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„Gar nichts tun ist die allerschwierigste Beschäftigung
und zugleich diejenige, die am meisten Geist voraussetzt.“

Oscar Wilde

„Es gibt nichts Gutes außer man tut es.“

Erich Kästner

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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© 2015 Burghard Andresen

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7392-9314-1

Inhalt

  1. Geschichte, Ziele, Prämissen und Kontroversen der explorativen Faktorenanalyse von Persönlichkeitsvariablen
  2. Methodik der explorativen Faktorenanalyse: Extraktion und Faktorenzahl, Rotation und Einfachstruktur
  3. Zur Auswahl von Variablen und Personen in der faktorenanalytischen Persönlichkeitsforschung
  4. Dynamisch gegensätzliche affektzentrierte und interpersonelle Faktoren im Kontext von emotionaler Valenz und sozialer Evaluation
  5. Die Persönlichkeitsdimensionen „Intellekt“ und „Offenheit für Erfahrungen“
  6. Eine explorative Primärfaktoren-Analyse auf der Basis von 14 Persönlichkeitsinventaren

Vorwort

Das vorliegende Buch zum „Mythos Big Five“ ist – unschwer schon an der Titelwahl erkennbar – auf einen Kurs der forcierten Infragestellung des heute noch führenden Fünf-Faktoren-Modells (FFM) der Persönlichkeit ausgerichtet. Diese kritische Orientierung nimmt vor allem den Kernbereich der explorativen faktorenanalytischen Persönlichkeitsforschung in den Fokus – und dieses in der gesamten thematischen Breite dieses Gebietes. Diese reicht von den theoretischen Grundlagen über die methodischen Zugänge bis hin zu den empirischen Ergebnissen und den darauf aufbauenden Strukturmodellen. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob die „Big Five“ unterdimensioniert sind, bzw. welche wahrscheinlichen Merkmalsbereiche durch das FFM nicht ausreichend erfasst und integriert sind. In diesem Zusammenhang wird die Frage aufgeworfen, ob die Fixierung auf die hypothetische Domänenebene der Persönlichkeitsfaktoren und das zugehörige ebenen-hierarchische Modell der Persönlichkeit wohlbegründet sind.

Es wird jedoch nicht versucht, die besonderen geschichtlichen Entwicklungsstränge des Fünf-Faktoren-Modells in einem eigenen Kapitel wohlfundiert und erschöpfend darzustellen. Für die heute über 50jährige Geschichte der Big-Five-Forschung gibt es schon mehrere frühere und rezentere „interne“ Darstellungen (u.a. John, Angleitner & Ostendorf, 1988; Digman, 1990; McCrae & John, 1992; Goldberg, 1993; John & Srivastava, 1999; John, Naumann & Soto, 2008)1, die allerdings überwiegend die nötige neutrale und kritische Distanz zum eigenen Modellansatz vermissen lassen.

Das Big-Five-Modell ist trotz zahlreicher kritischer Auseinandersetzungen und Infragestellungen – und obwohl es über fünf Dekaden nach seiner empirischen Fundierung als übergreifendes Strukturkonzept durch Tupes und Christal (1958) und Norman (1963) „in die Jahre gekommen“ ist – am „Markt“ der Persönlichkeitspsychologie klar dominant geblieben, auch in den weit verzweigten Anwendungsbereichen dieses Faches. Einige Forscher sprechen kritisch von einer anhaltenden, fachlich unzureichend begründeten Hegemonie dieses Modells (u.a. Norem, 2010).

Seit einigen Jahren beobachtet man allerdings auch, wie sogar prominente ehemalige Vertreter des Fünf-Faktoren-Modells (De Raad & Barelds, 2008; Saucier, 2009) mehr als fünf Faktoren als angeblich gültigere Domänenmodelle der Persönlichkeitsorganisation vertreten, wobei diese Alternativen aus kulturspezifischen oder interkulturellen Studien abgeleitet wurden. Diese Autoren reihen sich ein in eine Gruppe von teilweise deutlich früheren alternativen Modellen mit sechs bis acht Domänen noch ohne expliziten Bezug zum Fünf-Faktoren-Modell (Pawlik, 1968; Comrey, 1970; Cattell, 1973) sowie eine andere Gruppe nicht lexikalisch begründeter Modelle der späten 1990er Jahre mit ebenfalls sechs bis acht Faktoren (Andresen, 1995, 2000; Jackson et al., 1996; Cloninger et al., 1999). Diese alternativen Modelle sind allerdings durch eine stark ausgeprägte Diversifikation ihrer dimensionalen Strukturen und ggf. neuen Faktoren gekennzeichnet. Eine klare Strukturkonvergenz der Alternativmodelle ist also zurzeit nicht erkennbar.

Diese mangelnde Übereinstimmung bzw. Heterogenität der konkurrierenden dimensionalen Modelle sowie anderer „Beyond-Big-Five“-Ansätze (z.B. Paunonen, 2002) stärkt natürlich das naheliegende Gegenargument, es sei vielleicht trotz nachvollziehbarer Kritik am FFM pragmatisch sinnvoller, an diesem etablierten Rahmen festzuhalten.

Dieses pragmatische Stabilitäts-Argument lässt allerdings unberücksichtigt, das seit geraumer Zeit der strukturelle „Bezugsanker“ FFM auch von innen her stark gelockert wurde. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe alternativer Big-Five-Modellen, die inhaltlich und strukturell nicht ausreichend kompatibel sind, teilweise sogar extreme Strukturabweichungen aufweisen (u.a. Hofer & Eber, 2002; Hendriks, Hofstee & De Raad, 2002; Zuckerman, 2002). So stimmen z.B. die Faktoren und Skalen zum fünften Faktor inhaltlich und korrelativ nicht überein, verschiedene Autoren sehen in diesem Faktor eine „Intellekt“-, eine „Autonomie“- oder eine „Offenheits“-Komponente. Große Unterschiede der inhaltlichen „Füllung“ des FFM-„Labels“ bestehen auch für die Dimension „Verträglichkeit“.

Mit den eigenen empirischen Analysen und strukturellen Vorschlägen für eine Überwindung der Big Five begebe ich mich selbst in diese insgesamt sehr unübersichtliche Gemengelage. Dabei wird der bisherige dimensionale Rahmen von fünf bis acht Faktoren klar überschritten. Dieses ist strukturlogisch auch insofern plausibel, als eine Integration der Big Five und der Alternativkonzepte nur durch deutliche dimensionale Erweiterungen möglich erscheint. Dieses impliziert zudem die forcierte Infragestellung verschiedener eigenschaftstheoretischer Bereichseingrenzungen der Persönlichkeit und der bisherigen, empirisch unzureichend geprüften und gesicherten Vorstellungen über die Hierarchisierung der Persönlichkeitsdimensionen in Primär-, Sekundär- und Tertiärfaktoren nach Cattell (1973). In diesem Zusammenhang wird auch starke Kritik an dem aktuellen methodischen Stand der Faktorenzahl-Entscheidung geübt.

Das vorliegende Buch wurde nach langjähriger klinischer sowie Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Hamburg nach meinem Übergang in den Ruhestand im Spätherbst 2011 begonnen und jetzt nach über drei Jahren abgeschlossen. Während meiner klinischen und akademischen Berufstätigkeit war ich hauptsächlich mit diversen Themen aus den Arbeitsgebieten der Psychophysiologie, klinischen Neuropsychologie, klinischen und ökologischen Psychiatrie sowie der klinisch-psychologischen Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen beschäftigt. Seit meiner Diplomarbeit am Psychologischen Institut in Hamburg Anfang der 70er Jahre hat jedoch die Persönlichkeitspsychologie im Allgemeinen und die faktorenanalytische Persönlichkeitsforschung im Besonderen immer eine wichtige Rolle in meiner beruflichen Zeit gespielt. Über den langen Zeitraum von 45 Jahren bin ich diesem Arbeitsgebiet aktiv forschend verbunden geblieben, hierin auch geprägt von der frühen Zusammenarbeit mit meinen akademischen Lehrern Manfred Amelang, Dietrich Bartussek und Kurt Pawlik am Hamburger Psychologischen Institut.

Das Buch fasst wichtige methodische und theoretische Überlegungen sowie empirische Erfahrungen aus der gesamten Zeit meiner akademischen Tätigkeit zusammen, die empirischen Beträge stammen jedoch in der Erhebungszeit aus den letzten beiden Jahrzehnten. In dieser Zeit lag mein Hauptaugenmerk auf der Fünf-Faktoren-Theorie, die regelmäßig im Widerspruch zu den zahlreichen eigenen faktorenanalytischen Ergebnissen stand.

Rein zahlenmäßig ist der Forschungszweig der faktorenanalytische Persönlichkeitsforschung so völlig überladen mit Einzelarbeiten, Büchern und Testverfahren, dass ein umfassendes Review dieses Gebietes und seiner diversen Verzweigungen in speziellere Teilgebiete bei realistischem Aufwand an Zeit, Energie und Umfang eigentlich kaum noch möglich ist. Der Ansatz meines Buches beruht auf einer sehr umfangreichen Sichtung von Arbeiten, erhebt jedoch nicht den Anspruch, alle grundsätzlich relevanten, publizierten Arbeiten quasi buchhalterisch vollständig einbezogen zu haben. Diese notgedrungene Selektivität im Zugriff wird in der Regel bei der Aufführung von Referenzen im Text durch ein „u.a.“ oder „z.B.“ signalisiert.

Die Durcharbeitung der Publikationsberge entlang des „Trampelpfades“ der faktorenanalytischen Persönlichkeitsforschung – und im Besonderen der Big-Five-Forschung – war mühevoll und teilweise hochgradig frustrierend. Nicht zuletzt wegen der großen zeitlichen Länge dieses Pfades wurde mir auch der etwas zynisch anmutende, sinngemäße Spruch eines (inzwischen wahrscheinlich auch schon verstorbenen) Kollegen von der „psychology of the graveyards“ schmerzlich bewusst. Mehrere der häufig zitierten Kollegen weilen nicht mehr unter uns und können sich gegen meine teilweise vielleicht etwas respektlose und auch mitunter schonungslose Kritik nicht mehr zur Wehr setzen. Deshalb sollte auch die eigene Kritik an dieser Stelle im Hinblick auf die über mehrere Dekaden erfolgten Erkenntnisfortschritte im eigenen Fachgebiet pauschal abgemildert werden. Man wusste oder konnte es wohl in mancherlei Hinsicht einfach nicht besser vor ca. 30, 40 oder 50 Jahren, oder in noch weiter zurückliegenden Zeiten. Und diese Einschätzung gilt wohlgemerkt auch für die Fehler und Irrwege, die ich selbst vor längerer Zeit begangen und beschritten habe, z.B. die eigene Fixierung auf die zu selbstverständlich akzeptierte Domänenebene der Persönlichkeit.

Vielleicht nimmt der kritische Langzeitbeobachter jedes Forschungsgebietes dessen Fehlentwicklung und Erstarrung rückblickend wie durch ein Mikroskop vergröbert wahr. Aber möglicherweise ist die faktorenanalytische Persönlichkeitsforschung auch tatsächlich ein ganz besonderes "Feld der Ehre" in der Psychologie, auf dem durch uneingestanden egozentrisch überhöhte und zugleich dogmatisch verfestigte Ansprüche und Haltungen mehr als anderswo das "Wahre, Höchste und Letzte" auf dem Spiel zu stehen schien. Anders lässt sich kaum der langjährige "zähe Stellungskrieg" seinerzeit führender faktorenanalytischer Persönlichkeitsforscher (u.a. Eysenck, Cattell, Guilford) erklären, bei dem es ganz offensichtlich nicht um die kooperative, faire, dabei aber auch kämpferisch-engagierte Bestimmung konsensfähiger, kumulativer Erkenntnisfortschritte ging, sondern eher um nahezu paranoid gehütete Postulate und Dogmen, die einer unabhängigen kritischen Überprüfung nicht standhalten. Solche zähen eigenschaftstheoretischen Dispute und „Stellungskriege“ fanden allerdings auch deutlich später noch innerhalb der nachfolgenden Forschergenerationen statt (u.a. Block, Becker, Borkenau, Comrey, Costa, De Raad, Digman, Goldberg, Hofstee, John, McCrae, Paunonen, Pervin, Saucier, Wiggins).

Wie schon angedeutet: Am Big-Five-Standardmodell haben sich prominente Kritiker schon „heftig“ über drei Jahrzehnte „abgearbeitet“ (z.B. Block, 1995, 2001, 2010), ohne dass eine durchschlagende Wirkung auf dessen anhaltende Popularität zu erkennen wäre. Hier stellt sich mir die Frage, ob es überhaupt nach den bisherigen Erfahrungen mit Modellreformen und „wissenschaftlichen Revolutionen“ (i.S. von Kuhn, 1962) in der Psychologie realistisch erscheint, über den Weg der empirisch-methodischen Falsifikations-Strategie eine finale Überwindung und konsequente Zurückstellung eines m.E. überholten Modells zu erreichen.

Und es stellt sich entsprechend die persönliche Frage, ob es sich „lohnt“, einen empirisch gestützten und forciert erweiternden Alternativvorschlag für die Dimensionierung der Persönlichkeit zu machen. Angesichts des besagten „Trampelpfades“, mehr noch der offenkundigen „defensiven Abwehrfronten“ mancher Modellvertreter gegen konstruktive Reformen und Innovationen, wird die Antwort eher verneinend sein: Die Persönlichkeitspsychologie scheint mir in ihrer augenblicklichen (oder vielleicht auch in ihrer überdauernden) Verfassung weit davon entfernt, einen Wahrheits- oder Gültigkeitsbeweis für irgendein dimensionales Modell erzielen zu können. Und selbst die bescheidene pragmatische Perspektive einer nur konsensorientierten Vereinbarung über ein Arbeitsmodell im Dienste einer pragmatisch sinnvollen Referenzstruktur erscheint wieder zunehmend in der Ferne zu verschwinden.

Warum also der nicht unbeträchtliche Aufwand meines Buches? Er speist sich aus einem über Jahrzehnte langsam gewachsenen Motiv nach selbstbestimmter Vollendung eines dimensionalen Konzepts auf der Basis einer selbsterforschten und -wahrgenommenen Realität empirischer Merkmale und Strukturen. Dieses zunehmend intrinsische Motiv und die damit verbundene Freude am faktorenanalytisch-explorativen Denken und Forschen haben sich von den extrinsischen Erfolgserwartungen weitgehend gelöst. Die „Belohnung“ liegt für mich somit realistischer Weise im Forschungsprozess selbst und in der besagten selbstbestimmten vorläufigen Konstituierung eines erweiterten, nicht reduktionistischen Faktorenmodells.

Das aktuelle Buch ist deutschsprachig geblieben. Hierfür gab es mehrere (nur halbwegs) gute Gründe, vor allem den, dass die eigenen Ergebnisse an deutschen Stichproben und mit in deutscher Sprache verfassten Tests erhoben wurden. Auch die deutschsprachigen lexikalischen und nicht-lexikalischen Grundlagen der Persönlichkeitsbeurteilung spielen in diesem Text eine wichtige Rolle, ebenso die etwas überproportionale Berücksichtigung deutschsprachiger Publikationen und deutscher Forschungstraditionen.

Nichtsdestotrotz wird in einem englischsprachigen Nachfolgeprojekt voraussichtlich noch einmal versucht werden, die Essenz des Vorliegenden in Verbindung mit internationalen Reviews sowie einer aktuell laufenden multivariaten Online-Studie aufzuarbeiten, um zu einem integrativen faktorenanalytischen Referenzsystem für Basis- oder Primärfaktoren der Persönlichkeit vorzudringen. Dieses Vorhaben könnte dann als faktorenanalytischer und testkonstruktiver Nukleus für einen neuen Zweig interkultureller Forschung zu den Primär- oder Basisfaktoren der Persönlichkeit dienen. In diesem Ansatz werden nach gegenwärtiger Abschätzung zahlreiche Basisdimensionen der Persönlichkeit (nach vorläufiger Schätzung um die 30) enthalten sein, darunter viele, die bisher bestenfalls ganz am Rande des „Trampelpfades“ stiefmütterlich behandelt wurden. Es handelt sich dabei meistens um i.w.S. motivationspsychologische Konstrukte.

Ungeachtet meiner eher wissenschaftspessimistischen Einschätzungen würde ich eine starke Resonanz auf die eigene Arbeit und eine intensive Kommunikation darüber sehr begrüßen. Es wäre für mich eine große Freude, wenn die einschlägig explorativ-faktorenanalytisch arbeitenden Persönlichkeitsforscher dieses Buch als hilfreich für die eigenen Vorhaben und Entscheidungen bewerten würden, auch wenn dieser Nutzen bedeuten mag, dass man sich durch eine „tiefe Fundgrube hindurch gewühlt“ haben muss. Das Buch ist zur Erleichterung des Zugangs mit sechs recht eigenständigen Kapiteln im Stil eines Handbuches konzipiert. Diese Kapitel weisen jeweils ein eigenes Literaturverzeichnis und eine interne Gliederung von Abschnitten, Grafiken und Tabellen auf.

Burghard Andresen

Westerau, im Juli 2015


1 Diese und alle weiteren Referenzen s. Kapitel 1

Kapitel 1

Geschichte, Ziele, Prämissen und Kontroversen der explorativen Faktorenanalyse von Persönlichkeitsvariablen

Burghard Andresen

Inhalt

  1. Unzählige Persönlichkeitsmerkmale – und was liegt dahinter?
  2. Historische Entwicklung dimensionaler Methoden und Modelle in der Persönlichkeitsforschung
  3. Systematik unterscheidbarer Zielsetzungen der explorativen Faktorenanalyse
  4. Fragwürdige Prämissen oder methodische Prinzipien
  5. Biologische Theorieoptionen
  6. Eigenschaftstheoretische und biologisch-genetische Konzepte zur Zielbestimmung der faktorenanalytischen Persönlichkeitsforschung
  7. Diskussion, Schlussfolgerungen und Ausblick

In: Burghard Andresen (2015). Mythos Big Five – Neue Basisfaktoren der Persönlichkeit (S. 9-86). Norderstedt: Books on Demand. Copyright: Burghard Andresen

„Theories are not true or false;
they are fertile or sterile.”
     

Claude Bernard

1   Unzählige Persönlichkeitsmerkmale – und was liegt dahinter?

Als Teildisziplin der Differentiellen Psychologie sieht sich die faktorenanalytische Persönlichkeitsforschung mit einer unabsehbaren Zahl und unübersichtlichen Fülle von überdauernden bzw. habituellen Merkmalen und Eigenschaften von Personen konfrontiert. Deren Mannigfaltigkeit erscheint vor allem nach den verfügbaren sprachlichen Beschreibungseinheiten so groß, dass allgemein der Wunsch nach einer konsensfähigen, wenn nicht gar universell gültigen Kategorisierung und Dimensionierung besteht. Diese sollte nach Auffassung vieler Forscher und als Gebot der deskriptiven und theoretischen Ökonomie eine drastische Reduktion der resultierenden Faktoren zur dennoch erschöpfenden Abbildung der wesentlichen Merkmale mit sich bringen. Es geht darum, merkmalsverdichtende latente Variablen für Persönlichkeitseigenschaften zu finden, die möglichst theoretisch gültig, methodisch verbindlich und über Untergruppen von Personen hinweg sowie transkulturell generalisierbar sind.

Hier stellte sich die Frage, welche mathematisch-statistischen Methoden und Kriterien es gibt, um quantitative Persönlichkeitsvariablen so zu bündeln, dass solche verlässlich auffindbaren und konsensfähig ordnenden „Übermerkmale“ resultieren. Hierfür wurde unter anderen Methoden – beginnend mit Spearman (1904) – die explorative Faktorenanalyse (EFA) entwickelt, die zentrales methodisches Thema dieses Buches sein soll. Offen bleibt bei diesem Ansatz die Frage, nach welchen Kriterien die aus der EFA resultierenden Faktoren als valide und theoretisch fundierte „latente Variable“ interpretiert werden können. Denn zunächst gehen die Faktoren einer explorativen Faktorenanalyse über varianzreduzierende Rechenoperationen ausschließlich aus den Ausgangsvariablen rechnerisch hervor (s. Kapitel 2, i.d.B.). Kriteriumsvalidität (z.B. biologischer Natur, s. Abschnitt 5.2) geht in ihre Ergebnisfindung gar nicht ein. Und diese Faktoren „erklären“ Merkmale auch nicht – wie terminologisch oft suggeriert – sondern erfassen sie bzw. fassen sie zusammen, und dieses in aller Regel für alle Variablen nur varianzanteilig.

1.1   Idiografischer vs. nomothetischer Ansatz

Idiografische Ansätze in der Persönlichkeitsforschung setzen beim einzigartigen Individuum an, seiner Biografie und seinen Eigenarten und Besonderheiten. Hier gilt die Formulierung: „keiner wie der Andere“ und zwar in qualitativer Hinsicht. Allport (1961, 1966) vertrat eine solche Position, obwohl er wegen seiner grundlegenden lexikalischen Analysen auch als einer der Gründerväter der persönlichkeitspsychologischen Eigenschaftstheorie (Allport & Odbert, 1936) gelten kann. Strukturelle Gesetzmäßigkeiten (z.B. bestimmte Typenbildungen und dimensionale Konstrukte) werden im idiografischen Ansatz nicht als generalisierbar über Personen angenommen. Der idiografische methodische Weg ist primär einzelfallorientiert (Barenbaum, 1997), qualitativ (Lamnek, 2010) sowie verstehend und narrativ (Barresi & Juckes, 1997).

Der nomothetische Ansatz in der Persönlichkeitsforschung geht dagegen davon aus, dass Personen – ungeachtet ihrer individuellen Biografie und Lebenssituation – in ihrer Eigenschaftsstruktur durch für alle Personen übereinstimmende quantitative Variable sinnvoll beschrieben werden können. Dabei muss beachtet werden, dass Personen auch bei Zutreffen einer eigentlich idiografischen Struktur ihrer Wesenszüge veranlasst werden können, auf einheitlich konzipierte Items und Skalen zur Persönlichkeitsmessung ausreichend methodenkonform zu antworten, um so hinreichend stimmige quantitative Messwerte zu liefern. Diese pragmatisch-nomothetische Funktionalität beinhaltet natürlich nicht notwendigerweise eine nomothetische Sinnhaltigkeit bzw. ein konzeptuelles Primat für diese merkmalseinheitliche quantitative Methode.

Nomothetisch eigenschaftsorientierte Forscher betonen, dass ihr Ansatz metrisch eine fast unendlich differenzierte Persönlichkeitsbeschreibung ermöglicht. Sie weisen auf die enormen Abstufungs- und Kombinationsmöglichkeiten hin, die in einem multivariaten Persönlichkeitsprofil allein bei rein quantitativer Variation auf den Faktoren oder Skalen entstehen. Diese Vielfalt von Skalen- oder Faktorwerten könne auch phänomenologisch als qualitativ differenzierend erlebt werden, als ganz eigenes Persönlichkeitsprofil.

Die beiden Wege sind als Alternativkonzepte bisher nicht schlüssig auf ein empirisch bestimmbares Primat geprüft worden. Ihre Präferenz wurzelt auch teilweise im Weltanschaulichen. Es ließe sich durchaus vorstellen, dass beide Ansätze sich komplementär ergänzen können (Carver & Scheier, 2000), nicht zuletzt auch im diagnostischen Prozess.

Heute setzt sich der Disput um die nomothetischen oder idiografischen Grundlagen in analoger Form – angehoben auf die Gruppenebene, also abstrahierend vom einzelnen Individuum – in der interkulturellen Persönlichkeitsforschung fort. Hier geht es um den Anspruch der Fünf-Faktoren-Theorie der Persönlichkeit auf transkulturelle Universalität (McCrae & Costa, 2003).

Den Vertretern dieses Anspruchs, die oft mit sog. etischen („etic“) Ansätzen der Variablengenerierung und -auswahl gearbeitet haben (es werden vorzugsweise angloamerikanische Variablen-, Item- und Skalenkonzepte vereinheitlichend auf andere Kulturen übertragen), wird eine zwangsweise Nomothetisierung speziellen Typs vorgeworfen, die interkulturelle Besonderheiten nicht berücksichtigt. Dem wird eine ideale, kulturfaire emische („emic“) Vorgehensweise entgegengestellt, die in jeder Kultur von Grund auf vor allem die sprachlichen Eigenarten einer Kultur berücksichtigt und entsprechend in Variablenbildungen für die Mitglieder dieser Kultur umsetzt (s. Kapitel 3, i.d.B.).

Für die explorative Faktorenanalyse sind formal einheitlich gefasste Items oder Skalen (als summativ zusammengefasste Items, oder als Itemmittelwerte) notwendig. Darüber hinaus sind spezielle statistische Voraussetzungen für die Anwendung einer parametrischen Korrelationsrechnung zu beachten, auf der die explorative Faktorenanalyse aufbaut (s. Kapitel 3, i.d.B.). Der idiografische Weg ist dagegen mit der EFA nicht unmittelbar kompatibel. Dieses schließt aber auch hier eine weit gefasste Ergänzungsfunktion des idiographischen Interpretierens, Verstehens und Kommunizierens nicht aus.

1.2   Der typologische Ansatz

Typologische Ansätze im weit verstandenen Sinne sind Grundlage und Ausdruck der ersten Beschäftigung mit differenzierten Persönlichkeitsphänomenen in der Antike (s. Abschnitt 5.1). Sowohl die vier Temperamente nach Galenos (2. Jh. n. Chr.) – aufbauend auf den naturphilosophischen Lehren des Hippokrates (4 Jh. v. Chr.) – als auch die 30 Charaktere nach Theophrastus (4. Jh. v. Chr.) sind „Prägnanztypus“-Konzepte, in denen ein einzelnes Merkmal oder ein Verbund eng verwandter Merkmale eine Person durch eine herausragende Ausprägungsstärke kennzeichnen und auffällig machen. Diese typologische Form hat sich bis in die Hochzeit der psychiatrischen Psychopathie-Lehren im frühen 20. Jahrhundert gehalten (Kretschmer, 1921; Schneider, 1923). Diese Konzeption der Prägnanztypen hebt sich von modernen Clusterkonzepten ab, welche Individuen nach (zumeist euklidischer) Profilähnlichkeit für zahlreiche, auch inhaltlich und korrelativ ggf. sehr distante quantitative Merkmale zu kategorisieren versuchen. Diese empirische Typusgenerierung soll zu Clustern von Personen führen, die eine sehr geringe Binnenstreuung aufweisen, wobei als typenkennzeichnend und typentrennend jeweils mehrere sehr unterschiedliche Merkmale resultieren können.

Prägnanztypen der ersteren Art und moderne Profilähnlichkeitscluster sind konzeptuell und psychometrisch u.U. sehr unterschiedlich zu operationalisieren. Bei den traditionellen Prägnanztypen der Persönlichkeit wäre es denkbar, dass ein Typus mit den ihm zugehörigen Individuen auch qualitativ besondere Merkmale besitzt, die der Rest der nicht zugehörigen Individuen nicht teilt. Ein Beispiel für ein solches nur teilnomothetisches Konzept wäre die biologische Artendefinition. Hier treten z.B. bei Fischen Kiemen auf, während Säugetiere Lungen besitzen. Eine Vermessung auf einheitlichen Skalen dieser qualitativ hochgradig verschiedenen Atmungsorgane ist kaum möglich. Innerhalb einer Art jedoch sind Quantifizierungen des jeweiligen prototypischen Organs sinnvoll, um Individuen nomothetisch zu differenzieren.

Bei den Cluster-Typisierungen wird vorausgesetzt, dass alle Personen einer einheitlichen nomothetischen Merkmalsdefinition folgen, die eine quantitative Messung verschiedener Substrate und Funktionen erlauben. Clustertypologische Konzepte erfahren auch in der psychologischen Persönlichkeitsforschung – als Alternative oder Komplement zu den Big Five der dimensionalen Persönlichkeitsbeschreibung – eine tendenzielle Renaissance (Asendorpf, 2003; Herzberg & Roth, 2006).

Prägnanztypologische Konzepte sind heute kaum noch Gegenstand der psychologischen Forschung, leben aber in der klinisch-kategorialen Diagnostik weiter. Aber auch in der klinischen Diagnostik werden seit geraumer Zeit Bemühungen forciert, kategoriale Diagnosen und Konzepte durch dimensionale Modelle zu ersetzen, die in aller Regel eine höhere Validität aufweisen (Andresen, 2006). In diesem Zusammenhang ist die Frage anzusprechen, wie das Primat für dimensionale Ansätze mit den diskreten genetischen Polymorphismen vereinbar ist, die viele Trait-Theoretiker als wichtigste Grundlage der etablierten Persönlichkeitsdimensionen annehmen (Gangestad & Snyder (1985).

In der nicht-wissenschaftlichen Alltagspsychologie spielen Prägnanztypen eine ungebrochene Hauptrolle bei der Charakterisierung von Personen. Da sprechen wir sinngemäß von den „Lügnern“, „Helden“ oder „Aufschneidern“, so als ließen sich Personenbeschreibungen jeweils auf ein hervorstechendes Merkmal reduzieren. Auch in der lexikalischen Forschung wird die „Type-noun“-Klasse von Beschreibungseinheiten unterschieden. Diese Begriffsklasse hat etwas Grobes und Plakatives an sich.

1.3   Der dimensionale Ansatz

1.3.1   Ansatz der explorativen Faktorenanalyse

Mit der explorativen Faktorenanalyse kann man durch das „Dickicht“ vieler Eingangsvariablen hindurch Strukturen entdecken und erkennen, die sich ohne diese zwischengeschaltete Methode möglicherweise nicht unmittelbar aufdrängen. Es „kommen Dinge heraus“, die u.U. ein deutliches Überraschungsmoment aufweisen und sehr faszinierende Einblicke in das Zusammenhangs-Gefüge dieser Variablen ermöglichen können. Die EFA kann Forscher- und Entdeckerfreude im ganz unmittelbaren Sinne stimulieren. Sie verlässt sich dabei allerdings auch ganz auf methodeninterne algebraisch-geometrische Kriterien bei der Suche nach zahlenmäßig deutlich begrenzten, auf komplexe Weise durch die beobachteten Variablen definierten Faktoren, die auch „latente Variablen“ oder „Wurzelfaktoren“ („source traits“) genannt werden (s. Kapitel 2, i.d.B.). Ungeachtet dieser Etikettierungen kann sie aber per se nicht über die eingeschlossenen Variablen hinausgehen, sie ist also auf eine möglichst repräsentative und nicht verzerrte Abbildung der Wirklichkeit durch adäquate Variablengenerierung und -selektion (s. Kapitel 3 und 4, i.d.B.) angewiesen. Die „offene Entdeckungsreise“ der EFA wird zum manipulationsanfälligen „Selbstbestätigungstrip“, wenn man durch artifizielle Variablenhäufungen und -bündelungen gezielt das hineinsteckt, was man herausbekommen möchte, oder wenn man über „weiße Flecken auf der Merkmals-Landkarte“ hinweg analysiert, also erhebliche inhaltliche Lücken und Auslassungen bei den Eingangsvariablen zulässt.

Die Zukunftsaufgabe und Erkenntnisorientierung der explorativen Faktorenanalyse sollte weiterhin in ihrem ursprünglichen Auftrag bzw. Versprechen liegen: Das unübersichtliche Geflecht von zahlreichen, annähernd repräsentativ berücksichtigten Eingangsvariablen so zu ordnen und zu bündeln, dass Dimensionen erscheinen, welche die eingehenden Merkmale annähernd erschöpfend, d.h. ohne erheblichen Informationsverlust, ersetzen können. Die Erwartungen der meisten Forscher richten sich dabei naheliegender Weise auf die stabile, replizierbare bzw. invariante Natur und mögliche Universalität dieser Dimensionen. Diese durchaus gewagte Hypothese wird nicht selten als Prämisse des Forschungsansatzes oder als selektive und exklusive persönlichkeitspsychologische Bereichsabgrenzung missverstanden (s. Abschnitte 6 ff.).

1.3.2   Explorative oder konfirmatorische Faktorenanalyse

Die letzten Lehr- und Handbücher nur zur explorativen Faktorenalyse wurden m.W. vor mehreren Jahrzehnten geschrieben (u.a. Pawlik, 1968; Harman, 1970; Überla, 1971; Mulaik, 1972; Gorsuch, 1974; Revenstorff, 1976; McDonald, 1985). Viele faktorenanalytische Forscher und Anwender könnten vor diesem Hintergrund den Eindruck gewonnen haben, dass die explorative Faktorenanalyse eher eine überholte, nicht entwicklungsfähige, rein deskriptiv-statistische Form multivariater Analyse darstellt, während die konfirmatorische Faktorenanalyse (KFA, Bollen, 1989; Finch & West, 1997) eine überlegene moderne, signifikanzstatistische Option bietet. Letztere ist ein strukturprüfendes Verfahren, das die Güte der Anpassung an ein Modell spezifiziert. Sie erfordert die a priori Festlegung auf eine bestimmte Zahl von Faktoren und diejenigen Variablen, die die Faktoren beschreiben bzw. laden sollen. Die Berechnung der KFA erfolgt im Rahmen von Strukturgleichungsmodellen (u.a. Byrne, 2005). Sie hat erst in den letzten beiden Dekaden ihre Blütezeit erreicht (u.a. Ullman, 2006).

Der Verfasser kann der genannten einseitig vergleichenden Bewertung von EFA und KFA nicht beipflichten (vgl. Beauducel, 2001; Goldberg & Velicer, 2006). Viele Fragen zur dimensionalen Struktur von Persönlichkeitsfragen sind weiterhin theorieoffen bzw. erst potenziell theoriegenerierend. Faktorenanalytische Fragestellungen auf das komparative Testen von (bestehenden) Strukturmodellen zu begrenzen, würde den wissenschaftlichen Fortschritt und die Innovationsfähigkeit des Forschungsgebietes wesentlich behindern.

Dagegen könnte die Integration exploratorischer und konfirmatorischer Faktorenanalysen im Sinne eines komplementären Ansatzes die Potenz und Effektivität dimensionaler Forschung und auch der Testkonstruktion durchaus erhöhen. Dieses gilt beispielsweise auch bei der Behandlung der Frage, ob ein hierarchisches Modell für die Erklärung der korrelativen Strukturen von Faktoren und Variablen angemessen ist (s. Abschnitte 4.4 ff.). Vor allem Im Rahmen einer sequenziellen Forschungsstrategie zu den maximal varianzerfassenden Primärfaktoren stellt die Kombination und Staffelung von EFA und KFA durchaus eine fruchtbare Methodenkombination dar. Hierfür liegen auch hybride Methodenprogramme vor (Marsh et al., 2010).

Allerdings zeigen einige Studien die empirisch wiederholt bestätigte Problematik auf, dass sich mehrfach replizierte und durch Multitrait-Multimethod-Analysen (MTMM, Campbell & Fiske, 1959) gut gesicherte explorativ-faktorenanalytische Befunde in parallel durchgeführten KFA nicht bestätigen ließen (u.a. Borkenau & Ostendorf, 1990; Van Prooijen & Van der Kloot, 2001). Dies hängt zweifelsohne damit zusammen, dass eine erfolgreiche KFA eine inferenzstatistische Modellbestätigung beinhaltet, dergestalt dass die beobachteten Korrelationen der Variablen nicht signifikant von denjenigen abweichen, die das Modell vorhersagt. Dies ist immer dann unwahrscheinlich, wenn in einer EFA, die das zu testende Modell lieferte, die Korrelationen nur sehr unvollständig erklärt werden, was normalerweise – vor allem in einer domänenorientierten EFA mit stark abstrahierendem, varianzreduzierendem und dimensionsarmem Ansatz – fast immer der Fall ist (s. Borkenau & Ostendorf, 1990). Darüber hinaus kommen durch den signifikanzstatistischen Ansatz der KFA Abhängigkeiten von der Personen-Fallzahl ins Spiel, die im Kern nichts mit der zu entdeckenden bzw. zu prüfenden Dimensionalität des Merkmalsgefüges zu tun haben. Beauducel (2001) weist des Weiteren anhand eigener empirischer Studien auf unterschiedliche Bestätigungen oder Nicht-Bestätigungen faktorenanalytischer Modelle hin, je nachdem welche Modellprüfungen und Kriterien bei der KFA eingesetzt werden.

Unabhängig von der Frage des signifikanzstatistischen Modellprüfungsansatzes mittels KFA wird auch davor gewarnt, die methodisch verwandten Zielrotationen (ohne signifikanzstatistische Prüfung) von Faktorenlösungen auf eine erwünschte oder etablierte Struktur im Sinne der Perseverierung letztlich suboptimaler bis unbrauchbarer theoretischer dimensionaler Modelle zu nutzen. Hierdurch können faktorenanalytische Strukturen via Procrustes-Rotationen zwangsweise annähernd passend gemacht werden. Die hierdurch erzielten dimensionalen Angleichungen stellen m.E. oftmals einen Pyrrhus-Sieg dar.

Die explorative Faktorenanalyse ist bei unabhängiger Anwendung auf verschiedene multivariate Datensätze durchaus geeignet, robuste Strukturübereinstimmungen für einfachstrukturorientierte Rotationen zu ermitteln und hiermit langfristig optimierte und konsensfähige Modelle zu erarbeiten, in denen die rotationalen Achspositionen nicht beliebig variabel und disponibel sind (s. Kapitel 2, i.d.B.).

2   Historische Entwicklung dimensionaler Methoden und Modelle in der Persönlichkeitsforschung

Die faktorenanalytische Persönlichkeitsforschung ist ein schon gut hundert Jahre andauerndes Unternehmen (vgl. Bartussek, 1996). Genau genommen begann diese Forschungsrichtung schon mit der viel zitierten und auch kritisierten Studie von Webb (1915, s. auch Pawlik, 1968). Die ersten Faktorenanalysen von Persönlichkeitsvariablen im engeren Sinne gehen auf Guilford und Guilford (1934), Eysenck (1947), Cattell (1944, 1947) und Thurstone (1947) zurück. Rund 80 Jahre hält also der Versuch an, diverse Persönlichkeitsmerkmale explorativ-statistisch – zunächst nur auf der Basis von überwiegend methodenhomogenen, verbalen Inventaren (z.B. via Selbstbeurteilungs-Fragebogenskalen, adjektivischen Bekanntenratings) – zu niedrigdimensionalen Konstrukten zu verdichten.

Im Folgenden geht es um eine knappe Darstellung des Gesamtgebietes der faktorenanalytischen Persönlichkeitsforschung und ihrer dimensionalen Modelle, und dabei auch um die recht zahlreichen existierenden Alternativen und Konkurrenzmodelle zum Fünf-Faktoren-Modell.

2.1   Entwicklung der Methodik in der explorativen faktorenanalytischen Persönlichkeitsforschung

Explorative faktorenanalytische Ansätze der Persönlichkeits- und Intelligenzmessung sind aus methodischer Sicht ein vor etwa einem Jahrhundert begonnener Forschungszweig der Persönlichkeitspsychologie. Im Bereich der Intelligenzmessung besteht diese Forschungsrichtung schon seit rund 110 Jahre (Spearman, 1904; vgl. Stern, 1911).

Die explorative faktorenanalytische Persönlichkeitsforschung hatte sich schon früh zum methodischen Kerngebiet der „Trait“- oder Eigenschaftstheorie der Persönlichkeit entwickelt (Amelang & Bartussek, 2001). Faktorenanalytische Methodenentwicklungen und die empirische Erforschung von Faktoren der Persönlichkeit standen von Beginn an in recht enger Wechselbeziehung. Methodisch wegweisend für den internen dimensionalen Ansatz war die Entwicklung des "Gruppenfaktormodells" durch Burt (1909), das in den meisten faktorenanalytischen Anwendungen in der Psychologie das initiale "Generalfaktormodell" Spearmans (1904) ablöste. Letzteres war für die Intelligenzforschung prägend. Thurstone (1931, 1947) entwickelte das Gruppenfaktor-Modell weiter zum "Modell mehrerer gemeinsamer Faktoren". Letzterer kann als entscheidender methodischer Wegbereiter der faktorenanalytischen Persönlichkeitsforschung bezeichnet werden, während die merkmalsinhaltliche faktorenanalytische Persönlichkeitsforschung vor allem von Guilford und Guilford (1934) und Cattell (1943a, b) begründet wurde.

Für mehrere Jahrzehnte herrschte bei einigen führenden Forschern bzw. Forschergruppen (Cattell, 1973; Guilford, 1975; Comrey, 1978; Tellegen, 1982, Goldberg, 1990) – letzterer stellvertretend für die "Big Five"-Forschergruppen – die Erwartung vor, dass man durch die Wahl und Optimierung verschiedener Methoden „latente“ Variablen oder „Wurzel“-Faktoren hinter dem multivariaten Dickicht „oberflächlicher“ Variablen auffinden könne. Diese methodischen Optionen betrafen vor allem: geeignete Variablenselektions-Prozeduren (hier vor allem dem sog. lexikalischen Ansatz), Kriterien für die Zahl der Faktoren, verschiedene Sichtweisen und Behandlungen des Kommunalitäten-Problems, sowie unterschiedliche einfachstruktur-orientierte Rotationskriterien. Mit einer solchen Strategie hoffte man, die resultierenden Faktoren auch ohne eine von Beginn an vergleichende Validierung und Justierung an "harten" Außenkriterien und theoretischen Postulaten (vor allem biologischer Provenienz) vollauf replizieren und in ihrer basalen Struktur herausarbeiten zu können. Perspektivisch bestand die Erwartung, hierdurch eine optimale psychobiologische und darüber hinausgehende komplexe Theoriefähigkeit gewährleisten zu können. Grundsätzlich richteten sich die meisten Forschungsziele – explizit oder implizit – auf tieferliegende, zahlenmäßig überschaubare Ursachen und Bedingungen der phänomenal hochdifferenzierten Merkmalsvariation (Pawlik, 1968).

Dies war auch die Zeit vor, während und früh nach dem zweiten Weltkrieg, in der "Faktorenanalyse" noch ein "Zauberwort" war, das kühnste Hoffnungen auf die Entdeckung grundlegender Mechanismen, Generatoren, Klassen etc. in unterschiedlichsten Forschungsbereichen weckte. Das Vertrauen in die Perspektiven und die methodische Unanfechtbarkeit dieser neuen Methode schien also noch mehrere Jahrzehnte nach ihrer Einführung sehr groß zu sein – ganz im Gegensatz zu der durchdringenden Skepsis in den späten sechziger Jahren (u.a. Orlik, 1967/68), zeitlich in etwa parallel zu dem Einbruch des Vertrauens in die "Trait"-Konzepte im Hinblick auf die Schwächen der intersituativen Generalisierbarkeit (Mischel, 1968).

Die vom "main stream" der faktorenanalytischen Persönlichkeitsforschung in dieser Zeit hauptsächlich behandelten Methodenfragen zielten vor allem auf die Probleme des zugrundeliegenden faktorenanalytischen Modells und der obliquen Einfachstruktur-Rotation sowie diverser Spezifika der EFA. In einigen Teilbereichen wurden schon in den sechziger und siebziger Jahren methodische Durchbrüche und Modelloptimierungen sowie Entwicklungen spezieller Kriterien und Algorithmen erzielt (u.a. Harman, 1970; Gorsuch, 1974; Revenstorf, 1976), welche die Faktorenanalyse zu einem hochelaborierten Zweig der psychologischen Methodik werden ließen.

In den 1980er Jahren wurde das Thema faktorenanalytische Methodik schon deutlich "kleiner geschrieben". Zwar schien die zwischenzeitlich (Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre) einsetzende "fundamentalkritische Phase" (Orlik, 1967/1968) überwunden, aber eine echte methodische Wiederbelebung war auch nicht zu erkennen. Es entwickelte sich vor allem in der angewandten Forschung ein im methodisch-statistischen Anspruch stark reduzierter Pragmatismus und eine „erosionsartige Verflachung“, teilweise auch bedingt durch ein sehr schmales und vereinseitigtes Programmangebot im PC-Bereich, das zunehmend die Forschungsarbeit bestimmte.

Als reduzierte Strategie breitete sich die "Little Jiffy"-Methodik aus. Hierunter wird die weit verbreitete Methodenkombination "Hauptkomponenten-Analyse (PCA) – Eigenwerte ≥ 1 Regel – Varimax-Rotation" verstanden. Kaiser (1970, S. 401), der sich ansonsten durch fundierte Methodenentwicklungen auszeichnete (u.a., 1958, 1974), führte diese gängige Schmalspurversion der Faktorenanalyse folgendermaßen ein:

”My response to this question (der Frage eines Kollegen, was man in der angewandten Faktorenanalyse denn wirklich tue, Anm. des Verf.) was to alude to that Sweet Young Thing, with downcast head and sorrowful eyes, who often enters my office with a large score matrix, neatly written out, and chirps despondently, ”Just what do I do?” Reaching into the second right-hand drawer of my desk I pulled out, usually with no further ado, that old nostrum, principal components with associated eigenvalues greater than one followed by normal varimax rotation (...). The Sweet Young Thing would take the prescription away, consult a computer, and several days later appear with cheeks aglow, happy as a lark, quite convinced that all sorts of dandy new things had come to pass. Nothing profound, perhaps, but at least some preliminary order out of well-perceived chaos.”

Der Verfasser vertritt die Auffassung, dass nicht zuletzt diese bei Lehrenden und Anleitenden nicht selten anzutreffende ”Little Jiffy”-Mentalität, welche dem ernsthaften Ringen um adäquate multivariate Verfahren und ihre sinnvolle Anwendung widerspricht, zur vielbeklagten "Unverbindlichkeit und Beliebigkeit" faktorenanalytischer Ergebnisse erheblich beigetragen und damit das ebenso viel zitierte Unbehagen an derselben gefördert hat (vgl. Revenstorff, 1978).

Heute wird die faktorenanalytische Persönlichkeitsforschung, verglichen mit der harschen Kritik vor rund 35 Jahren, weiterhin „leidenschaftslos“ und dabei überwiegend beiläufig-unkritisch betrieben (vgl. die Kritik von Becker, 1995). Die gegenwärtigen Möglichkeiten der multivariaten Statistik und Datenverarbeitung stehen in deutlichem Kontrast zu dem methodischen Niveauverlust der typischen Studie in diesem Feld. Es scheint ganz so, als müssten vor diesem methodischen Entwicklungshintergrund manche „alte Schlachten“ (allerdings mit modernisiertem „Waffenarsenal“) von den faktorenanalytisch forschenden Enkeln wieder „neu geschlagen werden“.

Der Nachweis systematischer und sporadischer Fehler, Artefakte und auch der Eindruck manipulationsverdächtiger Entscheidungen im Bereich der Variablenselektion und der faktorenanalytischen Standardmethoden (Kapitel 2, i.d.B.) war vor diesem Hintergrund fast vorprogrammiert. Diese Kritik trifft die Differentielle Psychologie zu einem sehr späten und damit auch quasi „unpassenden“ Zeitpunkt, da sich schon etwa seit Ende der 80er Jahre zu Zahl und Inhalt der sog. Domänenfaktoren der Persönlichkeit ein wachsender Konsens für ein "Fünf-Faktoren-Modell" (u.a. McCrae & Costa, 1987; Borkenau, 1989; Digman, 1990; Goldberg, 1990) abzeichnete, der dann auch mit „oligarchischer Geschlossenheit“ aufrechterhalten und verteidigt wurde. Erst in den letzten zwei bis drei Dekaden wurden verstärkt kritische Ansätze und Alternativen hierzu diskutiert (u.a. Briggs, 1992; McAdams, 1992; Block, 1995, 2001, 2010).

2.2   Modellentwicklungen zur Dimensionalität der Persönlichkeit

Der knappen Darstellung von faktorenanalytischen Modellen aus der schon langen Geschichte der faktorenanalytischen Persönlichkeitsforschung ist eine systemkritische Bemerkung voranzustellen. Die nachfolgende Separierung in Primär/Basis-, Sekundär/-Domänen- und Tertiär-/Super-Faktoren ist vom Ansatz her fraglich (s. Abschnitte 4.4. ff.). Dementsprechend sind die hierzu verwendeten bereichstypischen Anzahlen von Faktoren strittig und nicht verbindlich, wenngleich sie den mehrheitlichen Bezeichnungsgewohnheiten folgen. In dieser Darstellung werden „Primär- oder Basisfaktoren“ als Dimensionierungen ab neun Faktoren aufwärts geführt. Der Dimensionierungsbereich zwischen vier und acht Faktoren wird mit dem Begriff „Sekundär- oder Domänenfaktoren“ belegt. Der Begriff „Tertiär- oder Superfaktoren“ wird dem Dimensionierungsbereich eins bis drei zugeordnet.

2.2.1   Primär- oder Basisfaktoren

Von mehreren frühen Autoren oder Autorengruppen (Pawlik, 1968; Fahrenberg, Selg & Hampel, 1970; Cattell, 1973; Guilford, Zimmerman & Guilford, 1976; Tellegen, 1982) wurden nach teileise jahrzehntelangen faktorenanalytischen Vorarbeiten Primärfaktor-Konstrukte und -Modelle (hauptsächlich nicht-klinischer Art) auf dem Wissenschaftsmarkt angeboten. Auf diese wird in der nötigen Kürze im Folgenden eingegangen. Unter Primärfaktoren sollen hier item-faktorenanalytische „Bottom-up“-Studien verstanden werden, die versuchen, die gemeinsame Varianz eines möglichst multivariaten und inhaltlich breit gefächerten oder repräsentativen Itempools weitestgehend auszuschöpfen bzw. zu erfassen, so dass es zu einer recht hohen Anzahl von Faktoren mit jeweils recht enger und homogener inhaltlicher Aussagekraft kommt. Diese Primärfaktoren sollen im Folgenden auch Basisfaktoren genannt werden, weil sie dicht an der Basis, d.h. in diesem Kontext dem Fundament der angenommenen hierarchischen Merkmalspyramide situiert sind (s. Abschnitte 4.4 ff.). Die modellfundierenden item-faktorenanalytischen Studien beispielsweise von Eysenck und Eysenck (Eysenck, 1947; Eysenck & Eysenck, 1969) entsprachen nicht diesem Vorgehen, da sie in der Regel schon im ersten unterextrahierenden Analysegang und mit zumeist deutlich eingeschränktem Itempool zu einer sehr geringen Zahl von Faktoren gelangten.

Guilford und Guilford. Die faktorenanalytischen Entwicklungsarbeiten starteten früh im 20. Jahrhundert (Guilford & Guilford, 1934). Sie beschäftigten sich zunächst mit dem Konzept der Extraversion-Introversion. Die faktorenanalytische Konzeption eines merkmalsseitig sehr breit angelegten Primärfaktoren-Modells legte Guilford und Zimmerman (1956) vor. Das weiterentwickelte Gesamtkonzept eines „Guiford-Zimmerman Temperament Survey GZTS“ einschließlich einer abgeschlossenen Testkonstruktion und eines hierarchischen dimensionalen Modells kulminierte 1976 (Guilford, Zimmerman & Guilford). Die Autoren vertraten 10-13 Primärfaktoren und bildeten hierfür Skalen mit großen Itemzahlen von 28-30. Dennoch erreichten einige Skalen nur recht schwache Ein-Jahres-Reliabilitäten („Ascendance“ A nur .53, „Thoughtfulness“ T nur .58). Ausgangspunkt der Forschungen waren deduktive Strategien der Itemgenerierung, keine lexikalischen Ansätze wie bei Cattell (s.u.). Die inhaltlich vorkonzipierten Itemsätze wurden faktorenanalytisch verfeinert. Hierbei kamen bei wechselnden Grundmodellen der EFA durchweg orthogonale Rotationen zum Einsatz.

Cattell. Cattel ging in der Entwicklung seines Primärfaktorkonzepts zunächst vom lexikalischen Ansatz aus (Cattell (1943a, 1943b, 1946a, b) und benutzte adjektivische Verhaltensratings als Items. Er legte der eigenen Programmforschung die Arbeiten und Überlegungen von Allport und Odbert (1936) zugrunde, die aus dem englischen Wörterbuch anfänglich 17.953 Begriffe zur Kennzeichnung von Eigenschaften ermittelt hatten. Zunächst wurde dieser Pool auf 4500 Adjektive der Kategorie „personal traits“ (z.B. „aggressive“) reduziert, und dieser durch zusätzliche 100 Begriffe der Kategorie „passing activities or temporal states“ (z.B. „abashed“) ergänzt. Daraus wurde anhand von mehrstufigen Reduktionsverfahren über weitere Eliminierungen von Synonyma sowie unverständlichen oder seltenen Begriffen letztlich ein Pool von 171 Variablen erstellt (dieser umfasst aber auch einige Cattell nützlich erscheinende, nicht in der Ausgangsliste enthaltene Merkmale). Diese 171 Variablen waren bipolare Aggregate mehrerer bedeutungsähnlicher Begriffe, also verbal komplexe Items. Sie wurden dann in einer Ratingstudie (Cattell, 1946c) an 100 Zielprobanden (je zwei Rater pro Zielperson) per Alternativrating beurteilt (Interrater-Übereinstimmung zwischen .70 und .80). Aus diesen 171 Variablen wurden dann sowohl nach den Korrelationen und Reliabilitäten der Merkmale, als auch nach etwas undurchsichtigen und fraglichen weiteren Kriterien wie „Wichtigkeit“ oder „Grad der Bestätigung durch andere Autoren“ 35 Variablen ausgewählt (Cattell, 1945).

Kapitel 2