Dolchen wurde auch gelehrt. Wir hatten auch zahlreiche Wege, uns gegen solche Angriffe zu wehren. Diese Übungen in einfachster Form bestanden sogar in unserem mythologischen Zeitalter. Aber die systematische Unterweisung, als eine Kunst, reicht erst ungefähr 350 Jahre zurück.

In meiner Jugend studierte ich diese Kunst bei drei hervorragenden Meistern dieser Zeit. Der größte Nutzen stammte von diesem Studium, es lehrte mich mit dem Gegenstand ernsthafter umzugehen und 1882 eröffnete ich eine eigene Schule, die ich Kodokan nannte. Kodokan bedeutet "Schule zum Studium des Wegs". Die wirkliche Bedeutung des "Wegs" ist der Begriff des Lebens. Ich nannte den Gegenstand, den ich lehrte "Judo" statt "Jiu-Jitsu". Zuerst will ich Ihnen die Bedeutung dieser Worte erklären. "Jiu" bedeutet sanft oder nachgeben, "Jitsu" Kunst oder Kunstgriff, und "do" Weg oder Grundsatz; so bedeutet "Jiu-Jitsu", eine Kunst erst nachzugeben, um schließlich den Sieg zu erringen; während Judo den Weg oder Grundsatz desselben bedeutet.

Lassen Sie mich nun erklären, was mit dieser Sanftheit oder dem Nachgeben wirklich gemeint ist. Nehmen wir an, wir messen die Stärke eines Mannes mit Einheiten von eins. Zum Beispiel wird die Stärke eines vor mir stehenden Manns von 10 Einheiten dargestellt, während meine Stärke, die geringer ist, nur 7 Einheiten darstellt. Wenn er mich nun mit seiner ganzen Kraft stößt, werde ich natürlich zurückgestoßen oder hingeworfen, auch wenn ich meine ganze Kraft gegen ihn nutze. Dies würde geschehen, obgleich ich meine ganze Kraft gegen ihn wenden würde, Kraft gegen Kraft gemessen. Aber, wenn ich, anstatt mich ihm entgegenzustellen, nachgebe und meinen Körper gerade soviel zurückziehe, wie er mich gestoßen hat und dabei das Gleichgewicht halte, dann würde er sich natürlich vorwärts eigen und dabei sein Gleichgewicht verlieren.

In dieser neuen Stellung wird er so schwach (nicht in wirklicher physischer Stärke, sondern angesichts seiner ungeschickten Stellung), dass seine Stärke in diesem Augenblick nur 3 Einheiten darstellt statt seiner normalen 10 Einheiten. Während dessen erlange ich, immer Gleichgewicht haltend, meine volle Kraft wieder, die ursprünglich 7 Einheiten darstellte. Hierdurch bin ich augenblicklich in einer günstigen Lage, und ich kann meinen Gegner mit nur halber Kraft schlagen, das ist die Hälfte von 7 oder 3 1/2 gegen 3. Dies lässt die Hälfte meiner Kraft für andere Zwecke verfügbar. Falls ich größere Kraft als mein Gegner hätte, könnte ich ihn natürlich zurückstoßen. Aber auch in diesem Falle, wenn ich ihn zurückstoßen wollte und auch die Kraft dazu hätte, würde ich, um mit meiner Energie besser Haus zu halten, zuerst nachgegeben haben.

Dies ist ein einfaches Beispiel dafür, wie ein Gegner durch Nachgeben geschlagen werden kann. Andere Beispiele mögen folgen.

Angenommen mein Gegner versucht, meinen Körper zu drehen in der Absicht mich zu Fall zu bringen. Würde ich ihm widerstehen, würde ich bestimmt zu Boden geworfen werden, weil meine Kraft nicht ausreicht, ihm Widerstand zu leisten. Aber wenn ich andererseits ihm Raum gebe und meinen Gegner noch ziehe, kann ich ihn sehr leicht absichtlich werfen, besonders wenn ich dabei zu Boden gehe.

Ich will noch ein anderes Beispiel geben. Angenommen wir gehen einen Bergpfad entlang, an einer Seite ein Abgrund und dieser Mann springt plötzlich auf mich zu und versucht, mich in den Abgrund zu stürzen. In diesem Falle könnte ich es nicht verhindern, in den Abgrund geworfen zu werden, auch wenn ich es versuchte ihm zu widerstehen, während im Gegenteil, wenn ich ihm nachgebe, im selben Augenblick meinen Körper wende und meinen Gegner zum Abgrund ziehe, ich ihn so leicht über den Rand werfen und zur selben Zeit meinen Körper auf dem Boden in Sicherheit bringen kann.

Ich kann noch beliebig viele Beispiele anführen, aber ich denke, die, die ich gegeben habe, genügen, damit Sie verstehen, wie ich einen Gegner durch Nachgeben besiegen kann, und da gibt es so viele Beispiele im Jiu Jitsu-Kampf, in welchem dieser Grundsatz angewendet ist, und weswegen der Name Jiu-Jitsu (das ist sanft oder nachgeben) zum Namen dieser ganzen Kunst geworden ist.

Aber, genau gesprochen, das wirkliche Jiu-Jitsu ist etwas mehr. Die Wege, den Sieg über einen Gegner durch Jiu-Jitsu zu erringen, sind nicht darauf beschränkt, den Sieg durch Nachgeben zu erringen. Manchmal schlagen, stoßen und würgen wir auch im körperlichen Kampf, aber im Gegensatz zum Nachgeben sind dies verschiedene Formen von positivem Angriff. Manchmal hält der Gegner das Handgelenk fest. Wie kann man sich freimachen, ohne seine Kraft gegen des Gegners Griff anzuwenden? Dasselbe kann man sagen, wenn jemand einen Gegner vom Rücken aus angreift. Wenn also der Grundsatz des Nachgebens nicht alle Kniffe des Jiu-Jitsu-Kampfes erklären kann, gibt es dann überhaupt einen Grundsatz, der wirklich das ganze Feld deckt? Ja, den gibt es, das ist der Grundsatz des möglichst wirksamen Gebrauchs von Geist und Körper und Jiu-Jitsu ist nichts anderes als die Anwendung dieses alles durchdringenden Grundsatzes anzugreifen und zu verteidigen.

Kann dieser Grundsatz auch auf anderen Gebieten menschlichen Wirkens angewandt werden? Ja, denselben Grundsatz kann man anwenden zur Vervollkommnung des menschlichen Körpers, um ihn kräftig, gesund und nützlich zu machen, hiernach zu handeln bedeutet die körperliche Erziehung. Er kann auch angewandt werden zur Vervollkommnung der intellektuellen und moralischen Kraft und bedeutet dann die geistige und moralische Erziehung. Er kann ebenso angewandt werden zur Vervollkommnung von Kost, Kleidung, Wohnung, gesellschaftlichen Verkehr und Geschäftsgebaren und bedeutet Studium und Übung auf den Wegen des Lebens. Ich gab diesem alles durchdringenden Grundsatz den Namen "Judo". So ist Judo im weiten Sinne ein Studium und eine Übungsmethode für Geist und Körper wie auch für die Vorschriften des Lebens und Geschäfts.

Daher kann Judo in einer von diesen Formen studiert und geübt werden mit Angriff und Verteidigung als Hauptziel. Bevor ich den Kodokan eröffnete, wurden diese Angriffs- und Verteidigungsformen studiert und geübt nur unter dem Namen Jiu-Jitsu, verschiedentlich auch genannt Taijutsu, das bedeutet, die Kunst den Körper zu handhaben oder Yawara, die sanfte Handhabung. Aber ich kam zu der Einsicht, dass das Studium dieses alles durchdringenden Grundsatzes wichtiger ist als das bloße Üben des Jiu-Jitsu, weil das richtige Verstehen dieses Grundsatzes uns nicht nur befähigt, ihn in allen Lebenslagen anzuwenden, sondern auch große Dienste leistet beim Studium der Kunst des Jiu-Jitsu selbst.

Man kann diesen Grundsatz nicht nur so erfassen, wie ich es tat. Man kann zu demselben Schluss kommen durch philosophische Betrachtungen der täglichen Geschehnisse oder durch abstrakte philosophische Ergründung. Aber als ich anfing zu lehren, hielt ich es für ratsam, demselben Verlauf zu folgen, den ich beim Studium dieser Sache nahm, denn dadurch konnte ich den Körper meiner Schüler gesund, kräftig und nützlich machen. Gleichzeitig konnte ich Ihnen helfen, diesen überaus wichtigen Grundsatz zu begreifen.

Aus diesem Grund begann ich die Unterweisung im Judo mit Übungen in Randori und Kata. Randori bedeutet freie Übung und wird unter den Bedingungen des wirklichen Kampfes gehandhabt. Es umfasst Stoßen, Würgen, den Gegner niederhalten und Arme oder Beine biegen und verdrehen. Die zwei Kämpfenden können jeden beliebigen Kniff anwenden, jedoch vorsichtig, um sich gegenseitig nicht zu verletzen, und müssen den Regeln des Judo betreffend Höflichkeitsformen gehorchen. Kata, was wörtlich Form bedeutet, ist ein regelmäßiges System von vorbereiteten Übungen, wie Stoßen, Schlagen, Werfen, Stechen usw., nach Regeln, so dass jeder Kämpfer vorher genau weiß, was sein Gegner tun wird. Das Üben von Stoßen, Schlagen, Werfen und Stechen wird in Kata gelehrt und nicht in Randori, denn würden sie in Randori angewandt, könnte leicht ein Unfall entstehen, während in Kata nicht so leicht Unfälle entstehen können, weil alle Angriffe und Abwehren vorbereitet sind.