Moderne Novellen

Fräulein

Agnes Alberti

der ehrwürdigen Seniorin des Hauses Alberti

in Waldenburg

in alter Verehrung und Dankbarkeit

dargebracht

Vorwort

Wenn ich die vorliegenden Erzählungen als »Moderne Novellen« bezeichnet habe, so bedeutet das keineswegs, daß ich mich selbst mit Betonung unter die Modernsten der modernen Poeten stellen möchte. Es soll vielmehr nur angedeutet sein, daß im Gegensatz zu meinen früheren drei Sammlungen der »Novellen und Legenden aus verklungenen Zeiten«, die Stoffe hier nicht mehr der Antike, sondern der Neuzeit entnommen sind. Es ist Gegenwartsdichtung, was ich gebe. Wer mit mir durch jene verklungenen Zeiten gewandert ist, wird, was ich meine, verstehen und den Gegensatz, wie ich hoffe, erträglich finden.

Marburg, 15. Mai 1923
Th. Birt

In der Schankstube

Eine Traumnovelle

Als Knabe schon war ich ein Träumer, ja, mehr als jetzt. Ich gedenke noch gern des Lampenschirms aus rosigem Seidenpapier, der mir das grelle Licht abblendete, wenn ich studierte und meine Primaneraufsätze schrieb. So rosig umflort, von Märchengespinnsten umhangen war auch meine Seele. Je nüchterner für einen Hamburger Bürgerssohn der Tag verlief, je tiefer versank ich in die Dämmerung, und das Halblicht wurde beredt. Die Sterne sprachen, es sprachen die Blumen auf den Gartenbeeten, wenn sie im Abendwind sich zueinander neigten. Aber es mußte tiefste Stille sein, sonst hörte ich sie nicht. So auch in den Ferientagen, wenn ich die Einsamkeit suchte und fand. Auf der Oberelbe, wo keine Dampfer gingen, ließ ich mit eingezogenen Riemen mich treiben. Wenn ich ins Wasser starrte und das Boot glitt so leise dahin, als läge es im Schlafe, da war ein Schnalzen und Lachen in den Wellen, unter dem Schilf, und ich lauschte mit Gier, bis ich die Geschichten verstand, die sie sich heimlich erzählten. Dann murrten die Ruder, die den Schwung gewohnt sind, ungeduldig wie das Rassepferd vor dem Ausritt; und ging es dann Schlag um Schlag klatschend durch das Wasser, immer im gleichen Takt wie die Versfüße in den Gedichten, da wußte ich, daß auch sie, die Ruder, märchenblanke Erinnerungen tauschten wie zwei wandernde Poeten und Träumer, die traulich zusammen die Straße ziehn.

Nichts liebte ich so sehr wie unsre alte Schrankstube oben in der Mansarde, die neben meiner Schlafstube lag. Es war schon mehr Rumpelkammer, aber weitgeräumig, und außer den Schränken stand auch noch viel andrer alter Hausrat darin, der aus den Jugendzeiten der Großeltern stammte, das ist aus den Zeiten Napoleons; allein schon die alte Guitarre mit den zerrissenen Saiten, die am Pflock über der Tür hing. Ich wußte, daß auch all diese Stücke viel, viel auf dem Herzen hatten und an tausenderlei Vergangenes zurückdachten. Sie lebten nicht in der Gegenwart.

Da stand der riesige Leinenschrank breitbrüstig, hochgeschultert und ernst mit verschränkten Armen. Viel altes Leinen, auch vergilbte Seidenstoffe lagen darin, und wenn sein altmodisches Schloß aufging (ich habe das nur selten erlebt), spürte ich seinen starken Odem, wenn der Wäschegeruch so eigen mir entgegenströmte: ein altmodischer Aristokrat. Ihm gegenüber der schlankgebaute Tassenschrank im Empirestil mit den geschnitzten Säulen und wohlerhaltenen Glasscheiben; nur die grünseidenen Vorhänge waren arg zerschlissen, und durch die Spalten des Stoffes konnte man die alten vergoldeten Tassen mit den großen Henkeln, Sätze von Tellern und das alte Familientaufbecken deutlich erkennen. Aber wie selten wurden die Schränke aufgeschlossen (die Schlüssel waren abgezogen), nur an Geburtstagen oder wenn seltene Gäste kamen! Das war immer ein Fest. Aber da war auch noch der Mahagoninähtisch und der Kartentisch; auf dem Konsol die goldene Standuhr, die auf vier Elfenbeinfüßen stand; trotz dieser Füße aber ging sie nicht mehr, seit langem, und schaute stimmlos, blaß und verschlafen in das Leben. Auf der Kommode die zwei Girandolen (altmodische Armleuchter) und die Geldkassette mit dem zerbrochenen Riegel; die sah mürrisch und mißtrauisch darein, und niemand von uns wußte, was sie enthielt. Neben ihr die große Gießkanne und der ausgestopfte Vogel, dem die schwarzen Glasperlenaugen aus dem Kopfe hingen. Sein Schnabel aber stand halb offen. In der Ecke der ehrwürdige Krückstock unseres Urgroßvaters Lebrecht Schröder.

Es war Abend, die Eltern verreist. Mein Bruder John ging schon zu Bett und gähnte laut. Ich nicht. Es trieb mich, ohne Licht hinüber in die Schrankstube zu schleichen. Wach war ich, aber warum so taub? Warum konnte ich nichts erlauschen, Geheimnisse der Vergangenheit? So hölzern verschlossen standen sie da, die einst die Augenzeugen jungen Lebens waren!

In der Stube, die nur einbreites Fenster hatte, stand in der Mitte ein Billard, das den Tisch vertrat; sein grünes Tuch war arg zerstoßen; von den Kugeln war nur noch die rote Karoline vorhanden. Traumsüchtig legte ich mich auf das Billard, schob mir unter den Schädel ein Kissen, von dem ich wußte, meine Großtante Luise hatte es einst gestickt (blasse Lilien und Rosen waren darauf), lag ganz regungslos still mit weit aufgerissenen Augen im Dunkeln und horchte in die abgrundtiefe Stille hinein, in sehnsüchtiger Neugier, mit pochendem Herzen. Aber die Stille wurde nur noch stiller. Die Straßenlaternen warfen von draußen aus der Tiefe der Straße flackerndes Licht in die dunkle Stube herauf, so daß die Schatten sprangen. Nur in dem halbblinden Rokokospiegel schaukelte dauernd ein mattgelber Lichtreflex. Da schloß ich die Augen fest zu, um besser zu horchen. Dünne Lichtstrahlen, wie schwirrende Fäden, fuhren mir noch durchs Auge; dann verschwanden auch sie. Es war tiefste Nacht: als es in meinen Ohren leise zu rauschen begann, und die Uhr schlug, kein Irrtum; die alte Standuhr, die seit Ewigkeit nicht mehr ging, schlug deutlich elf Schläge, glockenrein und hell. Dann stoßende Geräusche, ein Krächzen und Summen, und jetzt? Ein Räuspern kam, ja es kam, glaub' ich, aus dem Leinenschrank.

»Seid ihr wach? Wir stehen hier wie die Vergessenen, aber wir selbst vergessen nicht. Wenn die Menschen schlafen und sich niederlegen, ist unsere Stunde. Denkt ihr noch an den Kanonendonner, als es hieß: der Feind in der Stadt!? und das Liebesgeflüster? Wir trauern immer noch um Luise. Ja, ja, wir erleben hier nichts mehr, aber wir haben viel, viel erlebt.«

Aus der Tiefe des Schrankes kam so die Baßstimme immer deutlicher. Eine heiße Blutwelle stieg mir in das Gehirn, vor Aufregung. Was würde folgen? Der ganze Raum war auf einmal magisch hell, und ich sah den Vogel – es war eine ausgestopfte Silbermöve – beifällig mit dem Kopfe nicken.

»Ja, wißt ihr noch? Agnes und Luise!« ging es weiter. »Wie lange ist es wohl her? Wir haben seitdem doch wohl schon hundert Winter überstanden. Gottlob, wir sind abgehärtet. Ofen gab es nie in unserer Nähe; aber das ließ uns kalt, und wir sind leidlich gesund geblieben.

Im alten großen Hause am Jungfernstieg, da standen wir auf der großen Diele, wir zwei Schränke; das war ein guter Beobachtungsposten; denn auf die Diele mündeten alle Stuben und Gänge, und die großen Flurfenster gaben Licht, und nachts half die Ampel. In den großen Saal führte die Glastür. Hinter dem Saal lag gleich der Garten. Das wissen wir von den Orangenbäumen, die in den Kübeln standen und im Winter aus dem Garten immer zu uns kamen, um nicht zu erfrieren, und das war eigentlich unsere schönste Zeit; denn ihre weißen Blüten rochen wundervoll, zum Schwärmen schön. Die Orangerie, wo ist sie geblieben? Und Luise!«

Das Gespräch wurde jetzt allgemein. »Auch mein Standort war auf der Diele,« sagte der Krückstock (wenn er sprach, schwoll ihm gleichsam immer die Kehle). »Und ich war stolz, denn auf mich stützte sich der alte Herr Lebrecht, wenn er zur Börse ging und auf die Kontore der Kaufherrn im Zuckerhandel. Denn er war ja Zuckermakler, der Monsieur Lebrecht. Das ging lange gut. Dann kam die Kriegszeit, die Kriegsdepeschen Jahr für Jahr: der Feind über den Rhein, im Thüringerland! Die Frauen aber machten sich noch keine Sorgen. Thüringen lag fern.«

»Agnes und Luise,« sagte der glitzernde Tassenschrank hierauf. »Wir alle liebten sie. Sie waren noch so jung. Wie reizend, wenn sie vor mir hinknieten und sich zum Frühstück die Tassen holten, um nachher alles wieder wegzustellen, in größter Ordnung! und so sauber! Die Teller immer so, daß ein weiches Deckchen zwischen Teller und Teller lag, und dabei kicherten sie und waren so vergnügt.

In der Mitte des Flures stand vor mir der große kreisrunde Tisch mit den Delphinfüßen. Wißt ihr noch? Darauf lagen oft die Zuckerproben, die unser Monsieur Lebrecht vom Kontor mit nach Haus brachte. Dann kamen die beiden Fräuleins und naschten davon, und die beiden Buben, ihre kleinen Brüder, erst recht, einerlei, ob die Mutter schalt, die gute Madame Nanette.«

Da kam es dumpf, aber doch freundlich aus der Gießkanne: »Ja, und so zärtlich waren die Schwestern zusammen und küßten sich im Garten zwischen den Blumenstauden wie die jungen Tauben vor lauter Liebe. Agnes war blond und kaum 17 Jahre, mit dem Grübchen im Kinn, und so klein und zierlich, und lachte immer neckisch und, ich glaube, halb verliebt. Sie wußte nur noch nicht, wen sie lieben sollte. Wenn sie lief, waren ihre Füßchen in den blanken Lederschuhen wie die Vögel, die da hüpfen, wenn sie noch nicht fliegen können. Sie schäkerte gern mit liebkosender Zärtlichkeit in ihren Blicken und spitzte den Mund wie zum Küssen und wie bei einem guten Witz, wenn der Otto ihr einmal ein Kompliment machte. Denn Otto war der junge Hausfreund, der für Blond und blaue Augen schwärmte. Das stellte sich aber erst später heraus.«

Die Gießkanne verstummte. Da hörte ich schon eine andre Stimme, etwas lispelnd und affektiert und im gebrochenen Deutsch. Das war der Rokokospiegel. Der sagte: »Ich hielt unsere Gießkanne für dumm; aber sie hat ganz recht; so war die Demoiselle. Luise dagegen war mir noch lieber; denn sie liebte mich, den Spiegel, wie ihr Gewissen, und ich gab gar zu gern ihr schönes Bild zurück mit den schwärmenden Augen voll tiefer Seele. Sie war brünett und hoch toupiert, und weich gerollte Locken, die sie sorgsam am Stock aufwickelte, rahmten ihr die Schläfen und Wangen ein. Die Locken bebten und zitterten mit ihr vor Erregung, und sie war oft erregt. 19 Jahre zählte sie schon, und man sagte, der gute Johannes, der in des Herrn Lebrecht Geschäft war, sollte sie heiraten. Die schwatzhaften Tanten Henriette und Jenny kamen auch schon einmal, um zur Verlobung zu gratulieren; aber das war zu früh. Mir, ihrem Spiegel, hat sie selbst das alles anvertraut. Hochgewachsen war sie, hatte etwas Schmachtendes und ein Paar Augen, die rasch aufglühten. Wißt ihr noch? Sie trug gern Goldschmuck, während Agnes mehr die Perlen liebte, und trug auch gern eine dunkelrote Sammetschleife im Haar und einen Gurt von gleicher Farbe. Dabei parlierten sie viel französisch, und das taten alle im Haus; denn lange Zeit war eine französische Gouvernante da. Davon haben auch wir schließlich allerlei Französisch verstehen gelernt. Wenn aber Luise grollte und schalt, dann kam immer gleich Agnes, die kleine Schmeichelkatze, und küßte die Schwester so zärtlich, daß ein großes Lachen entstand, und es war gleich wie Sonnenschein im Raum.«

»Ja, ja, das waren noch die sorglosen Zeiten,« fielen da schon die anderen Stimmen ein. »Die Menschlein waren glücklich und wir mit ihnen. Wir selbst atmen ja freilich immer nur Stubenluft und sehen voll Neid, wenn die Herrn und die Damen auf die Straße gehen. Sind aber die Fenster auf, da streicht der frische Hauch herein; das Stubenmädchen fegt dann, und die Staubwolken fliegen um uns auf. Reinigung! Unsre Lungen sind dann wie befreit, und aller Mißmut schwindet. So ist es heute; so war es damals.

Alle Sonntage kamen der Johannes und der Otto als junge Hausfreunde zu Tisch, und dann gab es oft, wenn auch Toni, die Freundin, und andre dazukamen, auf unsrer Diele ein Jagen und Jachtern und Springen, hast du nicht gesehen? um den Tisch herum. Welch unschuldig fröhliches Leben! bis sie den Tisch ganz wegschoben. ›Platz da!,‹ hieß es, und das Menuetttanzen begann. Die Demoiselles sangen dazu allerliebst. Das Menuett! o dieser Tanz! so gravitätisch und fein! Könnten wir das nachmachen, wir schweren Schränke! Aber unsre Glieder sind zu steif geworden vom langen Stehen. Beneidenswert die Menschen, die sich einmal setzen können!

Damals war es auch, daß eines Tages Luise ein Bild mit ins Haus brachte. Die Brüderchen Emil und Fränzchen jubelten gleich: »Napoleon!« Jawohl, so hieß damals ein französischer Kaiser, der überall siegte und herrschte, nur noch in Hamburg nicht. Alles schwärmte für ihn, auch unsre Demoiselles. »Das große Genie! Man muß ihn anbeten,« hieß es. Und natürlich wurde das Bild auf der Diele neben dem Tassenschrank aufgehängt.

In diesem Augenblick sprang der Krückstock zornig aus seiner Ecke hervor und stellte sich anklagend steil vor den Tassenschrank hin: »Natürlich, du äffst ja selbst den Empirestil nach und warst immer französisch und revolutionär gesonnen; warst auch nie mit den guten alten Familientassen zufrieden; immer das Modernste mußte für dich angeschafft werden. Unser Herr Lebrecht aber dachte anders, und er haßte das Bild.

Da kam der Tag des Verhängnisses. Großes Geschrei vor der Haustüre. Die Buben stürzten herein und meldeten: »Hamburg besetzt; die Franzosen sind da. Der Feldmarschall sitzt schon im Rathaus als Herr; alle Gasthäuser und Trinkstuben voll Musketiere!« Den Buben machte das den hellsten Spaß: »Seht nur die bunten Uniformen!« Und auch die Mädel reckten die Hälse und guckten voll Neugier hinaus, wo schon die Säbel auf dem Pflaster rasselten. Grenadiere! Chasseure! Husaren hoch zu Roß!

Am nächsten Morgen, als der Gemüsemann kam und der Honigmann und Luise und Agnes Bohnen oder Rosenkohl und den Honig in Scheiben kauften, da plauderten sie auf der Haustreppe endlos mit den Händlern, bloß um möglichst lange die Straße entlang zu spähen, ob nicht wieder elegante Offiziere daherkämen, bis Frau Nanette sie ängstlich hereinrief. Der Vater aber wetterte gehörig, als er davon hörte: »Der Franzmann ist Landesfeind, und eine sittsame Bürgerstochter hält sich im Hause.«

Des Vaters Grimm und Ärger aber wuchs noch, als nun ins Haus die Zwangseinquartierung kam. Welch Lärm und Getrampel und wüstes Treiben in Stall und Küche, und welch Schmutz dazu! Die Fräuleins wurden möglichst abgesperrt. Das herrschaftliche Haus war zur Kaserne geworden.

Aber das blieb nicht so (setzte eine andre Stimme ein). Zwei Offiziere, elegante und schöne Herren, kamen ins Haus. Das war ein Ereignis. Strahlend höflich; vom Kürassierregiment: Epauletten; feinstes farbiges Tuch; weiße Lederaufschläge; bunte Kokarden; den blitzenden Helm in der Hand. Sie machten feierlich Visite und brachten eine Invitation. So war es. Es gab Redoute, Offiziersball im Kasino. Die Demoiselles wurden zum Empfang der Herren zwar nicht aus ihren Stuben heruntergeholt, aber die Einladung angenommen. Es war das erstemal, daß der Vater nachgab. Denn das Benehmen der französischen Herren war tadellos, und sie versprachen überdies sofort, daß die lästige Einquartierung aufhörte. Und sie hörte auf. Es war wie Erlösung.

Weiß der Spiegel noch, wie da zum Ball die Damen sich kleideten? »O gewiß,« lachte der eitle Spiegel. »Aber Ihr groben Naturen versteht doch nichts davon. Agnes in weißem Mousselin mit blauen Streifen, Luise in Mohnrot; um den Ausschnitt die feinsten Spitzen. Der Fächer aus Perlmutter, den die kleine Agnes trug, ist noch erhalten; er liegt dort im Bauch der Kassette. Aber die mürrisch verschlossene Kassette sperrt das Maul nicht auf; sie gibt ihn nicht her.

In Pelzen huschten die Damen hinaus (so hörte ich weiter. Man weiß, wie es in Träumen geht: die Stimmen gingen immer rascher durcheinander und flossen für mich schon fast zusammen; auch schoß alles traumhaft rasch durch mein Hirn, was ich hier langsam nachzuerzählen versuche). In Pelzen also und im Schlitten ging's, unter Schellengeläut' zum Ball; der alte Sebastian kutschierte. Ob Otto eifersüchtig wurde? Er ließ es sich nicht merken.

Anders Johannes. Warum blieb Luise nicht zu Hause? So dachte er. Johannes selbst tanzte leider gar nicht. Er war so brav und auch kerngesund, aber wohl etwas zu dick für sein Alter: große, stille Augen im runden Kopf; kirschrote Lippen; auf der Oberlippe keimte der erste Schimmer des Bartes, und wir hatten ihn alle gern. Er hatte etwas Verschlossenes ganz so wie wir Schränke, und er putzte sich immer so sorgsam die Füße ab, ehe er eintrat, ganz anders als die französischen Herren, über die sich die Kathrin so oft beklagt hat. Kathrin, das war die alte Scheuerfrau mit den robusten Armen.

Während des Balls tollten die unbeaufsichtigten Buben, Emil und Fränzchen, auf der Diele herum und machten schon gleich die französischen Soldaten nach, mit Epauletten und Säbeln und Tschako und Kokarden, ein Heidenspektakel, und so war denn das ganze alte Patrizierhaus rasch völlig verwandelt und napoleonfromm geworden. Ein gründlicher Umschwung. Es war nichts Gutes; denn wir wissen alle, was folgte.

Der Leinenschrankwar es, der mit dunklem Ton so sprach: »Ich habe meinen Kollegen, den Tassenschrank, nie begriffen. Denn ich bin aus gutem deutschen Holz. Diese Anbeterei! Wenn solch Franzosenmensch nur oh ma, chère, oh ma charmante sagte, da weinte gleich alles vor Entzücken.«

So sprach der Schrank nicht ohne Erbitterung. Da erschrak ich; ich hörte eine schnarrende Stimme; sie klang fast keifend. Ein Bildstand bisher umgekehrt an die Wand gelehnt; jetzt drehte das Bild sich um, und es war Napoleon selber, der zornig aus seinem Rahmen trat und brüsk dareinschrie: »Dumm, dumm, dumm sind alle Deutschen, und die deutschen Schränke erst recht; beschränkt sind die Schränke; danach heißen sie. Es ist schon schlimm, wenn Mobilien Politik treiben, sie sind fast so dumm wie die deutschen Fürsten. Dem deutschen Volk aber wird es eingehämmert, daß ich sein Erlöser bin.«

Alles verstummte hiernach vor Schreck. Es wurde völlig nachtdunkel um mich, und ich hörte und sah eine Weile nichts mehr. Aber es war nur eine Pause. Dann tauchten die Gegenstände wieder sichtbar für mich aus dem Grau, und eine zarte weibliche Stimme flüsterte: »Gaston und Theophile! So hießen die beiden Offiziere.« Es war der Nähtisch, der so sprach.

Diese Kavaliere! Die Einquartierung war man los; fünf, sechs Offiziere rasselten statt dessen jetzt jeden lieben Sonntag ins Haus, zum Diner, und Frau Nanette tischte mit Begeisterung auf.«

»Ganz recht!« bestätigte die Standuhr mit ihrer Silberstimme. »Ich kann es bezeugen. Es schmeckte den Herren köstlich, und ich schlug die Stunden immer umsonst. Auch eine Uhr kann einmal ungeduldig werden. Das Malchen, die Köchin, kochte süperb (Hamburger Küche!). Wir hatten immer nur den Geruch davon: das Muschelragout, die Jülienne, die Lachsforellen, der Maraskinopudding. Nur englischen Käse, den Stilton, gab es zum Nachtisch nicht mehr. Englische Waren waren verpönt. Abends baten dann die Töchter Agnes und Luise so lange, bis der Vater auch noch einen Bischof oder gar einen Kardinal braute in der großen runden Terrine. Gaston und Theophile aber wurden Hausfreunde und kamen auch sonst immer häufiger,

immer galant,
eine Blume in der Hand.

Ja, wir lernten erst da, wie man es macht, galant zu sein. Johannes sah erstaunt dem zu: diese Komplimente und Handküsse und dieses Lächeln und diese Blicke! ›Ravissant,‹ flüsterten sich die Mädel zu, und die beiden Buben, Emil und Fränzchen, machten große Augen.

Auch unser biederer Herr Lebrecht sah sich zu vollkommener Höflichkeit gezwungen; der heuchlerischen Weltsitte unterwarf sich auch er. Im Geheimen aber trug er seinen Grimm mit sich herum, und hinterrücks nörgelte er immer, so daß Luise ganz blaß wurde, wenn sie das hörte. Schon wenn er am Kleiderhaken die Militärkäppis hängen sah, gab es ihm einen Stich: »sie sind schon wieder im Haus!« und sein eng gebundener Zopf wackelte ihm im Nacken. Ich glaube, er ärgerte sich auch, daß es keinen Stilton mehr gab.

»Was ihr nur schwatzt! Der Grund lag tiefer,« fiel hier der Krückstock des Herrn Lebrecht heftig ein. »Ich weiß Bescheid. Es waren Geschäftssorgen; denn es gab keine Zuckereinfuhr mehr; alle englische Zufuhr abgeschnitten; Handelssperre, Continentalsperre. Der alte Herr stöhnte oft; alle englischen Waren wurden in jenen Tagen von der französischen Polizei aus den Kaufgeschäften weggenommen, konfisziert, geraubt, und der Rundtisch auf unserer Diele sah nun auch gar keine Zuckerproben mehr, zum Naschen für die Kinder. Das Geschäft lag tot; die Preise stiegen und stiegen. Der Herr mußte sein Kapital angreifen. Auch die Damen merkten den Schaden. Frau Nanette wollte ein neues Kleid haben aus englischem Mousselin, aber sie mußte sich mit französischem Batist begnügen.«

Da tönte ein Vogelschrei. Die Silbermöve drehte den Kopf, darin die Glasaugen wieder fest saßen, und alles wurde still, als sie sagte: »Ihr redet und redet und wißt doch vom Leben nichts. Anders ich. Was kümmern mich die Alten? Ich hatte vielmehr immer auf die Jugend, auf die jungen Männer, auf Otto und Johannes, acht. Im großen Saal stand ich ja, hoch auf dem Wandbort, und konnte da alles trefflich übersehen. Der Otto zwar ließ sich durch die fremde Gesellschaft nicht einschüchtern, ein echter junger Hanseat, der auch im Meeressturm kalt lächelnd und seelenruhig bleibt; so blieb er schlicht und vornehm zurückhaltend, beobachtete die fremden Herren scharf und freute sich sogar, ohne doch mitzutun, wenn seine Freundin, die kleine Agnes, ihr Vergnügen hatte. Anders Johannes: wenn alles jubelte, stand er abgewandt im Hintergrund des Saales und tat so, als läse er in den Büchern, die da lagen und die die Menschen auf- und zuschlagen, als wären es Austerschalen, aus denen man sich die Nahrung holt, und niemand sah, wie ihm über die Wange die Tränen rollten; Aber ich sah es. Wir Vögel sind wunderbar scharfsichtig. Er hatte so rote Backen; aber er wurde jeden Tag bleicher und bleicher.« Die Mövenstimme wurde ganz weich bei diesen Worten, und wer sollte da nicht auch Mitleid haben?

»Wer kann den Theophile beschreiben?« hieß es da. »Er war wie ein Jagdhund, einer der besseren Jagdhunde Napoleons: elegante Taille; das lockige Haar kurz gehalten; flott, springfidel und dreist; beim Gang sich in den Hüften wiegend; einen impertinenten Zug um den Mund und doch so, daß man ihm gut war.«

Ja, dreist und erzlustig! Die Gießkanne war es, die jetzt wieder zu erzählen wußte: »Ich begoß, wie stets, mit Fräulein Agnes die Rabatten im Garten. Das wählte solange, bis Agnes zum Teich kam. Da wurde ich weggeworfen; denn der Theophile war da, und er wollte sie fangen, als sie davonlief. Sie war flink, aber verfing sich im Rock mit ihren hohen Hacken. Ob er sie griff? Es war Abend; die Nachtigall schlug. Ob sie zusammen der Nachtigall lauschten? Als sie schließlich ins Haus lief, schalt die Mutter sehr. Folgenden Morgens fand Frau Nanette mich, die Gießkanne, weggeworfen im Gebüsch. Sie fragte entrüstet, wie ich dahin käme? Aber ich verriet nichts. Und bald gab es ein Liebesgeflüster in allen Winkeln. O weh!«

Die Stimme der Gießkanne klang unheimlich hohl, als schon der Nähtisch