Inhaltsverzeichnis

GedankenReich Verlag

Denise Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

SECOND HORIZON

Text: © E.F. von Hainwald, 2020

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat/Korrektorat: Teja Ciolczyk

Satz & Layout: Phantasmal Image

eBook: Grit Bomhauer

Covergrafik: © shutterstock

Innengrafiken: © shutterstock, Künstler: Nadezhda Shuparskaia

ISBN: 978-3-947147-37-3

© GedankenReich Verlag, 2020

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

»Engelverdammtes Drecksteil!«, grollte Wolf und trat mit voller Kraft gegen den Automaten.

Das Gerät zeigte sich gänzlich unbeeindruckt, obwohl es sicherlich schon bessere Tage gesehen hatte. Die Kunststoffverkleidung war mit vulgären Sprüchen verziert worden. Das matte Gerüst aus einer Keramiklegierung, welches seine cybermagischen Energien unempfindlich gegen Eingriffe von außen machte, war an einigen Stellen ordentlich geschwärzt. Vermutlich waren bereits andere Kunden aus Wut über das störrische Ding geplatzt und hatten sich tätlich daran vergangen. Die holografischen Bedienfelder flimmerten kränklich und rutschten manchmal mehrere Handbreit zur Seite.

Wolfs rabiates Scharren mit den Pranken ließ sie allerdings nur müde Wellen werfen und brachte nicht den gewünschten Erfolg – hämisch grinsten ihn die Werbegesichter auf den bunten Verpackungen hinter der Kryoscheibe an, während sie stur in ihren Verriegelungen verharrten.

Plötzlich ließ ein lautes Donnern seine Ohren zucken. Er schaute nach oben und kratzte sich gelangweilt am Hinterkopf. Vermutlich schlugen sich nur wieder irgendwelche Straßengangs gegenseitig die Köpfe ein. Als jedoch nicht weit von ihm entfernt ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte, blickte er argwöhnisch den spärlich beleuchteten Korridor hinab.

Es war spät. Die Läden hatten Sperrstunde – ohne die allgegenwärtige Geschäftigkeit hatte sich ein eigentümlicher Schleier der Ruhe auf den mehrstöckigen Handelsbezirk gelegt. Nichtsdestotrotz strahlten grelle Holo-Reklamen an den Wänden. Magische Illusionen liefen, ruhelosen Seelen gleich, umher und wollten trotz geschlossener Läden Passanten mit einem breiten Lächeln zum Einkauf locken. Das pulsierende Licht hinter den Belüftungsventilatoren unterhalb der Bodengitter verlieh ihnen eine perfide Mehrdimensionalität.

Die Magi-Techs machen sie viel zu real. Sie reagieren nicht nur auf Worte – sie plaudern auch untereinander, sinnierte Wolf, während er das Bild einer blonden Frau mit einem Kopfschütteln abwies.

Der Boden begann auf einmal heftig zu vibrieren und er schaute sich alarmiert um.

An der nächsten Straßenbiegung krachten prompt die Stahlträger der Decke herab und begruben mehrere der Illusionen unter sich. Der dumpfe Gong des Aufpralls hallte lautstark von den Wänden wider, woraufhin ein spitzer Schmerz durch Wolfs Hirn schoss. Er schlug die Handflächen gegen seine empfindlichen Ohren und presste fest die Lider zusammen.

Das Getöse währte nur kurz. Vorsichtig öffnete er die Augen und begutachtete die Einsturzstelle aus sicherer Entfernung. Ein riesiges Loch klaffte in der Decke. Zahllose Kabel baumelten herum und sprühten grelle Funken. Im Lichtkegel aus der darüberliegenden Ebene tanzte aufgewirbelter Dreck. Der breite Strahl beleuchtete den Stahlhaufen, als hätten Wolken der Sonne einen Riss zum Hindurchscheinen gewährt. Die Szenerie ließ ihn wie den grotesken Altar irgendeiner fremden Religion wirken.

Auf den kantigen Formen lag jedoch etwas, das dort offensichtlich nicht hingehörte: die geschwungenen Umrisse einer Person. Sie rührte sich nicht, und der metallische, süßliche Geruch von Blut stieg in Wolfs Nase.

Als sich nichts regte und die ersten Illusionen aus dem Stahl hervortraten, als wäre nichts gewesen, wandte er sich wieder desinteressiert den wichtigen Dingen des Abends zu: seiner persönlichen Belohnung in den Eingeweiden dieses cybermagischen Schrotthaufens.

Er hatte beinahe seine letzten Creds – die gängige Bezeichnung für digitale Kredite, welche die weltumspannende Währung des Vereinten-Erd-Kombinats bildete – ausgegeben. Ihm blieb noch ein letzter Versuch, wenn er den Kontostand richtig in Erinnerung hatte.

Was soll‘s, dachte er resigniert. Morgen lasse ich mir irgendetwas Neues einfallen – irgendwann musste mein Glück ja enden.

Also kramte er in der zerfledderten Tasche, die an den Gürtelschlaufen seiner durchgewetzten Jeans baumelte, und zog schließlich einen schmalen Knochen hervor. Es war das Bruchstück eines menschlichen Handknochens, und wenn ihn jemand damit erwischte, würde er vermutlich einem Engel ins Antlitz blicken müssen.

Der freundliche Spender hatte tot in einer Wellblechhütte gelegen. Dass Wolf aufgrund seiner feinen Sinne die Leiche gewittert hatte, war ein glücklicher Zufall gewesen. Doch natürlich würde das die Gesetzeshüter nicht im Geringsten interessieren.

Wolf straffte die Schultern und richtete seinen bestienartigen Körper zu voller Größe auf, um den Automaten vor etwaigen Blicken abzuschirmen. Er nahm den Knochen vorsichtig zwischen zwei seiner Krallen und hielt ihn in die Bezahlschranke. Sie reagierte umgehend auf den darin eingepflanzten Chip. Auf der holografischen Anzeige blinkte Bitte Produkt wählen.

»Na also«, brummte Wolf leise, steckte den Knochen wieder weg und wählte das Objekt seiner Begierde.

In freudiger Erregung tapste er von einer Pfote auf die andere, stützte sich mit seinen Pranken an der Kryoscheibe ab und starrte in das Gerät. Das Fell auf seinen Armen richtete sich auf, während die eisige Kälte des magischen Barrierefeldes in seinen Körper kroch.

Nichts.

Absolut nichts geschah.

»Nein«, murmelte er, dann knurrte er wütend und schrie: »Elender Engelschiss! Das darf doch nicht wahr sein!«

Dadurch entging ihm das leise Klicken hinter sich.

Unzählige Geschosse schlugen neben ihm in das Gerät ein und zersplitterten die Verkleidung. Erschrocken sprang er zur Seite, wirbelte herum und ging kampfbereit in die Knie. Er biss seine Zähne zusammen und zwang sich stillzustehen, denn er wollte nicht unbedingt provozieren für einen leeren Geldchip durchlöchert zu werden, wie Dosen in einer Schießbude. Mit zusammengekniffenen Augen begutachtete er den Angreifer, welcher mitten auf der Straße stand.

Es war eine zierliche Frau, gekleidet in so etwas wie einen Arztkittel – zumindest, wenn man versuchte ihre zerfetzten, dreckigen Klamotten irgendwie zu interpretieren. In der Hand ihres nach vorn ausgestreckten Arms rauchte noch immer der Lauf einer halbautomatischen Pistole. Zum Glück hatte sie gewöhnliche Munition verwendet, sodass Wolf trotz der Treffer in unmittelbarer Nähe unversehrt geblieben war.

Sie senkte ihren Arm, schüttelte ein paar wirre Strähnen ihres kinnlangen, schwarzen Haares aus der Stirn und wandte sich ihm zu. Keck stemmte sie ihre andere Hand in die Hüfte und musterte ihn mit ernster Miene. Sie hob erneut ihre Waffe. Wolfs Oberkörper senkte sich weiter ab, er legte sein gesamtes Gewicht auf seine Fußballen, um einem Angriff schnell ausweichen zu können.

Statt jedoch erneut zu feuern, grinste sie nur breit und wedelte lässig mit der Pistole zu dem Automaten.

»Diese Dinger kannst du nur austricksen, wenn du die biologische Schnittstelle zwischen Kristallkern und Magieplatine manipulierst«, sprach sie in einem Ton, als müsste sie einem Kind die offensichtlichste Sache der Welt erklären.

Wolfs Augenbrauen zuckten nur, er rührte sich keinen Millimeter. Die Frau stopfte die Waffe in eine Kitteltasche und schlenderte zu dem Gerät an der Wand. Dort angekommen hob sie ihre rechte Hand, ballte sie zur Faust und rammte sie kurzerhand in die durch die Schüsse gesprungene Kunststoffhülle. Sie stopfte ihn bis zur Schulter hinein und plauderte nebenher munter weiter.

»Hast Glück, dass ich hier gelandet bin. Um diese Uhrzeit ist ja keine Menschenseele hier. Buchstäblich – bist ja auch keiner.«

Wolf zuckte leicht zusammen. Der letzte Kommentar traf ihn. Er war nicht freiwillig in dieser Form gefangen und kämpfte jeden Tag gegen die Instinkte an, welche ihn überwältigen wollten. Der Inhalt des Automaten, den er so unbedingt haben wollte, war ein Teil dieser inneren Schlacht – wenn auch ein heiß geliebter.

»Besonders gesprächig bist du nicht, hm?«, meinte sie, kniff ein Auge zusammen und schien an irgendetwas in dem Automaten herumzufummeln. »Ich bin einfach viel zu nett. Du hast mir nach meinem unrühmlichen Absturz nicht mal aufgeholfen. Bist 'n Soziopath? Dachte immer, Hunde sind der beste Freund des Menschen.«

Wolf ballte seine Hände so stark zu Fäusten, dass seine Unterarme zitterten. Er schluckte die bissige Erwiderung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, denn so oder so war diese seltsame Frau bewaffnet. Außerdem konnte sie problemlos mit dem bloßen Arm in einer cybermagischen Konstruktion herumstochern, ohne durch dessen Rückkopplung gegrillt zu werden.

Ein Wolf. Kein Hund, dachte er, um sich wenigstens vor sich selbst zu rechtfertigen.

Auf einmal schoss die Erkenntnis durch sein Hirn und er warf einen hastigen Blick aus dem Augenwinkel zu den herabgefallenen Stahlträgern. Die Person darauf war verschwunden.

»Bingo!«, rief die Frau und sein Kopf ruckte alarmiert zurück in ihre Richtung.

»Also, was wolltest du aus dem Ding herauspressen, bevor es alle deine Creds gefressen hat?«, fragte sie ihn, verschwörerisch zwinkernd.

Er schaute sie stumm an und fragte sich, ob sie einfach nur völlig durchgeknallt war oder das tatsächlich ernst meinte. Wolf musterte ihr Gesicht, doch in den großen, violett-blauen Augen sah er nur reine Neugier.

Also murmelte er leise, was er haben wollte.

»Was?«, rief sie. »Ich versteh kein Wort, du musst schon lauter reden und weniger herumknurren.«

Wolf mahlte mit den Zähnen, schnaubte dann und wiederholte lauter und sorgfältiger formuliert: »Zartbitterschokolade mit Sauerkirschen.«

Die Frau blinzelte schweigend.

Einmal.

Zweimal.

Schließlich zog sie ganz langsam eine Augenbraue nach oben.

Wolf stand einfach nur da, sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt. Er glotzte sie an und versuchte den zutiefst peinlichen Moment zu ertragen. In würdevoller, kraftvoller Haltung war er darum bemüht seine Ehre zu bewahren, obwohl es eigentlich nur eines leisen Kicherns ihrerseits bedurfte, um seinen Stolz buchstäblich zu zermalmen.

»Tja …«, erwiderte sie dann ernst. »Bin ja mehr der Vollmilchtyp.«

Daraufhin ertönten ein lautes Klacken und zwei dumpfe Töne. Sie zog ihren Arm aus dem Automaten, griff in die Ausgabe und hielt triumphierend lächelnd zwei längliche Päckchen nach oben. Lässig warf sie ihm eines der beiden zu. Während das kleine Paket durch die Luft flog, begriff er, dass sie ihm tatsächlich die Schokolade besorgt hatte. Mit einem hastigen Griff pflückte er die Süßigkeit aus der Luft, drehte sie zwischen den Klauen vor seinem Gesicht umher und ließ den süßen Duft seine Sinne kitzeln.

Die Frau riss ihrerseits die Packung auf und steckte sich ein Stück in den Mund. Kauend lehnte sie sich mit der Schulter an den arg in Mitleidenschaft gezogenen Automaten und musterte Wolf.

»Gern geschehen«, schmatzte sie. »Wie ist dein Name?«

Er riss seine Augen von der Schokolade los und überlegte. Schließlich entschied er, dass sie für diese Geste zumindest ein Minimum an Freundlichkeit verdient hatte.

»Wolf«, antwortete er.

»Alles klar, kein Hund. Und weiter?«, hakte sie nach.

»Nichts weiter«, murrte er und verlagerte unsicher sein Gewicht auf den Füßen.

»Wie ist dein Name?«, wiederholte sie verwirrt.

»Wolf«, erwiderte er erneut. »So nenne ich mich. Wie heißt du?«

Ihre dunklen Augenbrauen hoben sich. Sie legte den Kopf schräg und schien zu überlegen. Ihre Lippen öffneten sich für eine Erwiderung, doch sie vernahmen plötzlich Stimmen. Wolf schaute an ihr vorbei und nickte in die entsprechende Richtung. Sie drehte sich um und Wolfs Augen weiteten sich überrascht.

Ihr Rücken war blutüberströmt. Der zerrissene Stoff bildete mit dem zerfetzten Fleisch eine krustige Einheit. Die Wirbelsäule war teilweise freigelegt. Sie bestand aus Stahl und die typischen, cybermagischen Runen, welche Technik problemlos in biologische Körper integrierten, leuchteten in fahlem Blau. Die Wunde schien jedoch nicht neu, das Blut war längst geronnen. Wolf hatte seit dem Einsturz Blut gerochen, doch es dann als logische Nebensächlichkeit abgetan. Daher hatte er nicht bemerkt, dass sie die direkte Quelle dessen gewesen war.

»... ach, komm scho‘. Das kann‘nisch dein Ernst sein!«, nuschelte einer der Passanten, welche gerade einen kreuzenden Korridor entlang torkelten – vermutlich betrunken oder auf Drogen. »Komm schon, Babe. Ich hab‘s nicht so gemeint!«

Die Angesprochene stampfte wütend weiter und würdigte ihn keines Blickes. Die dunklen Silhouetten verschwanden und waren schnell außer Hörweite. Wolfs unerwartete Schokoladenbeschafferin wandte sich ihm erneut zu. Sie lächelte spitzbübisch, legte die schmalen Fingerspitzen auf ihre Brust und sprach:

»Nenn mich einfach Babe.«

Der gelangweilte Tritt ließ die verbogene Metallstange klirrend über den Beton rutschen. Sie blieb vor den Füßen eines untersetzten Typen liegen. Seine freiliegende Wadenmuskulatur aus billigem Kunststoff zuckte und die dilettantisch eingravierten Runen seiner stählernen Beinknochen glühten kurz auf – mehr ein klägliches Niesen, als ein Ausdruck der magischen Kraft, welche nötig war, damit sich der Kerl auf den Beinen halten konnte. Er verschränkte die Arme vor seinem metallbeschlagenen Oberkörper und grunzte missbilligend.

Babe senkte, ohne anzuhalten, nur ein wenig das Kinn, um ihm über den dünnen, silbervioletten Rahmen ihrer schmalen, tiefblau getönten Sonnenbrille ein neckisches Zwinkern zu senden. Ein Lächeln hatte er nicht verdient. Eine Entschuldigung sowieso nicht. Sie hatte ihn schließlich nicht anvisiert. Wäre dem so gewesen, hätte ihm die Stange die Zähne zertrümmert – nicht, dass es bei seiner Visage irgendetwas zum Negativen verändern würde.

Sie schlenderte gemächlich weiter. Ihre bequemen, quietschbunten Schuhe verursachten mit ihren breiten Sohlen keinen Laut. Der schwarze Synthstoff der weitgeschnittenen Hose raschelte jedoch lautstark und der ganze Kram, welcher ihre Beintaschen füllte, schepperte rhythmisch. Die hinten in den breiten Gürtel gesteckten Pistolen konnte der Typ nicht sehen.

Vermutlich hatte er sowieso mehr Augen für den breiten Ausschnitt ihres knallpinken Shirts, auf dem in neongelber Schrift On your knees – I‘ll make you famous stand.

Oder auch nicht.

Er entblößte zwar ihre fein geschwungenen Schlüsselbeine und die rechte Schulter, aber ihre naturbelassene, dezente Oberweite war den meisten Kerlen … na ja … zu naturbelassen und dezent. Babes Körper war klein und zierlich. Voluminöse Brüste wären nur hinderlich und hatten ihrer Meinung nach höchstens Sinn als Kaschierung von cybermagisch implementierten Waffenarsenalen – von dem kurzzeitigen Ablenkungsfaktor mal abgesehen.

Der Kerl drehte sich jedenfalls einfach weg und ging seines Weges. Beinahe fühlte sich Babe aufgrund dieser Unterschätzung beleidigt. Letztendlich kam es ihr jedoch gelegen.

Ihre Gedanken waren auf wichtigere Dinge ausgerichtet als einen Schläger zu verprügeln, welcher seine Körpermodifikationen vermutlich nur mit einem gehackten Runenprägegerät belebt hatte.

Der kratzige Bass der Trashtekk-Musik aus den weißen Kopfhörern hämmerte in ihren Ohren, doch Babe hörte es kaum. Sie pustete eine schwarze Haarsträhne, welche sich aus ihrem perfekt konturierten Longbob gelöst hatte, von den Lippen, trat an das armdicke Geländer und umfasste es mit ihren schmalen Händen. Die altersschwache Farbe rieselte von dem Metall in den breiten Schacht, der in die Eingeweide der Recycling-Fabrik tief unter ihren Füßen führte.

Die Wände waren spiegelglatt. Keramikbehälter, welche mit magnetisch eingesperrtem Plasma gefüllt waren, bildeten riesige Uruz-Runen. Diese magisch-wissenschaftlichen Konstrukte ließen die Energie im Gebäude zirkulieren. Das unterschwellige Summen nahm kaum noch jemand wahr. Es gehörte hier zum Alltag, wie die beiden Monde am Firmament – auch wenn der eine erst seit drei Zivilisationen am Himmel stand.

Natürlich war erst diesbezüglich eine ziemlich subjektive Zeitangabe, aber in Anbetracht der jahrzehntausendelangen, kontinuierlichen Aufzeichnungen der Menschheit, waren die paar Tausend Jahre zurückgerechnet lediglich ein kaltes Arschrunzeln – etwas länger her, ziemlich imposante Geste, juckte jedoch keine Sau.

Babe stieß sich von dem Geländer ab, verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken und lief zielsicher in eine der unzähligen Gassen, welche gerade einmal so breit wie ihre Schultern waren.

Dieses Wohnviertel war – nennen wir es genehmigungsneutral – auf dem Dach der Fabrik errichtet worden, welche sich, ähnlich einem gigantischen Skarabäus, an den Hang des Himalaja-Gebirges klammerte. Die augenscheinlich selbst zusammengestümperten Wohngebäude leuchteten in den buntesten Farben. Die Fassaden waren chaotisch bemalt, beklebt oder anderweitig künstlerisch gestaltet. Babe wich einem aus gläsernem Mosaikgestein gefertigten Energieverteilerkasten aus, welcher, einem rundgelutschten Geschwür gleich, aus der Wand ragte. Die schlecht isolierte, magische Spannung kribbelte in ihren runenbeschlagenen Cyber-Knochen.

Die Gasse endete abrupt.

»Schon wieder? Diese hirngegrillten Magi-Arcs«, flüsterte Babe entnervt.

Die Konstrukteure der Siedlung hatten wieder in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein paar geringfügige Änderungen vorgenommen. Da konnte es schon mal vorkommen, dass eine Straße verschwand, sich ein Gebäude um neunzig Grad drehte oder dein Schlafzimmer ein Freiluftpanorama erhalten hatte, sodass dein nackter Arsch weithin für alle Nachbarn sichtbar im Morgenlicht glänzte.

»Tja, ich muss hier durch. Keinen Bock auf einen Umweg – geschweige denn erst mal einen zu suchen«, seufzte Babe, legte den Kopf in den Nacken und beäugte die Fassade kritisch durch ihre Sonnenbrille. »Sollte klappen. Na dann mal los.«

Sie schnalzte mit der Zunge, drehte die dröhnende Musik am Holodisplay ihrer Kopfhörer noch lauter und ging in die Knie.

Es brauchte keinen festen Gedanken, keine Absicht, kein mystisches Gemurmel. Für Babe war es so intuitiv, wie einen Arm zu heben.

Mit einem Ruck stieß sie sich in einem übermenschlichen Kraftausbruch vom Boden ab und schoss wie eine Pistolenkugel senkrecht nach oben. Sie flog mehrere Stockwerke hinauf, packte mit einer Hand die Kante eines Fensters und katapultierte sich in ähnlicher Weise weiter hoch. Noch ein kurzer Tritt gegen die Wand des angrenzenden Gebäudes und sie landete auf dem schiefen Wellblechdach des in der letzten Nacht spontan entstandenen Gebäudes.

Nur das zarte, punktuell blau schimmernde Licht unter ihrer Haut zeugte noch einen Augenblick von dem kurzen Kraftausbruch ihres von Magi-Techs geschaffenen Knochenbaus.

Babe schaute sich um, damit sie sich neu orientieren konnte. Ihr letzter Abstecher hierher lag nur wenige Tage zurück. Dennoch war einiges verändert worden – die Magi-Arcs waren immer dabei etwas Neues entstehen zu lassen. Das war ihre Passion.

Nicht selten musste man wegen der stetigen Umbauten durch kleine, exzentrische Geschäfte und private Treppenhäuser laufen. Manche Freundschaft war auf diese Weise entstanden. So beschrieb es zumindest der verklärte, urbane Mythos der Indies – kurz für Individualisten – in den Megacitys.

Babe schnaubte abfällig, als ihr die schillernden Geschichten in den Sinn kamen, welche nach billigem Alkohol stinkende Opas in den wackeligen Kaschemmen mit freudig glänzenden Augen erzählten. Ob das wirklich an den wunderbaren Erinnerungen ihrer abenteuerlichen Jugend lag oder den gepanschten Pimps – der allgemeine Begriff für magisch-chemische Drogen, die einem das Hirn umstülpten – vermochte niemand so genau zu sagen.

Und doch war dies der Ort, welchen diese exzentrischen Menschen bevorzugten. Sie waren auf die Straße geflüchtet, raus aus ihren engen Wohnungen in der Stadt, hinaus auf den Asphalt, welcher nach Freiheit duftete – und verkokelten Überresten wilder Magieanwendungen.

Babe wandte sich ab, spazierte über die Dächer, kletterte Leitern hinab, durchquerte Räume, welche vielleicht mal als Wohnzimmer gedient hatten, und erreichte schließlich das Ende der Welt … dieser Welt.

Ihre Fußspitzen überragten die glatte Kante des Fabrikdachs. Der Wind zupfte an ihren Haaren, wehte sie von hinten in ihr Gesicht, sodass sie die Strähnen mit einer Hand aus der Stirn schieben und festhalten musste. Als wäre dieser Moment eine kitschige Szene einer schnulzigen Online-Serie, begann ein ruhigerer, sphärischer Song in ihren Kopfhörern.

Unter ihren Zehen bot sich den Augen ein gänzlich anderes Bild der Menschheit. Bis zum Horizont erstreckte sich Neo-Lhasa, eine der sieben Megacitys der Welt.

Berge, Täler und Ebenen waren überzogen mit einem Schachbrett aus perfekten, im Grundriss kreisförmigen, Wolkenkratzern. Dazwischen erhoben sich große Pyramiden, deren kristalline Spitzen das Sonnenlicht in sein Farbspektrum aufbrachen. Geometrische Brillanten, strahlende Juwelen am Himmelszelt.

Die Stadt war beinahe ein lebendiger Organismus. Das Metall, die Keramik und der Kunststoff ihr Körper. Die Magie und die Runen ihr Atem. Die Wissenschaft ihr Wille. Die Menschen ihre symbiotischen Bakterien und Viren. Dieser Ort wuchs unaufhörlich, wie auch die anderen Megacitys der Erde.

Als der sanfte Song in Babes Ohren verklang und das Geschrubbe ätzender elektrischer Saiten ihr Hirn wachrüttelte, schüttelte sie den Kopf, um die tiefsinnigen Gedanken zu vertreiben. Die Zeiten solcher bedeutungsschwangeren Überlegungen hatte sie eigentlich schon lange hinter sich gelassen.

Sie hatte auch mittlerweile ihr Ziel erreicht: ein verzahnter Turm aus Baracken. Das windschiefe Ding bog sich bedenklich über eine halbrunde Grube, welche mit Maschinen befüllt war. In dieses Loch warfen die Flugtransporter ausgediente Geräte, damit die Fabrik diese nach und nach transmogrifizierte – das bedeutete: Magie entzog, kanalisierte und dessen physische Gefäße umstrukturierte.

Sie hangelte sich die erstaunlich sorgfältig befestigten Leitern nach oben und stand schließlich auf einer winzigen Veranda.

Neben der Eingangstür standen ein Stuhl und ein kleiner Hocker, welcher als Tisch fungierte. Auf ihm fanden sich eine leere Flasche Rhabarber-Limonade, eine angeknabberte Packung Zartbitterschokolade und ein hölzerner Block, welcher mit einer groben Klinge solange vergewaltigt worden war, bis er die Form eines Zombiekopfes angenommen hatte – oder sollte es das Hinterteil eines Ochsen darstellen? Auf dem Fensterchen inmitten der mit Kampfkunstwerbeplakaten beklebten Tür, war mit Draht eine Minz-Pflanze befestigt. Ihr Geruch stieg angenehm in Babes Nase.

Sie trat in das kleine Zimmerchen dahinter – direkt in eine enge Küchenzeile. Die verklebten Platten und geschwärzten Geräte zeugten von wenig Interesse an Sauberkeit. Raumdominierend war jedoch der mitten in Raum angebrachte, meterbreite Duschkopf.

Sicher, der schlecht gekritzelte Runenkreis auf dem Fußboden sorgte für eine eingegrenzte Wasserglocke, aber wollte man wirklich zwischen Kühlschrank und Haustür duschen? Abgesehen davon: Soweit Babe wusste, war nie abgeschlossen. Ob das von latentem Exhibitionismus zeugte? Sie nahm sich vor, bei Gelegenheit zu fragen – also, wenn es am peinlichsten und damit am amüsantesten werden würde.

Grinsend kletterte sie die Leiter am hinteren Ende des Raumes nach oben. Schon bevor sie die verbogene Luke öffnete, konnte sie das Keuchen hören. Babe stieß schwungvoll das Metall auf und zog sich mit den Armen nach oben.

Der Geruch von frischem Schweiß und nassem Hund biss in ihre Nase. Er war zutiefst vertraut. Sofort fiel eine Spannung von ihr, die sie sonst nie bemerkte. Babe richtete sich auf, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute auf die mit farbigen Tüchern verzierte Wand.

Wolf hing kopfüber. Seine Waden umschlangen dicke Stoffe, welche an der Decke angebracht waren. Immer wieder hob er den Oberkörper und ließ ihn dann wieder hängen, sodass sein Rücken gegen die Wand schlug. Er biss fest die Zähne zusammen und stöhnte bei jeder Bewegung angestrengt. Sein Fell war nassgeschwitzt und dampfte.

Er war am Limit. Jeder andere würde nun aufhören. Nicht so Wolf. Zitternd kämpfte er sich immer wieder nach oben, die Augenlider fest zusammengepresst.

Babe sagte nichts, sondern blieb einfach stehen und musterte ihn. Plötzlich hielt er ausgestreckt inne, sodass seine Finger beinahe den Fußboden berührten, und öffnete die Augen. Ein tiefes Knurren verzog sich fragend in eine höhere Tonlage.

»Jo«, entgegnete Babe nur und legte den Kopf schräg.

»Was willst du? Ich bin beschäftigt«, murrte er und verschränkte die Arme ebenso wie sie – ein verkehrtes, felliges Spiegelbild.

Der Bergkristall, welcher sich an einem schwarzen Band um seinem Hals befand, baumelte ihm ketzerisch im Gesicht herum und verdarb damit das coole Gesamterscheinungsbild.

»Du bist fertig mit dem Training, würde ich sagen. Du stinkst wie 'n Iltis, der Schweiß tropft von deiner Wauzi-Nase und ich höre dich quasi schon jetzt wegen des Muskelkaters rumjaulen«, erklärte sie und stupste sich an ihre eigene Nasenspitze.

»Wauzi …«, brummte er missbilligend, richtete sich noch einmal auf und löste mit den Pranken überraschend flink den Knoten um seine Waden.

Als sich die Stoffe lösten, hielt er sich noch kurz daran fest, um den Körper wieder in die korrekte Position zu bringen, und ließ sich dann auf seine Pfoten fallen. Kurz blieb er gebeugt stehen, hob seinen Blick und musterte sie mit einem wilden Blick aus seinen grün-blauen Augen. Dann schien er sich zu fassen, richtete sich auf, senkte die Fersen und stand lässig da.

Die meisten Menschen assoziierten mit humanoiden Tierwesen muskelbepackte Superhelden. Ein Irrtum.

Wolfs Schultern waren breit, der Körper jedoch schlank und sehnig. Vor allem Bauch und Rückenmuskulatur waren sehr stark ausgeprägt. Sein dunkles, kurzes Fell konnte diese Definitionen nicht vollkommen kaschieren.

Er legte besonderes Augenmerk auf diese Partien. Genau genommen trainierte er sie wie ein lebensmüder Wahnsinniger, denn diese ermöglichten es ihm sich gerade zu halten – aufrecht wie ein Mensch. Wolf versuchte die Bestie in sich so gut wie möglich zu verbergen und unterdrückte auch in diesem Moment das Hecheln mit herausgestreckter Zunge, was sein vom Sport erhitzter Körper naturgemäß umzusetzen versuchte. Er schwitzte zwar wie ein Mensch, das Fell vermochte eine Kühlung durch Verdunstung jedoch nur wenig zu gewährleisten. Dennoch schaffte er es mit purer Willensstärke diesen Instinkt zu unterdrücken und nur mit offenem Mund zu atmen, sodass Babe seine spitzen Zähne sehen konnte.

»Also, weswegen bist du hier?«, fragte Wolf mit tiefer Stimme und legte eine perfekte Aussprache an den Tag. Das Knurrige von eben war gänzlich verschwunden.

»Darf ich denn nicht meinen Lieblingswolf besuchen?« Babe lächelte süßlich.

Wolf hob seine Augenbrauen, stellte die kleinen, spitzen Ohren auf und ließ seinen Schweif amüsiert hinter sich hin und her schlagen – das konnte er nur selten kontrollieren und es machte ihn zu einem grauenhaften Lügner, wenn man ihn besser kannte.

»Okay, fang an.« Wolf winkte mit einer Pranke in Babes Richtung und ging zu der schmalen Pritsche in der Ecke.

»Anfangen? Was meinst du?«, säuselte Babe und setzte sich im Schneidersitz auf den kleinen, abgetretenen Teppich in der Raummitte.

Wolf hielt inne, drehte sich zu ihr um und schnaubte verächtlich. Der messingfarbene Nasenring über seiner kurzen Wolfsschnauze glitzerte im Licht und die Gesichtszüge unter dem grau-schwarz gezeichneten Fell waren unschwer als genervt zu deuten.

»Komm schon, Babe. Du hast mich Wolf genannt, nicht Hund, Wauzi, Bettvorleger oder Kuschelpelz, deine neuste Absonderlichkeit, genannt. Du hast was vor«, erläuterte er und stopfte seine Hände mürrisch in die Hosentaschen.

Kuschelpelz war ihr in den Sinn gekommen, als sich die beiden in einem Lagerhaus zwischen Kisten auf engstem Raum vor ein paar übereifrigen Sicherheitsbeamten hatten verstecken müssen. Das längere Fell an Rücken und Armaußenseiten war zwar derb, das kurze der Innenseiten und seines Gesichtes jedoch so samtweich wie ein engelverdammtes Seidentuch! Babes inneres Mädchen war bei diesem wolkigen Flauschgefühl geradezu eskaliert.

»Ich will nur etwas Zeit mit dem Wesen verbringen, das mich die Bedeutsamkeit der Nicht-Namen lehrte und mir damit ein ganz neues Maß an Freiheit ermöglichte«, erklärte Babe feierlich.

»Is‘ klar«, erwiderte Wolf und zog kurz die Lefzen auf einer Seite hoch.

Er wandte sich ab und schnappte sich seine Kleidung. Die breite Linie aus längeren Haaren, welche zwischen den Ohren begann und sich seine Wirbelsäule bis zum wadenlangen Schweif zog, verschwand unter einem navygrünen Shirt. Dessen Ärmel hatte Wolf kurzerhand abgerissen. Als er seinen wuchtigen Plattengürtel durch die Gürtelschlaufen seiner wadenlangen Hose zog und die Gurte der Beintasche festzurrte, versuchte er es erneut.

»Also?«, fragte er.

»Lass uns Billard spielen, wie in den alten Zeiten. Bisschen über die Vergangenheit plaudern«, schlug sie vor, während sie mit dem Finger imaginäre Kreise auf den Teppich zeichnete und begann eine Melodie zu summen.

Wolf war mit den Pfoten in seine großen, schwarzen Stiefel gestiegen und die seitlichen Metallverschlüsse zogen sich mit einem Zischen automatisiert zu. Nachdem er schweigend seine Hände in fingerlose, unterarmlange Handschuhe gesteckt und die drei großen Metallschnallen festgezurrt hatte, trat er geradewegs zu Babe. Sie hörte auf zu summen, blickte auf und lächelte unschuldig. Wolf hockte sich vor sie und berührte fast mit seiner Nase die ihrige.

»Was. Ist. Los.«, flüsterte er, bekräftigt von einem ungeduldigen Grollen.

»Schon gut«, seufzte Babe und hob ihre Hände. »Ich erklär‘s dir beim Billard, okay?«

»Meinetwegen«, stimmte er zu, erhob sich wieder und trat zu einem der Tücher an der Wand.

Er läuft anders als früher, stellte Babe fest. Seine Haltung ist aufrecht, nicht mehr so, wie ich ihn vor Jahren am Schokoladenautomaten kennengelernt habe.

»Ich weiß, dass ich dich beim Billard unmöglich schlagen kann. Wir spielen ohne Einsatz«, sprach er und starrte kurz frustriert die Wand an.

»Sicher!« Babe klatschte erfreut in ihre Hände und sprang auf. »Ich spendiere die Tischmiete und geb‘ einen aus.«

Wolf griff unter den Dekostoff, packte zu und zog einen langen, gekrümmten Breitsäbel in einer schlichten Synth-Schutzschiene hervor. Er klickte es an die taschenlose Seite seines Gürtels, trottete zum Ausgang und fuhr sich mit der Pranke über seine Stirn, sodass seine Ohren seitlich abstanden.

»Warum habe ich nur das Gefühl, dass ich heute nicht nur beim Billard verlieren werde …«, raunte er leise vor sich hin.