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»Die Stimme eines Kindes,

egal wie ehrlich und aufrichtig,

ist bedeutungslos für jene,

die verlernt haben zuzuhören.«

(Joanne K. Rowling)

Gewidmet meinem Großvater Georg,

dem wie keinem anderen,

trotz Krieg und Entbehrungen,

Kegans Idee

der natürlichen Therapie innewohnte.

Bedanken möchte ich mich herzlichst bei allen an der Studie beteiligten Jugendlichen und deren Familien. Des Weiteren gilt mein besonderer Dank meinen Kolleginnen und Kollegen der Tagesklinik Jugend am MRI, namentlich Frau Peukert, für die hilfreichen Tipps und für das Korrekturlesen.

In besonderer Weise fühle ich mich Frau Dr. Richter-Benedikt vom CIP München zu Dank verpflichtet. Frau Dr. Richter-Benedikt hat das Konzept der Strategischen Jugendlichentherapie (SJT) entwickelt und in einer ersten Studie evaluiert. Sie hat unserem Team ihre Therapieunterlagen großzügig zur Verfügung gestellt und uns in vielen Supervisionsstunden in die SJT eingeführt.

Darüber hinaus gilt mein besonderer Dank den Professoren Herrn Dr. Dr. Serge K. D. Sulz, Herrn Dr. Hans-Ludwig Schmidt und Herrn Dr. Carl Heese, die jeweils auf ihre eigene Art dazu beigetragen haben, dass diese Evaluationsstudie in die Realität umgesetzt werden konnte.

INHALTSVERZEICHNIS

Tabellenverzeichnis

Tab. 1.1:Temperamentsmerkmale von einfachen und schwierigen Kindern

Tab. 2.1:Zugehörigkeits-, Autonomie- und Homöostasebedürfnisse

Tab. 2.2:Therapieabschnitte SJT im teilstationären Setting und Ziele

Tab. 4.1:Vergleich Therapiegruppe und unbehandelte Kontrollgruppe

Tab. 4.2:Intelligenzniveau, Schulform und Schulabsentismus

Tab. 4.3:Hauptdiagnosen, Komorbidität, psychosoziale Belastungsfaktoren

Tab. 4.4:Item-Fragen zur Hauptskala »Internalisierende Auffälligkeiten«

Tab. 4.5:Item-Fragen zu FSAL, FSAP, FSSW und FSVE

Tab. 4.6:Gegenüberstellung VDS27-J und VDS24-J

Tab. 4.7:Gegenüberstellung VDS28-J und VDS29-J

Tab. 4.8:Umgangsformen zur Bedürfnis-, Angst- und Wutregulation

Tab. 4.9:VDS30-J »Meine Persönlichkeit« mit Beispiel-Items

Tab. 4.10: Interpretation der Skalenwerte des FBB

Tab. 5.1:Ergebnisse der Wirksamkeitsüberprüfung (YSR, Selbstbeurteilung)

Tab. 5.2:Ergebnisse der Wirksamkeitsüberprüfung (CBCL, Fremdbeurteilung)

Tab. 5.3:Ergebnisse der Wirksamkeitsüberprüfung Warte- vs. Interventionsbedingung

Tab. 5.4:Zusammenfassung YSR und CBCL zu »Internalisierende Auffälligkeiten«

Tab. 5.5:Zusammenfassung YSR und CBCL zu »Gesamtauffälligkeiten«

Tab. 5.6:ILK-KJ: Bereich der Lebensqualität

Tab. 5.7:ILK-E: Bereiche der Lebensqualität

Tab. 5.8:ILK-KJ und ILK-E Einzelvergleiche zur Lebensqualität

Tab. 5.9:Differenzberechnung Wartezeit- vs. Interventionsbedingung

Tab. 5.10: Einzelvergleiche: FSAL, FSAP und FSSW

Tab 5.11:Effektstärken zu »Internalisierende Auffälligkeiten« und »Gesamtauffälligkeiten«

Tab. 5.12: Effektstärken zur Lebensqualität

Tab. 5.13: Effektstärken zu Selbstkonzeptskalen

Tab. 5.14: Ergebnisqualität aus drei Beurteilungsperspektiven (Patient, Eltern, Therapeut)

Tab. 5.15: Prozessqualität aus drei Beurteilungsperspektiven (Patient, Eltern, Therapeut)

Tab. 5.16: Gesamtbeurteilung Behandlungszufriedenheit (Selbst-, Eltern-, Therapeutenurteil)

Tab. 5.17: Ergebnisse der Persönlichkeitsskalen VDS30-J (Selbsturteil) zu Messzeitpunkt t2

Tab. 5.18: Persönlichkeitsprofil der Stichprobe

Tab. 5.19: Mittelwertsvergleiche im Umgang mit Bedürfnissen

Tab. 5.20: Mittelwertsvergleiche im Umgang mit Angst- und Wuttendenzen

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1.1:Einflussfaktoren auf das Bindungsverhalten

Abb. 1.2:Affektiv-kognitives Modell sozialer Informationsverarbeitung

Abb. 1.3:Das Streben nach einer balancierten Ich-Identität

Abb. 2.1:Die Spirale der Gleichgewichtsstufen

Abb. 2.2:Zentrale Aspekte der affektiv-kognitiven Entwicklungstheorie, I

Abb. 2.3:Zentrale Aspekte der affektiv-kognitiven Entwicklungstheorie, II

Abb. 2.4:Zusammenspiel Reaktionskette und Überlebensregel

Abb. 2.5:Drei Säulen des Therapieprozesses

Abb. 2.6:Arbeitsmodule der SBT

Abb. 2.7:Therapiebausteine der SJT im teilstationären Setting

Abb. 2.8:Roadmap von Michael, 15 Jahre, Agoraphobie mit Panikstörung

Abb. 2.9:Schöne und Schattenseiten meiner Familie, Maria, 14 Jahre, Depression

Abb. 2.10: Vogelperspektive Wochenrückblick und Selbsteinschätzung

Abb. 2.11: Kognitiv-reflexive Erarbeitung der Überlebensregel

Abb. 2.12: Korrigierende Lernerfahrungen durch erlebnisorientierte Übungen

Abb. 2.13: Körperbildzeichnungen von Christoph vor und nach Achtsamkeitstraining

Abb. 3.1:Jugendbezogenes Stressmodell

Abb. 3.2:Belastungs-Bewältigungs-Modell nach Hurrelmann

Abb. 3.3:Jugendliche im Spannungsfeld ihrer Entwicklung

Abb. 3.4:Risikofaktoren für Schulverweigerung

Abb. 4.1:Untersuchungsdesign

Abb. 4.2:Messinstrumente zur Datenerhebung (Selbst- und Fremdbeurteilung)

Abb. 5.1:Vergleich RCI zwischen Elternurteil und Selbstbeurteilung

Abb. 5.2:Verlaufstrend »Internalisierende Auffälligkeiten« für CBCL und YSR

Abb. 5.3:Verlaufstrend »Gesamtauffälligkeiten« für CBCL und YSR

Abb. 5.4:Verlaufstrend Subskalen: Einschätzung kindliche Belastung

Abb. 5.5:Wahrgenommene Lebensqualität über die Messzeitpunkte hinweg

Abb. 5.6:Verlaufstrend zur Einschätzung der Lebensqualität

Abb. 5.7:Differenzwerte für Leistungsfähigkeit und Selbstwertschätzung

Abb. 5.8:Differenzwerte für Skala Problembewältigung

Abb. 5.9:Vergleich internalisierende Beeinträchtigung zwischen Selbst- und Elternurteil

Abb. 5.10: Trendverlauf für »Internalisierende Auffälligkeiten« (YSR und CBCL)

Abb. 5.11: Trendverlauf »Gesamtauffälligkeiten« (YSR und CBCL)

Abb. 5.12: Trendverlauf für die Skala »Lebensqualität« (ILK-KJ und ILK-E)

Abb. 5.13: Trendverlauf für Selbstkonzeptskalen

Abb. 5.14: Wichtigkeit der zwischenmenschlichen Bedürfnisse

Abb. 5.15: Vergleich Frustration Zugehörigkeitsbedürfnisse

Abb. 5.16: Vergleich Frustration Autonomiebedürfnisse

Abb. 5.17: Vergleich Frustration Homöostasebedürfnisse

Abb. 5.18: Gegenüberstellung Angst- und Wuttendenzen

Zusammenfassung

Fragestellung: Die Evaluationsstudie überprüft die Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen im teilstationären Setting bei Jugendlichen, deren gesellschaftliche Teilhabe aufgrund internalisierender psychischer Störungen in Kombination mit schulvermeidendem Verhalten massiv gefährdet ist. Hierfür wird das psychotherapeutische Verfahren Strategische Jugendlichentherapie (SJT) hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und gesundheitspädagogischen Relevanz überprüft.

Theoretischer Hintergrund: Die Strategische Jugendlichentherapie (SJT) stellt die Adaption der Strategisch-Behavioralen Therapie (SBT) ins Jugendalter dar und kann im Sinne Grawes »Psychologischer Therapie« als ganzheitlicher und integrativer Therapieansatz verstanden werden – mit einem allgemeinen Erklärungsmodell psychischer Störungen und einem störungsübergreifenden therapeutischen Ansatz.

Methodik: Die Evaluationsstudie wurde als quasi-experimentelle Studie unter Verwendung eines Wartelistendesigns mit Eigenkontrollgruppe (Mindestwartezeit von 42 Tagen) konzipiert. Die Stichprobengröße umfasste 37 Jugendliche (25 Mädchen, 12 Jungen) bei einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von 60 Tagen. Zur Wirksamkeitsüberprüfung hinsichtlich der Symptomreduktion, Verbesserung der Lebensqualität und des Selbstkonzepts (nur Jugendliche) sowie der Behandlungszufriedenheit und Akzeptanz wurden zwei Beurteilungsquellen herangezogen: Elternurteil (CBCL, ILK, FBB) und Selbsturteil (YSR, ILK, FSKN, FBB, PATHEV, VDS-J).

Ergebnisse: Es ergeben sich sehr hohe Effektstärken in der Symptomreduktion (internalisierende Auffälligkeiten: Selbsturteil: g = 1.73; Elternurteil: g = 1.70) und bei der Verbesserung der Lebensqualität (Selbsturteil: g = -1.32; Elternurteil: g = -.95, dabei bedeuten die negativen Effektstärken einen Zugewinn an Lebensqualität). Bei drei der vier geprüften Selbstkonzeptskalen konnten signifikante Verbesserungen mit hohen Effektstärken erreicht werden (Leistungsfähigkeit: g = -1.10; Problembewältigung: g = -.92; Selbstwertschätzung: g = -.99; negative Effektstärken bedeuten eine Verbesserung). Die Beurteilung der Behandlung und damit die Zufriedenheit bilden sich folgendermaßen ab: Elternurteil »mäßig« = 10.8 Prozent, »gut« = 64.8 Prozent, »sehr gut« = 24.3 Prozent; Selbsturteil »mäßig« = 8.1 Prozent, »gut« = 81.0 Prozent, »sehr gut« = 10.8 Prozent. Bei der 6-Montats-Katamnese zeigten 62.1 Prozent der Jugendlichen einen regelmäßigen, 27.0 Prozent erneut einen unregelmäßigen Schulbesuch und 10.8 Prozent der Jugendlichen verweigerten den Schulbesuch vollständig.

Schlussfolgerung: Die sehr hohen Effektstärken sowie die überwiegend gute bis sehr gute Behandlungszufriedenheit liefern deutliche Hinweise für die praktische Bedeutsamkeit der Strategischen Jugendlichentherapie und deren gesundheitspädagogische Relevanz.

Einleitung

»Wenn die gesellschaftliche Positionierung bereits im Jugendalter zu scheitern droht!« Dieser Satz klingt beängstigend und ist nicht nur für die betroffenen Jugendlichen und deren Familien bedrohlich, sondern auch für jedes Gesundheitssystem. Warum das so ist, wird der Verlauf dieser Dissertation zeigen. Aber zunächst einmal, was ist mit der gesellschaftlichen Positionierung gemeint? Ganz allgemein umschreibt der Ausdruck den Platz, den ein Heranwachsender mit zunehmendem Autonomiegewinn in der Gesellschaft einnimmt. Diese »Platzeinnahme« ist individuell, sozial und beruflich.

Für die individuelle Positionierung werden vom Heranwachsenden wichtige Entwicklungsschritte abverlangt. Die beziehen sich natürlich vordergründig auf die Herauslösung aus dem familiären Verbund und dem stetigen Zuwachs an Eigenständigkeit sowie Selbstbestimmung. Damit diese Entwicklungsaufgabe so gut wie möglich gemeistert werden kann, bedarf es einerseits eines förderlichen familiären Umfeldes (hierbei ist ein hohes Maß an Bedürfnisbefriedigung sowie Angst- und Aggressionsfreiheit innerhalb der Familie von Relevanz) und andererseits Bewältigungsstrategien, die sich zum einen aus der biologischen Reifung ergeben (von der Fremd- zur Selbstregulation) und zum anderen im sozialen Interaktionsprozess (Selbstwirksamkeit und Selbstachtung) erworben werden. Diese Erfahrungen schlagen sich in motivationalen Schemata und in der individuellen sozialen Informationsverarbeitung nieder. Im Umkehrschluss haben diese Schemata und Informationsverarbeitungsprozesse Einfluss auf emotionale Prozesse und die Stimmung des Heranwachsenden. Die Variablen bedingen sich also gegenseitig. Gesundheitspädagogisch können sie als Moderatoren und Mediatoren verstanden werden und sind beispielsweise ausschlaggebend dafür, inwieweit Stress zur Entwicklung von psychischen Störungen führt.

Die soziale Positionierung verlangt vom Heranwachsenden, sich in der Gruppe der Gleichaltrigen zu behaupten, aber auch sich in diese zu integrieren. Gleichaltrige werden im Jugendalter zur »einbindenden Kultur« und gewinnen damit an besonderer Bedeutung. Sie sind der soziale Ort, mit dem Jugendliche ganz automatisch verschmelzen, da es ihnen ermöglicht wird, hier ihre Rollen und damit ihre Identität zu erproben. Der Aushandlungsprozess, sich in der Gruppe der Gleichaltrigen zu behaupten, sich in diese zu integrieren und sich gleichzeitig durch zunehmende Selbstbestimmung von der Familie abzulösen, prägt über Rückmeldungen und Zuschreibungen ihre persönliche und soziale Identität (Krappmann, 1969). Für die soziale Positionierung müssen beide Identitätsanteile balanciert in den Interaktionsprozess eingebracht werden. Diese soziale »Platzeinnahme« gelingt nicht, wenn der Heranwachsende stets seinen persönlichen Interessen folgt, aber ebenso wenig, wenn er nur die sozialen Erwartungen erfüllt, ohne die eigenen persönlichen Bedürfnisse mit zu berücksichtigen.

Die berufliche Positionierung setzt eine produktive Verarbeitung der inneren und äußeren Realität voraus. Über außerfamiliäre Sozialisationsinstanzen wie Schule, Ausbildungsstätten, Gleichaltrige und Medien werden Motivations- und Kompetenzstrukturen gefördert, die das Nachrücken des Heranwachsenden in die Erwachsenenposition innerhalb der Gesellschaft bestmöglich gewährleisten. Damit die berufliche »Platzeinnahme« gelingt, sind ein erfolgreicher Schulabschluss und der Übergang von der Schule zur Ausbildung von entscheidender Bedeutung. Schulvermeidendes Verhalten ist somit als bedeutsamer Risikofaktor anzusehen und gefährdet die berufliche Positionierung des Heranwachsenden.

Die Gefahr, dass die gesellschaftliche Positionierung bereits im Jugendalter zu scheitern droht, kann folglich entweder die individuelle, soziale und/oder berufliche Teilhabe betreffen.

Warum ist die Gefahr der gesellschaftlichen Positionierung als Thema für die Gesundheitspädagogik relevant? Ein modernes gesundheitliches Versorgungssystem stützt sich auf die Grundpfeiler Gesundheitsförderung, Prävention, Therapie, Rehabilitation und Pflege (Hurrelmann et al. 2010; Wulfhorst, 2002). Die Gegenstandsbestimmung der Gesundheitspädagogik leiten Wulfhorst und Hurrelmann (2009) aus den Konzepten Gesundheit und Erziehung ab und schreiben dazu:

»Gesundheitserziehung ist die Gesamtheit der gezielten Interventionen, die über die Beeinflussung des individuellen Verhaltens des Menschen zur Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung seiner Gesundheit beitragen, die Verantwortung für die eigene Gesundheit festigen und einen Menschen befähigen, aktiv an der Gestaltung der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt teilzuhaben« (S. 14).

In dieser Evaluationsstudie werden Interventionen zur Gesundheitsförderung bei Jugendlichen mit internalisierenden Störungen und schulvermeidendem Verhalten überprüft. Bei der Stichprobe handelt es sich also um Jugendliche, die eine solch schwerwiegende psychische Beeinträchtigung aufweisen, dass die im Text beschriebene gesellschaftliche Positionierung – und damit die Teilhabe an der Gesellschaft – massiv gefährdet ist.

Die Evaluationsstudie überprüft dabei ein Therapiekonzept für Jugendliche, das darauf abzielt, die Symptomatik der Heranwachsenden zu reduzieren und ihre Lebensqualität zu verbessern, sodass die Wahrscheinlichkeit einer gelingenden gesellschaftlichen Teilhabe für die Jugendlichen erhöht wird.

Kapitel 1

Entwicklungspsychologische Perspektive

Wie man den roten Faden durch ein Kapitel spannt, das den Namen entwicklungspsychologische Perspektive trägt, mag durch die Fülle an wissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Komplexität fast schon aussichtslos sein. Denn sehr schnell werden mit dieser Kapitelüberschrift verschiedene Assoziationen geweckt. Das Ziel ist daher, zentrale entwicklungspsychologische Annahmen mit Relevanz für die pädagogische und psychotherapeutische Arbeit mit Jugendlichen aufzuzeigen.

Die Darstellung der entwicklungspsychologischen Perspektive wird dabei von der Grundannahme geleitet, dass sich Entwicklung in einem Selbstorganisationsprozess auf biologischer, individueller, zwischenmenschlicher und makrosozialer Ebene mit zunehmender Komplexität vollzieht (Mattejat, 2008). Kurz gesagt beschreibt die Entwicklung des Heranwachsenden einen Prozess von der Fremdregulation hin zur Selbstregulation, der evolutionär determiniert ist und sich über neurobiologische Reifung manifestiert.

Eine weitere Grundannahme, die in dieser Arbeit vertreten wird, ist die, dass Bindung als das Fundament für eine positive Entwicklung angesehen wird, da eine tragfähige, sichere Bindung einen förderlichen Charakter für die weiteren Entwicklungsschritte und insbesondere für die Emotionsregulation hat. Ferner spielt die kognitive Reifung auf dem Weg zur Selbstregulation eine bedeutsame Rolle.

Als ein weiterer zentraler Schlüssel für die Handlungsregulation gilt die Emotionsregulation. Die Emotionsregulation wirkt sich auf die Stressregulation, Selbstregulation, Selbstkontrolle und den damit zusammenhängenden Aufmerksamkeitsprozessen und letztlich auf die Mentalisierungsfähigkeit bzw. auf das metakognitive Denken aus. Auch die Emotionsregulation beschreibt im Reifungsprozess einen Übergang von fremd- zu selbstreguliert. Das Jugendalter als Lebensphase ist gekennzeichnet durch einen Zuwachs an Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, aber auch an emotionaler Verletzlichkeit. Ohne diese Entwicklungsphase auf ein einzelnes Thema zu reduzieren, ist die Frage nach dem »Wer bin ich?« eines der zentralen Themen im Jugendalter. Die Frage zielt nicht nur auf die biologischen, sozialen oder interaktionellen Veränderungen, sondern auch auf das bis dahin entstandene Selbst- und Weltbild ab. Diese werden nämlich in ihren Grundfesten erschüttert. Deswegen wird am Ende des Kapitels die Frage nach dem Identitätsentwurf ausführlich diskutiert.

1.1 Bindung als zentrale Variable für den Entwicklungsverlauf

Auf die Fragen, wie heranwachsende Kinder in Beziehung zu zentralen Bezugspersonen treten, ihre Umwelt begreifen und zu anderen Menschen Kontakt aufbauen, intensivieren und pflegen, versucht die Bindungstheorie Antworten zu finden (Gloger-Tippelt, Vetter & Rauh, 2000). Entwicklung besteht aus der Dialektik von Bindung und Exploration.

1.1.1 Zentrale Einflussfaktoren auf das Bindungsverhalten

Nach Brisch (2009) verbindet die Bindungstheorie ethologisches mit entwicklungspsychologischem, systemischem und psychoanalytischem Denken. Mutter und Säugling bilden ein selbstregulierendes System, das sich wechselseitig bedingt. Bindung ist als ein das gesamte menschliche Dasein überspannendes Konstrukt zu verstehen. Zentrale Einflussfaktoren der Bindungstheorie sind die mütterliche Feinfühligkeit, die daraus resultierende Bindungsqualität und die sich entwickelnden inneren Arbeitsmodelle. Die inneren Arbeitsmodelle wiederum beeinflussen die Wechselwirkung zwischen Bindungssystem und Explorationssystem. Mit zunehmendem Alter des Kindes nimmt die Sensitivität gegenüber den Erfahrungen mit den Bezugspersonen ab, während sich die inneren Arbeitsmodelle stabilisieren und in Bindungsrepräsentationen münden (Zimmermann et al., 2001). Die Abbildung 1.1 zeigt die verschiedenen Einflussfaktoren, die auf das Bindungsverhalten einwirken.

Abbildung 1.1: Einflussfaktoren auf das Bindungsverhalten (Petermann et al., 2004, S. 196)

Die Bindungstheorie geht von einem Bindungsverhaltenssystem aus, das bei Bedarf aktiviert wird und Bindungsverhalten auslöst, um Nähe zur Bezugsperson herzustellen. Das Bindungsverhaltenssystem wird dann aktiviert, wenn das Kind sich in einer Gefahrensituation befindet oder die Erreichbarkeit der Bezugsperson nicht länger garantiert ist, sowie bei Hunger oder Müdigkeit. Ist dieses Sicherheitsgefühl erneut hergestellt, so wird das Bindungssystem deaktiviert und das Kind wendet sich anderen Aktivitäten zu. Hazan und Shaver (1994) nennen drei charakteristische Merkmale von Bindung (vgl. Schmidt & Strauß 1996, S. 140f.):

Die Qualität und Organisation des Bindungsverhaltenssystems ist individuell unterschiedlich und durch die Vorerfahrung mit der jeweiligen Bezugsperson und deren Qualität, Bedürfnisse zu befriedigen, verknüpft (Zimmerman et al., 2001). Mit feinfühligem Verhalten ist gemeint, dass die Bezugsperson imstande ist, die Signale des Kindes richtig wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren und angemessen und prompt zu befriedigen. Aus dem Grad des feinfühligen Verhaltens der Mutter entsteht die Qualität der Bindung zwischen Mutter und Säugling, die sich im Laufe des ersten Lebensjahres entwickelt (Brisch, 2009) und bis zum Ende des dritten Lebensjahres unmittelbar aktivierbar bleibt (Grossmann & Grossmann, 2003). Bindung definieren Schmidt und Strauß (1996) als einen »emotionalen Kern gefühlter Sicherheit und wahrgenommenen Schutzes vor Gefahr in Gegenwart der Bindungsperson« (S. 141). Brisch betont, dass Feinfühligkeit sich von Verwöhnung und Überbehütung dadurch unterscheidet, dass »feinfühlige Eltern ihr Kind in seiner zunehmenden Selbständigkeit und seiner wachsenden Kommunikationsfähigkeit fördern« (Brisch, 2009, S. 47). Mangelndes feinfühliges Verhalten zeigt sich entweder darin, dass die Bezugsperson nicht auf den Wunsch des Kindes nach Nähe eingehen kann oder die Erreichbarkeit der Mutter für das Kind nicht vorhersehbar ist (Schmidt & Strauß, 1996).

Aus den Erfahrungen mit den Bezugspersonen hinsichtlich der Regulation eigener Bedürfnisse nach Sicherheit und Exploration, dem Einfühlungsvermögen, der Reaktivität der jeweiligen Bezugsperson, der vermittelten Sicherheit und ihrer Verfügbarkeit entstehen innere Arbeitsmodelle (inner working models) (Bowlby). Seiffge-Krenke (2009) definiert diese als »kognitive Schemata, in denen Erwartungen bezüglich des Verhaltens einer bestimmten Person gegenüber dem Selbst gespeichert sind. Diese Erwartungen sind Abstraktionen, die auf wiederholten Interaktionen mit dieser Person basieren« (S. 59). Innere Arbeitsmodelle variieren von Bezugsperson zu Bezugsperson. Daraus entsteht eine Hierarchie der Bindungspersonen bezogen auf die Regulation des Bindungsbedürfnisses. Innere Arbeitsmodelle sind zunächst flexibel, werden durch die tägliche Interaktion geprägt und im weiteren Verlauf zunehmend stabiler (Brisch, 2009). Erst ab dem Alter von ca. fünf Jahren bildet sich ein überdauerndes inneres Muster hinsichtlich der Verfügbarkeit und dem Ausmaß an Regulationshilfen im Umgang mit negativen Gefühlen. Die Veränderbarkeit der inneren Arbeitsmodelle nimmt dann kontinuierlich ab, dennoch ist die Bindungsorganisation durch die elterliche emotionale Verfügbarkeit auch im Jugendalter noch wesentlich beeinflussbar (Zimmermann et al., 2001).

Die inneren Arbeitsmodelle und späteren Bindungsrepräsentanzen entstehen aus dem »Wechselspiel« zwischen Bindung und Exploration. Damit dieser dialektische Prozess so erfolgreich wie möglich verläuft, bedarf es neben der bereits beschriebenen (mütterlichen) Feinfühligkeit einer weiteren Komponente, und zwar der sozialen Rückversicherung (social referencing) von Emde und Sorce (1983), die vor allem für das Explorationsverhalten von Bedeutung ist. Die soziale Rückversicherung bezieht sich darauf, dass das Kind in der Exploration bei der Mutter nach Hinweisen sucht, ob diese die Situation als sicher oder gefährlich einschätzt. Je nach Reaktion der Mutter (lächeln und freundlich ermuntern oder ängstlicher Gesichtsausdruck) veranlasst dies das Kind zur weiteren Erkundung oder zum Rückzug. Hartmann und Lohmann (2004) sehen in der sozialen Rückversicherung eine wesentliche affektregulierende Wirkung, die wiederum zu einer angemessenen Entwicklung der Selbstregulation und intentionaler Vorgänge (wie Wirksamkeit, Kompetenz und Urheberschaft) beitragen kann. Bischof-Köhler (2011) betont dagegen, dass der etwa neunmonatige Säugling noch nicht imstande ist, die Signale der Mutter dahingehend zu interpretieren, was diese von der Situation hält. Vielmehr wirken an dieser Stelle zwei »Kräfte«. Entweder wird a) das biologische Sicherheitssystem des Kindes aktiviert, wenn es von einem unvorhergesehenen Ereignis verunsichert wird, oder b) das Kind reagiert mit Gefühlsansteckung durch die emotionale Bewertung der Mutter (zum Beispiel wenn diese Ängstlichkeit ausdrückt). Somit lernt das Kind »aus dem Ausdrucksverhalten der Bezugsperson über Gefühlsansteckung, was emotional von einer bestimmten Sache oder Situation zu halten ist« (Bischof-Köhler, 2011, S. 249).

Eine weitere Einflussgröße, die die Interaktion zwischen Mutter und Säugling maßgeblich beeinflusst, ist das Temperament. Seiffge-Krenke (2009) bezieht sich auf Steinhausen (2000) und unterscheidet Temperamentsmerkmale von »einfachen« und »schwierigen« Kindern.

Tabelle 1.1: Temperamentsmerkmale von Kindern (Seiffge-Krenke, 2009, S. 79)

Temperamentsmerkmale von »einfachen« und »schwierigen« Kindern

Temperamentsmerkmal

bei einfachen Kindern

bei schwierigen Kindern

Allgemeine Stimmungslage

fröhlich, lächelnd, positiv

traurig, weinend, negativ

Regelmäßigkeit biologischer Funktionen

regelmäßig

unregelmäßig

Reaktion auf neue Situationen

Annäherung

Rückzug

Anpassung an neue Situationen

schnell

langsam

Intensität der Reaktion

mäßig

ausgeprägt

Spätere Verhaltensprobleme

selten

häufig

Temperament umfasst nach Rothbart und Bates (1998) a) Reagibilität, bestehend aus der Valenz (Aufforderungscharakter), Intensität und der Schwelle für affektive Reaktionen auf Stimuli; b) Aktivität/Antrieb, die sich auf die individuelle Reaktionsschnelligkeit bezüglich eines Stimulus beziehen und c) vegetative Reaktionsmuster (zum Beispiel kardiale und elektrodermale Reaktivität). Hinsichtlich der Beschreibung der Temperamentsdimensionen gibt es unterschiedliche Beschreibungen. Hohe Übereinstimmungen herrschen bei den Dimensionen »approach« (Annäherung) und »inhibition« (Hemmung). Mit Annäherung werden Eigenschaften wie positive Affektivität, Extraversion, Reizsuche und Neugierverhalten assoziiert. Mit Hemmung sind Eigenschaften umschrieben wie negative Affektivität, Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Neigung zu leiden und in Verzweiflung zu geraten, Depressivität, Introversion und Verhaltenshemmung. Die beiden Temperamentsdimensionen gehen auf das basale Motivationssystem von Gray et al. (1983) zurück. Es besteht aus einem Verhaltensaktivierungssystem (»behavioral activation system«, BAS) und einem Verhaltenshemmungssystem (»behavioral inhibition system«, BIS) (Herpertz et al., 2008, S. 209). Nach Herpertz et al. (2008) beeinflussen sich Temperament und Bindungsqualität gegenseitig: »Genetische bzw. angeborene Reaktionsmuster nehmen Einfluss auf die Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt, die ihrerseits zu einer Verstärkung oder Abschwächung initialer Prädispositionen führen kann« (S. 216). Somit können sich bestimmte Temperamentsmerkmale in Wechselwirkung mit der sozialen Umwelt fördernd oder hemmend auf die psychische Entwicklung des Kindes auswirken. Die Autoren betonen, dass zum Beispiel ängstlich-vermeidendes Verhalten seitens des Kindes überprotektives Verhalten bei den Eltern leichter auslöst, während das Erziehungsverhalten von irritierbaren, motorisch unruhigen Kindern stark kontrollierend, reglementiert und wenig durch Lob gekennzeichnet ist.

1.1.2 Bindungstheorie und ihre empirische Verankerung

Durch die Forschungsarbeiten von Ainsworth und Mitarbeiter (1978) fand die Bindungstheorie ihre empirische Verankerung. Mithilfe der »Fremde Situation« als halbstandardisiertes Beobachtungsverfahren konnte die Bindungsqualität von Kleinkindern im Alter von 11 bis 20 Monaten empirisch überprüft werden (Brisch, 2009). Während Ainsworth zunächst drei Bindungsstile deklarierte (sicher, unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent gebunden), identifizierte Main (1991) einen weiteren Bindungsstil, den desorganisierten/desorientierten (Schmidt & Strauss, 1996). Sicher gebundene Kinder (Bindungstyp B) reagieren bei der Trennung von der Mutter beunruhigt (Weinen, Protest), wenden sich bei der Rückkehr der Mutter zu und holen sich von ihr Trost. Nach Abklingen des Stresserlebens (Sicherheitsgefühl wurde hergestellt), zeigen sie erneut exploratives Verhalten. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder (Bindungstyp A) sind weniger stark beunruhigt beim Weggang der Mutter und vermeiden Nähe und Kontakt bei deren Rückkehr. Einer fremden Person verhalten sie sich nicht anders als gegenüber der Mutter. Bindungsgefühle werden unterdrückt, die Exploration der Umwelt fokussiert. Kinder mit unsicher-ambivalenten Verhaltensmustern (Bindungstyp C) sind während der Trennung sehr verängstigt und lassen sich bei Rückkehr von der Mutter nur langsam beruhigen. Charakteristisch ist dabei, dass sie zwischen der Suche nach Nähe und einer aggressiven Ablehnung des Kontaktes oszillieren. Kinder mit desorganisierten/desorientierten Verhaltensmustern (Bindungstyp D) sind in ihren Handlungen widersprüchlich, zeigen unterbrochene oder stereotype Bewegungen sowie eine fraktionierte Kommunikation. Es wird angenommen, dass die Gefahrenquelle von der Bezugsperson selbst ausgeht (Brisch, 2009; Schmidt & Strauss, 1996; Seiffge-Krenke, 2009).

Seiffge-Krenke (2009) stellt die drei von Ainsworth identifizierten Bindungsstile der mütterlichen Feinfühligkeit gegenüber:

Schmidt & Strauss (1996, S. 143f.) fassen in ihrem Artikel zur Relevanz der Bindungstheorie für die Psychotherapie Ergebnisse verschiedener Studien zusammen, die sich mit Korrelaten von Bindungsstilen beschäftigen. So beziehen sich die Autoren auf Mates et al. (1978), die nachweisen konnten, dass Kindergartenkinder mit einem sicheren Bindungsstil autonomer und selbstbewusster waren als unsicher gebundene Kinder. Nach Renken et al. (1989) sind unsicher-vermeidend gebundene Vorschulkinder aggressiver, unsicher-ambivalente Kinder dagegen passiv und zurückgeozogen. Erickson et al. (1985) fanden heraus, dass unsicher-vermeidend gebundene Kinder nicht nur aggressiver, sondern auch passiv zurückgezogener sind und dass unsicher-ambivalent gebundene Kinder ein erhöhtes Fehlen von Selbstvertrauen und Handlungsbereitschaft zeigen. Nach Ainsworth (1978) und Grossmann et al. (1985, 1989) zeigen Säuglinge mit feinfühligen Müttern weniger Ärgerausdruck, weniger Ängstlichkeit und Aggressivität und neigen zu einer differenzierteren Kommunikation. Thompson (2008) stellt ebenfalls fest, dass sicher gebundene Kinder über eine bessere Emotionsregulation verfügen als unsicher gebundene Kinder und dass dies Konsequenzen für die weitere Entwicklung hat. Sicher gebundene Kinder greifen auf konstruktive Copingstrategien zurück und verfügen deshalb auch über bessere Kompetenzen im Umgang mit Gleichaltrigen.

Während man den Bindungsstil von Kleinkindern mit der »Fremde Situation« empirisch zu erfassen versucht, liegt die Aufmerksamkeit im Jugend- und Erwachsenenalter nicht mehr auf dem Bindungsverhalten, sondern auf den Bindungsrepräsentationen, um Aussagen über die Bindungsqualität zu treffen (George, Kaplan & Main, 1985). Sie werden als »die mentale Organisation der eigenen Bindungsgeschichte« verstanden (Zimmerman et al. 2001, S. 102).

Orientiert an den Bindungsrepräsentanzen für Erwachsene fasst Seiffge-Krenke (2009, S. 75f.) die Bindung im Jugendalter folgendermaßen zusammen: Bei Jugendlichen mit sicheren Bindungsmustern herrscht ein Gleichgewicht zwischen Bindung und Exploration, sie sind autonom, haben hohes Vertrauen in die Eltern und können Konflikte konstruktiv lösen. Sie sind fähig negative und positive Erfahrungen mit ihren Eltern zu einem kohärenten Bild zu verbinden. Dagegen weisen Jugendliche mit einem unsicherdistanzierten Bindungsmuster einerseits wenig Autonomiestreben und geringe Verbundenheit mit den Eltern auf, andererseits idealisieren sie ihre Eltern und geben sich in Beziehungen vermeintlich unabhängig (als spiele Bindung keine Rolle). Es fällt ihnen schwer, negative Affekte bei sich und anderen wahrzunehmen. Jugendliche mit unsicher-verwickelten Bindungsmustern zeigen wenig Autonomiestreben gegenüber den Eltern und verspüren zugleich sehr viel Ärger den Eltern gegenüber, ihr Bindungsbedürfnis bleibt stets aktiviert und wird nicht gesättigt. In eigenen Paarbeziehungen zeigen sie anhängliches und ängstliches Verhalten (»anxious love«).

1.1.3 Bedeutsamkeit mütterlicher Affektspiegelung für die kindliche Emotionsregulation

Müttern mit autonomen Bindungsrepräsentanzen gelingt es leichter, die Emotionen und Motive ihrer Kinder zu differenzieren und damit angemessen auf die Bedürfnisäußerungen zu reagieren. Mit der Folge, dass sich dadurch die Wahrscheinlichkeit einer sicheren Bindung erhöht. Mit ihrem feinfühligen Verhalten verhelfen sie dem Kind, widerstreitende Emotionen Schritt für Schritt in das eigene Selbst zu integrieren. Sicher gebundene Kinder machen die Erfahrung, Angst, Wut oder Autonomiewünsche offen ausdrücken zu können, ohne von der Mutter zurückgewiesen zu werden (Strauss & Schmidt 1997). Hier greifen zwei aus der Objektpsychologie bekannte Wirkfaktoren: Winnicotts (1971) Konzept der Spiegelung und Bions (1962) Konzept des Containments.

»Eine sichere Bezugsperson kann Trost spenden, indem sie die seelische Verfassung des Kindes exakt spiegelt und dies mit einem Gesichtsausdruck verbindet, der nicht zu dem des Kindes passt. Das Kind ›versteht‹ nun den Unterschied zwischen den Emotionen seiner Mutter und seinen eigenen Gefühlen von Angst und Kummer« (Seiffge-Krenke, 2009, S. 81).

Fonagy und Target (2006) betonen, dass der entscheidende Unterschied zwischen Müttern mit autonomen Bindungsrepräsentanzen und Müttern mit unsicheren Bindungsrepräsentanzen darin liegt, dass es ihnen am besten gelingt, sich in die Motivlage des Kindes hineinzuversetzen. Sie sehen das Kind als Person, mit eigenen Ideen, Gefühlen und Wünschen, was wiederum zu einem feinfühligen Verhalten führt. Den möglichen Schlüssel für die transgenerationale Weitergabe von Bindungsmustern findet Fonagy (2003a, b) in Mary Mains (1991) Überlegungen zur metakognitiven Steuerung. Mütter mit autonomen Bindungsrepräsentanzen sind in der Lage, »über die unmittelbare Erfahrungsrealität hinauszugehen und den Unterschied zwischen der unmittelbaren Erfahrung und dem zugrundeliegenden mentalen Befinden zu begreifen« (Fonagy 2003a, S. 55). Die primäre Bezugsperson ist also imstande, die Ursache der kindlichen Verstörung nachzuvollziehen und gleichzeitig seinen affektiven Zustand zu verstehen. Durch diesen hohen Grad an Selbstreflexivität können diese Mütter, die unbearbeiteten Gefühle des Kindes modulieren und seine Intention bestätigen.

Das bestätigen auch Köhlers (1992) Überlegungen (Strauss & Schmidt, 1997, S. 5f.). Er weist darauf hin, dass Kinder, deren Mütter ein unsicher-distanziertes Bindungsmuster aufweisen, meist einen unsicher-vermeidenden Bindungsstil haben. Aufgrund von Zurückweisung ihres Bindungsverhaltens (Suche nach Nähe) bleibt dieses frustriert und damit ständig aktiviert. Durch die Frustration wendet das Kind seine Aufmerksamkeit von der Mutter ab und vermeidet Situationen, die das Bindungssystem aktivieren. Die Intimität wird zugunsten der Autonomie geopfert. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder machen somit die Erfahrung, dass ihre eigene emotionale Erregung von der primären Bezugsperson nicht aufgefangen werden kann. In der Folge überregulieren sie Gefühle und vermeiden emotional erregende Situationen (Seiffge-Krenke, 2009).

Mütter mit beziehungsüberbewertenden Bindungsmustern treten ihren eigenen Kindern, die meist unsicher-ambivalent gebunden sind, gegenüber überaufmerksam auf. Diese Überaufmerksamkeit ist jedoch Ausdruck der eigenen Unsicherheit und Angst. Sie führt zu Fehlinterpretationen des kindlichen Verhaltens und damit zu Fehlreaktionen. Durch die eigene Unsicherheit gelingt es der Mutter nicht, die Angst des Kindes zu reduzieren. Ein weiteres Problem besteht darin, dass diese Mütter »ihre Kinder zur Aufrechterhaltung ihres eigenen narzisstischen Gleichgewichts meist an sich binden und dass somit eine Ablösung kaum möglich ist« (Strauss & Schmidt, 1997, S. 5). Unsicher-ambivalent gebundene Kinder opfern die Autonomie zugunsten der Intimität. Sie untersteuern Emotionen, da Situationen sehr schnell als bedrohlich erlebt werden (Seiffge-Krenke, 2009).

Nach Fonagy (2009) sorgt Bindung dafür, »dass die für die soziale Kognition zuständigen Hirnprozesse angemessen organisiert und darauf vorbereitet werden, das Individuum für die kollaborative und kooperative Existenz mit anderen auszurüsten« (S. 91). Durch die sozialen Interaktionen mit den Bezugspersonen bilden sich sozial-kognitive Fähigkeiten aus. Des Weiteren entwickelt das heranwachsende Kind im engen Umgang mit anteilnehmenden Eltern bzw. Bezugspersonen soziale Intelligenz und Bedeutungserzeugung. Mit den beiden Begrifflichkeiten umschreibt Fonagy (2009) die Fähigkeit menschliches Verhalten zu interpretieren. Fonagys zentrale Annahme ist, dass sichere Bindung diese Entwicklungsprozesse zum einen fördert und zugleich beschleunigt. Die Fähigkeit, menschliches Verhalten zu interpretieren, bezeichnet Fonagy als »interpersonale Interpretationsfunktion« (IIF). Die IIF sieht Fonagy als das evolutionspsychologische Ergebnis und neurobiologische Fundament, aus dem die Fähigkeit zur Selbstregulation erwächst. Die Selbstregulation ist verwoben mit der Fähigkeit zur Mentalisierung, die wiederum mit der Bindungsbeziehung und damit einhergehenden Reifung des sozialen Gehirns zusammenhängt. Die Mentalisierungsfähigkeit ist eine wichtige Komponente für Selbststeuerung und Selbstregulation (Fonagy, 2009). Die Grundpfeiler für die Mentalisierungsfähigkeit liegen in der Bindungsqualität.

Für die Entwicklung einer sicheren Bindung sind die Faktoren Feinfühligkeit, soziale Rückversicherung, Containment/Affektregulation und die metakognitiven Fähigkeiten der Bezugspersonen wichtig. Die Feinfühligkeit der Bezugspersonen und deren Reaktionsweisen hinsichtlich der kindlichen Rückversicherung sind elementare Wirkfaktoren für eine gelingende Entwicklung. Geißler (2004) sieht die frühe Affektregulation als Meilenstein für das spätere Gelingen bzw. Misslingen selbstregulativer Fähigkeiten an, während Panksepp (2004) in den kognitiven Erfahrungen und dem sozialen Feedback, das der Säugling vermittelt bekommt, wenn er emotional erregt ist, die Weichenstellung zu verschiedenen Entwicklungspfaden sieht.

1.1.4 Bindung systemisch betrachtet: Züricher Modell sozialer Motivation

Bischof (2009) findet einen systemtheoretischen Zugang zum Bindungsmodell, das er mit dem Züricher Modell sozialer Motivation differenziert beschreibt. Generell unterteilt Bischof den Bindungsbegriff in primäre, sekundäre und tertiäre Bindung. Die primäre Bindung bezieht sich auf die von Bowlby verstandene Bindung des Kindes an die Mutter bzw. an die primäre Bezugsperson. Die sekundäre Bindung bezieht sich auf den Geschlechtspartner und reift in der Adoleszenz heran. Die tertiäre Bindung entwickelt sich aus der eigenen Nachkommenschaft. Die tertiäre ist zur primären Bindung komplementär. Während die primäre Bindung das Bindungsbedürfnis aus Sicht des Kindes beschreibt, stellt die tertiäre Bindung das Bindungsbedürfnis aus Elternsicht dar.

Das Züricher Modell der sozialen Motivation erfasst das Bindungsverhalten mit den Motivsystemen Sicherheit, Erregung und Autonomie. Diese drei »Antriebsmuster« beeinflussen das Verhalten des Menschen von Geburt an (Kuhl & Völker, 1998, S. 211). Kuhl und Völker heben das Züricher Modell sozialer Motivation für die Persönlichkeitsentwicklung hervor. Prägende Erfahrungen sammelt der Säugling bzw. das Kleinkind zunächst im emotionalen Austausch mit dem Ziel, Grundbedürfnisse wie Sicherheit und Wärme oder vitale Bedürfnisse zu befriedigen. Diese gesammelten Erfahrungen schlagen sich im impliziten Gedächtnis nieder. Verläuft die interaktive Regulation von Grundbedürfnissen und Emotionen maladaptiv, führt das zu einer erhöhten negativen Emotionalität und Sensitivität für negative Emotionen und kann nach Grawe (2004) als »Grundlage einer späteren Tendenz zur intrapsychischen Dysregulation« (S. 353) gesehen werden. Über den Regulationsverlauf werden implizite motivationale Schemata gebildet, die auf das Verhalten und Erleben des Menschen großen Einfluss nehmen und unbewusst ablaufen.

Ausgangspunkt im Züricher Modell sozialer Motivation ist die Regulation der Sicherheit. In der Systemtheorie unterscheidet man beim Regulationsprozess zwischen einem Sollwert und einem Istwert. Der Sollwert legt, vereinfacht ausgedrückt, stets fest, wie viel von etwas gebraucht wird (zum Beispiel das Bedürfnis nach Sicherheit). Der Istwert markiert den Zustand, wie sehr das, was gebraucht wird, vorhanden ist. Dabei wird stets versucht ein Gleichgewicht zwischen Ist- und Sollwert herzustellen (Homöostase-Prinzip). Das Gefühl der Sicherheit ist die erste Regelgröße. Deren Generierung hängt von mehreren Variablen ab. Zunächst wird das Ausmaß an Sicherheit durch die Nähe bzw. Distanz zum Bindungsobjekt bestimmt. Das Objekt wird dann zum Bindungsobjekt, wenn ein gewisses Maß an Vertrautheit vorherrscht. Nach Bischof-Köhler (2010) tritt sozial gerichtetes Lächeln nach etwa sechs Wochen auf, das zunächst nicht selektiv, sondern auf den Typus Mensch gerichtet ist. Vertraute und Fremde lösen beim Säugling gleichermaßen ein Lächeln aus. Mit drei bis vier Monaten fängt der Säugling an, zu unterscheiden, und lächelt selektiv vertraute Personen an. Lächeln im Regelkreis Sicherheit bedeutet erfüllte Sicherheitsappetenz – der Istwert entspricht dem Sollwert, der »Sicherheitstank« ist damit voll.

Nähe und Vertrautheit stellen in diesem Motivsystem die sogenannten Detektoren dar. Eine weitere Variable, die den Ausprägungsgrad des Sicherheitsgefühls beeinflusst, ist die Abhängigkeit. Alle Variablen haben eine regulative Funktion, sie können also stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Aus diesem Zusammenspiel resultieren gewisse Ist- und Sollwerte hinsichtlich des Sicherheitsgefühls. Je nach Verhältnis der einzelnen Variablen zueinander entstehen zwei mögliche Reaktionsweisen: Geringe Vertrautheit, geringe Nähe und erhöhte Abhängigkeit führen zu Appetenz nach Sicherheit, das heißt, Nähe wird durch reale oder symbolische Annäherung geschaffen (zum Beispiel wenn das Kleinkind sich in die Richtung der Bezugsperson bewegt, Übergangsobjekte dagegen dienen als symbolische Annäherung). Erhöhte Vertrautheit, erhöhte Nähe und geringe Abhängigkeit führen zu Aversion – einem Überdruss an Sicherheit. Dieser Überdruss wird durch das Schaffen von Distanz gemindert und damit reguliert. Somit wird im Züricher Modell der sozialen Motivation der Bindungswunsch nicht als gleichbleibende Größe verstanden, sondern als sich verändernde Variable. Das Bindungsbedürfnis, Bischof (2009) nennt es eine »durch die familiäre Nestwärme erzeugte Sicherheit« (S. 420), weist eine Toleranzgröße auf, die zu Überdruss führen kann (zum Beispiel wenn der pubertierende Jugendliche dem Vater aus dem Weg geht).

Das zweite Motivsystem in Bischofs Ansatz ist das der Erregung. Das Motivsystem Erregung soll zur Erklärung von Phänomenen wie soziale Neugier und Fremdenfurcht verwendet werden. Das Erregungssystem ist entwicklungsbedingt zunächst beim Säugling nur zum Teil funktionstüchtig. In den ersten Monaten wäre die Emotion »Furcht« kontraproduktiv, denn für den Säugling ist zunächst auch die Mutter als primäre Bezugsperson neu und unvertraut. Er muss erst lernen, zwischen vertrauter und fremder Person zu unterscheiden. Mit dem Auftreten der Fremdenangst (Spitz, 1972) und der sozialen Rückversicherung hat sich in diesem Alter die Bindung zu Bezugspersonen etabliert (Bischof-Köhler, 2010).

Die Regelgröße Erregung (arousal) wird neben dem jeweiligen Ausprägungsgrad der beiden Detektoren Nähe und Vertrautheit von einer weiteren Variablen beeinflusst, der Unternehmungslust. Der Grad an Erregung ist das Produkt aus dem Ausprägungsgrad Nähe und Vertrautheit in Verbindung mit Annäherung an Fremde. Das Zusammenspiel der Erregung mit der Variablen Unternehmungslust führt wiederum zu zwei verschiedenen Reaktionsmodi. Ist der Ausprägungsgrad an Erregung niedrig und die Unternehmungslust höher, führt dies zu explorativem Verhalten (Appetenz); ist die Erregung höher als die Unternehmungslust, entsteht Furcht (Aversion), es kommt also zur Flucht.